Achterbahn der Gefühle - Thomas Bock - E-Book

Achterbahn der Gefühle E-Book

Thomas Bock

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Beschreibung

Seit zwanzig Jahren hilft dieses Buch Menschen mit Bipolaren Störungen, Angehörigen und Therapeuten, die Erkrankung besser zu verstehen und das »Leben auf der Achterbahn« gelassener zu nehmen. Die Neuausgabe dieses »trialogischen Klassiker« wurde erheblich erweitert und aktualisiert: Einfühlsam und gut lesbar stellt sie aktuelle Therapie- und Versorgungskonzepte sowie neueste Forschungen vor. Ein komplett überarbeitetes Kapitel zu Antidepressiva und Phasenprophylaktika schafft Sicherheit im Umgang mit Medikamenten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Ressourcen der Betroffenen, auf Selbsthilfe und Genesungsbegleitung.

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Thomas Bock

Achterbahn der Gefühle

Mit Manie und Depression leben lernen

BALANCEratgeber

Leben in Extremen

»Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, auf eine Erbse zusammengepresst oder ins Weltall erweitert. Wohl jeder von uns kennt extreme Stimmungsschwankungen. Jeder von uns fühlt sich mal wunderbar großartig und mal lächerlich klein. Der Gemütszustand des Menschen hat offenbar mindestens so viel Spielraum wie sein Verstand. Extreme, wesensverändernde Stimmungszustände wie Depressionen und Manien stellen nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Menschen seiner Umgebung vor große Belastungen.«

Thomas Bock

Achterbahn der Gefühle

Mit Manie und Depression leben lernen

5., überarbeitete Auflage 2023

ISBN-Print: 978-3-86739-330-0

ISBN-PDF: 978-3-86739-336-2

ISBN eBook: 978-3-86739-337-9

Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Handelsnamen der besprochenen Medikamente sind mit dem Zeichen® gekennzeichnet. Aus dem Fehlen dieser Kennzeichnung darf aber nicht auf die freie Verwendbarkeit eines Medikamentennamens geschlossen werden, es kann sich um gesetzlich geschützte Warenzeichen handeln, die nicht ohne Weiteres benutzt werden dürfen. Bei allen Angaben über Indikationen, Kontraindikationen, erwünschte und unerwünschte Wirkungen, Dosierungsanweisungen und Applikationsformen haben die Autoren sich um äußerste Sorgfalt bemüht. Verlag und Autoren können aber für diese Angaben keine Gewähr übernehmen. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Bitte lesen Sie dazu den Beipackzettel und fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt.

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2007, 2012, 2018, 2023

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Originalausgabe: Psychiatrie Verlag, Bonn 2004

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Umschlaggestaltung: Michael Schmitz, Arnbruck, www.grafikschmitz.de, unter Verwendung eines Fotos von panthermedia.net; Sefa Ugurlu

Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein

Typografieanpassung und Satz: Alexander Klar, Deutschland

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Einleitung

Gegen Stigmatisierung – Vorwort zur Neuauflage

Das Leben zwischen emotionalen Polen – Vorwort

Annäherung an Ungewöhnliches: Zum Aufbau des Buches

Mögen Sie Achterbahnen?

Das eigene Erleben ernst nehmen

Wie Depressionen und Manien erlebt werden

Erleben und Erfahrungen von Angehörigen

Innenansichten einer alleinstehenden Mutter

Wahrnehmungen eines psychiatrisch Tätigen

Übersicht gewinnen

Manische und depressive Seiten in jedem von uns

Professionelle Diagnostik bipolarer Störungen

Immer anders, als man denkt: Häufigkeit und Verlauf

Verstehen

Verschiedene Verstehensansätze

Des Rätsels Lösung? Verstehen statt erklären

Depressionen werden nicht vererbt: Genetische Aspekte

Leiden hinterlässt Spuren: Biologische Aspekte

Selbstwertgefühl: Die Sicht der Psychoanalyse

Gelernte Hilflosigkeit? Verhaltenstherapie

Leben zwischen Extremen: Anthropologische Aspekte

Handeln

»Sich duldsam begegnen« – Was kann man selbst tun?

Hinrich N.: Mein Weg durch Manie und Depression

Was können Angehörige tun?

