Achtzehn Stufen - Romy Ulrich - E-Book

Achtzehn Stufen E-Book

Romy Ulrich

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Beschreibung

Anne lebt mit Markus in zufriedener Geborgenheit. Doch dann gerät ihr Leben aus den Fugen. Mutter zieht ein und ihre Alzheimerkrankheit wird zunehmend zu einer Zerreißprobe zwischen ihr und Anne. Durch das Unverständnis der weiteren Familie kommt es zu unschönen Diskussionen. Mit zunehmender Erkrankung wird Mutter für sich, Anne und Markus zur Gefahr. Es kommt zu gefährlichen Situationen, aus welchen Anne oft nur einen verzweifelten Ausweg sieht. Annes physische Kraft ist aufgebraucht und Mutter wird immer öfter aggressiv. Eines Tages weiß sich Anne nicht anders zu helfen, als Mutter ans Bett zu fesseln. Sie spürt ihr Mitgefühl und Verständnis schwinden, zumal die Erinnerungen an Mutters frühere Herrschsucht hochkommen. Das Buch beschreibt eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Beziehung die zeigt, wie schwer häusliche Pflege demenzerkrankter Angehöriger sein kann.

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Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Impressum

Achtzehn Stufen Sabine Penckwitt published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2013 Sabine Penckwitt

Achtzehn Stufen

Der Teller mit dem Mittagessen glitt ihr aus der zittrigen Hand und fiel zu Boden. In kleine Stücke geschnittenes Schnitzel, Erbsen, Kartoffelpüree und Soße verteilten sich zu ihren Füßen auf dem Teppich. Soßen aller Art und Farbe hatten in der Vergangenheit bereits ein eigenwilliges Muster auf dem ursprünglich beigefarbenen Teppich verursacht, so als wollte ein moderner Künstler immer wieder mit einer neuen Farbvariante die alte tilgen.

Sie blieb sitzen und sah stumpf vor sich hin.

Nach einer Weile griff sie zum Puddingschälchen, schüttete sich den Inhalt langsam auf Pulli und Rock und ließ die Schale auf den Teppich fallen.

„Ich sage dir, die macht das mit Absicht! Du kannst es nicht beurteilen, du bist ja den ganzen Tag nicht da“, schrie Anne und gestikulierte wild mit den Händen. Sie blieb vor ihrem Mann stehen, ließ die Arme kraftlos sinken und weinte krampfartig.

Er nahm sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und beruhigte sich allmählich.

„Weißt du“, sagte sie leise: „Unsere beiden Kinder haben mich nie so in Trab gehalten, wie meine Mutter. Ich denke oft, irgendwann flippe ich aus.“

„Sie kann nichts dafür. Dr. Bertram sagt das auch.Wenn ich abends zu ihr hoch gehe, ist sie ganz ruhig, ich erzähle ihr etwas und sie hört zu“, antwortete Markus.

„Ja, du bist auch der liebe Schwiegersohn. Das warst du immer, erinnere dich. Mutter sagte einmal, wenn ich dich nicht geheiratet hätte, hätte sie dich am liebsten genommen.“

„Sie verehrt mich eben. Komm, ich gehe zu ihr und mache den Teppich sauber. Ich bringe sie heute auch ins Bett und wir trinken nachher ein Glas Rotwein, ja?“

Markus ging die Treppen hoch und Anne setzte sich auf einen Küchenstuhl und weinte.

Rotwein, dachte sie, Rotwein, Chips und Fernsehen. So hatte sie sich das Leben mit fünfundfünfzig nicht vorgestellt. Wann sah sie die Kinder, wann kamen die Enkel vorbei?

Ganz selten.

Seit ihrem achtundvierzigsten Geburtstag war alles vorbei. Alle in der Familie waren der Meinung gewesen, dass Mutter zu ihnen ziehen müsse.

„Sie kann nicht mehr allein leben und ihr seid die einzigen, die Platz haben“, sagte Betty.

Nora und Klaus gaben gleich zu bedenken, dass sie beide noch voll berufstätig seien,

während Anne nur nachmittags in die Töpferei ginge.

Es waren Mutters nächtliche Angstzustände, weswegen sie nicht mehr in der eigenen Wohnung leben konnte. Dr. Bertram war ihr Hausarzt und meinte, sie wäre gut versorgt mit ihren Herzmedikamenten und die Ängste könnten sich auch etwas bessern. Vor allem, wenn sie wüsste, dass sie nachts nicht allein im Haus sei.

Zunächst änderte sich für Anne und Markus nichts.

Markus hatte abends seinen Sport, Anne ihre Töpferei, die sie mit ihrer Freundin Marie betrieb. Anfangs war Mutter noch mobil, ging ins Theater und zum Kaffeekränzchen.

Das war nun schon sieben Jahre her.

Anne stützte die Ellenbogen auf den Tisch und dachte nach, seit wann es eigentlich so schlimm geworden war.

Sie hatte damals große Bedenken, schließlich war ihre Mutter sehr dominant, sie nahm sich vom Leben, was sie brauchte. Seit Anne denken konnte, bestimmte Mutter das Familienleben, sie managte alles, sogar die Studienrichtungen ihrer Töchter. Nur Anne wollte nicht studieren, sie wollte Schwester werden.

Einen Streit würde sie niemals vergessen. Sie war im dritten Ausbildungsjahr als Krankenschwester.

„Nach dem Abitur fiel dir nichts Besseres ein, als einen Ausbildungsberuf zu erlernen. Aber natürlich, was will man mit einer Abinote von drei. Abitur und kein Studium. Sieh dir Betty und Nora an. Abitur mit Auszeichnung und Nora hat sogar das Studium ausgezeichnet beendet. Wer nach dem Abi nicht studiert, kann gleich Klofrau werden.“

„Aber ich bin keine Klofrau. Außerdem muss es auch Leute geben, die deine Scheiße wegmachen!“, hatte sie ihre Mutter angeschrieen. Mutter war allerdings nicht so schnell niederzuschreien. Sie sagte, ohne die Stimme zu heben: „Klofrau bist du nicht, aber Krankenschwestern machen auch nur anderen Leuten die Scheiße weg, will ich dir mal sagen.“

Anne war in ihr Zimmer gerannt, hatte geschrieen und mit den Fäusten auf ihr Lieblingskissen getrommelt, dann hatte sie es vor Wut mit den Händen zerrissen.

Dabei waren ihr drei Fingernägel abgerissen, was sie erst später bemerkte, als sie sich langsam beruhigte.

Betty und Nora waren fünf und sieben Jahre älter, als Anne. Betty hatte Archäologie studiert und jahrelang knochentrocken im Landesmuseum gesessen. Nicht jeder Archäologe entdeckt schließlich ein ägyptisches Königsgrab. Die meisten arbeiten ganz unspektakulär. Aber trotzdem, ein sehr schöner Beruf, das hatte Anne immer gedacht.

Und Nora? Nora hatte Veterenärmedizin studiert. Natürlich war gleich klar, dass sie nicht nachts auf Bauernhöfen mit dem Arm bis zur Schulter im Hintern einer Kuh stecken würde, um das Kalb zu holen. Dafür hatte Mutter mit ihren ewigen Einmischungen schon gesorgt.

Nora hatte bis zu ihrer Pension eine gut gehende Kleintierpraxis und ihr Mann war Leiter der Tiermedizinischen Klinik.

