Eine Frage der Haltung: Psychosen verstehen und psychotherapeutisch behandeln - Thomas Bock - E-Book

Eine Frage der Haltung: Psychosen verstehen und psychotherapeutisch behandeln E-Book

Thomas Bock

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Beschreibung

Jahrzehntelang galt die Psychotherapie bei Psychosen als kontrainduziert. Dieses Vorurteil ist heute überwunden, gleichwohl schrecken viele Psychotherapeutinnen und -therapeuten immer noch vor psychotischen Klienten zurück. Auch »verschrobene« Konstruktionen unserer Welt sind psychotherapeutischen Interventionen zugänglich und damit veränderbar, aber gerade psychotische Weltsichten gilt es im ersten Schritt anzuerkennen, denn sie sind für den Betroffenen subjektiv wahr. So mögen psychotisch und selbst wahnhaft Erkrankte als therapeutische Herausforderungen gelten, hilfreich kann Psychotherapie für sie dennoch sein. Thomas Bock und Gerhard Dieter Ruf plädieren für einen unaufgeregten Umgang mit psychotischen Klienten selbst im akuten Geschehen. Ruf als systemischer Therapeut verweist auf die Funktionalität von Psychosen im sozialen wie auch im biografischen Kontext; Bock bezieht psychotisches Geschehen zudem auf einen allgemeinmenschlichen Horizont, aus dem heraus Psychosen plötzlich auch verstehbar erscheinen. Compliance – das ist eine Aufgabe für die Helfer, nicht für die Erkrankten! Dass Psychosen weder medikamentös noch psychotherapeutisch komplett geheilt und weil Rückfälle nicht völlig ausgeschlossen werden können, lehrt Psychotherapeuten Bescheidenheit.

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Herausgegeben von Uwe Britten

Thomas Bock/Gerhard Dieter Ruf

Eine Frage der Haltung:Psychosen verstehenund psychotherapeutischbehandeln

Thomas Bock und Gerhard Dieter Rufim Gespräch mit Uwe Britten

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-90075-9

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhaoeck-ruprecht-verlage.com

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com

Texterfassung: Regina Fischer, Dönges

Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datametics, Griesheim

Inhalt

Unsere Wahrnehmung ist immer affektiv geprägt

Weltwahrnehmung

Das Wiederauftauchen der Unvernunft?

Vom Wissen und Nichtwissen

Das Fachwissen der Fachleute

Begrifflichkeiten

Unsere Konstruktionen psychotischer Erfahrungen

Der Blick auf die Funktionalität

Dem psychotischen Menschen als Mensch begegnen – eine Haltungsfrage

Ängste nehmen – Sinn geben

Zuhören können: Compliance für Therapeuten

Herausfordernde therapeutische Begegnungen?

Schwierige Menschen – schwierige Situationen?

Wahninhalte

Medikamente

Höhere Funktionen des Psychotischen?

Infragestellung sozialer Konventionen

Verunsicherungen aushalten lernen

Ausgewählte Literatur

Hamburg im März 2017. Im Stadtteil Bergedorf sitzen in einem restaurierten Stadthaus vom Anfang des 20. Jahrhunderts Gerhard Dieter Ruf und Thomas Bock zusammen, um über ihre Erfahrungen mit und Vorstellungen von Psychosenpsychotherapie zu diskutieren.

Psychotische Menschen sind jahrzehntelang explizit von der Psychotherapie ausgeschlossen worden. Sie sei bei ihnen »kontraindiziert«, so die einhellige Fachmeinung, der nur selten widersprochen wurde. Das intensive Nachforschen in der Dynamik der Psyche führe bei diesen Menschen nur unnötig zur Aktualisierung des psychotischen Geschehens.

In der Tat stellte sich die Frage, ob die Therapie nach dem klassischen Muster für psychotische Menschen besonders hilfreich war. So waren alle psychotherapeutischen Schulen herausgefordert, ihre Angebote daraufhin zu überprüfen. Nach der heutigen Ausdifferenzierung der therapeutischen Ansätze und Verfahren lässt sich nun längst konstatieren, dass auch psychotische Menschen sehr von Psychotherapie profitieren können. Dennoch herrscht bei Therapeutinnen und Therapeuten immer noch eine große Zurückhaltung vor. Warum eigentlich?

