Achtzehn Tage E-Book

Ulrich Lucas

• Herausgeber: Books on Demand
• Kategorie: Gesellschafts- und Liebesromane
• Sprache: Deutsch
• Veröffentlichungsjahr: 2015

Seitenzahl: 453

Beschreibung

Rheinland-Pfalz im Sommer. Der siebzehnjährige Tom aus Annweiler am Trifels hat das Schuljahr ohne bleibende Schäden davongetragen zu haben, fast hinter sich, als seine Welt an einem einzigen Tag aus den Fugen gerät. Von einem Moment zum anderen sieht er sich von der Polizei verfolgt und flieht völlig unvorbereitet in den Pfälzer Wald. Dort trifft er auf den zwei Jahre älteren Kai, einen Wehrpflichtigen, der schon seit Monaten wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe gesucht wird. Sie tun sich zusamenn und machen sich auf den Weg zu Toms Vater, der am Laacher See wohnt. Für den gänzlich unerfahrenen Tom werden die folgenden Tage in den Wäldern zu einer enormen Herausforderung. Für Kai ist er zuerst eine Mischung aus Klotz am Bein und bewundernswertem Spinner. Dann aber zeigt Tom seine wahren Stärken und ihre neu entstandene Freundschaft trotzt mehr als einmal ihren Verfolgern, die ihnen dicht auf den Fersen sind.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Sechster Tag

Siebter Tag

Achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Elfter Tag

Zwölfter Tag

Dreizehnter Tag

Vierzehnter Tag

Fünfzehnter Tag

Sechzehnter Tag

Siebzehnter Tag

Achtzehnter Tag

Erster Tag

Als Tom an diesem Tag, dem vorletzten des vergangenen Schuljahres, seine Honda Virago auf den kleinen Parkplatz neben der Schule fuhr, ahnte er noch nicht, wie sehr sich sein Leben bald verändern würde. Er nahm den Helm ab und fuhr mit den Händen wie mit einem Kamm durch seine dichten, dunklen Haare. Dann löste er den Nierengurt und verstaute ihn zusammengerollt im Helm. Anschließend setzte er seine Sonnenbrille mit den kleinen, runden Gläsern auf und zog den Schlüssel ab, den er in seinem Rucksack verstaute.

Alltägliche, automatisch ausgeführte Handlungen.

Manchmal kam er sich vor wie ein Roboter, wie eine Maschine. Es erschreckte ihn zuweilen, mit welcher Widerstandslosigkeit er jeden Morgen aufstand, duschte, sich anzog, etwas aß, einen Kaffee trank, sich auf sein Motorrad setzte und hierher fuhr.

Und am nächsten Tag wieder.

Und wieder.

Warum bog er unterwegs nicht einfach irgendwo ab? Warum nahm er nicht ein Buch (aus dem man wirklich etwas lernen konnte) und setzte sich in den Wald, anstatt in die Schule zu fahren? Tom kannte die Antwort.

Weil ihm der Wald keine Noten gab, die er später brauchen würde und auf die er angewiesen war, denn er konnte sich keine weitere Ehrenrunde leisten.

Gott, wie er diesen Gedanken hasste.

Er seufzte und machte sich auf den Weg.

Eigentlich hatte er an diesem Morgen allen Grund, auf sich stolz zu sein. Zum einen war ein weiteres Schuljahr an ihm vorübergegangen, ohne dass er auch nur einmal den Verstand verloren hätte, zum anderen hatte er es fertig gebracht, schon seit einigen Tagen sein Frühstück bei sich zu behalten. Wenn das keine Leistung war, die honoriert werden wollte! Er stand am Schultor und blinzelte in die Sonne, die sich in den Fenstern des abgrundtief hässlichen Gebäudes spiegelte. Tom fragte sich fast jeden Morgen, ob denn die Sonne nichts Besseres zu tun hatte, als ihr wärmendes Licht an einer solch widerwärtigen Institution wie einer Schule zu verschwenden. Er hasste die Schule mit einer Inbrunst, die ihn zeitweise selbst erschreckte. Nicht einmal Schroeder, dem Freund seiner Mutter, der sich vor kurzem erst bei ihnen eingenistet hatte, brachte er mehr Abscheu entgegen und Schroeder war in Toms Augen schon ein gewaltiges Ekelpaket.

Das Seltsame war nur - er war sogar ein recht guter Schüler. Er saß zwar die meiste Zeit still da und ließ den Unterricht an sich vorübergehen (Mitarbeit ausreichend), bei den schriftlichen Arbeiten belegte er jedoch stets die vorderen Plätze. Ein Widerspruch, den selbst die "Leerkörper" nicht zu erklären wussten. Tom brachte immer gute Noten mit. Abgesehen von dem Jahr, in dem sich seine Eltern getrennt hatten und er zeitweise völlig den Boden unter den Füßen verloren hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sitzen geblieben. Und das nur wegen ein paar lausigen Punkten, die man ihm nicht hatte geben wollen. Keine Erklärung hatte man gelten lassen, seine innere Zerrissenheit nach dem Verlust seines Vaters war der Bildungsmaschinerie völlig egal gewesen.

Tom stellte fest, dass er überraschend gut gelaunt war, darum ging er über den Hof und betrat die Pausenhalle, was außerhalb der Pausen natürlich verboten war. In Innern des Gebäudes stellte er weiterhin fest, dass die Sonne doch nicht ganz so dumm war, wie er geglaubt hatte, denn sie behielt ihre Wärme draußen. In der Halle war es kalt wie in einer Gruft, und der scharfe Geruch eines Putzmittels lag in der Luft. Er nahm seinen halbleeren Rucksack von der Schulter, holte aus und ließ ihn quer durch die Halle rutschen. Er landete mit einem hohlen BOIIINGGG an einem Heizkörper unterhalb des einzigen Fensters. Tom folgte ihm gemächlich und versuchte, den Helm auf einem Finger zu balancieren. Am Fenster blieb er stehen und sah hinaus. Vor ihm breitete sich eine Rasenfläche aus, die zu betreten natürlich auch verboten war. Wäre ja auch ein Unding, Schülern zu erlauben, während der Pausen im Hochsommer eine Rasenfläche zu nutzen. Tststs - wo kämen wir denn dahin? Es gab einen Lehrer, der im Unterricht eine recht angenehme Stimme hatte, wenn er aber laut wurde, ähnelte sie entfernt dem Tröten eines jungen Elefanten. "Der Rrrraaasen ist nicht frrrrei" kreischte er manchmal durchs Fenster, wenn sich einige Kids auf dem Gras balgten. Dass sie es taten, um ihn plärren zu hören und sich anschließend über ihn kaputtzulachen, auf die Idee schien er noch nicht gekommen zu sein. Tom schüttelte verständnislos den Kopf, während er hinaussah und sich solche und ähnliche Begebenheiten ins Gedächtnis rief. Soviel Dummheit und Sturheit gehörte eigentlich noch mehr Anarchie gegenübergestellt, als Tom es jemals mit seinem provokanten Verhalten fertig zu bringen vermochte. Alle müssten sich gegen diese Mini-Diktatur zur Wehr setzen, die ganzen Schüler müssten sich irgendwann einmal geschlossen auf den Rasen setzen und diesem Lehrer Lämpel kreischen lassen, bis ihm der Kopf platzt. Tom bedauerte, dass dem nie so sein würde. Zuviel hängt in dieser Welt von guten Noten ab, vom Urteil der Lehrer, den Punkten, dem Betragen, dem Kopfnicken und Jasagen, dem Kuschen und der widerspruchslosen Hinnahme von sinnlosen Reglementierungen wie der Rasennutzung. Tom spürte wieder das vertraute, grummelnde Gefühl in der Magengegend. Hatte er sich doch zu früh gefreut, was das Frühstück anging? Während er sich darauf konzentrierte, sein Inneres daran zu hindern, sich umzudrehen, wurde er plötzlich von einem Vogel abgelenkt, der auf dem verbotenen Rasen landete. Es war eine dicke Amsel, die - alle Direktiven missachtend - sich auf dem Gras niederließ und nach Nahrung suchte. Es war ein Männchen, er erkannte es am schwarz glänzenden Gefieder und dem gelben Schnabel. Tom hielt die Luft an und beobachtete das Tier. Er beneidete den Vogel um seine grenzenlose Freiheit und um seine Gabe, jederzeit die Flügel auszubreiten und davonzufliegen an einen besseren Ort. In eine bessere Welt.