Betty und Nora hatten damals versprochen, wenn sie erst im Ruhestand sind, dann könnten sie Mutter ja auch mal betreuen. „Wenn ihr in Urlaub fahren wollt, Anne. Das ist doch dann gar kein Problem.“

Anne dachte, nun sind die beiden im Ruhestand und auch Klaus wird nächstes Jahr pensioniert, trotzdem wollen sie sich nicht belasten.

„Du weißt ja, ich mit meinen Herzproblemen und Nora mit der Bandscheibe. Du machst dir keinen Begriff, wie das Berufsleben uns kaputt gemacht hat. Du hast ja klugerweise aufgehört zu arbeiten, als euer Erster kam. Und, na ja bei Markus` Verdienst hattest du es auch nicht nötig, du Glückliche.“

Anne seufzte und dachte, warum waren ihr ihre Schwestern so fremd geworden oder waren sie es ihr immer schon, durch Mutters Seitenhiebe? Außerdem verdienten Nora und Klaus zusammen natürlich mehr als Markus. War Betty neidisch gewesen, dass Anne zu Hause sein und nachmittags ihrem Hobby nachgehen konnte? Meinte sie, dass Anne nun auch mal die Härten des Lebens spüren müsse?

Und wieso hat ein starker Mensch wie Mutter nachts Angstzustände? Oder ist sie gar nicht stark, hat ein Leben lang Fassade gezeigt?

Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

Sie erinnerte sich, es muss drei oder vier Jahre her sein. Frau Krämer, eine von Mutters Kaffeedamen war zu Besuch. Anne war mit Bettwäsche auf dem Arm im Flur und hörte, dass

Frau Krämer Mutter fragte, ob ihre Tochter sie noch immer schikaniere.

Anne war außer sich und war ins Zimmer gegangen. Sie stellte Mutter vor Frau Krämer

zur Rede. Mutter ließ sie ausreden und sagte dann betont ruhig: „Sehen Sie, sie hat sich nicht

in der Gewalt. Und belauscht hat sie uns auch noch.“

Was bedeutet Altersbösartigkeit?

Jeder kennt den Begriff, aber gibt es das wirklich, im Alter bösartig werden? Und wie kann man das erkennen? Ist das eine Art von Demenz oder nicht zu vergleichen?

Wieder rollten ihr die Tränen über die Wangen, sie konnte sich gar nicht aufraffen, um für sich und Markus den Tisch zu decken.

Markus kam in die Küche: „Deine Mutter sagt, dass du ihr die Klingel weggenommen hast?“

„Ja, schon vor vier Wochen, das merkt sie jetzt erst? Da siehst du, dass sie die Klingel gar nicht gebraucht hat, höchstens um mir das Leben schwer zu machen. Ich sehe ja öfter nach ihr.“

„Aber Anne, es ist neunzehn Uhr und das Mittagessen liegt immer noch auf dem Teppich. Ich dachte vorhin, nur die Flecken sind noch weg zu machen. Da kannst du dich doch nicht um sie gekümmert haben.“

„Da kannst du dich doch nicht um sie gekümmert haben“, äffte Anne ihren Mann nach:

„Habe ich auch nicht! Als ich hoch kam, um das Geschirr zu holen, lag alles auf dem Boden. Markus, wenn ich nicht gegangen wäre, hätte ich sie geschlagen. Geschlagen, verstehst du!

Manchmal hasse ich sie und das wird immer schlimmer.“ Sie ballte die Faust und schlug

auf den Tisch.

„Außerdem ist an dem Teppich sowieso nichts mehr zu retten!“, setzte sie noch nach.

Er ging wortlos raus und Anne fühlte alle Last und alle Einsamkeit der Welt auf ihren Schultern.

Nach einer Weile ging sie ins Wohnzimmer. Sie hörte die letzten Worte eines Telefongesprächs, das Markus führte.

„Mit wem hast du gesprochen?“

„Mit Marie, sie kommt gleich. Anne, du brauchst Hilfe“, sagte Markus und goss Rotwein in zwei Gläser. Ein drittes für Marie stellte er schon auf den Tisch.

Marie, die Gute, ihre wirklich beste Freundin. Sie führte nun die Töpferei allein und sie sahen sich selten. Trotzdem, das Vertrauen und die Zuneigung waren ungebrochen.

Anne atmete erleichtert auf, Marie kommt, das ist gut.

Marie war die Einzige, die für möglich hielt, dass Annes Mutter bösartig sei,

während die ganze Familie auf Anne schimpfte.

Alle gaben ihr gute Ratschläge, sie wäre nur nervös. Mutter ist sicher immer noch bestimmend, aber doch nicht bösartig, sie sei eben verwirrt.

Na und? Das ist doch kein Grund, gleich das Handtuch zu schmeißen und von Altersheim zu reden.

Drei Töchter und zwei Schwiegersöhne, das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schafften!

Wir? Betty und Nora besuchten Mutter alle vier Wochen im Sonntagsstaat, nicht in der Lage, sie wenigstens an diesem Tag zu betreuen und ins Bett zu bringen.

„Du machst das schon Anne. Klaus und ich haben für heute noch Theaterkarten. Wir müssen los.“ Nora und Klaus hatten immer Theaterkarten.

Betty versprach jedes Mal: „Du, heute klappt es nicht, aber ich komme in der Woche mal

vorbei. Versprochen!“

Es klingelte, Marie war gekommen. Anne stürzte sich in ihre Arme und schluchzte heftig. Sie konnte nicht an sich halten.

„Marie, das Leben ist so beschissen. Ich kann nicht mehr. Wir gehen nie ins Theater, nicht mal ins Kino. Keine Wochenendreise mehr. Einfach nichts.“

Alles Aufgestaute sprudelte aus ihr heraus. Wie sie aussähe, kein make up, zum Frisör müsste

sie auch schon lange. Abends sei sie völlig erschöpft und hielte mit Markus nur noch Händchen über die Bettritze. Mal wieder was Schickes anziehen, einfach nur essen gehen.

„Guck dir die Iris Berben im Fernsehen an. Die ist mein Jahrgang. Wie gut die noch aussieht - und ich?“

Anne wischte sich die Tränen ab und lächelte gequält. „Ich rede schon Unsinn“, sagte sie und setzte sich neben Marie auf die Couch.

Markus schenkte Wein ein und sagte, wie froh er sei, dass Marie kommen konnte.

„Ja, aber ich weiß nicht, wie ich helfen kann. Ich glaube Anne. Aber ich kann nicht beurteilen, ob eure Mutter vieles, was ihr erzählt, aus Bosheit tut oder weil sie nicht klar im Kopf ist. Außerdem ist das auch egal. So oder so, es geht über Annes Kräfte. Mein Rat wäre Altersheim.“

„Aber nach der Kurzzeitpflege, während unseres Urlaubs, wurde alles noch schlimmer“,

seufzte Anne.

„Stimmt. Das ist doch klar, sie kann sich nicht so schnell an die neue Umgebung gewöhnen.

Das wäre etwas anderes, wenn sie merkt, dass dort ihr Heim ist.

Sieh mal Anne, seit vier Jahren kommst du nicht mehr in die Töpferei.“

Anne wollte etwas erwidern, aber Marie legte ihre Hand auf Annes Arm:

„Nein, nein versteh mich um Gottes Willen nicht falsch! Das ist überhaupt kein Vorwurf. Im Gegenteil, ich will damit sagen, wie lange es deiner Mutter schon so geht, dass ihr sie nicht allein lassen könnt. Vier Jahre immer standby, wenn ich das mal so sagen darf. Das hält keiner aus! Vor allem, wenn man nicht weiß, wie lange noch. Na ja, ich meine wir können doch deutlich miteinander sprechen. Wie lange lebt sie noch und um wie viele Grade wird es noch schlimmer mit ihr?“

Markus ging im Wohnzimmer auf und ab.