Prof. Dr. Thomas Bock, Jahrgang 1954, ist Leiter der Psychosenambulanz am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf. Zusammen mit der Bildhauerin Dorothea Buck war er Anfang der Neunzigerjahre der Gründer der Psychoseseminare, die sich als »trialogische« Foren von Psychoseerfahrenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen schnell im deutschsprachigen Raum ausbreiteten, begleitet von dem Buch »Stimmenreich – Mitteilungen über den Wahnsinn«. Viele trialogische Projekte folgten.

Im Fach Psychologie habilitierte er 1997 zum Thema unbehandelter oder nur sporadisch behandelter Psychosen (»Lichtjahre. Psychosen ohne Psychiatrie«) und forderte in der Folge in zahlreichen Veröffentlichungen, die Fähigkeiten und Ressourcen psychotischer Menschen stärker ins Blickfeld zu rücken und von diesen ausgehend die therapeutische Unterstützung zu entwickeln. Ohnehin sieht er Psychosen als nachvollziehbare Antwort auf innere und äußere Widersprüche und betrachtet dies als allgemein menschlich, weshalb er seinen Ansatz als »anthropologisch« bezeichnet.

Zusammen mit Andreas Heinz veröffentlichte er 2016 das Buch »Psychosen. Ringen um Selbstverständlichkeit«. Er gehört zum Autorenteam des Lehrbuchs »Irren ist menschlich«.

Dr. Gerhard Dieter Ruf, Jahrgang 1953, ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie. Er arbeitete zunächst in psychiatrischen Kliniken, bis er sich 1991 in eigener Praxis niederließ und sich zum systemischen Psychotherapeuten fortbildete.

Mit dem ressourcenorientierten Lehrbuch »Systemische Psychiatrie« plädierte er bereits 2005 dafür, das systemische Herangehen stärker in der psychiatrischen Arbeit zu verankern. Auch er bemängelte, psychiatrische Klientinnen und Klienten würden viel zu sehr aus einem Defizitblick betrachtet, was letztlich einer Verbesserung der Lebenslage dieser Menschen im Weg stünde.

Obwohl es in der systemischen Psychotherapie lange Zeit eher verpönt war, störungsspezifisch zu denken, verbindet Gerhard Dieter Ruf in den Büchern »Schizophrenien und schizoaffektive Störungen«, »Depression und Dysthymia« und »Bipolare Störungen« einen sowohl ressourcen- als auch störungsorientierten Ansatz, in dem er psychische Störungen als Lösungsversuch für problematische Konstellationen im Lebensumfeld beschreibt und daraus störungsspezifische Vorgehensweisen für die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ableitet.

UNSERE WAHRNEHMUNG IST IMMER AFFEKTIV GEPRÄGT

»Wir haben es bei menschlichen Annahmen oft damit zu tun, dass sie weder zu verifizieren noch zu falsifizieren sind.«

Gerhard Dieter Ruf

Weltwahrnehmung

Ich erzähle eine kurze Geschichte: Ein deutscher Atheist und ein senegalesischer Muslim arbeiten zusammen und wollen bei ihrem Chef eine Lohnerhöhung durchsetzen. Zuerst macht der Atheist einen Termin, argumentiert immer erregter gegen den Chef, konfrontiert ihn auch mit seiner miserablen Lohnstruktur, bis dieser ihn schließlich aus dem Büro schmeißt und sagt, es gebe keine Erhöhung. Am nächsten Tag geht der Muslim rein und spricht mit dem Chef. Es bleibt völlig still im Büro, nach einer Stunde kommt er wieder heraus.

»Und?«, fragt der Atheist sofort.

»Ja, wir bekommen die Lohnerhöhung.«

»Ha, da siehst du es, zuerst habe ich dem mal so richtig Druck gemacht, und jetzt kamst auch noch du, da konnte er nicht mehr anders und musste der Lohnerhöhung zustimmen.«

»Ja«, erwidert nun wieder der Muslim, »dafür habe ich auch die halbe Nacht gebetet. Gott hat mich erhört.«

Herr Doktor Ruf, was ist hier geschehen?