Möglichkeiten der Hilfe durch Angehörige und Freunde

Anhaltspunkte für Angehörige

Genesungsbegleitung

Psychotherapie mit manischen Patienten: Gespräch

Gruppentherapie bipolarer Störungen

Spezifische Psychopharmaka und ihre Wirkung

Gratwanderung: Ansätze professioneller Hilfe

Komplexleistung

Zehn Thesen zum Umgang mit Depressionen und Manien

Umgang mit Krisen

Antworten des Lebens – Umgang mit Konflikten

»Auf Leben und Tod?« – Umgang mit suizidalen Krisen

»Wie komme ich da wieder raus?« Rechtliche Aspekte

Schlussbemerkung

Literatur

Allgemein verständliche Fachliteratur

Erlebnisberichte

Kinder- und Jugendbuch

Belletristik

Fachliteratur

Adressen

Einleitung

Gegen Stigmatisierung – Vorwort zur Neuauflage

Wem eine bipolare Störung attestiert wird, hat eine besondere Spannweite hinsichtlich Stimmung und Antrieb – nach unten und oben, mit Zeiten voll Power und Phasen großer Lähmung und Leere. Je nach Ausmaß und Umfang, Zeitpunkt und Verlauf ist das spannend, kreativ, erschreckend, beschämend, störend, anstrengend, lähmend und vieles mehr – vor allem zutiefst menschlich. Für alle Beteiligten öffnen sich viele Spannungsfelder: zwischen Höhen und Tiefen, Aktionismus und Lähmung, Nähe und Distanz, Macht und Ohnmacht. Keine psychische Störung sonst ist hinsichtlich Diagnostik und Therapie so geeignet für einen »Trialog« zwischen den unmittelbar Betroffenen, ihren Angehörigen und den psychiatrisch Tätigen, so angewiesen auf Beziehung und Zeit, so prädestiniert für Psychotherapie inklusive Gruppensettings. Wie sonst kommen wir raus aus der Falle der Überanpassung und dem Verlust des Zeitgefühls? Es allen recht machen zu wollen, nicht rechtzeitig Nein zu sagen, ist für viele bipolare Menschen ein prägendes Sozialisationsmuster, besonders schädlich im Zusammenhang mit Depressionen – egal, ob uni- oder bipolar. Das Gefühl von Ewigkeit steigert die Verzweiflung in dunklen Zeiten und den Leichtsinn in Hochphasen; genau das unterscheidet die bipolaren Störungen von den Stimmungsschwankungen, die jeder Mensch kennt.

Mit dieser Neuauflage möchte ich noch mehr gegen Vorurteile ankämpfen, die auch im Hilfesystem existeren, möchte Erfahrenen und Angehörigen Mut machen. Familien, die mit diesem Thema zu tun haben, sind ein guter Gradmesser für die Psychiatriereform: Hometreatment und Peer-Support, Vermeidung von Zwang, Komplexleistung und Psychotherapie und vieles mehr bewähren sich gerade hier beim Umgang mit Depression und Manie.

Auch kulturell und gesellschaftlich werden in diesem Buch wichtige Fragen aufgeworfen: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen äußerer Bedrohung und innerer Verarbeitung; welchen Anteil haben Angst um diese Welt, Klimakatastrophe, Kriegsgefahr, Armut und Einsamkeit bei der Entwicklung von Depressionen und Manien? Müssen wir alle verantwortlicher und schuldbewusster werden, damit einige den Schuldwahn aufgeben können? Müssen wir die allzu mächtigen Prinzipien von Leistung und Pflicht ändern, damit für einige die Manie nicht mehr der einzige Ausweg ist?

Bei der Neuauflage fließen einige neue Textelemente ein, vor allem Zusammenfassungen und anschauliche Tabellen, die ich aus dem Buch Bipolare Störungen – Manie und Depressionen verstehen und behandeln übernommen habe, das ich 2005 mit Andreas Koessler zusammen geshrieben habe – damals vor allem für psychiatrisch Tätige und Studierende. Der Trialog ist vorangeschritten; zentrale Informationen sind für alle relevant.

Das Leben zwischen emotionalen Polen – Vorwort

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, auf eine Erbse zusammengepresst oder ins Weltall erweitert. Wohl jeder von uns kennt extreme Stimmungsschwankungen. Jeder von uns fühlt sich mal wunderbar großartig und mal lächerlich klein. Der Gemütszustand des Menschen hat offenbar mindestens so viel Spielraum wie sein Verstand. Unsere Spannweite hinsichtlich Stimmung und Antrieb ist verschieden. Manche Menschen erleben ausgeprägte Tiefs und Hochs. Wir sprechen von niedergedrückten oder depressiven sowie von gehobenen oder manischen Phasen. Zwischen diesen erweiterten Polen zu Hause zu sein, also in dieser Bipolarität, kann Fluch und Segen sein; auf jeden Fall ist das Leben anstrengender, manchmal quälend, manchmal kreativ und gefährlich zugleich.

Extreme, wesensverändernde Stimmungszustände wie Depressionen und Manien stellen nicht nur die einzelne Person, sondern auch die Menschen ihrer Umgebung vor große Belastungen. Mitzuerleben, wie ein vertrauter Mensch sich selbst fremd wird, sich in Stimmungstiefen oder -höhen verliert, tut an sich schon weh. Hinzu kommt, dass manisch-depressive Menschen in ihrer Erwartungshaltung an Angehörige häufig widersprüchlich erscheinen. Mit etwas Abstand betrachtet macht das aber oft Sinn: Wer sich selbst kaum noch spürt, braucht die Nähe vertrauter Menschen umso mehr und kann sie aus demselben Grund kaum aushalten. Die Ausgeglichenheit anderer Menschen wird herbeigesehnt und zugleich als Bedrohung empfunden. Die Hilfe anderer wird gebraucht und kann zugleich kaum angenommen werden. Viele Angehörige fühlen sich in dieser Situation verunsichert und überfordert. Manche reagieren gelähmt, andere verärgert. Viele sind auch bereit, sich ganz auf das kranke Familienmitglied einzustellen, und passen sich seinen Stimmungsschwankungen an. Doch wer allzu selbstlos handelt, kann kaum noch Halt bieten. Und so gerät die ganze Beziehung in den Strudel der Erkrankung.