Er sagte: „ Ich verstehe das alles überhaupt nicht. Verwirrt, dement, böse und was noch alles für Begriffe. Oft spricht sie ganz folgerichtig. Gut, sie muss nachts schon Pampers tragen und

so wie heute kippt sie ihr Essen auf den Teppich. Dann wiederum erzählt sie, was im

Fernsehen lief.“

„Markus“, sagte Marie: „Du tust gerade so, als sei das alles gar nichts. Guck dir deine Frau doch an. Anne ist fertig. Willst du das? Oder besser noch, wolltest du so mit Anne das Alter genießen?“

„Ja Markus, es wird auf keinen Fall wieder besser. Außerdem kann ich nicht unterscheiden, ob sie mich piesacken will oder nicht. Vielleicht macht sie doch alles mit Absicht, denk an Frau Krämer und alles, was wir danach mit ihr erlebt haben.“

Zu Marie gewandt sagte Anne: „Marie, vor dir brauche ich mich nicht zu verstecken. Heute war ich so außer mir, dass ich Mutter beinahe geschlagen hätte. Das macht mir Angst.“

Marie nickte nachdenklich, sie sah zu Markus auf. Er zuckte unmerklich mit den Schultern und setzte sich wieder.

Eine Lösung war für Anne nicht in Sicht, das spürte sie wohl.

Markus hielt ihnen vor Augen, wie die Altenheime aussahen, wie sehr überlastet das Personal sei. Dort würde es mit Mutter zusehends bergab gehen.

„Überlegt doch mal, welche Mutter schikaniert denn ihre Tochter absichtlich, wenn dabei das Damoklesschwert Altersheim über ihr steht. Das hat doch gar keinen Sinn. Welcher Mensch, fragt euch das selbst, möchte im Alter im Heim leben und sterben? Meist auch noch im Doppelzimmer. Mit einem wildfremden Menschen, der auch seine achtzig oder mehr auf dem

Buckel hat. Und dann die Umstände! Einer muss gerade kacken, na ja so ist es doch, und der andere isst noch seinen Nachtisch.“

Marie machte noch den Vorschlag, mit den Geschwistern zu reden, dass alle zusammen eine Pflegerin bezahlten, auch eine Möglichkeit Anne zu entlasten.

Dann verabschiedete sie sich. „Ich drück dir die Daumen, meine Anne“, flüsterte sie beim Umarmen und laut sagte sie: „Stimmt, die Berben sieht besser aus. Also Markus, lass dir was einfallen.“

„Ach Marie“, brummelte er ärgerlich.

Seit er weniger zum Sport ging, zeigte sich ein kleiner Bauchansatz unter Markus Pullover. Aber trotzdem konnte man ihn noch als schlank bezeichnen. Sein dunkles Haar war nur vorn etwas schütter geworden und auf seinen Händen hatten sich die typischen braunen Tupfen breit gemacht. Das Wort Altersflecken hasste Markus. „ Das Wort allein macht mich gleich um zehn Jahre älter.“ hatte er einmal allen Ernstes behauptet.

Markus war seit 15 Jahren Filialleiter einer Kaufhauskette. Bisher krisensicher hatte er gedacht. Aber vor ein paar Monaten musste er im Auftrag des Mutterkonzerns einige Entlassungen aussprechen. Er hatte schlaflose Nächte und war unausstehlich zu Hause, weil er es nicht übers Herz brachte, die Kollegen in sein Büro zu bitten. Er wusste, es gab Chefs, die den Mitarbeitern die Kündigung per Post schickten, obwohl sie täglich miteinander zu tun hatten. Feigheit war nicht Markus Stärke und deswegen hatte er den Kollegen die unausweichliche Nachricht sogar nach Hause gebracht und versucht, sie woanders hin zu empfehlen. Das war es, was Anne an ihm so liebte. Immer ehrlich und mitfühlend.

Fünf Wochen waren vergangen. Die Geschwister kamen mal wieder zum Sonntagskaffee.

Ein herrlicher Septembertag, die Luft roch nach warmer Erde, ganz leicht hauchte schon der

Oktober seinen Duft von buntem verwelkendem Laub hinein.

Anne hatte den Tisch gedeckt, der selbst gebackene Kuchen verströmte einen verführerischen Pflaumen-Zimtgeruch.

Markus hatte Mutter mit Mühe auf die Terrasse geführt und ihr eine Decke umgelegt.

Betty und Nora schwatzten, wie immer, unaufhörlich von ihren Wichtigkeiten.

Sie redeten auf Mutter ein, als könnten sie sich, wie früher, mit ihr unterhalten.

Anne rief, der Kaffee sei fertig, sah aber, dass Markus gestikulierend mit Klaus redete.

Die beiden waren weiter hinten auf dem Rasen stehen geblieben.

Sie fühlte sich matt und unsagbar ausgelaugt.

„…und stell dir vor, das Ganze hat dann 280,00 € gekostet. Was sagst du zu so einer Unverschämtheit.“ Nora hatte sich ihr zugewandt: „Anne, du hörst mir gar nicht zu. Du lebst aber wirklich nur noch in deiner Welt. Ihr solltet mal wieder was unternehmen, du musst mal raus. Hamburg oder so.“

„Ja, das ist ein guter Vorschlag. Für so ein Wochenende findet sich bestimmt mal eine Pflegerin“, Betty unterstütze ihre Schwester. Nora schob gleich eine Idee zur Pflege nach: „Polinnen sollen ja ganz wild auf deutsche Pflegestellen sein. Die sind dann auch nicht teuer.“

Abrupt schlug Anne mit der Faust auf den Tisch, dass der Kaffee überschwappte. Sie sprang auf und brüllte ihre Schwestern an: „ So, und wo hole ich für ein Wochenende eine deutsch sprechende Polin her? Und ein Wochenende? Was soll das? Ich brauche täglich jemand!

Ihr habt ja keine Ahnung. Ihr redet und redet nur von euch, nach mir fragt ihr überhaupt nicht.“ Anne lief laut aufschluchzend ins Haus.

Die Männer waren erschrocken zur Terrasse gekommen: „Was war denn los?“, fragte Klaus. „Also Anne ist vollkommen hysterisch geworden. Wir hatten den Vorschlag gemacht, für ein Wochenende eine Pflegerin zu engagieren, damit ihr mal rauskommt“, wandte sich Betty an Markus.

Nora legte auf die Untertassen Papierservietten, um den Kaffee aufzusaugen und sagte: „ Ich verstehe Anne nicht. Mutter ist doch kein schwerer Pflegefall. Es fällt gewiss nicht immer leicht, aber Anne hat ein gesundes Herz, keine Rückenbeschwerden, in ihrem Alter bin ich noch stramm in meine Praxis gegangen. Und nicht zu vergessen, Anne ist die Fachkraft.

Mutter, was sagst du dazu. Wäre es nicht möglich, dass am Wochenende mal eine nette

Frau käme, damit Anne und Markus mal ausspannen können?“

Die ganze Zeit hatte sich Mutter nicht bewegt und nichts gesagt. Sie sah Nora an und nachdem ihr Blick hilflos von einem zum anderen wanderte, kam ein kaum hörbares:

„Ja“ über ihre Lippen.