"Junger Mann, du weißt doch, dass die Pausenhalle gesperrt ist."

Tom schloss die Augen hinter seinen dunklen Gläsern und erstarrte. Als er sie wieder öffnete, war die Amsel verschwunden. Dafür stand jemand hinter ihm und tippte auf seine Schulter. Tom roch das Parfüm. Ein schweres, teures Zeug. So roch nur Frau Doktor Kramer persönlich. Eine Religionslehrerin der härtesten Sorte.

"Ich rede mit dir, junger Mann."

"Amen", sagte Tom. Er starrte weiter auf den menschen- und vogelleeren Rasen.

Dr. Kramer schnaufte schwer.

"Was soll das heißen?"

"Na, wenn Sie nicht wissen, was Amen heißt, dann find ich das schlimm", entgegnete Tom.

"Würdest du jetzt bitte sofort auf den Hof gehen“, sagte die Lehrerin wütend.

"Warum?"

"Du weißt, warum."

"Nö."

"Weil…"

Tom drehte sich so ruckartig um, dass die Lehrerin einen Schritt zurücktrat. Er war gut einen halben Kopf größer als die Frau und sah in seiner schwarzen Motorradjacke, den verwaschenen Jeans und Stiefeln wirklich nicht aus wie ein Musterschüler, den die Dame bestimmt lieber vor sich gehabt hätte.

"Ich hab gerade einen Vogel beobachtet", sagte er. "Und außerdem ist es draußen schon beschissen heiß."

"Es interessiert mich nicht, was du beobachtest", giftete sie. Tom zuckte die Achseln und drehte sich um.

„Was fragen sie dann?"

"Also das ist doch wohl…" Ihre restliche Empörung ging im Klingelzeichen unter.

"Tschüß", sagte Tom freundlich, winkte und ging davon. Er hörte noch, wie sie ihm etwas von "Direktor" nachrief, aber da war er schon auf der Treppe und mischte sich unter die anderen.

Begegnungen wie diese waren es, die in ihm den Hass schürten. Wo um alles in der Welt war das Vergehen, wenn man sich bei Hitze oder Kälte in der Halle aufhielt, anstatt im Freien? Was war so schlimm daran, sich im Sommer auf die Wiese zu legen, anstatt sich auf dem harten Betonboden die Füße platt zu treten? Tom begriff es nicht und würde es auch nie begreifen. Dafür war er viel zu aufmüpfig geworden und dachte zuerst über den Sinn einer Regel nach, bevor er sich entschloss, ihr zu folgen oder nicht. Viel zu spät, so glaubte er, hatte er sich diese Lebensweise angeeignet. Er fühlte sogar schon so etwas wie Wehmut angesichts der verstrichenen Zeit, in der er immer der brave Thomas von Steinberg gewesen war, bis er dahinter gekommen war, dass auch er Rechte hatte und nicht nur Pflichten. Dass viele, wenn nicht sogar alle Vorschriften, die man speziell als Schüler um die Ohren geschmissen bekam, einfach sinnlos waren und nur dazu dienten, Ruhe und Ordnung zu erhalten und jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Wenn man genau darüber nachdachte, war jede Schule ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, wenn jemand die Lunte zünden würde. Wenn er später darüber nachdenken würde, was eigentlich der Anlass gewesen war, der Auslöser von all dem, was ihm noch bevorstehen sollte, so würde er einen Jungen aus seiner Klasse anführen, einen Peter Sowieso, der Tom zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort unnötigerweise dumm angemacht hatte.

"Steinberg, du siehst echt aus wie schon mal gegessen."

Peter Sowieso krähte die völlig sinnlose und überflüssige Bemerkung quer durchs Klassenzimmer und vierundzwanzig Augenpaare hefteten sich an Tom. Er drehte sich um und sah dem anderen ins grinsende Gesicht. Peter Sowieso war gegenüber Tom eine schulische Doppelnull, trug dafür aber Designerklamotten und kam sich aus unerfindlichen Gründen unwiderstehlich vor. Tom wusste nicht einmal seinen Nachnamen, so egal war er ihm. Und er hatte überhaupt keinen Grund, Tom anzumachen, die beiden wechselten während des Jahres keine drei Worte miteinander. Tom blieb stehen. Sowieso schlenderte auf ihn zu und blieb mit seinem Dauergrinsen unmittelbar vor Tom stehen. Er genoss ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler.

„Was willst du denn“, fragte Tom gelangweilt.

„Von dir“, fragte Sowieso mit einem dummen Grinsen. „Gar nichts. Du nervst.“

„Ich seh’ da irgendwie keinen Zusammenhang.“

„Häh?“

„Komm, hau ab und setz’ dich auf deinen Arsch“, raunzte Tom. „Du bist mir doch viel zu blöd.“

Sowieso schlug Tom mit der flachen Hand auf die Brust.

„Was hast du gesagt, du Wichser? Was?“

Sie sahen sich in die Augen, dann hob Tom die rechte Hand, bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und hielt ihn vor das Gesicht seines Gegenübers.

"Weißt du, was das ist", fragte er mit unbewegter Miene.

"Häh?"

"Das ist eine Null, also so was wie du." Sowieso gefror das Grinsen.

"Und weißt du, was das ist?" Tom drehte die Hand blitzschnell und ließ den Zeigefinger vorschnellen. Er traf punktgenau Sowieso´s Nase und der schrie wütend auf.

"Du blöder Arsch!"

Er bekam Toms T-Shirt zu fassen, irgendwo riss eine Naht, und zog ihn zu sich heran. Jetzt war Tom an der Reihe zu grinsen.

"Schlag doch zu", sagte er freundlich. "Na los. So richtig fest! Ich freu’ mich schon, dich zu verklagen!“

Peter Sowieso keuchte wütend. Aus den Augenwinkeln sah Tom, dass die anderen sie mittlerweile nicht mehr beachteten. Sie setzten sich und redeten miteinander, manche Mädchen schüttelten die Köpfe.

"Schlechtes Publikum, was", sagte Tom.

"Du bist doch nur ein blöder Punk", zischte Sowieso. "An dir mach ich mir doch die Hände nicht dreckig."

"Hmm, was bist du doch für ein cooler Typ", frotzelte Tom und musste lachen.

Sowieso presste die Lippen zusammen und gab Tom einen plötzlichen Stoß. Überrascht taumelte er rückwärts, versuchte sich zu halten und krachte dann in eine Tischgruppe. Leute schrien auf, als er mit dem Mobiliar zu Boden ging und eine Tischkante schlug schmerzhaft in seinen Rücken. In diesem Moment kam ihr Klassenlehrer ins Zimmer und als er das Durcheinander sah, wurde sein Blick finster. Tom rappelte sich auf und musste trotz dem Ärger lachen. Er kicherte albern und er schaute Sowieso nach, der sich auf seinen Platz trollte, als wäre nichts geschehen.

Toms Lachen brach erst ab, als Dr. Benz sich vor ihm aufbaute und wissen wollte, was los sei.

"Fragen Sie doch ihn."

"Ich will es aber von dir wissen."

"Ach leck mich doch…", knurrte Tom kaum hörbar. Er begann, die Tische und Stühle wieder aufzustellen, als er grob an der Schulter gepackt und herumgerissen wurde.

"Was war das bitte?"

Tom sah zum Lehrer auf. Er starrte in dessen graue Augen wusste plötzlich, dass, egal was er sagen würde, er auf jeden Fall für die Rangelei verantwortlich gemacht werden würde. Toms Herz schlug zum Zerspringen laut und er schwitzte fürchterlich. Eine grenzenlose Wut, so groß, dass sie das Universum zum Bersten bringen könnte, erfüllte ihn. Er war ein Punk, ein Außenseiter, einer dem man nichts glaubte, egal ob er die Wahrheit sagte oder nicht.