RUF Dafür gibt es unterschiedliche Interpretationen: Die Ursachenzuweisung kann stark variieren. Der eine führt das auf seine hartnäckige Diskussion zurück, der andere auf das Beten. Das eine wie das andere ist nicht zu beweisen. Da spielen wahrscheinlich sowieso noch viel mehr Dinge eine Rolle.

Welche?

RUF Na ja, die Entscheidung des Chefs wird erst einmal durch seine eigene Weltanschauung beeinflusst und möglicherweise durch weitere Aspekte, die gar nicht in der Anekdote genannt sind. Vielleicht hatte er gerade einen guten Tag oder hat irgendwas Schönes mit der Familie unternommen. Vielleicht hatte er am Tag vorher hingegen noch schlechte Laune, weil irgendwelcher Ärger vorherrschte. Da spielen so viele Dinge rein, dass man wirklich keine hundertprozentige Ursachenzuweisung vornehmen, sondern nur Theorien darüber entwickeln kann, was da möglicherweise eine Rolle gespielt hat. Aber natürlich ist der Chef auch durch die beiden Gespräche mit den Angestellten beeinflusst.

Eine Ursachenzuweisung ist immer eine Vereinfachung, die es uns ermöglicht, so gut es geht durchs Leben zu kommen, also eine Komplexitätsreduktion, die eben manchmal ganz nützlich ist.

Sie haben gesagt, beide Ursachen seien nicht erklärbar. Sind denn beide gleich nicht erklärbar, gleichwertig nicht erklärbar?

RUF Auch das hat mit der jeweiligen Weltanschauung des Beobachters zu tun. Da wird der eine, der religiös ist, natürlich sagen, der Muslim habe recht. Der, der nicht religiös ist, sagt, die Erklärung des Atheisten sei besser. Von philosophischer Seite ist Gott natürlich nicht erklärbar.

Herr Professor Bock, Ihr Blick auf diese Szene?

BOCK Der Muslim hatte durch das Gebet vielleicht mehr innere Kraft entwickelt und dadurch mehr Überzeugungsmöglichkeit.

Was ist »innere Kraft«?

BOCK Überzeugung. Er war sich innerlich sicherer durch die Unterstützung seines Gottes und hatte dadurch mehr Überzeugungskraft. Der andere, der Atheist, der musste das trotzdem noch irgendwie für sich verbuchen. Der stand vielleicht auch ein bisschen in Konkurrenz, weil ihm der Erfolg nicht geglückt war. Während sich beim Chef möglicherweise beides addiert hat.

Warum addiert?

BOCK Beide wollten ja dasselbe. Am besten wären sie vielleicht zusammen reingegangen.

Jedenfalls haben die beiden als »Klammer« funktioniert. Bleiben wir noch mal bei der inneren Kraft. Wir Menschen kennen das Phänomen, dass unsere Hypothesen über die Welt immer Folgen haben, auch wenn sie völlig falsch sind.

BOCK Der Glaube ist ja nicht falsch, nicht etwas, das man als »falsch« bezeichnen kann.

Wie auch immer wir das beantworten würden, so gilt eben, dass wir uns noch so schräge Vorstellungen von etwas machen können – in dem Moment, in dem wir davon ausgehen, dies sei real, ist es real.

RUF Wir haben es bei menschlichen Annahmen oft damit zu tun, dass sie weder zu verifizieren noch zu falsifizieren sind. Und natürlich beeinflussen die Ideen, die man hat, die Entscheidungen.

Das meiste im Leben wissen wir nicht und müssen unser Unwissen teilweise auch mit wilden Hypothesen überbrücken. Wir können im Lebensvollzug nicht laufend wirklich prüfen, was nun falsch oder richtig wäre. Sie als Therapeuten haben permanent mit so etwas zu tun, Sie müssen auf Objektivität und auf objektive Wahrheiten verzichten und müssen mit sehr vielen sehr subjektiven, teilweise schrägen Konstellationen, Weltannahmen zurechtkommen. Nicht nur das, Sie müssen damit auch arbeiten können.