„Na also!“, sagte Nora und setzte sich an ihren Platz.

Weder Betty noch Nora hatten daran gedacht, dass Mutter ihren Kuchenteller nicht allein vom Tisch auf das Schoßtischchen heben konnte. Sie hatte dadurch noch kein Stück essen können.

Anne kam aus dem Haus und reichte ihr wortlos den Kuchenteller. Sie half ihr, ein wenig Kaffee zu trinken.

„Seht ihr, das meine ich. Ihr redet und redet, seht aber nicht, was nötig ist. Und zu mir sagt ihr, das sei alles ein Kinderspiel“, schnaubte Anne mit geröteten Augen.

„Du bist ja völlig übergeschnappt. Wir kommen wieder, wenn du dich beruhigt hast. Komm Klaus! Der Appetit auf Kuchen ist mir vergangen“ ,mit diesen Worten erhob sich Nora und Betty schloss sich den beiden an.

Als Markus und Anne wieder auf die Terrasse kamen, war Mutter eingenickt.

Markus nahm ihr den Teller vom Schoß.

Er legte den Arm um Anne und sie gingen ein Stück über den Rasen.

„Ich habe mit Klaus über die Finanzierung einer Pflegerin gesprochen. Er meint, es sei nicht zu machen. Betty können wir finanziell nicht belasten und er fände es zu teuer, weil man nicht weiß, wie viele Jahre das Geld nötig sei. Außerdem würde der Medizinische Dienst, der die Pflegestufen einschätzt, für Mutter keine hohe Pflegstufe festlegen. Ich hatte den Eindruck, dass Klaus auch nicht einsieht, warum.“

„Sie lassen uns alle im Stich, weil sie denken, dass ich ja schließlich Krankenschwester bin. Wozu dann eine fremde Pflegerin. Dabei hat das doch gar nichts damit zu tun.“

„Na ich habe Klaus geschildert, was so vorgekommen ist, im Laufe der Zeit. Als ich vom Altersheim sprach, hat er gleich abgewinkt. Mutters Rente würde für eine bessere Kategorie nie reichen und dadurch seien wir vor dem gleichen Problem, wie mit der Pflegerin.“

„Weißt du, manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Sie ist doch meine Mutter.

Ich weiß nicht, ob ich gute Gefühle für sie empfinde. Siehst du, ich sage gute Gefühle, ich kann das Wort Liebe in Verbindung mit Mutter nicht aussprechen.

Es gibt so viele Gründe, warum man seine Eltern nicht zu Hause pflegen kann, da bleibt nur der Weg Altersheim, na ja Seniorenheim heißt es ja heute. Wie machen es andere Leute?

Bei Vater habe ich nie so empfunden. Findest du mich herzlos?“

„Nein, gar nicht. Ich verstehe dich und versuche dir zu helfen, wo ich kann. Nur fehlst du mir hin und wieder. Ich habe dich noch genauso lieb, wie eh und je und möchte mit dir mal wieder zusammen sein… pscht, sag nichts dazu. Ich weiß doch, dass du kaputt bist und abends todmüde ins Bett fällst“, er hielt ihr die flache Hand über den Mund.

Anne musste lächeln, sie sagte: „Hättest du mit zwanzig gedacht, dass man sich solche Dinge noch mit fünfundfünfzig sagt?“

„Sagt? Macht, Anne, macht!“, lachte er.

Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken und sie kippte mit einem kleinen Ruck zur Seite und wachte auf. Sie sah sich um, aber nichts kam ihr bekannt vor. Über die Wiese kamen zwei

Menschen auf sie zu. Dann zeigten ihre Züge ein Erkennen.

Ach, das sind ja Anne und Markus, dachte sie.

Sie sah sie unverwandt an, umklammerte das Tischtuch und zog daran.

Anne und Markus konnten nicht so schnell laufen, wie das Tischtuch mit dem gesamten Kaffeegeschirr laut klirrend auf dem Terrassenboden landete.

„Mutter!“, herrschte Markus sie an und sah fragend zu Anne.

Sie ging zu ihrer Mutter und versuchte sie am linken Arm vom Stuhl zu zerren.

Markus ging auf die rechte Seite und packte sie wütend am Oberarm. Ziemlich rasch und unbeherrscht brachten sie Mutter in ihr Zimmer und setzten sie dort in ihren großen Sessel.

Bevor Anne zur Tür ging, drehte sie sich noch einmal um und sah ihrer Mutter ins Gesicht.

Sie lächelte Anne an und Anne konnte nicht erkennen, ob es ein triumphierendes oder ein blödes Lächeln war. Sie knallte die Tür hinter sich zu.

Unten angekommen, sah Anne gar nicht erst nach, ob noch etwas vom Geschirr zu retten war. Sie nahm die Tischdecke an allen vier Ecken auf und warf das so entstandene Bündel klirrend in die graue Tonne. Die umliegenden Reste schaffte sie auf der Kehrschaufel weg.

Markus war in die Küche gegangen und hatte zwei große Cognacgläser gefüllt.

Er brachte eins und reichte es Anne wortlos.

Mit schwerem Kopf wachte Anne am nächsten Morgen auf. Sie sah nach links, doch das Bett war leer.

„Oh, Gott“, murmelte Anne: „Schon acht Uhr.“

Markus war längst im Büro. Das Aufstehen fiel ihr schwer, aber nicht wegen des Alkohols von gestern, sondern vor Traurigkeit. Am liebsten wäre sie liegen geblieben.

Sie schlich in die Küche und brühte sich einen starken Kaffee.

Auf dem Tisch lag ein Zettel.

Markus hatte geschrieben: Das darf nie wieder vorkommen!!!

Ich habe Mutter heute früh auf ihr Bett gelegt. Sie lag auf dem Boden, als ich hoch kam.

Ich liebe dich, Markus.

Anne blieb sitzen, sie empfand nichts, kein Mitleid, keine Reue, alles war leer.

Sie ging ins Bad, duschte ausgiebig, cremte sich und legte sorgfältig make up auf.

Dann fuhr sie in die Stadt, schlenderte durch die Kaufhäuser und besuchte Marie

in der Töpferei. „Anne, wie schön. Ich freue mich! Lass mich raten? Deine aufopferungsvolle Schwester Betty ist wirklich mal gekommen. Prima! Komm, ich zeige dir, was ich in letzter Zeit gemacht

habe.“ Anne nickte.

„Ich kann nicht lange bleiben“, entgegnete sie: „Ich habe noch einen Frisörtermin.“

Marie hatte eine neue Serie Schüsseln und Kindertassen entworfen.

Auf den Henkeln der Kindertassen tanzten jeweils ein Insekt oder ein Frosch oder eine Schnecke. Annes Ideen hatte Marie verwirklicht. Sie freute sich und hätte am liebsten gleich in den Ton gegriffen.

Marie war die Chefin und hatte Textiles Gestalten studiert, das Töpfern gehörte zur Ausbildung. Als Annes Jüngster aufs Gymnasium kam, schlug Marie vor, doch mit ihr eine kleine Töpferei mit Verkauf aufzumachen.

„Deine Frau hat Talent und Ideen“, sagte sie zu Markus: „Es kostet erst mal keinen Pfennig. Ich wollte das sowieso schon immer und deswegen läuft alles auf mich. Anne braucht bloß Lust und Zeit mitbringen.“

Gesagt getan, mit 45 Jahren etwas Neues anfangen, das hatte Anne gefallen.

In ihren alten Beruf konnte sie nicht mehr, zu alt und keine freien Stellen.