"Ich habe gesagt, Sie können mich mal am Arsch lecken“, sagte Tom und betonte jedes einzelne Wort. War der Raum noch vor einer Sekunde erfüllt gewesen vom Reden und Kichern der anderen, so herrschte von einer Sekunde zur anderen Totenstille. Alle starrten ihn an.

"Thomas, ich glaube, eben bist du zu weit gegangen", sagte Dr. Benz rau.

Er ließ ihn stehen und ging zu seinem Pult, wo er das Klassenbuch aufschlug und einen Vermerk machte.

"Du meldest dich jetzt sofort beim Direktor. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass ich noch in den letzten Tagen so durchgreifen muss, aber du lässt mir leider keine andere Wahl."

"Aber es war nicht meine Schuld", rief Tom zornig. "Er hat mich dumm angemacht und in die Tische geschmissen."

"Das interessiert mich nicht."

"Das interessiert Sie nicht?"

"Ganz recht. Du gehst jetzt sofort ins Büro aber vorher machst du hier noch Ordnung, verstanden?"

"Aber…"

"Halt den Mund!"

Tom hielt den Mund. Er blieb fassungslos mitten im Raum stehen, während Dr. Benz irgendetwas über die bevorstehende Berufswahl zu dozieren begann. In einem Jahr sei die Schule vorbei und wer sich schon für einen Beruf interessiere, solle die Hand heben und…

"Thomas, ich habe doch gesagt, du sollst das Chaos beseitigen, oder?"

Tom sah ihn nicht an. Er betrachtete seine Klassenkameraden. Alle saßen da und keiner würdigte ihn eines Blickes. So, als habe er tatsächlich Schuld an dem Durcheinander. Keiner gab ihm das Gefühl, nicht allein und eigentlich ja im Recht zu sein.

Keiner.

Was sollte er also noch hier.

"Hm", sagte Tom. „Dann räum ich mal eben hier auf.“

Er zuckte die Achseln und Dr. Benz sprach weiter über die Berufsberatung.

Tom nahm einen Stuhl vom Boden auf, ging in den hinteren Teil des Klassenzimmers und öffnete ein Fenster. Der Schulhof lag menschenleer unter ihm und flimmerte in der Hitze des Vormittags.

Er nahm den Stuhl und warf ihn hinaus.

Eine halbe Sekunde später schlug er krachend auf und flog auseinander. Er nahm einen Zweiten und warf ihn hinterher. Dann stemmte er einen der Tische hoch und schmiss ihn in den Hof. Vier Stockwerke weiter unten verteilten sich Holz und Metall sehr dekorativ auf dem Asphalt. Gerade wollte er noch einen Stuhl folgen lassen, als er Dr. Benz schreien hörte.

"Bist du denn wahnsinnig geworden, du Idiot! Hör sofort damit auf!"

Tom schaffte es nicht mehr, das Möbelstück zu werfen, stattdessen landete es auf dem Fuß des Lehrers. Dr. Benz fluchte und keuchte gleichzeitig.

"Los jetzt, ich bring dich ins Büro und dann sorg ich dafür, dass du hier nie wieder jemanden terrorisieren wirst."

Tom wand sich aus seinem Griff und ging zur Tür. Jetzt waren alle Augen ängstlich auf ihn gerichtet. Aber jetzt brauchte Tom ihre Aufmerksamkeit nicht mehr. Er sah seine Klassenkameraden an, grinste, dann nahm er den Feuerlöscher aus der Halterung und versprühte den Inhalt im Klassenzimmer. Ein einziges Kreischen aus vierundzwanzig Kehlen war die Antwort. Dumpfe Geräusche von stürzenden Körpern und umfallenden Möbeln vervollständigten das Durcheinander. Tom ließ den leeren Feuerlöscher fallen, schnappte seinen Rucksack und den Helm und verließ die Schaumparty. Schon nach dem ersten Treppenabsatz hörte er aufgeregte Stimmen von oben, die ihm folgten. Er griff sich einen zweiten Feuerlöscher und verteilte den Schaum hinter sich auf den Stufen. So schnell würden sie ihn nicht kriegen. Und was später sein würde, darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Ströme von Adrenalin jagten durch seinen Körper, während er die Treppe hinunterlief und ein Chaos hinter sich zurückließ. So muss es einem Junkie nach dem Schuss gehen, fuhr es ihm durch den Kopf. Sein Herz schlug heftig und Schweiß trat aus sämtlichen Poren seiner Haut. Er durchquerte die Pausenhalle mit langen Schritten und trat hinaus in die flirrende Hitze. Im Hof lagen die Reste der Möbel und der Hausmeister und einige Schüler standen darum und sprachen erregt miteinander. Er passierte die Gruppe ohne, dass sie ihn bemerkten und musste lachen.

"Festhalten!"

Jemand schrie hinter ihm und als Tom sich herumdrehte, sah er Dr. Benz und ein paar seiner Klassenkameraden aus der Tür treten.

"Halten Sie ihn fest", schrie der Lehrer und deutete auf Tom. Bis der Hausmeister begriffen hatte, dass Tom für die zerstörten Möbel verantwortlich war und reagierte, hatte er schon die Hauptstraße erreicht und gab Fersengeld. Tom war jünger und sportlicher als sein Verfolger und gewann somit in kürzester Zeit einen guten Vorsprung. Irgendwann jedoch verließ auch ihn der Atem und er versteckte sich hinter einer Batterie Mülltonnen, um zu verschnaufen. Der Schmerz in seiner Seite brachte ihn schließlich in die Realität zurück. Er fing an zu begreifen, was er eigentlich getan hatte. Er hatte sich nicht nur selbst von der Schule geworfen, seinen Abschluss im nächsten Jahr verzockt, sondern sich auch noch einer strafbaren Handlung schuldig gemacht, in dem er Sachbeschädigung an öffentlichem Eigentum begangen hatte. Es war alles megascheiße gelaufen.

Blut schoss in seinen Kopf und ihm wurde schwindlig. Er fuhr sich durchs schweißnasse Haar.

Hinter den Mülltonnen stank es erbärmlich, aber er merkte es nicht. Seine Sinne waren nicht empfänglich dafür, alles in seinem Kopf drehte sich um die letzte Stunde. Er beschloss, dass es besser wäre, sich zu stellen. Ohne Zweifel hatte die Schule längst die Polizei verständigt und die würde natürlich nach ihm suchen.

Tom hatte Angst. Seine Welt war von einer Minute zur anderen völlig aus den Fugen geraten und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Nach Hause. Er würde zuerst nach Hause gehen und seine Mutter um Rat fragen. Er hoffte, dass Schroeder nicht da sein würde, dieser Schleimbeutel. Der wäre fähig, ihn auszuliefern, ohne ihn auch nur einmal angehört zu haben. Er atmete tief durch - er inhalierte dabei eine grauenhafte Mischung aus Fäulnisgestank und Alkohol - und lugte hinter der Mauer hervor, die die Mülltonnen vom Gehweg trennte. Die Straße lag leer vor ihm. Er trat hinaus und bemühte sich, einen möglichst unauffälligen Eindruck zu machen, fuhr aber bei jedem Geräusch zusammen. Auf Umwegen ging er zurück zum Parkplatz und fuhr davon. Als ihm unterwegs tatsächlich die Polizei entgegenkam, wurde es Tom gar nicht besser.

Die Reihenhaussiedlung, in der er mit seiner Mutter wohnte, lag friedlich in der Sonne. Tom näherte sich seinem Zuhause wie ein Verbrecher, er fuhr langsam und sah sich immer wieder nervös um. Polizei schien nicht in der Nähe zu sein, aber das könnte sich schneller ändern als ihm lieb war. Er stoppte sein Motorrad auf dem schmalen Fußweg zur Haustür, als sein Blick auf Schroeders BMW fiel, der in der Einfahrt stand. Die Garage war offen, der Polo seiner Mutter fehlte. Tom biss wütend die Zähne zusammen. Musste denn heute alles schief gehen? Er hatte keine Wahl und so schloss er auf.