Mit ihren extremen Stimmungsschwankungen stellen »bipolare« Menschen nicht nur sich und ihr Leben immer wieder auf den Kopf, sondern auch alle ihre Beziehungen auf die Probe. Manche sehen genau hierin den geheimen Sinn dieser Erkrankung.

Psychiatrische Einrichtungen reagieren bei diesen »bipolaren« Störungen noch immer mit einem engen Repertoire und oft zu spät. Sie bieten kaum mehr als eine symptomorientierte medikamentöse Behandlung. Von komplexen therapeutischen Angeboten werden Manieerfahrene meist ausgeschlossen, als gelte es, eine Normabweichung zu bestrafen. Dabei wissen wir längst, dass gerade Menschen mit bipolaren Störungen eher zu viele als zu wenige fremde Normen verinnerlicht haben. Sie auf der Suche nach eigenen Maßstäben und der inneren Mitte zu begleiten ist eine große Herausforderung – für Angehörige und für Therapeuten. Den Umgang miteinander so zu gestalten, dass nicht immer neue Kränkungen passieren, ist eine große Herausforderung.

Bei einer solchen Begleitung stellen sich Fragen: Wie werden Depressionen und Manien erlebt? Welche Erfahrungen machen Angehörige von Menschen mit bipolarer Störung? Welche neuen Erkenntnisse haben Psychiaterinnen, Psychologen und Psychotherapeuten für Verständnis und Therapie zu bieten?

Alle drei Gruppen – Betroffene, Angehörige und professionell Tätige – haben an diesem Buch mitgewirkt. Vor allem den Depressions- und Manieerfahrenen und ihren Angehörigen, die das Buch mit ihren Erfahrungen belebt und bereichert haben, gilt mein Dank. Schon bei der Auseinandersetzung mit schizophrenen Psychosen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Verknüpfung der drei Perspektiven zu neuen Erkenntnissen führen kann. Und auch bei den intensiven Diskussionen über dieses Buch hat mich die Intensität des Austausches beeindruckt. Gemeinsam ergab sich eine erste Orientierung, wie mit extremen Stimmungsschwankungen umzugehen ist: hilfreich sein, ohne sich aufzugeben, klar und ohne falsche Rücksicht, sich selbst treu und doch den anderen zugewandt. Wenn beide Seiten ihren Teil der Grenzerfahrung annehmen lernen, kann die Herausforderung gemeinsam bewältigt werden.

Dieses Buch ist aus der Tradition der »Psychoseseminare«, aus dem Dialog zwischen Patienten, Angehörigen und Wissenschaftlern entstanden. Eine Gruppe des Hamburger Psychoseseminars hat die Konzeption kritisch begleitet und viele Anregungen gegeben. Die Hilfe war für mich auch »psychologisch« wichtig: Ich hätte mich sonst nicht getraut. Bei der ganzen Gruppe, aus der einige nicht mit Namen genannt werden wollten, möchte ich mich herzlich bedanken, insbesondere bei Christine Axenfeld, Ina Bergmann, Reinhard Gielen, Gisela Mahncke, Monika, Christiane Noack, Eleonore Rammelt, Ruth, Sascha, Elke S. (ein Pseudonym), Sylvia, Katja Stange, Hinrich N., Silvia und Ruth M.

Außerdem bedanke ich mich bei Professor Hans-Ludwig Kröber für das Interview, Dr. Frank Pajonk, Dr. Thomas Rädler und Dr. Andreas Koesler für einen Beitrag über Medikamente und Dr. Ute Merkel für ihre fachliche Beratung. Und bei meinen Kollegen für ihre Geduld mit mir.

Ich bin überzeugt, dass nicht nur der klinische Alltag, sondern auch der Prozess der Forschung von einem gleichberechtigten Dialog der drei beteiligten Gruppen sehr profitieren könnte. Ohne eine bessere Beachtung der subjektiven Erfahrung wird es hier wie dort keine Fortschritte geben. Diesen Dialog will das Buch fördern. Es will Hoffnung machen, ohne zu beschönigen. Dabei kann es selbstverständlich persönliche Entscheidungen nicht abnehmen, aber vielleicht die Orientierung erleichtern. Ich hoffe, dass dieses Buch ebenso viele Fragen neu aufwirft, wie es sie zu beantworten versucht.