Marie war zwei Jahre jünger als Anne und schon tüchtig grau geworden. Sie trug ihr Haar noch immer am Nacken zu einem dicken Knoten gebunden. Marie hatte schon lange Röcke und Leinenkleider getragen, als es nicht Mode war und ihr auf der Strasse missbilligende Blicke hinterher geworfen wurden. Sie war höchstens einssechzig und ein bisschen pummelig.

Anne setzte sich auf einen Schemel vor einer Drehscheibe und fühlte sich frei und glücklich.

Sie besprachen noch die Farben und Glasur, dann ging Anne.

Sie ging in einen Frisiersalon, der ohne Termine arbeitete und war nach einer Stunde schon fertig.

In einem Delikatessengeschäft kaufte sie Leckeres zum Abendbrot und war kurz vor fünf Uhr wieder zu Hause.

Markus kam viertel vor sieben. Der Tisch war festlich gedeckt, Wein kalt gestellt und sie hatte ein neues Kleid an.

„Du brauchst heute nicht zu Mutter hoch, sie schläft schon“, rief Anne fröhlich,

„Bitte lass uns nicht von gestern sprechen. Mit diesem Abend decken wir alles zu und fangen noch mal von vorn an. Ich musste tatsächlich nur einmal raus.

Stell dir vor, Marie war heute früh hier und hat mich förmlich zum Frisör gejagt.

Das ist eben eine echte Freundin!“

„Macht sie vormittags nicht immer ihren Laden auf?“

„Ja, ja, aber heute hatte sie ihn für mich geschlossen.“

Es war ein schöner Abend, wie lange nicht mehr. Anne trank viel vom Wein und später nahmen sie sich viel Zeit füreinander.

Sie lies sich von seinen Zärtlichkeiten verwöhnen und ihre Haut fühlte sich unter seinen Händen so glatt an, als ob ein kostbares Seidentuch über sie gleiten würde.

Dabei war sie „bei Lichte besehen“, wie sie immer sagte, schon lange nicht mehr glatt. Sie gehörte zu den Frauen, die im Alter feinknitterig wurden. Keine großen Querfalten am Hals, aber überall feine kleine Linien, die ein großes zartes Netz bildeten.

Anne war immer ein bisschen rundlich, nie so schön schlank, wie die Berben. Sie hatte noch immer dunkles Haar und ausdrucksvolle Augen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sie sich frei und glücklich.

Sie schlief mit dem Kopf auf Markus Brust ein, so wie früher.

Am nächsten Morgen stand sie mit Markus auf und frühstückte mit ihm.

„Warum so zeitig, du kannst doch noch eine halbe Stunde liegen bleiben.“

„Da siehst du mal, was so ein freier Tag für einen Elan bringt. Ich fühle mich wohl und munter.“

Als sie die Haustür hinter ihm schloss, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür, alle Heiterkeit war verflogen. Es kam ihr vor, als müsste sie in eine dunkle Gruft gehen.

Anne schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.

Was hatte sie getan? Seit Sonntagabend hatte sie sich nicht um Mutter gekümmert und sie hatte Markus belogen. Heute war Dienstag.

Sie ging in die Küche, setzte sich und starrte vor sich hin.

Sie wusste, sie muss nach oben.

Anne befiel Panik, ihr grauste davor, was sie wohl vorfinden würde.

Vielleicht war Mutter tot.

Angst lähmte sie und hielt sie auf dem Stuhl, als wäre Klebstoff darauf.

So war sie doch nicht, so grausam. Nein, das war ein Ausrutscher nach all der Anspannung. Markus hatte Recht, das darf nie wieder vorkommen.

Plötzlich erfüllte sie ein warmes Gefühl, fast wie in Kindertagen.

Eine schöne Kindheit hatten ihre Geschwister und sie gehabt, geborgen, Mutter und Vater waren immer für sie da. Nie gab es Schläge.

In den Teenagerjahren hatte Mutter viel Verständnis für ihre Launen und Eskapaden. Sie hatte ihr erzählt, wie schwer sie es selbst mit Großmutter gehabt hatte.

Das mit dem Abi, ach das war sicher nur Mutters Sorge, dass Anne sich hängen lässt.

„Wenn man seine Fähigkeiten nicht gebraucht, verlernt man sie zu gebrauchen.

Dann wirst du träge, Kind. Versteh doch, wir meinen es gut mit dir. Du sollst dich nicht

gehen lassen.“ Vater hatte es zu ihr gesagt.

Wie Vater zu ihr sprach, das konnte Anne akzeptieren, aber Mutter mit der Klofrau?

Ach, Mutter war eben die Starke in der Familie. Na und, war das so schlecht?

Markus hatte ihr gleich gefallen. „Mit dem wirst du glücklich, Kind“, hatte sie gesagt:

„Vor allem, er wird dich auf Trab halten. Der ist genau der Richtige für dich.“

Lange blieb sie in Erinnerungen versunken. Sie dachte an ihre erste fünf in der Schule und an eine gefälschte Unterschrift, ach da hatte Mutter fantastisch reagiert.

Ihr war kalt und sie war wieder in der Wirklichkeit angekommen. Sofort begann ihr Herz zu klopfen, so dass sie jeden Schlag schmerzhaft bis zum Hals spürte.

Sie ging in den Flur und blieb am unteren Treppenabsatz stehen.

Sie horchte angespannt, konnte jedoch kein Geräusch von oben vernehmen.

Eine Treppe nach oben führt angeblich immer ins Licht, dachte sie.

Diese Treppe führte Stufe für Stufe in die Angst.

Achtzehn Angststufen summierten sich zu großer Angst, große Angst zur Panik.

Und Anne musste die Stufen steigen, nicht Nora, nicht Betty.

Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe – was ist, wenn sie tot ist? Polizei, Verhaftung,

Verurteilung!

Zweite Stufe das Leben ist aus! Oh Gott, wenn doch alles rückgängig zu machen

wäre!

Dritte Stufe Markus, die Jungs – seine Frau, ihre Mutter eine Mörderin!

Vierte Stufe wenn sie nicht tot ist, aber verletzt, krank!

Anne blieb stehen, es war ihr unmöglich die nächste Stufe zu steigen. Alle Areale des Gehirns schienen auf Panik geschaltet zu sein, nicht mehr in der Lage, klare Anweisungen an die Füße zu geben. Dann, nach einigen quälenden Atemzügen, nahm sie die nächsten beiden Stufen.

Siebte Stufe wenn sie mich ansieht !

Zehnte Stufe wenn sie mich verachtet!

Zwölfte Stufe wenn sie klar ist und Markus alles erzählt?

Sie begriff, was es bedeuteten würde, wenn es Markus erführe. Ob ihrer Gleichgültigkeit und ihres Egoismus, fühlte sie das schlechte Gewissen in der Mitte des Bauches fressen, als ob es dort seinen Sitz hätte.

Fünfzehnte Stufe wenn noch alles zu retten ist, dann soll alles besser werden.

Achtzehnte Stufe Mutter, verzeih mir!

Anne schluchzte, nie wieder, Mutter nie wieder werde ich dich im Stich lassen.

Anne liefen Tränen über die Wangen und Speichel troff aus dem offenen Mund.

Sie hatte sich nicht in der Gewalt.

Dennoch drückte sie die Türklinke herunter und machte einen Schritt ins Zimmer.

Es war hell und draußen schien die Sonne.

Sie lag angezogen auf dem Bett und starrte an die Zimmerdecke.