Freudiges Gebell und das Trappeln von vier Pfoten schlugen ihm entgegen. Chester kam die Treppe herabgeflogen, sprang an ihm hoch und verteilte mächtig nasse Küsse. Tom schob den dreißig Kilo schweren Schäferhund in die Diele und schloss die Tür.

"Okay, Dicker", sagte er. "Herrchen hat Mist gebaut und ich glaube im Moment bist du mein einziger Freund hier, wie?"

Chester legte den Kopf schief und jaulte leise. Es war manchmal fast unheimlich, wie der Hund Toms Gemütsverfassung zu deuten wusste. Er roch, dass sein Herr Angst hatte. Obwohl jeder gerochen hätte, dass etwas nicht stimmte, denn Tom stank wie ein nasser Fuchs. Sein T-Shirt klebte an ihm und seine Haare waren schweißgetränkt. Er fröstelte in der Kühle des Hauses. In der Küche wurde der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen.

"Sabine?"

"Ich bin's", sagte Tom. Er vermied es, mit Schroeder zu sprechen, wann immer es ging. Es kam selten vor, dass Tom Menschen einfach nicht mochte, aber diese pathologische Abneigung gegen Schroeder war kaum mehr zu toppen. Und ausgerechnet diesen einen von über zwanzig Kollegen aus der Bank hatte sich seine Mutter ausgeguckt. Tom war überzeugt, dass sie an diesem Tag etwas Schlechtes geraucht haben musste. Schroeder war gewöhnlich, unattraktiv und todlangweilig. Außerdem war die Antipathie gegenseitig. Er hielt Tom für faul, verzogen und unhöflich. Zwei gleiche Pole eines Magneten könnten sich nicht stärker abstoßen. Tom akzeptierte Schroeders Anwesenheit zähneknirschend, weil er seiner Mutter nicht wehtun wollte. Wenn sie mit ihm glücklich war, sollte sie es. Sie wusste aber auch, dass Tom ihn nie akzeptieren würde, nicht als Freund und schon gar nicht als etwaigen Stiefvater. Niemand würde ihm seinen Vater ersetzen können. Er kickte die Stiefel von den Füßen und zog seine ausgelatschten Lieblingsturnschuhe an.

"Was machst du denn schon hier? Ist keine Schule mehr? Ach so, letzter Schultag, stimmt ja."

Er kam aus der Küche und hielt Tom eine offene Dose Bier entgegen.

"Willst du?"

"Ich kann mir selbst eins nehmen." Er ließ ihn stehen und ging an den Kühlschrank. Er trank sonst wenig Bier, aber dieses tat so gut wie schon lange nicht mehr. Er hatte gar nicht gewusst, wie durstig er gewesen war. Er sah aus dem Fenster. Nichts.

"Komisch", sagte Schroeder. "Nach dem Kalender hättest du heute noch Schule. Wann ist denn nun euer letzter Tag?"

"Morgen."

Tom warf die Dose in den Eimer und knackte eine Neue.

"Du schwänzt?"

"Und wenn? Geht dich das was an?"

"Allerdings. Bist du nicht schon einmal sitzen geblieben? Deine Mutter…“

"Genau Mann", sagte Tom kalt. "Wenn das jemanden was angeht, dann meine Mutter, aber nicht dich. Verstanden? Und jetzt sabbel mich nicht voll."

Er schob Schroeder zur Seite und trat in die Diele, wo Chester schwanzwedelnd wartete. Als er Schroeder sah, knurrte er leise. Tom nahm seinen Rucksack und ging nach oben.

"Es kommen andere Zeiten, mein Junge", hörte er Schroeder auf halbem Weg plötzlich sagen. Tom blieb stehen. Von oben herab sah er in kalte blaue Augen.

"Ach ja? Welche denn?"

"Nun", sagte der Bänker. "Zum Beispiel ziehe ich demnächst hier ein. Jetzt bist du platt, was?" Er grinste übers feiste Gesicht und weidete sich an Toms Fassungslosigkeit.

"Was… wann…"

"Demnächst. Hör gefälligst zu, wenn ich mit dir rede!" Tom überhörte den Befehlston. Er war sicher, dass das gelogen war. Nie und nimmer würde seine Mutter es zulassen, dass hier jemand anderes lebte und womöglich ihm sagen würde, was er zu tun und zu lassen hatte. Chester knurrte wieder.

"Und zuerst kommt dann der Köter weg!"

Das brachte Tom wieder in die Realität zurück. Eine maßlose Wut überkam ihn. Sie schnürte seine Brust zusammen, sein Atem ging schwer und er spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Mit einem Satz sprang er die Treppe hinab.

"Wage es nicht", zischte er. "Versuch nicht, meinen Hund anzufassen. Hast du das verstanden?"

"Das werden wir sehen."

Schroeder drehte sich mit einem kalten Grinsen um und ging ins Wohnzimmer. Tom folgte ihm mit butterweichen Knien.

"An deiner Stelle würde ich nicht mal daran denken, Chester anzufassen, du Mistkerl. Er gehört mir."

Schroeder saß lässig in einem Sessel und musterte Tom schweigend.

"Weißt du, was ich glaube, mein Junge?"

"Ich bin nicht dein Junge!"

"Ich glaube, deine Mutter ist mit dir völlig überfordert. Ihr braucht beide Hilfe."

"Lass meine Mutter zufrieden!" Tom war, als müsste er jeden Moment explodieren.

"Und dein Vater ist ein Versager. Ich brauch mir bloß dich anzusehen."

Mit einem Schrei stürzte Tom auf Schroeder und zerrte ihn aus dem Sessel.

"DU DRECKSTÜCK!!!"

Er zog ihn hoch und warf ihn über das Sofa. Schroeder wog viel mehr als Tom, aber die unmenschliche Wut verlieh ihm ungeheure Kräfte. Tom holte aus und trat nach ihm. Vom Tisch nahm er die Fernbedienung des Fernsehers, warf und das Gerät traf Schroeder am Kopf und zersplitterte. Der Mann konnte sein Gesicht in letzter Sekunde verdecken und schrie vor Angst und Schmerz auf.

"DU WILLST MIR BEFEHLE GEBEN", schrie Tom. "DU WILLST MIR MEINEN HUND WEGNEHMEN? WER BIST DU ÜBERHAUPT???"

Das Entsetzen in Schroeders Gesicht über diesen unerwarteten

Wutausbruch war echt. Tom weidete sich daran. Seine Pumpe lief auf Hochtouren und sein T-Shirt war nur noch ein nasser Lappen. Für einen Moment glaubte er, durchzudrehen.

"Warum will mir eigentlich jeder sagen, was ich zu tun habe", keuchte er. "BLEIB GEFÄLLIGST AUF DEINEM ARSCH SITZEN, DU MISTBOCK!"

Schroeder ließ sich in das Sofa fallen, von dem er hatte aufstehen wollen. Chester bellte und knurrte gleichzeitig.

"Bleib, wo du bist, Schroeder, oder ich bring dich um", zischte er. In seine grenzenlose Wut mischte sich Verzweiflung. Eine gefährliche Paarung.

"Du bist ja vollkommen verrückt", sagte Schroeder mit zittriger Stimme. Tom schnaubte.

"Klar bin ich verrückt. Mein Vater ist verrückt, weil er uns verlassen hat, meine Mutter ist verrückt, weil sie sich mit so einem Flachwichser wie dir abgibt und ich bin der Sohn dieser zwei Verrückten."

Schroeder stand auf.

"Hör zu, Tom, es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich…"

"HALT’S MAUL!!!"

Tom kam wie ein Unwetter über ihn. Er packte ihn am Kragen, doch diesmal war Schroeder nicht unvorbereitet und griff seinerseits nach Toms Hemd. Beide rangen sie keuchend miteinander, irgendwo zerriss Stoff und plötzlich kam Schroeder ins Straucheln, stolperte und fiel hin. Mit einem grausamen dumpfen Geräusch schlug sein Kopf gegen den Kamin und er ging wie ein nasser Sack zu Boden.