RUF Das finde ich ja das Spannende an der ganzen Angelegenheit, nämlich mitzukriegen, wer welche Welt- oder Wirklichkeitskonstruktion hat. Das ist auch etwas, was die Therapeut-Patient-Beziehung ausmacht, dass man sich darauf einlassen kann, es nachvollzieht und daran kommunikativ ankoppeln kann.

Das macht auch einen wesentlichen Unterschied aus zu der herkömmlichen klassischen, biologisch orientierten Psychiatrie, die klar sagt, es seien die Gene oder die Neurotransmitter. Spannender ist es aber, den Sinn zu begreifen, den ein Patient den Ereignissen zuweist. Genau daraus resultieren ja jene Punkte, die wesentlich zu Problemen dieser Menschen beitragen. Solche Probleme treten auf, wenn man eine bestimmte Weltsicht hat und mit dieser Weltsicht nicht klarkommt, beispielsweise beim Alles-oder-nichts-Denken oder beim Perfektionismus, um nur zwei Beispiele zu nennen. Beides sind Konstruktionen, hinter denen nichts Objektivierbares steckt.

Sogar in der Physik ist man von den vermeintlich harten Objektivitäten weggekommen: in der modernen Kernphysik, in der Quantentheorie oder in der Einstein’schen Relativitätstheorie. Da ist auch vieles nicht mehr linear-kausal zuordenbar. Wirklichkeitskonzeptionen setzen sich nach ihrer Nützlichkeit durch, selbst in der Physik.

BOCK Wahrnehmungen sind immer subjektiv. Alles, was wir hören, sehen und so weiter, ist affektiv überlagert. Das gilt nicht nur für psychoseerfahrene Menschen, bei denen ist es nur offensichtlicher und einfacher zu beobachten. Bei uns anderen muss man sich stärker darum bemühen, sich das immer wieder klarzumachen. Aber insgesamt ist es offensichtlich, dass unsere Wahrnehmungen Eigenkonstruktionen sind. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Bei Psychotikern ist es nur offensichtlicher, klarer und deshalb auch spannender.

Ihre Aufgabe ist aber nicht Ästhetik, also zum Beispiel Spannungserleben, sondern Sie wollen ja Probleme lösen beziehungsweise dem Klienten helfen, seine Probleme zu lösen.

RUF Das Engagement in unserem Beruf hängt durchaus damit zusammen, dass eine gewisse Ästhetik drin ist, dass das, was erzählt wird, uns neugierig macht. Das forciert unser Interesse. Und das ist auch befriedigender für den Patienten. Insofern ist das schon ein wichtiger Punkt.

Alles ist affektiv überlagert … Unsere Wirklichkeitsauffassung ist aber trotzdem auf etwas anderes ausgerichtet, denn wir müssen Objektivitäten zunächst einmal als gegeben annehmen, sonst würden wir alle beispielsweise stetig aneinander vorbeireden.

BOCK Die Grundlagenforschungen von Hinderk Emrich und vielen anderen zeigen, dass alles, was wir wahrnehmen, durch Affekte gesteuert wird. Das lässt sich neurologisch und psychologisch begründen, nur wir tun meist so, als wäre es nicht so. Bei Psychoseerfahrenen ist das ganz offensichtlich. Das macht es aber im Gespräch nicht schwerer, sondern eher einfacher. Psychotherapie mit Psychoseerfahrenen ist einfacher, weil deren Wirklichkeitskonstruktion offensichtlich ist. Eigentlich. Wir sind also schneller beim Wesentlichen.

Herr Doktor Ruf, teilen Sie das?

RUF Im Prinzip ja. Luc Ciompi sagt ja in der »Affektlogik« und in »Die emotionalen Grundlagen des Denkens« mit den »affektiv-kognitiven Schemata« so etwas Ähnliches, dass also das Affektive bei der Wirklichkeitskonstruktion eine große Rolle spielt. Affektiv besetzte Erlebnisse bleiben eher im Gedächtnis und sind auch leichter abrufbar als Dinge, denen wir gleichgültig und desinteressiert gegenüberstehen.

Das heißt, Sie beide gehen grundsätzlich in ein therapeutisches Gespräch, ohne so etwas wie objektive Urteile über Weltkonstruktionen heranzuziehen?