Jemand wird kommen und ihr Essen und Trinken bringen.

Sie wartete.

Dann schlief sie ein.

Als sie wieder wach wurde, war es dunkel im Zimmer. Sie tastete an ihrem Körper herunter,

sie hatte Rock und Bluse an und einen Schuh.

Irgendwo im Haus wurde gelacht und sie hörte Geschirr klappern.

Jemand wird kommen. Das ist die Stimme von Anne. Anne wird kommen und ihr Essen und Trinken bringen.

Sie wartete.

Dann schlief sie ein.

Als sie aufwachte war es still im Haus, niemand kam. Es war dunkel im Zimmer.

Immer noch dunkel oder schon wieder? Sie wusste es nicht.

Durst! Sie hatte Durst!

Die Klingel, wo ist die Klingel? Sie tastete im Dunkeln auf ihrem Nachttisch, etwas fiel polternd zu Boden und rollte fort. Ihre Hand war nass und kalt.

Das war die Vase mit Bettys Rosen. Wasser! Durst!

Mühsam setzte sie sich auf und rutschte vom Bettrand herunter. Sie suchte mit den Händen nach der Vase und stach sich an den herumliegenden Rosen.

Da, da war etwas Hartes, die Vase. Nein, das war der andere Schuh.

Sie schlief am Boden liegend ein.

Es war hell im Zimmer,als sie wach wurde. Die Vase lag dicht vor ihrem Gesicht, leer.

Sie sah sich um, sie wusste nicht warum sie hier lag.

Sie versuchte auf das Bett zu kriechen, hatte aber keine Kraft dazu. Sie lehnte sich an das Bett und legte ihren Kopf an die Bettkante.

Anne schlug ein Gestank nach Kot und Urin entgegen.

Sie blieb stehen, schloss die Augen und dachte, das Schlimmste, das Schlimmste ist passiert. Ihre Knie zitterten, ein Brechreiz überkam sie und ihr Herz raste vor Angst.

Dann öffnete sie die Augen und sah die Vase, die Rosen und den einzelnen Schuh am Boden.

Sie sah Mutters Beine, seitlich verdreht und bewegungslos liegen.

Nur einen Schritt weiter und sie sah, dass Mutter mit dem Kopf am Bettrand lehnte, der zur Seite gedreht war. Ihre Augen waren geschlossen.

Anne kniete vor ihr nieder und flüsterte: „Mutter? Kannst du mich hören?“

Es kam keine Antwort.

Vorsichtig streichelte Anne ihr über die Wange, sie fühlte sich weich an, kalt aber weich.

Sie fasste leicht an die Schulter und nun kam Bewegung in den Körper.

Mutter machte die Augen auf und sah Anne mit einem Blick an, der aus weiter Ferne kam und kein Erkennen zeigte.

Sie war so erschöpft, dass sie die Augen gleich wieder schloss.

Auch in Anne kam Bewegung, die Lähmung des Denkens und Bewegens war vorbei.

Sie hatte eine Chance bekommen. Verdient oder unverdient, aber eine Chance.

Sie legte Mutter vorsichtig vor dem Bett auf den Rücken, legte ihr ein Kissen unter den Kopf und begann sie zu entkleiden.

Ein tiefer Seufzer drang erleichtert aus ihrer Brust und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

Nun nahm sie auch wieder den scharfen Gestank, nach mehrfach von Urin durchnässter und wieder getrockneter Unterwäsche, war.

Seit Sonntagmorgen hatte Mutter die gleichen Sachen an.

Anne holte eine große Schüssel warmes Wasser mit Badezusatz.

Auf dem Boden kniend wusch sie Mutter mehrmals und cremte die Haut mit ihrer teuren Lotion ein. Sie ölte die wunden Stellen, wie bei einem Baby, legte Pampers an und deckte sie mit einer Wolldecke zu.

Danach bezog sie das Bettzeug frisch und hievte ihre Mutter ins Bett. Normalerweise hätte Anne das allein nicht schaffen können, aber sie fühlte plötzlich so viel Elan und Kraft, dass es ihr möglich war.

Das Drehen und Wenden auf dem Fußboden war eine Tortur für Mutter gewesen, aber nun machte sie die Augen auf und flüsterte etwas.

Anne beugte sich zu ihr und hörte das Wort: „Danke“.

Anne war bestürzt.

„Nein, nein, nein Mutter“, rief sie: „Du brauchst nicht danken! Du brauchst doch nicht danken!

Wie geht es dir? Ich hole dir Tee, du musst einen wahnsinnigen Durst haben.“

Anne stürzte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und in die Küche.

Beim Hantieren mit der Teekanne zitterten ihre Hände so stark, dass sie kaum das kochende Wasser in die Kanne gießen konnte.

Sie ließ den Tee stehen und rannte ins Bad. Eine plötzliche Übelkeit bereitete Brechreiz und Durchfall.

Als sie später mit dem Tee die Treppe hoch ging, dachte sie daran, wie sie die Stufen vor zwei Stunden gegangen war. Nun waren sie zu achtzehn Stufen der Erleichterung geworden.

Anne legte den Arm um Mutters Nacken und half ihr beim Trinken.

Lange dauerte es, bis der Tee getrunken war.

Mutter sank erschöpft in die Kissen und schlief ein.

Anne öffnete das Fenster und räumte auf. Mutters Unterwäsche tat sie in einen Müllbeutel, sie sortierte Strümpfe, Rock und Bettwäsche und rannte mit viel Energie die Treppe hinunter in den Keller. Die Bettwäsche kam in die Waschmaschine, doch den Rock und die Strümpfe warf sie kurz entschlossen ebenfalls in die Mülltüte. Aus der grauen Tonne holte sie einigen Abfall heraus, dabei auch das Tischtuch mit dem Kaffeegeschirr vom Sonntag, und stopfte

den Sack mit der Wäsche und dem Rock zuunterst in die Tonne. Danach legte sie den alten Müll sorgfältig darüber, so sah man den Wäschesack nicht.

Anne kochte noch mal Tee, sie wusste, der Wasserverlust muss ausgeglichen werden.

Alte Leute müssen viel trinken.

Sie setzte sich an den Bettrand und streichelte zaghaft Mutters Hand. Sie schlief und alles rundherum sah aus, als sei nichts gewesen.

Sie war so froh, dass alles gut gegangen war.

Ihr war selbst nicht mehr klar, was gestern in sie gefahren war. Aber sie hatte vom Leben eine Chance bekommen, wieder gut zumachen.

Morgen sollte sie Dr. Bertram kommen lassen, es waren ohnehin schon die üblichen vier Wochen herum.

Sie könnte dann gleich mal über ein Beruhigungsmittel für sich mit ihm sprechen. Oder über Schlaftabletten. Anne dachte, wenn sie nachts besser schlafen würde, dann wäre sie tagsüber auch stärker.

Bis zum Abend machte Anne Hausarbeit und sah zwischendurch öfter nach ihrer Mutter.

Mittags hatte sie etwas Kartoffelbrei gemacht. Mutter hatte sich erholt und konnte den Löffel selbst führen.

Sie sagte zu Anne verwundert: „Stehe ich heute nicht auf? Wie spät ist es denn? Heute kommen Betty und Nora, ich will aufstehen.“

„Nein Mutter, Nora und Betty waren am Sonntag hier. Erinnerst du dich nicht? Du warst ein wenig schlapp und da dachte ich, es ist besser, wenn du heute mal im Bett bleibst“,

antwortete Anne. Sie fand, dass ihre Antwort übertrieben freundlich klang.