Annäherung an Ungewöhnliches: Zum Aufbau des Buches

Wenn wir uns ungewöhnlichen Phänomenen nähern, durchlaufen wir in individuell unterschiedlicher Gewichtung verschiedene Phasen: Erst sind wir unserem Erleben ausgeliefert. Dann versuchen wir Übersicht zu gewinnen. Wir bemühen uns zu verstehen, können dann erst sinnvoll handeln und müssen immer wieder mit Krisen rechnen, die uns auf unser Erleben zurückwerfen.

Menschen, die gravierende seelische Veränderungen an sich selbst erleben, kennen diesen Ablauf ebenso wie Angehörige, die mit Depressionen und Manien bei vertrauten Menschen zurechtkommen müssen. Und auch psychiatrisch Tätige können diesem Rhythmus kaum entgehen. Im Gegenteil: Wir Therapeuten und Therapeutinnen sind gut beraten, ebenfalls erst einmal unsere eigenen Gefühle ernst zu nehmen. Ein professionelles Handeln ohne diese Basis eines vorsichtigen Verstehens geht meistens ins Leere.

Der Aufbau dieses Buches folgt diesem Rhythmus. Die fünf Abschnitte lassen sich verschiedenen Bereichen des täglichen leib-seelischen Erlebens zuordnen und entsprechen inhaltlich der alltagsüblichen Annäherung an ungewöhnliche Phänomene: Erleben – Übersicht gewinnen – Verstehen – Handeln – Krisen bewältigen.

Erleben: Auf unerwartete und ungewöhnliche Ereignisse reagieren wir fast immer zuerst emotional. Unser Erleben drückt sich in Mimik und Gestik, vielleicht auch in Worten aus.

Auch in diesem Buch soll es am Anfang um das Erleben gehen: Wie erleben und beschreiben Menschen, die Erfahrung mit Depressionen und Manien haben, ihre Veränderungen, wie den Beginn, die Umschlagpunkte, die Rückkehr? Welche Empfindungen haben Angehörige? Wie reagieren Therapeuten? Ohne Zugang zu den eigenen Gefühlen kann man keine Beziehung zum anderen Menschen herstellen oder aufrechterhalten. Das gilt auch für psychiatrisch Tätige. Somit ist dieses Kapitel die Basis aller folgenden.

Übersicht gewinnen: Nach der spontanen emotionalen Reaktion bemühen wir uns, Abstand zu bekommen, einen klaren Kopf zu behalten, Übersicht zu gewinnen. Wir versuchen, das unerwartete Geschehen einzuordnen. Eine erste Übersicht über Depressionen und Manien kann gelingen, indem wir allgemein menschliche Vergleiche anstellen oder spezifischen Sachverstand bemühen. Das Wissen um bestimmte Zusammenhänge kann entlasten. Und doch birgt wissenschaftliche Abstraktion immer die Gefahr, den Blick auf die einzigartige Besonderheit des konkreten Menschen zu verlieren.

Verstehen: Wenn uns Ungewohntes begegnet ist, begnügen wir uns meist nicht mit einem quantitativen Überblick. Wir wollen qualitativ verstehen und bemühen uns darum; je nach Persönlichkeit und Temperament und sicher auch abhängig vom Geschlecht tun wir dies auf unterschiedliche Weise, eher mit dem Verstand oder eher mit dem Herzen.

Im Bereich der psychischen Erkrankungen kann es allgemein gültige Erklärungen kaum geben. Insbesondere »monokausale« Erklärungen, die ein bestimmtes Phänomen auf einen einzelnen »ursächlichen« Faktor zurückzuführen versuchen, stoßen zunehmend auf Misstrauen. Vorrang hat das Bemühen um individuelles Verstehen. In diesem Sinne werden verschiedene Verstehenszugänge im Zusammenhang dargestellt.

Handeln: Erst jetzt können wir versuchen zu helfen, uns selbst oder anderen. Dabei bleiben wir abhängig von unserem Zugang zu eigenen Gefühlen, von unserem Wissen, von unserer Beziehung zu uns selbst und zum anderen.

Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch bestimmte Bedingungen nicht einfach passiv geprägt werden, sondern diese zugleich aktiv gestalten. Wir sind immer Opfer und Täter. Das gilt auch für Menschen in Depressionen und Manien. Entsprechend beginnt der Abschnitt »Handeln« mit der Darstellung von Ansätzen in der Selbsthilfe. Anschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen der Hilfe durch Angehörige und Freunde sowie durch professionelle Therapeutinnen und Therapeuten diskutiert. Neben psychotherapeutischen Aspekten geht es auch um Fragen zum Einsatz von Psychopharmaka.

Umgang mit Krisen: Selten werden wir mit unerwarteten Ereignissen im ersten Anlauf »fertig«. Meist folgen neue Verunsicherungen, aus denen wir neue Schlüsse ziehen können und müssen. Insofern beginnt der hier skizzierte Kreislauf immer wieder neu.