BOCK Es geht ja allem voran erst mal um die Beziehungsgestaltung, um den Aufbau der Beziehung. Dabei ist es wichtig, den anderen zunächst so zu nehmen, wie er ist, wie er sich gibt, was er sagt, und ihm eine Akzeptanz zu vermitteln für das, was er erlebt. Das Ringen um unterschiedliche Weltkonstruktionen, also darum, etwas neben das zu stellen, was der Patient sieht, das kommt im zweiten Schritt. Ich will mich nicht der anderen Sichtweise unterwerfen, ich stelle meine Sicht schon daneben, nur ist zunächst mal eine Akzeptanz nötig, um den anderen nach seinem Sosein und seinem Gewordensein anzunehmen.

Das Wiederauftauchen der Unvernunft?

Es gibt in den Geisteswissenschaften eine Position, die sagt: Mit der Aufklärung, mit der Rationalisierung unseres Denkens und mit dieser ganzen Vernunftentwicklung, wie wir sie heute kennen, hat die Menschheit vielleicht auch auf Irrationalitäten, auf spielerische Zugänge und Ähnliches verzichtet in ihrer Weltwahrnehmung und Weltgestaltung. Dann kann man der Vernunft auch einen bestimmten Verlust gegenüberstellen. Glauben Sie, dass gerade in der psychotischen Wahrnehmung ein solcher nicht vernünftiger Anteil wiederkehrt? Grenzen wir im Alltagsleben etwas aus, was sich hier wiederfindet?

RUF Zum Teil ist das schon nachvollziehbar, dass der Psychotiker in seiner Denkwelt oder in seinem Wahn Dinge aufgreift, die so im Alltag nicht denkbar oder machbar sind.

BOCK Ich glaube schon, dass wir die Rationalität so überspitzt haben, dass wir Gegenspieler brauchen. Und psychoseerfahrene Menschen sind so eine Art Gegenspieler. Früher waren das vielleicht die Hofnarren oder in anderen Kulturen die Schamanen. Es braucht auch einen Gegenspieler, der uns das Abstandnehmen zu dieser übertriebenen Rationalität und Normierung erlaubt. Man könnte die Tatsache, dass es in allen Kulturen Psychoseerfahrene oder Psychosen gibt, so interpretieren, dass es kein Ausdruck von Genetik oder was auch immer ist, sondern von kultureller Notwendigkeit.

Aber das darf die Psychoseerfahrenen nicht heroisieren und auch nicht funktionalisieren. Es bleibt ein leidvolles Geschehen. Das Ausgegrenztwerden und auch das Gegenspielersein werden ja nicht als Macht erlebt oder als etwas Großartiges, sondern es bleibt etwas Brüchiges. Aber diese Brüchigkeit haben wir alle in uns und diese Brüchigkeit trägt unsere Kultur in sich – und genau die wird in psychotischen Weltwahrnehmungen sichtbar.

RUF Ich kenne einen Patienten, der ist mit der Psychose aus dem beruflichen Leistungsdruck und aus den Leistungserwartungen ausgestiegen. Mehrere Generationen seiner Vorfahren waren sehr erfolgreich, waren sehr reiche Geschäftsleute, und der Druck, dies fortzusetzen, wurde immer weitergegeben an die nächste Generation. Der Patient hatte studiert und war ein international renommierter Wissenschaftler geworden, aber irgendwann wurde der Druck für ihn nicht mehr aushaltbar. Nicht nur meine Interpretation, sondern auch seine eigene war, dass er eben mittels der Psychose aus diesem Kreislauf ausgestiegen war. Er konnte jetzt nur noch einzelne Projekte machen und hatte viel weniger Druck. Die Psychose stellte seinen Rückzug dar.

Das hat natürlich durchaus eine gesellschaftliche Dimension, dieser ganze Leistungsdruck.

BOCK Ich bin vor Kurzem wieder auf das Buch »Haben oder Sein« von Erich Fromm gestoßen, in dem er die zwei Modi oder Kulturen des Habens und des Seins beschreibt. Die Haben-Kultur charakterisiert er mit dem Besitzenwollen, mit Konkurrenz und damit, miteinander in einen Kampf einzutreten, also eher mit dem Nichtfriedfertigen. Die Kultur des Seins beschreibt er mehr als »in sich sein«, in Kontakt treten, miteinander sein und Frieden schließen.