Als Markus kam dachte Anne daran mit ihm hoch zu gehen, wenn er Mutter, wie üblich besuchte.

Mutter würde nichts erzählen, da war sich Anne sicher, das hatte sie an der Unterhaltung mit ihr gemerkt. „Ich finde, dass Mutter noch unkonzentrierter ist als sonst und sie sieht total fertig aus“, sagte er später.

„Aber das hat doch nichts mehr mit Sonntagabend zu tun, Markus. Morgen kommt Dr. Bertram, mal sehen, was er sagt. Vielleicht braucht sie neue Medikamente.“

Mittwochs Vormittag machte Dr. Bertram seine Hausbesuche und seine Frau führte die Praxis. Auf den Nachmittag freuten sich beide immer sehr, weil sie sich jede Woche etwas Besonderes vornahmen.

„Guten Morgen Dr. Bertram! Na, was werden Sie heute Schönes machen?“, begrüßte ihn Anne, als er gegen elf Uhr klingelte.

„Jaha, wir gehen ins Tierheim und suchen uns ein neues Kätzchen aus. Wir vermissen beide schon lange eins. Meine Frau möchte einen roten Kater, mir ist es egal. Hauptsache so ein Tierchen bekommt ein neues Zuhause.“

In der Küche bot Anne dem Doktor eine Tasse Kaffee an und sie plauderten noch ein wenig über die Tiere.

Anne fühlte innerlich große Unruhe und ließ den Doktor allein zu Mutter nach oben gehen. Nach zehn Minuten kam er zurück und Anne hatte das Gefühl, dass sie schlecht verbarg, wie nervös sie war.

„In den letzten vier Wochen ist Ihre Mutter doch recht alt geworden, ihr Gedächtnis lässt stark nach. Wie kommen Sie zurecht? Ist wohl sehr anstrengend mit ihr?“

„Ach ja, weil ich immer da sein muss und auch nachts oft nicht zur Ruhe komme.

Da wollte ich Sie fragen, ob Sie für mich mal ein Schlafmittel aufschreiben könnten. Ab und zu muss ich mal durchschlafen.“

„Ja, das geht. Sie sind vom Fach, Sie wissen, dass Sie nicht auf Dauer Schlaftabletten nehmen sollten. Aber im Moment kann es auch hilfreich sein. Die Demenz der Kranken macht auch die Angehörigen krank, vor allem liegen oft die Nerven blank, wie man so sagt.

De mente heißt ohne Geist und einen solchen Menschen tagein, tagaus zu betreuen ist eine große Leistung. Sie fühlen sich sicher auch manchmal geistlos, nicht wahr?“

Anne seufzte: „Wie leer. Ausgepumpt und körperlich kaputt, selbst zum Lesen fehlt mir die Zeit. Der übliche Hauskram und Garten muss ja auch weiter laufen. Ich habe keinerlei Abwechslung und leider entlasten mich meine Schwestern nicht, wie Sie wissen.“

Anne erzählte Dr. Bertram, wie Mutter das Tischtuch mit dem Kaffeegeschirr herunter gezogen hatte und dass sie früher immer eine starke und dominante Frau gewesen war.

„Demenz kann jeden Menschen treffen. Das hat nichts mit früheren Leistungen oder Charaktereigenschaften zu tun. Im Gegenteil, Charaktereigenschaften können sich verstärken. Wiederum schlagen sie manchmal auch ins Gegenteil um.

Sie macht mir eher einen gelassenen, gütigen Eindruck. Die Sache mit dem Tischtuch könnte auf das Gefühl der Vernachlässigung bei ihr schließen. Ich sage extra, auf das Gefühl! Denn dass Sie Ihre Mutter nicht vernachlässigen, das sehe ich. Auch wir Mediziner wissen nicht, was in den Gehirnen der Demenzkranken vorgeht.

Sie können darauf achten, dass Ihre Mutter viel Flüssigkeit zu sich nimmt.

Achten Sie einmal darauf, ob es an Tagen, an denen sie besonders wenig trinkt, schlechter ist“, sagte Dr. Bertram und schrieb das Rezept für Anne.

Beim Verabschieden an der Haustür sagte er noch: „Haben Sie schon mal an eine Entlastung durch einen mobilen Pflegedienst gedacht? Oder an ein Pflegeheim? Sprechen Sie mich an, wenn Sie diesbezüglich einen Rat brauchen.“

Anne nickte und drückte dem Doktor dankbar die Hand.

„Er ist noch so, wie man sich einen Hausarzt wünscht“, schwärmte sie abends Markus vor:

„Er sieht das Gesamte und hat Verständnis. Mobiler Pflegedienst. Es gibt den Sozialdienst und viele private Pflegedienste. Weißt du, wir reden immer über die Kosten, aber wir wissen nicht genau, was es kosten würde. Obwohl ich denke, dass ein Pflegedienst für uns nicht das Richtige wäre.“

„Warum nicht? So viel ich weiß, kommen die früh und abends zum Waschen. Das wäre doch gut, Mutters Körperpflege wird in Zukunft immer anstrengender“, bei diesen Worten räumte

Markus die Spülmaschine ein.

„Aber momentan geht es noch. Unser Problem werden zunehmend die Nächte sein und ihre Demenz. Ich müsste mich am Tage wieder mehr mit ihr beschäftigen“, antwortete Anne und dachte mit Widerwillen daran, noch mehr Zeit bei Mutter im Zimmer verbringen zu müssen.

Dieser Gedanke löste sofort einen Schlag ihres schlechten Gewissens in die Bauchmitte aus, als wolle es sagen: hast du nicht genug von den vergangenen Tagen? Kommen schon wieder

Gedanken der Abneigung hoch? Du weißt doch nun, wohin das führen kann.

„Stimmt! Trotzdem Anne, ich hätte mich schon längst mal richtig kundig machen sollen. Vielleicht gibt es auch andere Heimbetreuungen, auf solche Verhältnisse zugeschnitten.“

Er sah Anne mit viel Wärme an und versprach, dass er die nächsten Tage nicht verstreichen lassen würde, ohne genaue Erkundigungen einzuziehen.

In den nächsten zwei Wochen war Anne besonders bemüht um Mutter.

Der Schreck über ihr Tun saß doch so tief in den Gliedern, dass sie sich einredete, die Pflege wäre gar nicht so schlimm.

Vielleicht hatten Betty und Nora Recht, sie hatte sich wie eine hysterische Ziege benommen.

Anne fühlte sich gut.

Sie hatte ihre Nähmaschine in Mutters Zimmer gestellt und wollte neue Gardinen nähen. Der Stoff lag schon ewig herum und nun machte sie sich mit viel Elan an die Arbeit.

Mutter saß im Sessel und sah ihr zu. Sie sagte: „Längs, das muss längs. Das sind Streifen. Du machst es falsch.“

„Nein Mutter, sieh mal der Fadenlauf ist so, dass das Muster quer laufen muss. Es sind doch auch keine Streifen“, erwiderte Anne und spannte den Stoff zwischen beiden Händen breit aus, damit ihre Mutter das Muster sehen konnte.

Doch sie wurde unruhig auf ihrem Sessel und murmelte etwas, das klang wie: „…nichts. Das sind Streifen. Betty weiß es. Du machst es falsch.“

Anne verdrehte die Augen und war sofort gereizt. Sie dachte Betty fragen, natürlich. Am besten Betty näht die Gardinen. Wenn sie es nur machen würde.