Das gilt auch für den Umgang mit Depressionen und Manien. Sich selbst so tiefgreifend zu verändern oder eine solche Veränderung aus der Nähe mitzuerleben bedeutet eine tiefe Verunsicherung; sich daraus zu befreien ist ein längerer Prozess der Entwicklung – im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei kann es immer wieder zu Krisen kommen. Immer wieder müssen wir von vorn beginnen, Altes neu betrachten und neue Orientierungspunkte suchen. Typische Krisen und Konflikte werden hier beschrieben, dabei auch deren rechtliche Aspekte aufgezeigt.

Viele Kapitel, vor allem die zu Verständnis und Handeln, sind deutlich erweitert; völlig neu ist ein Abschnitt zur gesellschaftlichen Dimension der Entstehung und Behandlung von Depressionen und Manien.

Mögen Sie Achterbahnen?

Eigentlich mag ich keine Achterbahnen. Warum sich Menschen klapprigen Wagen anvertrauen, sich in luftige Höhen beschleunigen lassen, nur um sich in tiefe Abgründe zu stürzen, ist mir ein Rätsel. Doch wenn mich meine Kinder früher auf einen Jahrmarkt schleppten, gaben sie nicht eher Ruhe, bis ich mit einsteige. Und sie triumphierten, wenn ich dann mit bleichem Gesicht und schlotternden Knien ausstieg. Sie reizt der Nervenkitzel. Mich stellen sie dabei auf die Probe. Wer ist stärker? Spiele ich mit oder nicht? Jetzt erwartet mich irgendwann Ähnliches von meinen Enkelkindern.

Kennzeichen einer Achterbahn ist, dass sie auf- und abfährt, je steiler und schneller, desto besser. Aufwärts und Abwärts bedingen sich. Gilt dies auch für Stimmungsschwankungen? Kein Höhenflug trägt ewig, auf jede Manie folgt ein Absturz. Und auch die Abwehr der Depression durch Flucht nach vorne ist keine Dauerlösung. Im Wissen darum klammert sich der manische Mensch an seinen aktuellen Zustand. Auch Depressionen erschöpfen sich mit der Zeit. Doch das zu wissen bringt subjektiv keine Erleichterung, weil in der Depression die Zeit stehen zu bleiben scheint.

Achterbahnen fahren auf Schienen. Aussteigen ist lebensgefährlich und deshalb verboten. Gilt das auch für Depressionen und Manien? Fahren Menschen, die zu großen Stimmungsschwankungen neigen, womöglich auf biologischen Gleisen, aus denen auszusteigen nicht möglich ist? Bahnt der Stoffwechsel des Gehirns unseren Weg? Oder handelt es sich um extreme Ausbuchtungen eines Lebenswegs, der in Grenzen doch noch eigenen Entscheidungen gehorcht? Welchen Spielraum im Auf und Ab haben der Einzelne und seine Umgebung?

In der Vorbereitung auf dieses Buch bin ich in abgemilderter Form selbst Achterbahn gefahren. Mal befand ich mich im Höhenflug und die neue Aufgabe kam mir leicht vor. Unweigerlich stürzte ich ab, denn gemessen an meiner Euphorie kam mir jede Zeile »blöd« vor und meine Kreativität erlosch. Stellte ich mich um und akzeptierte die erst lähmende, dann vielleicht wohltuende, jedenfalls notwendige Ruhe und erlaubte mir zumindest gedanklich, alles hinzuschmeißen, dann konnten neue Gedanken reifen. Resignation und Übereifer liegen manchmal erstaunlich nahe beieinander.

Das eigene Erleben ernst nehmen

In Depressionen und Manien verändern sich Stimmung, Gefühle und Empfindungsfähigkeit sowie Antrieb und Energiehaushalt eines Menschen in verschiedene Richtungen – nach unten oder nach oben –, manchmal so grundlegend, dass das Wesen des Betreffenden verändert erscheint. Ein vertrauter Mensch ist auf einmal nicht wiederzuerkennen. Er erscheint erstarrt, niedergeschlagen, verzweifelt oder gigantisch, toll, lächerlich, lebendig begraben oder immer auf der Flucht. Manchmal wirken vorhandene Anlagen eines Menschen durch eine Depression oder Manie nur gesteigert. Manchmal aber scheint auch die Vertrautheit eines Menschen verloren zu gehen. Über diesen Aspekt sind nahe Angehörige besonders erschrocken. Sie haben Angst, ein Gegenüber zu verlieren und damit auch ein Stück von sich selbst. Manchmal verstärken wir in der Psychiatrie Tätigen diese Sicht noch, indem wir allzu vereinfachend und unpersönlich davon ausgehen, dass die Depression immer dies oder das bewirkt oder die Manie immer jenes macht. Wir behandeln Patientinnen und Patienten, als hätte sie eine abstrakte Krankheit in Besitz genommen. Das ist schon im Ansatz falsch.