Auf unser Thema der Psychosen übertragen wäre meiner Ansicht nach schon viel gewonnen, wenn wir nicht mehr davon sprächen, dass man Psychosen hat, sondern dass jemand psychotisch ist. Das ist ein Seinszustand. Aus bestimmten Situationen heraus ist man psychotisch oder depressiv oder manisch geworden und steckt in einem entsprechenden Stimmungs- oder Spannungszustand. So zu tun, als hätte man das, als gehörte das zu einer Kultur des Habens, entfremdet den Menschen von seiner Erfahrung, denn es klingt, als hätte man etwas Externales. Das ist es aber nicht. Es gehört zum Personsein und damit zum Modus des Seins.

Haben das dann alle in sich?

BOCK Die einen sind psychotisch, die anderen haben andere Eigenschaften – wobei »Eigenschaften« schon wieder das falsche Wort ist. Es ist jedenfalls etwas, was mit dem Personsein verbunden ist, und es ist nicht etwas uns Fremdes. So interpretiere ich Fromm bezogen auf unsere Auffassung von Krankheit.

RUF Das ist ja etwas, was häufig in der Psychiatrie so benannt wird: Man hat eine Psychose. Viele Patienten leben einigermaßen damit und tragen das als eine Art Aushängeschild vor sich her, zum Beispiel um einer bestimmten Verantwortung nicht ausgesetzt zu werden. In der Psychotherapie geht es aber dann darum, solche Konstruktionen zu verflüssigen und zum Beispiel die Frage zu stellen: Was bedeutet das denn eigentlich?

Ich denke ebenfalls, dass die prinzipielle Möglichkeit, psychotisch zu sein, in jedem von uns steckt. Es gab Untersuchungen, dass durch Schlafentzug über mehrere Nächte hinweg oder durch Abschirmung von äußeren Reizen etwa in abgedunkelten Räumen jeder Mensch psychotisch werden kann. Subjektiv ist die Frage relevant, wann und weshalb jemand psychotisch reagiert.

Das heißt, abhängig von der Lebenssituation braucht jeder Mensch nur irgendwann einmal einen Punkt im Leben, an dem er in die Lage gerät, psychotische Reaktionen zu entwickeln.

BOCK Ja, und zwar aus beiden Richtungen: aus Unter- wie auch aus Überforderung. Am einen Ende reagieren wir bei Überreizung oder Traumatisierung psychotisch und werden gezwungen, aus der Realität auszusteigen. Aber auch durch Unterreizung, durch Isolation gibt es einen Punkt, an dem jeder anfängt, sein Echo selbst zu erzeugen, denn wir können als Menschen nicht ganz ohne Echo oder Resonanz sein. An beiden Extrempunkten gibt es eine Fähigkeit, die Realität verändert wahrzunehmen, oder auch die Notwendigkeit. Das ist nur graduell verschieden: Für den einen ist es ein massives Trauma, für den anderen vielleicht der Tod des Hamsters; für den einen ist es eine komplette Isolation über mehrere Wochen und für den anderen reicht schon ein einsames Wochenende. Individuell ist es sehr verschieden, ab wann das Psychotische genährt wird.

Die Kritik an dieser Haben-Kultur ist auch eine Kritik an der psychiatrischen Diagnostik. Die Psychiatrie neigt zu sehr dazu, zu glauben, mit der Diagnose die Erklärung zu haben – diese verkürzte Sichtweise von uns psychiatrisch Tätigen erfüllt eigentlich die Kriterien eines Wahns.

RUF Man könnte alternativ auch die Wirklichkeitskonstruktion des Psychotikers als normal einstufen, und das, was der Normale denkt, als wahnhaft. Das ist letztlich eine Frage des Normalitätsbegriffs.