Es klingelte an der Haustür und Anne war froh, aus dem Zimmer gehen zu können.

Die Nachbarin von gegenüber wollte Anne auf ein Angebot im Gartencenter aufmerksam machen. Es gab preislich heruntergesetzte Gartengeräte.

Anne tauschte mit ihr ab und zu gärtnerische Erfahrungen aus.

Sie beugte sich vor und versuchte mit dem Arm an den Nähmaschinentisch zugelangen.

Der Abstand war jedoch zu groß und so rutschte und ruckelte sie auf dem Sitz hin und her, um weiter vor an die Sesselkante zu kommen. Ihr Arm war lang ausgestreckt und ihre Hand, krumm wie eine Vogelklaue, griff ins Leere. Dabei murmelte sie vor sich hin, dass die Streifen längs verlaufen müssten. Nach einer Weile hatten ihre Bemühungen Erfolg und sie bekam den herunterhängenden Stoff zu fassen.Sie zog ihn zu sich und lehnte sich zurück. Der Stoff deckte sie fast zu, weil ihre Position nun mehr liegend, als sitzend, im Sessel war.

Die Schere, die Anne auf dem Stoff liegen gelassen hatte, war mit auf ihrem Bauch gelandet. Als sie die Schere sah, hellte sich ihr Gesicht auf und sie setzte sich wieder.

„Du machst das falsch!“, sagte sie laut, obwohl Anne noch nicht wieder im Zimmer war.

Sie nahm die Schere und schnitt vermeintliche Streifen in den Stoff.

Sie seufzte und sagte unzusammenhängend etwas wie …selber machen. Kann das nicht. Betty...

Das Zerschneiden des Stoffes gelang ihr jedoch, durch die starke Arthrose in ihren Händen, nicht und sie wurde zunehmend ungeduldiger. Nun rutschte der Gardinenstoff auf den Boden und die Hand fuchtelte mit der Schere auf ihrem Schoß herum.

Sie begann den leichteren Stoff des Rockes zu zerschneiden und ritzte dabei öfter die Strümpfe und die Haut an den Oberschenkeln ein.

„Streifen schneiden“, sagte sie wieder laut und fuhr mit der geschlossenen, aber doch spitzen Schneiderschere an ihren Beinen entlang. Schmerz fühlte sie nicht.

Nach einer Viertelstunde kam Anne wieder in Mutters Zimmer. Sie sah, dass der Stoff auf dem Teppich lag und wollte nach ihm greifen, als sich ihrer Brust ein schriller Schrei entrang.

Sie konnte nicht glauben, was sie sah.

Vom Rock ihrer Mutter war nicht mehr viel zu sehen, lange schmale Stücke lagen zu beiden Seiten der Oberschenkel. Aber der Grund für Annes Schrei waren die blutigen Streifen, die sich längs der Beine bis unter die Knie zogen. Die Spitze der Schere hatte die Strümpfe zerfetzt und war bis in die Haut gedrungen.

„Um Gottes Willen, Mutter!“, rief sie: „Was hast Du gemacht? Gib die Schere her. Ich ziehe dir die Stümpfe aus und gucke mir die Wunden an, ja?“

Sie wollte nach der Schere greifen, aber Mutter fing an zu schreien und hielt die Schere fest umklammert. Sie schrie in einem hohen Fistelton und wurde immer lauter.

Anne hielt Mutters Hand fest und versuchte erneut ihr die Schere zu entwinden. Aber Mutter entwickelte erstaunliche Kräfte, trampelte mit den Füßen und wand sich schreiend unter Annes Zugriff. „Du musst Streifen schneiden, Streifen schneiden!“, schrie sie, wie ein bockiges Kind.

Im nächsten Augenblick gelang es ihr, den Arm von Annes Umklammerung frei zu bekommen und die Scherenspitze sauste mit Wucht in Annes linken Unterarm.

Anne schrie auf und schlug zu.

Der Schlag traf Mutter ins Gesicht und mit diesem einen Schlag war es still im Zimmer.

Anne presste ihre rechte Hand auf die Wunde und rannte hinaus.

Eine unbändige Wut erfasste sie. So wie damals, als sie vor wütender Empörung, vor zitternder Enttäuschung ihr Lieblingskissen zerrissen hatte.

Sie biss die Zähne zusammen und ging auf der Diele vor Mutters Zimmer mit großen Schritten auf und ab, dabei warf sie den Kopf in den Nacken und schnaufte.

Durch das Auf- und Ablaufen beruhigte sie sich etwas und merkte, dass sie stark blutete.

Ihr Kleid, die Schuhe und der Fußboden, überall war Blut und sie fühlte Schmerz.

Aus dem Wäscheschrank, der auf der Diele stand, nahm sie ein Handtuch und wickelte es um den Unterarm.

Sie ging die Treppe runter ins Bad und setzte sich auf den Wannenrand. Langsam spürte sie, wie ihr Herzschlag ruhiger wurde.

Anne war nun wieder in der Lage zu überlegen. Sie suchte in der Hausapotheke nach Verbandszeug, wusch sich die Wunde aus und sah, dass die Scherenspitze gut zwei Zentimeter tief in die Unterseite des Armes eingedrungen war. Es blutete immer noch stark.

So gut es ging machte sie sich einen Druckverband und rief Dr. Bertram an.

Sie schilderte ihm, wie es zu dem Unfall gekommen war und er versprach nach der Sprechstunde vorbei zu kommen.

„Kommen Sie bis dahin zurecht?“, fragte er: „Sonst müssen Sie gleich in die Ambulanz fahren. Vielleicht kann eine Nachbarin inzwischen bei Ihrer Mutter sein?“

„Nein, nein, es geht schon. Bis nachher Dr. Bertram“, verabschiedete sich Anne.

Sie betastete ihre Wange. Sie feuerte von Annes Schlag.

Mit diesem Schlag war Leben in sie gekommen, als ob er ihr den sprichwörtlichen Kopf zurechtgerückt hätte.

Sie senkte den Blick und sah die roten blutigen Riefen auf ihren Oberschenkeln.

Es sah unordentlich aus mit den kaputten Strümpfen und dem zerschnittenen Rock.

Schmerzen hatte sie nicht, es brannte ein bisschen.

Ihr alter Ordnungssinn kam durch und sie versuchte mit fahrigen Fingern die Rockstreifen nebeneinander auf den Schoß zu legen. Die Streifen rutschten immer wieder vom Schoß

herunter. Nach einigen erneuten Versuchen gab sie auf und lehnte sich im Sessel zurück.

Anne hatte sich einen Tee gemacht und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Sie zog Jeans und einen roten Pullover mit weiten langen Ärmeln an.

Dann ging sie in den Keller und holte einen Eimer und Wischzeug.

So bewaffnet ging sie in den Flur, um oben die Blutflecken aufzuwischen.

Als sie an der Treppe stand, bekam sie stichartige Magenschmerzen und es überfiel sie Mattigkeit und Traurigkeit.

Sie setzte sich auf die erste Stufe.

Achtzehn Stufen, dachte sie, Achtzehn Stufen zu Schloss Kümmer dich. Wie lange noch?

Nach Schloss Gymnich hatte sie vor einiger Zeit Mutters Domizil für sich Schloss Kümmer dich benannt.

Ja kümmere dich, du bist doch den ganzen Tag zu Hause. Die meiste Zeit sitzt Mutter sowieso an ihrem Tisch im Sessel und der Fernseher läuft. Oder sie döst.