Dann war es sehr still im Wohnzimmer. Nur Chesters leises Winseln und Toms schwerer Atem waren zu hören. Tom starrte entsetzt auf Schroeder, der am Boden lag und sich nicht rührte. Er zitterte, er fror und schwitzte gleichzeitig. Er war überzeugt, dass er jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er sich aus seiner Erstarrung löste und auf den Mann zugehen konnte. Er rührte sich nicht. Es schien als würde er schlafen und fast wäre Tom bereit gewesen, das zu akzeptieren, als sein Blick auf das Blut fiel, das unter Schroeders linker Gesichtshälfte hervorlief und den Granitsockel des Kamins grausam verzierte. Der Entsetzensschrei blieb Tom im Hals stecken. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, er kauerte sich in einen Sessel und seine schweißnassen Hände hinterließen Flecken auf dem Polster.

"Das wollte ich nicht", flüsterte er. Niemand war da, der ihn anhörte. Chester kam winselnd zu ihm und leckte seine Hand.

"Ich wollte es nicht. Ich wollte ihn nicht um…"

Tom rannte in die Küche und kotzte in den Ausguss.

Es schien eine Ewigkeit, bis er wieder klare Gedanken fassen konnte. Soweit man das so nennen kann, in dem Bewusstsein, jemandem das Leben genommen zu haben. Die logischste Handlung wäre gewesen, die Polizei zu rufen. Tom tat es nicht. Der Zorn kam wieder in ihm hoch, ergriff von ihm Besitz. Zorn auf die Schule, in der er falschen Beschuldigungen ausgesetzt gewesen war. Okay, er hatte die Möbel aus dem Fenster geschmissen, aber niemanden interessierte es, weshalb. Zorn auf Schroeder und seine Gehässigkeiten. Eines war ihm klar - das Bild stand eindeutig vor seinem inneren Auge - er würde sich der Polizei gegenüber den Mund in Fetzen reden, glauben würde ihm niemand. Niemand würde fragen, weshalb er den Freund seiner Mutter getötet hatte. Es würde unweigerlich zur Sprache kommen, dass er und Schroeder sich nicht verstanden hatten. Ob Schroeder ihn provoziert hatte, ob er seinen Vater beleidigt hatte - wer würde sich darum scheren?

Dad!

Tom wischte sich Rotz und Tränen aus dem klebrigen Gesicht und griff zum Telefon. Die Nummer kannte er auswendig, er telefonierte zwar nicht sehr oft mit seinem Vater seit er die Familie verlassen hatte aber diese Nummer hatte er sich eingeprägt. Max von Steinberg lebte in einem kleinen Ort am Laacher See, wo er sich in den letzten fünf Jahren eine neue Existenz aufgebaut hatte. Er führte ein gutgehendes Innenarchitekturbüro und hatte sich bei der Trennung lediglich auf Unterhaltszahlungen an seinen Sohn verpflichtet. Tom sparte das Geld. Er wusste, dass er es irgendwann brauchen würde. Er wusste es spätestens in dem Moment, als ein Wagen draußen vorfuhr und es läutete.

"Fuck!"

Tom warf das Telefon weg und rannte in sein Zimmer. Chester überholte ihn auf der Treppe und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Tom lugte durch die Gardinen. Vor dem Haus standen ein Streifenwagen und zwei Beamte. Es läutete wieder. Chester kläffte.

"Schnauze", zischte Tom. Der Hund legte die Ohren an und jaulte leise. Tom zerrte unter seinem Bett einen Rucksack hervor und begann wahllos Klamotten hineinzustopfen. Instinktiv packte er sogar seine alten Wanderstiefel ein und vergaß selbst sein kleines Fernglas mit dem eingebauten Kompass nicht. Zuletzt griff er in die Schublade seines Schreibtisches und holte das Sparbuch hervor. Unten läutete es. Jemand klopfte an die Tür.

"Hallo. Hier ist die Polizei. Machen Sie auf!!"

"Einen Scheißdreck tu ich", flüsterte Tom. Er schulterte den Rucksack, legte Chester Halsband und Leine an und schlich die Treppe hinab. In der Diele zeichneten sich deutlich zwei Schatten auf dem Boden ab. Tom dankte dem Vorhang an der Haustür, dass die Polizisten ihn nicht sehen konnten und ging in den Keller. Es stand fifty-fifty, dass nicht gerade in dem Moment einer der grünen Brüder auf die Idee kommen würde, nach einem Hinterausgang zu suchen, aber Tom hatte nicht viel Möglichkeiten, wollte er nicht mit einem Toten allein im Haus erwischt werden. Er lief durch das kühle Halbdunkel des Kellers und öffnete leise die Tür in den Garten. Wärme drang ein. Er befahl Chester leise zu sein und gemeinsam huschten sie wie Diebe durch den Garten. Das Grundstück grenzte fast unmittelbar an den Wald, sodass lediglich hundert Meter zwischen ihm und der Freiheit lagen. Das Klacken des Gartentores, als er es hinter sich schloss, hatte etwas Endgültiges. Ein letzter Blick über die Schulter auf sein Elternhaus, das von nun an keines mehr war. Ein Gedanke an seine Mutter, der von Heftigkeit und grenzenloser Liebe nicht stärker erfüllt sein könnte sowie der Wunsch, alles rückgängig machen zu können. Und auch das Wissen, dass er möglicherweise einen Fehler beging.

Tom verdrängte diesen Gedanken und lief über den brachliegenden Acker. Das dichte Grün des angrenzenden Waldes verschluckte ihn wie ein Wal das Plankton.

Er ahnte nicht, was ihn erwartete.

Tom lief in westliche Richtung und betrat den Wald unterhalb des "Kleinen Adelberg". Er ging ein Stück entlang der Turnerheimstraße und fühlte sich erst einigermaßen sicher, als er einen Waldweg fand. Im nächsten Moment umfing ihn Dunkelheit. Es war so düster, dass seine Augen einige Sekunden brauchten, bis sie sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Er blieb stehen und atmete zum ersten Mal, seit seinem Streit mit Schroeder tief durch. Chester legte sich auf den kühlen Waldboden und hechelte. Sirenengeheul brachte ihn zur Besinnung und er vermutete, dass sie Schroeder gefunden hatten. Demnach konnte es nicht lange dauern, bis sie nach ihm suchen würden. Tom lief weiter, drang tiefer in den Wald vor und eine unfreiwillige Hektik nahm von ihm Besitz. Seine Beine fingen an zu rennen, er konnte nichts dagegen tun und erst als er über eine Wurzel stolperte und der Länge nach hinschlug, wurde ihm bewusst, dass auf diese Weise seine Flucht schneller beendet sein würde, als sie begonnen hatte. Er rappelte sich auf und ging weiter. Er konzentrierte sich auf den Weg und war schließlich überrascht, dass er so gut vorankam. Bald hatte er auch das Atmen unter Kontrolle und die ersten Seitenstiche ließen nach. Nach einer Stunde hatte er Sarnstall erreicht. Wenig später Rinnthal. Es würde für die nächsten Stunden die letzte Ortschaft sein, die er sehen würde, er folgte nun der B 48, die sich ungefähr fünf Kilometer durch reines Waldgebiet zog. Eine schöne Strecke im Auto, für Tom schien sie kein Ende nehmen zu wollen. Die Füße begannen zu schmerzen. Er trug immer noch die Turnschuhe, die diesen Namen längst nicht mehr verdienten, und als er eine Holzbank erreichte, zog er frische Socken und die Wanderschuhe an, die er mitgenommen hatte. Er betrachtete seine Lieblingstreter.

"Ach was soll‘s", seufzte er und warf sie in die Mülltonne. Noch ein Teil seines Lebens, den er hinter sich ließ. Er ging weiter.