Allgemeine kulturelle Muster und soziale Rollen beeinflussen alle seelischen Vorgänge, selbstverständlich auch Depressionen und Manien. In beiden Phasen kann der Kontakt zu nahen Angehörigen beeinträchtigt sein; umso wichtiger ist es, dass sie in der Behandlung selbstverständlich einbezogen werden. Wie bei allen seelischen Vorgängen, so ist auch bei extremen Stimmungsschwankungen der Körper beteiligt. Doch sind und bleiben Depressionen und Manien Ausdruck des psychischen Prozesses eines unverwechselbar einzigartigen Menschen. Seine Lebensgeschichte beeinflusst seine Art, krank zu sein, genauso wie seinen Weg, gesund zu werden. Insofern hat jede Depression und jede Manie ihre besondere Gestalt und enthält auch für den Einzelnen und seine Umgebung eine besondere Botschaft, die zu betrachten sich lohnt. Das sollen die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen.

Als Teil der Medizin neigt die Psychiatrie leicht dazu, Depressionen und Manien allzu stereotyp, eben ausschließlich als abstrakte Krankheiten zu behandeln. Doch Erfahrene und Angehörige konfrontieren die Wissenschaft mit der Forderung, psychische Krankheiten (wieder) als Ausdruck der Entwicklung des ganzen Menschen anzusehen, unabhängig davon, ob und in welchen Grenzen sie auch mit biologischen Mitteln zu beeinflussen sind. Körperliche, seelische und geistige Prozesse sind untrennbar verbunden. Und bis zu seinem Tod befindet sich der Mensch unvermeidlich niemals nur in passiver, sondern immer auch in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umgebung. Kein psychischer Ausnahmezustand ist nur eine Störung, sondern immer auch eine Bewältigungsstrategie; das gilt auch und gerade für Depressionen und Manien.

Das Erleben des einzelnen Patienten und seiner Angehörigen rückt wieder in den Mittelpunkt aller Bemühungen um Verstehen und Behandlung. Der direkte Dialog zwischen den Experten aus Erfahrung und den Experten durch Ausbildung, der in den sogenannten Psychoseseminaren begonnen wurde und sich weit verbreitet hat, lohnt sich für alle Beteiligten (Bock u.a. 1998; Bock u.a. 2007).

Wie Depressionen und Manien erlebt werden

Depression und Manie fallen nicht vom Himmel, auch wenn das manchmal so scheint. Sie haben eine Geschichte, sind Teil eines Entwicklungsprozesses, haben einen Anfang und ein Ende. Wenn jemand manisch oder depressiv wird, ist das kein Zufall. Etwas wie Veranlagung mag eine Rolle spielen in dem Sinn, dass nicht alle Menschen aus dem gleichen Anlass in derselben Weise manisch oder depressiv werden. Doch bleibt der Mensch ein geschichtliches Wesen; er sammelt ein Leben lang Erfahrungen und seine Erfahrungen hinterlassen Spuren. Die folgenden Zitate verdeutlichen die Geschichtlichkeit von Depressionen und Manien, wobei ich betonen möchte: Es handelt sich um subjektive Sichtweisen, die einen subjektiven Wahrheitsgehalt beanspruchen können. Was »wirklich« stattgefunden hat, können wir ohnehin nicht klären. Die meisten Zitate stammen aus einer kleinen Arbeitsgruppe des Hamburger Psychoseseminars, die dieses Buch begleitet hat, einige auch von Patientinnen und Patienten aus der psychiatrischen Ambulanz, in der ich arbeite. Sie sind hier weitgehend unkommentiert wiedergegeben, um erst einmal einen ungefilterten Eindruck entstehen zu lassen. Es handelt sich also um eine Collage aus subjektiven Erfahrungen, die vielleicht anregt, eigene Erinnerungen zu ergänzen.

Die Perspektive der Angehörigen folgt im nächsten Abschnitt.

Beginn

Depressionen und Manien entstehen nicht aus dem Nichts, doch manchmal sind die Auslöser und Anlässe schwer zu fassen:

»Bei mir reicht ein geringer Anlass für die Manie oder die Depression. Diesen Anlass zu verarbeiten gelingt nicht. Und es tut weh, diese Zuständenur einfach aushalten zu können. Diese extremen Schwankungen sind für mich wie eine Achterbahn, die mich hin und her schüttelt.«

»Ich werde manisch, wenn traurige Erlebnisse auf mich zukommen. Ich spüre inzwischen richtig, wie es ›klick‹ macht. Mein Organismus setzt die Manie in Gang, damit ich über bestimmte Erlebnisse hinwegkomme. Das geschieht innerhalb weniger Stunden. Die Depression kommt erst viel später.«

»Bei mir beginnen diese Phasen erst mit Angstgedanken und mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Diese Wahrnehmungen kriege ich nicht mehr relativiert. Und dann heble ich das Ganze aus, indem ich mir besondere Aufträge zuziehe. Das heißt, ich löse die Situation auf, indem ich mir besondere Bedeutung beimesse, und so wachse ich in die Manie hinein.«