BOCK Ich meine damit den Reduktionismus, also alles so zu reduzieren, dass man schließlich annimmt, mit bestimmten Faktoren oder mit der Diagnose hätte man eine Erklärung gefunden. Dann kommt ein Dialog zustande, der in etwa so klingt: »Warum ist Herr X psychotisch?« Antwort: »Na, er hat doch eine Psychose.« Als wäre das eine Erklärung. Das ist in der Psychiatrie leider gar nicht so unüblich. Wir geben uns zufrieden mit der Diagnose, und in den Akten steht nichts mehr drin, nichts mehr über die Biografie, nichts mehr über innere und zwischenmenschliche Konflikte, sondern eben nur noch über Diagnostik.

Wenn wir unsere persönliche Wahrnehmungsgeschichte mal biografisch nehmen, also die Veränderungen der Wahrnehmung eines kleinen Kindes über den Jugendlichen bis hin zum älteren Erwachsenen betrachten, so stoßen wir auf eine erstaunliche Parallele: Ein Kind nimmt so wahr, dass es alles auf sich bezieht, weil es von sich noch nicht abstrahieren kann, weil es überfordert wäre, die Vielfalt der Welt anders zu begreifen. Alles auf sich zu beziehen ist letztlich paranoid. Aber es schützt vor Überforderung, es ist kindgemäß. Damit wird deutlich, dass die paranoide Wahrnehmung, also die Bereitschaft, die Dinge auf sich zu beziehen, eine Funktion hat, nämlich die überbordende Vielfalt zu reduzieren und damit zu ordnen. Das kann offenbar auch jenseits des Kindesalters wichtig und sogar richtig sein.

Dann haben wir den Jugendlichen, der in seinem Überschwang davon ausgeht, dass ihm die ganze Welt offensteht, er noch alle Möglichkeiten hat. Man kann nur hoffen, dass wir da nicht sagen, jeder Jugendliche sei größenwahnsinnig, manisch.

Ein alter Mensch schließlich, der schwerhörig wird oder schwere Verluste kompensieren muss, belebt die Erinnerungen bis hin zu akustischen Signalen, wie Wolfgang Klostermann und Kollegen gezeigt haben.

Unsere Wahrnehmungen unterliegen also einem Entwicklungsmuster. In Psychosen greifen wir auf Muster zurück, die wir ansonsten abgelegt, aber im Gehirn durchaus noch abgespeichert haben. Wir greifen auf neuronale Bahnungen zurück, die zum Beispiel in der Kindheit bei uns allen aktiv waren, die eigentlich uns allen zu eigen sind.

Klingt alles wahnsinnig normal …

BOCK Ist es auch, aber zugrunde liegt – und das ist wichtig – ein Ausnahmezustand. Zugrunde liegt, dass sich jemand dazu gezwungen fühlt und dass er nicht »freiwillig« entscheidet, sondern aus großer Not heraus reagiert, weil ihn irgendetwas völlig überfordert oder er sich in Bedeutungslosigkeit verloren hat und sich die Bedeutung konstruieren muss. Deswegen greift die Psyche auf so eine Reaktion zurück. Das ist keine beliebige »freie« Entscheidung. Wichtig ist, dass die Umgebung erkennt und letztlich natürlich auch der Betreffende selbst erkennt, dass das unser Spielraum, unser menschlicher Spielraum ist. Das müssen wir nicht pathologisieren. Man muss es verstehen und dem anderen den Spielraum wiedergeben sowie ihm zugleich ermöglichen, die Handlungsfreiheit zurückzugewinnen. Es bleibt eine Not, aber die müssen wir nicht pathologisieren, sondern wir können das auch anthropologisch erklären und verstehen.

Können Sie das mal ausbuchstabieren im Hinblick auf das Stimmenhören? Die Stimmen werden als von außen kommend wahrgenommen, gleichzeitig aber ja innerlich produziert.

BOCK Stimmenhören ist ein externalisierter innerer Dialog. Wir haben alle innere Dialoge, wägen Möglichkeiten ab, vergleichen Dinge, spielen Positionen durch und so weiter. Wenn in der Psychose die Abgrenzung zwischen dem Innen und Außen verloren geht, dann tritt der innere Dialog nach außen. Umgekehrt können die äußeren Ereignisse uns filterlos ins Innere treffen – ohne Abwehr- oder Unterscheidungsmöglichkeit. Das ist beides in den Worten »Durchlässigkeit« oder »Dünnhäutigkeit« enthalten.