Nach einiger Zeit durch schwieriges Gelände erreichte er Johanniskreuz, weniger eine Ortschaft als vielmehr eine Ansammlung von einigen Häusern und einer Gaststätte. Hier befand sich auch eine Freiluftkirche. Tom hatte davon gehört und auch gelesen aber er war noch nie hier gewesen. Es roch nach Essen und das war gar nicht gut, denn Toms Magen meldete sich lautstark. Chester jaulte leise. Auch ihm schienen die Düfte aus der Küche um die Nase zu wehen. Tom wurde es in diesem Moment bewusst, dass er in seiner Panik an alles andere als an Futter für seinen Hund gedacht hatte. Es würde ihm somit nichts anderes übrig bleiben, als unterwegs immer wieder etwas zu kaufen. Das Risiko, erkannt zu werden, war groß, aber was sollte er sonst tun?

Tom band Chester vor dem Eingang zum Restaurant fest und betrat das Lokal. Zwei Teller mit Schnitzel kamen durch eine Schwingtür, gefolgt von einer jungen Bedienung. Unter anderen Bedingungen wären Tom die Teller furchtbar egal gewesen, die junge Frau war schon einen näheren Blick wert, aber im Moment hatte er andere Gedanken im Kopf. Er ging mit weichen Knien zur Theke und fand neben der Kasse einen kleinen Korb mit verschiedenen Schoko- und Müsliriegeln. Er nahm zwei volle Hände und legte sie auf die Theke.

"Na, junger Freund?"

Tom schrak zusammen. Der Wirt beobachtete ihn und kam zur Kasse, während er sich die Hände an der Schürze abtrocknete.

"Die hätt' ich gern", sagte Tom. "Was macht das?"

"Zehnfuffzich. Sonst noch 'nen Wunsch?"

"Haben Sie Hundekuchen", fragte er, ohne zu zögern. Der Wirt sah ihn erstaunt an.

"Das wird aber'n komisches Abendessen."

"Nicht für mich. Für meinen Hund."

"Wär ich jetzt fast nicht drauf gekommen", grinste sein Gegenüber. "Warte mal."

Tom versuchte den Anflug von Paranoia zu verdrängen und vor allem das Bild von dem Wirt, wie er irgendwo nach der Polizei telefonierte. Es war gut, dass es im Gastraum ziemlich düster war, sodass niemand sehen konnte, wie Tom vor Aufregung rot anlief. Die Schwingtür zur Küche ging auf und der Wirt kam heraus, in der Hand eine Plastiktüte.

"Hier. Was hast du denn für einen?"

"Schäferhund. Was kostet das?"

"Vergiss es" sagte der Mann. "Sind nur'n paar Abfälle."

Tom nahm die Tüte und verließ mit einem gekrächzten "Danke" das Lokal.

Als er Chester losband, stutzte er.

Neben seinem Hund stand ein Eimer mit Wasser und Chester hatte ganz offensichtlich davon getrunken. Der Wirt konnte es nicht gewesen sein, er hätte sonst nicht nach der Rasse gefragt. Und der Eimer war vorher nicht da gewesen, dessen war Tom absolut sicher. Dann sah er die Fußspuren im Sand. Sie kamen aus dem Wald. Und sie führten dorthin zurück. Tom starrte in das dichte Grün des Waldes. Er war zu müde, um nachzudenken, aber die Frage verfolgte ihn an diesem Nachmittag noch lange und er wusste nicht, warum sie ihn so beunruhigte.

Wer hatte Chester das Wasser gegeben?

Tom hatte Zeit bis zum frühen Abend, darüber zu grübeln, dann bekam er andere Probleme. Er befand sich nach einigen Stunden Marsch im Karlstal, er hatte Trippstadt und Langensohl hinter sich gelassen und merkte nun, wie jeder Schritt Schmerzen verursachte. Er steuerte eine Schutzhütte für Wanderer an und Chester schmiss sich sofort auf den Boden und blieb hechelnd liegen, die Zunge kilometerweit aus dem Maul hängend. Tom setzte sich und zog Schuhe und Socken aus. An den Fersen hatte sich die Haut gerötet und tat bei der leichtesten Berührung weh.

"Mist", fluchte er.

Da wurde ihm klar, worauf er sich eingelassen hatte. Er hatte Klamotten dabei, Hundekuchen und sein Sparbuch, aber nicht mal ein einziges Pflaster gegen wunde Füße. Ihn überkam eine solche hilflose Wut, dass er schon fast lachen musste. Er schloss die Augen und lehnte sich an die schmutzige Wand der Hütte. Im nächsten Moment geschah etwas Unheimliches.

Aus dem Nichts kam plötzlich ein Pfeil herangeflogen, bohrte sich mit einem WUPPP keine zwanzig Zentimeter neben seinem Kopf in das Holz und blieb zitternd stecken. Tom war schlagartig hellwach. Mit einem Schrei warf er sich zur Seite und kauerte sich keuchend in eine dunkle Ecke der Hütte. Chester bellte aufgeregt. Starr vor Schreck sah Tom zu dem Pfeil, der ihn nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Er zerrte Chester zu sich und umschlang ihn mit beiden Armen. Draußen war es ruhig. Keine Schritte, kein Knacken von Zweigen, niemand schien auf ihn zu lauern. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Tom sich aus seinem Versteck wagte. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Nichts. Nur das Zwielicht des Waldes in der Abendsonne.

Er ging zu der Bretterwand und nun erst sah er den Zettel, der um den Schaft des Pfeiles gewickelt war. Er zerrte ihn aus dem Holz - er war mit solcher Wucht eingeschlagen, dass er bis über die blanke Spitze eingedrungen war - und wickelte das Papier ab. Zwei Stücke Pflaster fielen ihm entgegen. Auf dem Zettel stand eine Botschaft in ungelenker Handschrift und scheinbar mit Kohle auf ein Stück Zeitungspapier geschrieben.

Du Anfänger

Tom starrte fassungslos auf die Worte.

Jemand beobachtete ihn.

Jemand folgte ihm.

Tom gefiel dieser Gedanke überhaupt nicht. Allein die Tatsache, dass er ihm Pflaster für seine wunden Füße zukommen ließ, sprach ja noch lange nicht für eine freundliche Gesinnung. Tom fiel ein Film ein. In "Duell" hatte der große Tanklaster den kleinen PKW auch nur überholen lassen, um ihn später mit voller Wucht von hinten rammen zu können…

Die Pflaster taten jedenfalls ihren Zweck und Tom konnte seinen Weg unbehelligt fortsetzen. Unterwegs drehte er sich jedoch immer wieder um und hielt nach jemandem Ausschau von dem er nichts wusste, außer dass er ein guter Schütze sein musste Es war früher Abend, als er eine kleine windschiefe Hütte am Waldrand entdeckte. Sie bestand nur aus einigen lose zusammengenagelten Brettern und einem glaslosen Fenster, durch das die Mücken munter ein und ausflogen. Das Dach schien einigermaßen dicht zu sein und Tom beschoss, die Nacht hier zu verbringen. Todmüde war kein Ausdruck für seinen Zustand. Er schloss die klapprige Tür hinter sich und warf sich in voller Montur auf den Boden, wobei er seinen Rucksack als Kopfkissen benutzte. Die Gedanken, bevor er einschlief, drehten sich um die Schule, um Schroeder, und um sein Leben, das derentwegen verpfuscht war.

Der letzte Gedanke galt jedoch seiner Mutter.

Mit Tränen auf den Wangen schlief er ein.

Zweiter Tag

Es war fast Sieben Uhr, als er wach wurde. Chester knurrte leise und im nächsten Moment war Tom auf den Beinen. Er rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und wusste im ersten Augenblick gar nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein und er hörte ein Brummen, das langsam näher kam. Er schulterte sofort seinen Rucksack, nahm Chester und zusammen verließen sie die Hütte und gingen in den Wald. Als er kurz darauf zurückblickte, sah er einen Traktor, der sich der Hütte näherte. Tom atmete hörbar aus. Auf einer Lichtung machte er eine Pause, aß von den Müsliriegeln und gab Chester die Reste aus der Tüte, die bereits anfingen zu riechen. Ein Stück Wurst war schon nicht mehr als solches zu erkennen, aber Chester verschlang es mit sichtlichem Vergnügen.