»Ich habe extrem viel gearbeitet, stand unter großem Druck; die Euphorie kippte in Erschöpfung um und die wiederum nach zusätzlichen Verletzungen in eine Depression.«

»Ich habe vielfach Misshandlungen erlebt. Zum ersten Mal manisch wurde ich mit 21 Jahren. Da habe ich meinen eigenen Groll und Hass vom Stapel gelassen, war auf einmal nicht mehr klein, unterdrückt und erniedrigt. Ich fühlte mich befreit, als wäre ein Riegel vom Mund weggesprengt worden. Bärenkräfte habe ich entwickelt in der Manie.«

Schon diese Zitate lassen einen inneren Zusammenhang von Depressionen und Manien ahnen. Es scheint fast so, als könne das innere Gleichgewicht nur noch um den Preis größerer Ausschläge – nach »oben« oder nach »unten« – gehalten werden.

Kindheit

Die Erfahrungen der Kindheit prägen, doch die Entwicklung hört nicht mit den ersten Jahren auf. Wir verklären oder verdammen unsere frühen Erfahrungen, versuchen zu kompensieren, was uns gefehlt hat, und wiederholen die Muster, die wir kennen gelernt haben. Immer sind wir Glied einer Kette: Auch unsere Eltern waren Kinder und geben weiter, was sie erfahren haben. Doch zugleich kann uns niemand die Verantwortung für eine eigene Entwicklung abnehmen.

»In meiner Kindheit durften Gefühle nicht gezeigt werden. Ich hatte eine Schwester, die sehr krank war und alle sehr in Anspruch nahm. Meine Eltern führten eine Vernunftehe ohne Gefühle. Jetzt zählt nur noch das Gefühl. Das ist so eine Art Flucht nach vorn. Natürlich birgt dieser Weg seine eigenen Risiken.«

»Als Kind habe ich viel geschrien, ohne dass meine Mutter merkte, was los war. Sie hatte resigniert, glaubte es mir sowieso nicht recht machen zu können. Ich bin dann sehr stark in meinen Verstand und in die Logik gegangen. Doch tief in mir war eine Sehnsucht nach Liebe, eine Art Motor für die Manie. In der Manie gebe ich mich der Sehnsucht hin, voll und ganz, ohne sie so erfüllen zu können.«

»Für mich war niemals Platz. Ich habe die Sprache verweigert als Baby, dann plötzlich mit drei oder vier wie ein Erwachsener geredet. Ich habe in die Windeln geschissen, bis ich irgendwann den Topf selbst geholt habe. Ich empfinde tiefe Trauer, die von Sehnsucht verdeckt wird und von Angst. So kann ich nicht weinen. Und das baut Druck auf und fördert die Manie.«

»Ich hatte schon als Kind diese verschiedenen Phasen. Mal habe ich nächtelang durchgeheult, war nicht ansprechbar, manchmal war ich überaktiv und schon nach meinem damaligen Empfinden unnormal. In gewisser Weise wurde ich so akzeptiert, obwohl ich den Eindruck hatte, dass meine Eltern immer versteinerter wurden. Als krankhaft wurde meine Art erst bezeichnet, als ich 21 war. Da wurde dann die Manie mehr akzeptiert, weil ich so enorm leistungsfähig war. Die Depressionen aber waren schrecklich.«

»Schon als Kind habe ich zu viel wahrgenommen, nicht selektiv, sondern alles gleichzeitig. Da waren immer zu viele Eindrücke auf einmal. Die Manie war so etwas wie ein Ventil.«

Die Depression ein Schutz, die Manie ein Ventil? Das Leid bleibt gleich und darf nicht weggeredet werden. Doch für ein wirkliches Verstehen reicht nicht der Blick zurück mit der Frage »Woher?«. Hinzukommen muss der Blick nach vorn mit der Frage »Wozu?«.

Verletzungen und Ausflüchte

Wie tief das Leid der Depression sein kann, lassen Zitate nur erahnen. Trauer können wir teilen, Schmerzen nachempfinden. Aber bei Leere und Fühllosigkeit versagt das Mitgefühl oft.

»Meine Depression bedeutet in erster Linie unendliche Trauer. Ich schüttle mich dann in Weinkrämpfen und empfinde eine tiefe Perspektivlosigkeit.«

»In Depressionen empfinde ich Schmerzen bis ins Knochenmark.«

»Depressionen sind für mich Ausdruck runtergeschluckter Aggressionen.«

»Wenn ich manisch werde, habe ich plötzlich ein leichtes Gefühl, wie ein Überflieger. Alle Skrupel verlassen mich. Ich beginne dann, andere zu provozieren. Diese Haltung kann sich auch verselbstständigen und die Provokation zu einem Selbstgänger werden. Ich bin dann immer auf der Suche nach Grenzen …«