Er dachte wieder an den unbekannten Bogenschützen und auch daran, dass er in der letzten Nacht eigentlich ein hervorragendes Ziel gewesen war. Wenn der andere gewollt hätte… naja. Wie es aussah, wollte er nicht und das machte die ganze Sache nur noch rätselhafter.

Tom ging nach einer Weile weiter und verschwendete zunächst keinen Gedanken mehr an den Unbekannten. Er atmete tief ein und genoss den Geruch des Waldes. Eine Mischung aus Erde, Moos, Harz und Moder. Aus irgendeinem Grund fühlte Tom sich sauwohl und die Erinnerungen an gestern waren nur noch wie die Reste eines bösen Traums.

Er beschloss, pro Tag nur ein bestimmtes Pensum von etwa 15 Kilometern zurückzulegen. Alles andere wäre unnötige Schinderei. Er musste Kräfte sparen. Er kannte weder den genauen Weg, noch die exakte Richtung und war somit auf seinen Orientierungssinn angewiesen. Richtung Norden, das war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte.

Er folgte dem Kompass und machte erst wieder Pause, als er sich auf einer Anhöhe befand. Tom wusste nicht, dass er sich genau auf der Grenze des Naturparks Pfälzer Wald befand. Er wusste aber, dass hinter den grünen Hügeln seine Heimat lag und er fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde.

Ärgerlich darüber, dass sich doch wieder trübe Gedanken einschlichen, ging er weiter. Ohne nachzudenken, betrat er zwei Stunden später in dem kleinen Ort Eulenbis den nächstbesten Laden und kaufte von seinem letzten Bargeld Obst, ein paar Brötchen, Wasser und Trockenfutter für Chester. Er sah nicht auf die ausliegenden Regionalzeitungen, er achtete nicht auf irgendwelche Reaktionen der Leute um ihn herum und er fand, dass er auf diese Weise am besten fuhr. Je auffälliger er sich gab, umso eher drohte ihm die Entdeckung. Er verließ den Laden und spürte sofort die feuchte Hitze. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne und Tom vermutete, dass es noch vor dem Nachmittag regnen würde. Dieses Problem stellte sich etwa fünf Kilometer außerhalb von Eulenbis als das Geringste heraus.

"Junger Mann, können wir mal Ihren Ausweis sehen?"

Tom blieb stehen wie vom Blitz getroffen und starrte entsetzt auf den Streifenwagen, der sich ihm fast lautlos von hinten genähert hatte, während er seinen Gedanken nachgehangen war. Zwei Polizisten musterten ihn interessiert. Einer gab per Funk ihren Standort durch, der andere stieg aus und kam auf Tom und Chester zu.

"Ich… ich hab keinen dabei", sagte Tom.

"Das ist schlecht", sagte der Beamte. "Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen, um Ihre Personalien festzustellen.“

"Warum? Ich geh hier doch nur mit meinem Hund entlang. Ist das verboten?"

"Bitte - kommen Sie jetzt!"

"Nein."

"Ich fordere Sie zum letzten Mal auf mitzukommen!" Die Stimme des Beamten wurde lauter und duldete keinen Widerspruch. Toms Hass auf alles Autoritäre kam wieder hoch und überragte sogar seine Angst um Längen. Der zweite Polizist stieg aus und deutete auf Tom.

"Ist das nicht dieser Steinberg? Dieser Randalierer aus Annweiler!“

"Leck mich", rief Tom und dann lief er los.

Er rannte die Straße entlang und schlug einen Haken in den Wald hinein.

"Stehenbleiben!"

Einer der Beamten war ihm auf den Fersen, aber durch seine Schuhe im Wald gehandicapt. Tom hetzte mit langen Schritten und keuchendem Atem durch den Wald. Ein Donnergrollen ließ die Luft erbeben. Das Atmen fiel schwer und Tom spürte, wie er langsamer wurde, wie die Flucht an seiner Kraft zehrte. Aber er merkte auch, dass der Polizist zurückfiel.

"Stehenbleiben", rief er. "Stehen… ahh, verdammt!"

Tom blieb stehen und sah zurück. Der Beamte drehte sich auf der Stelle und schien sich vor irgendetwas schützen zu wollen. Er bedeckte sein Gesicht und es sah aus, als würde er Schläge abwehren. Dann wurde es Tom klar: Jemand warf mit Steinen nach dem Polizisten! Tom sah in die Richtung, aus der die Geschosse kamen, aber die Bäume standen zu dicht und schließlich nutzte er die Gunst der Stunde und verschwand. Er versteckte sich hinter einem Stapel frischen Holzes und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Wieder grummelte der Donner.

Wer war das?

Wer hatte ihm da eben geholfen?

Tom wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, dass ihm ganz offensichtlich jemand folgte. Er lugte hinter seinem Versteck hervor. Der Polizist war weg, aber auch der Unbekannte schien verschwunden zu sein. Oder lauerte er irgendwo und beobachtete ihn?

"Wer bist du", rief Tom in den Wald. "Komm raus!"

Nichts.

Der Wind nahm an Stärke zu und die Wolken verdichteten sich zu einer dunklen, grauen Masse am Himmel. Im nächsten Moment fielen auch schon die ersten Tropfen und keine Minute später goss es wie aus Eimern. Tom suchte nach einem Unterschlupf, einem Ansitz, einer Hütte, irgendwas.

Obwohl das jetzt auch nicht mehr viel nutzen würde, denn er war schon jetzt nass bis auf die Haut. Der Regen nahm an Stärke zu und der kühle Wind ließ ihn zittern. Der Waldweg hatte sich mittlerweile in eine Schlammpiste verwandelt und Tom beschloss jeder Vernunft zum Trotz, wieder zur Straße zurückzugehen. Die Orientierung fiel schwer, er ging einfach seinem Gefühl nach und nach einigen hundert Metern sah er durch den Regenschleier tatsächlich das graue Band der Straße und hörte auch das Schmatzen von Autoreifen auf nassem Boden. Der Regen ließ etwas nach und außerhalb des Waldes herrschte eine derartig heiße Schwüle, dass Tom entsetzt zurückprallte. Der Asphalt schien zu dampfen und als der Regen schließlich ganz aufhörte und die Sonne wieder durch die Wolken lugte, begann auch Tom zu dampfen, was einen kuriosen Anblick bot. Die Wolkenberge verzogen sich nicht vollständig und Tom vermutete, dass dies nicht der letzte Regen für heute gewesen war.

Er sollte Recht behalten.

Gerade als er sich kurz vor Rothselberg befand und schon fast wieder trocken war, ging der Wolkenbruch von vorne los. Man konnte richtig zusehen, wie sich die Wolken zu einer gewaltigen Front zusammenschlossen und die Sonne praktisch verschluckt wurde. Ein gewaltiger Donner ließ die Luft erzittern. Chester jaulte und legte die Ohren an. Diesmal dauerte es keine zehn Sekunden und Tom war wieder pitschnass. Er verließ die Straße über einen Feldweg und ging auf eine Baumgruppe zu. Vielleicht gab es dort irgendeine Möglichkeit, sich unterzustellen. Das Wasser floss in Strömen und Tom konnte fast nicht erkennen, wohin er lief. Um ihn herum rauschte und platschte es und gewaltige Blitze erschienen am Firmament. Er zuckte zusammen, die Luft roch nach Ozon und er wusste, dass Bäume bei einem Gewitter alles andere als Schutz boten. Dessen ungeachtet lief er auf die Baumgruppe zu. Wieder knallte ein Donner, Tom fuhr zusammen und rutschte auf dem schlammigen Boden aus. Der Länge nach fiel er in den Dreck.

"Scheiße!"