»In der Manie habe ich bewusst Normen verletzt, die ich als allgemeine Normen gesehen habe. Aber ich habe nie etwas getan, was strafrechtlich verfolgt wird oder was andere Menschen in ihrer Würde verletzt hat. Eine eigene innere Grenze war mir immer bewusst und die habe ich eingehalten.«

»Manie heißt für mich, dass ich mich mit familiären Mustern auseinandersetze, alte Rahmen sprenge.«

»Je mehr Erfahrungen ich sammle, desto mehr Gespür habe ich für das Ganze, für mich als ganzen Menschen und für meine Grenzen, und ich kann diese Grenzen dann auch besser einhalten.«

Kreativität

Manien erschrecken. Wir sind Wildheit nicht mehr gewohnt. Die folgenden Zitate deuten an, dass in der Manie – bei allem Leerlauf und aller Verzweiflung – auch Kraft steckt.

»Manien sind immer auch Umwandlungen in etwas Positives, Ausdruck von Kreativität. Die Familie wird aufgefordert, etwas mitzutragen – über Grenzen hinweg.«

»In Manien kann und muss ich alles sofort umsetzen, was mir in den Sinn kommt. Alle Ideen haben eine große Bedeutung.«

»Gerade in Manien ist es wichtig, kreativ tätig zu sein, sich gegenständlich auszudrücken. So können Energien abfließen und man bleibt auch in extremen Phasen in Verbindung mit der Wirklichkeit.«

»Umschlagpunkte«

Depressionen und Manien wirken nur auf den ersten Blick grundverschieden. Innerlich sind sie enger verwandt, als es zunächst erscheint. Das Erleben dieser Umschlagpunkte mag das verdeutlichen.

»In der Manie kippt die Depression um in eine unheimliche Energie und dann bei Erschöpfung wieder zurück.«

»Auf eine bestimmte Weise ist man sich auch in der äußersten Manie immer bewusst, dass der Zusammenbruch kommt. Das hält einen auf dem Boden und treibt die Manie gleichzeitig an.«

»In der Depression bin ich wie rohes Fleisch, sehr empfindlich; darin, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist, gibt es einen plötzlichen Übergang. Ich habe dann unglaubliche Energie, als wenn ich verliebt wäre. Die Manie bedeutet eine Linderung der Depression. Es ist schon erstaunlich, wie der Körper eine eigene chemische Fabrik in Gang setzt, um aus der Depression herauszukommen.«

Haben Depressionen und Manien nur oberflächliche Gemeinsamkeiten oder eine innere Verbindung? Diese Frage soll uns durch das Buch begleiten.

Zwei Aspekte sind mir besonders wichtig:

Depression ist nicht gleich Trauer. Wer wirklich trauert und dabei Halt findet, braucht nicht depressiv zu werden. Wer depressiv wird, ist verzweifelt traurig. Er trauert und versucht zugleich der Trauer zu entkommen. Er flieht in eine Leere, in eine Distanz von sich selbst. Die Verzweiflung wächst, je größer der Abstand wird.

Manie ist nicht gleich Glück. Wer wirklich glücklich ist, wem das Leben glückt, der braucht nicht manisch zu werden. Wer manisch wird, ist verzweifelt glücklich. Er sucht das Glück, wo er es nie finden wird – weit weg von sich selbst.

Beide Zustände können sich wechselseitig bedingen: Eine Manie kann so sehr erschöpfen, dass der Absturz in die Depression wie von selbst nachfolgt. Umgekehrt kann eine Depression so ausweglos wirken, dass nur die Flucht nach vorn bleibt, dabei dann so viel Tempo nötig ist, dass wir über das Ziel hinausschießen. Gemeinsam ist beiden Zuständen, dass meist der Schlaf gestört ist, mit dem Unterschied allerdings, dass Schlaflosigkeit in der Depression als quälend empfunden wird, während in der Manie ohnehin alles andere wichtiger erscheint.

Ebenfalls in beiden Phasen verändert sich das Zeitgefühl: In der Depression herrscht ein Gefühl von ewigem Stillstand; die Not hat keinen Anfang und kein Ende. In der Manie scheint alles gleichzeitig möglich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen so, dass eine realistische (Selbst-)Einschätzung kaum noch gelingt (AG der Psychoseseminare 2001). Wenn das Gefühl für Zeit, für das Vorher und Nachher verloren geht, wenn Depression und Manie zeitlos und ewig erscheinen, wachsen Verzweiflung und Leichtsinn ins Unendliche. Diese Veränderung markiert den Unterschied zu den Stimmungsschwankungen, die wir alle kennen, vielleicht auch den eigentlichen Übergang zur Erkrankung. Wenn ich »schlecht drauf« bin, weiß ich noch, wie es anders war, und ahne zumindest, wie es wieder anders wird; in überschwänglichen Phasen, die ich auch gut kenne, weiß ich trotzdem noch um die Grenzen meiner Kräfte. Das ist mein Glück.

Erleben und Erfahrungen von Angehörigen