Ein überirdisches Krachen unterstrich seinen Fluch und als er sich umdrehte, sah er, dass ein Blitz in einen freistehenden Baum eingeschlagen hatte. Der Stamm war gespalten, das Holz dampfte. Tom bekam Angst. Panisch beschleunigte er seine Schritte in den vermeintlichen Wald hinein, er sah nicht, wohin er lief und einen Lidschlag später trat er ins Leere. Entsetzt riss er die Augen auf, sah den Abgrund vor sich und suchte nach Halt. Instinktiv ließ er Chesters Leine los und dann glitt er aus und stürzte hinunter. Das Letzte was er registrierte, war eine fremde Hand, die sich um sein Handgelenk schloss, ihn jedoch verlor, und sein Schrei, mit dem er den stillgelegten Steinbruch hinabstürzte.

Und dann nichts mehr.

Als er zu sich kam, hatte Tom die schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens. Er hatte Mühe, überhaupt einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, in seinem Schädel dröhnte eine Brandung mit meterhohen Wellen, die an eine Kaimauer schlugen. So fühlt man sich also, wenn man tot ist, dachte er. Er musste tot sein, daran zweifelte er nicht. Langsam kam die Erinnerung zurück, bruchstückhaft zwar, aber sie kam. Er öffnete seine Augen und als er in die grelle Sonne sah, stöhnte er. Chester lag neben ihm und leckte über seine Hand.

"Aha. Da ist ja jemand aufgewacht."

Tom hörte zwar die fremde Stimme, war aber zu erschöpft, um sich darum irgendwelche Gedanken zu machen. Erst als ein Schatten die Sonne verdeckte und sich jemand vor ihm aufbaute, wurde er wach.

Polizei!!!

Das war sein erster Gedanke und das Adrenalin, das daraufhin durch seinen Körper schoss, ließ ihn zurückschrecken. Der Schatten beugte sich zu ihm herab.

"Bleib liegen", sagte eine junge Stimme. "Du hast vielleicht ´ne Gehirnerschütterung."

"Was… wer… wo…", stammelte Tom. Irritiert musterte er den Unbekannten, der sich einige Meter entfernt hinsetzte und seinerseits ihn beobachtete. Es war ein Typ in seinem Alter. Er war braungebrannt, trug ein ärmelloses T-Shirt, eine Bundeswehrhose in Tarnfarben und Springerstiefel. Seine dichten, schwarzen Haare glänzten in der Sonne.

"Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal", sagte der Fremde. "Das geht nun wirklich nicht."

Er äffte den Tonfall des Werbespots nach und grinste.

"Also was: Du bist gestürzt. Bestimmt zehn Meter. Ich wollte dich zwar noch packen, ging aber leider nicht. Du hast dir den Kopf gestoßen und ob du dir sonst was gebrochen hast, weiß ich nicht, ich bin ja kein Arzt. Wo: Das hier ist ein alter Steinbruch. Und wer: Ich bin Kai. Und wie heißt du?"

"Tom", sagte er ganz automatisch. "Wo kommst du her?"

"Och, mal von hier, dann wieder von da. Wie's mir grade passt. Und du?"

"Annweiler", sagte Tom.

"Hmm, tolle Möhre. Was machst du so allein hier draußen?"

"Das könnt ich dich genauso fragen Und außerdem bin ich nicht allein." Tom kraulte Chesters Kopf.

"Ach ja, der Bettvorleger. Nettes Kerlchen übrigens. Der wollte mir an die Kehle, als ich dich aufgesammelt hab. Ich musste ihn mit Kaninchen bestechen."

"Der Bettvorleger heißt Chester", brummte Tom.

"Chester? Das ist doch ein Schmelzkäse!"

"Und du bist bescheuert", sagte Tom. "Das ist ein ganz normaler Name. Schon mal was von Chester Nimitz gehört?"

"Nö."

"Amerikanischer General."

"Ich bin tief beeindruckt", sagte Kai grinsend. "Und ich frag mich wieso so ein Intelligenzbolzen wie du nicht auf die Idee kommt, Pflaster mit auf eine lange Tour zu nehmen. Du hast doch eine längere Tour vor, oder?“

Tom starrte den Jungen an. Dann fiel der Groschen.

"DU warst das?"

"Yepp."

"Du spinnst wohl", rief Tom wütend. "Du hättest mich erschießen können."

"Hätte ich, hab ich aber nicht", entgegnete Kai trocken. "Hab mir nur einen Spaß gemacht."

"Sehr komisch, echt!"

Kai grinste. "Ich fand's witzig, wie du in der Hütte rumgesprungen bist.“

"Hast du auch den Bullen beworfen?"

Kai nickte.

"Bist du verrückt oder so was in der Richtung?"

"Wer ist das nicht?"

Kai stand auf und kam herüber.

"Lass mal deinen Kopf angucken. Vielleicht können wir ja weiter."

"Wir?"

"Was?"

"Du hast eben wir gesagt."

"Hab ich das?" Kai löste das Pflaster an Toms Stirn. "Sieht gut aus. Hast du noch Kopfschmerzen?"

"Nein", log Tom. "Warum hast du eben wir gesagt?"

"Na, weil du deinen Weg gehst und ich meinen. Und ich kann dich nicht hier lassen, solange du nicht fit bist."

Erst jetzt registrierte Tom, dass er unter einer dünnen Decke lag und darunter nackt war.

"Ach du Schande. Warst du das?"

"Wer denn sonst? Hättest du lieber 'ne Erkältung?"

"Nein, aber…"

"Bei 'ner Frau wär dir das nicht so peinlich, wie? Hast du 'ne Freundin?"

Tom schüttelte den Kopf. "Du?"

"Nö."

Sie schwiegen eine Weile.

"Warum bist du unterwegs", fragte Tom.

"Warum willst du das wissen?"

"Nur so."

"Naja, ich hab… sagen wir mal, was ausgefressen." Kai grinste, aber es war ein gezwungenes Grinsen.

"Dann bist du auf der Flucht", sagte Tom erstaunt.

"Hm, wenn du's so nennen willst. Und warum sind sie hinter dir her?"

"Ich… hab auch was gemacht, was ich nicht hätte tun sollen."

"Jemanden umgebracht, was?"

Tom blieb fast das Herz stehen und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Kai bemerkte es nicht, er hatte nur Spaß gemacht.

"Ich will nicht drüber reden, okay?"

"Von mir aus", sagte Kai gleichgültig. Er ging zu Toms Klamotten, die über mehrere Äste eines umgestürzten Baumes verteilt in der Sonne trockneten.

„Seit wann verfolgst du mich eigentlich“, fragte Tom.

"Seit du dich das erste mal aufs Fressbrett gelegt hast. Und weil ich grad nix zu tun hatte, dachte ich, ich guck mal, was der Typ so vorhat. Hier, kannste wieder anziehen. Die Waschfrau hat heute leider frei, ich hab den Krempel in dem Tümpel da drüben ein bisschen sauber gemacht."

"Danke", sagte Tom. "Das ist nett."

"Na komm, du hast ja ausgesehen… also nee"

Er beobachtete Tom, während er sich anzog. Es war eine wacklige Angelegenheit. Er hatte immer noch weiche Knie, der Kopf tat weh und er hatte Hunger.

"Wo ist mein Rucksack?"

"Im Arsch", sagte Kai freundlich. "Vergiss ihn. Kannst du laufen? Das ist viel wichtiger."

"Mist" rief Tom entsetzt. "Da war mein Sparbuch drin."

"Dein WAS?"

"Meine Kohle, Mann!"

Kai fing schallend an zu lachen. Er gluckste, bis ihm die Tränen kamen.

"Sein Sparbuch! Ich brech’ ins Essen, das darf nicht wahr sein! Wolltest du bei einer Parkbank Geld abheben oder was?"

"Ich muss ja wohl von irgendwas leben.“

Kai kam auf ihn zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Tom stellte fest, dass sie fast dieselbe Größe hatten, nur war der andere Junge ungleich kräftiger als er.

"Weißt du was, mein neuer Freund?"

"Was?"

"Geh nach Hause. Zieh dir ordentliche Klamotten an und bleib da."

"Ich kann nicht zurück."

"Und wie hast du dir das hier vorgestellt? So wie die Bullen hinter dir her waren, hast du mehr angestellt als nur einen Kaugummi geklaut. Hast du ernsthaft gedacht, in deinem Aufzug in eine Bank gehen zu können und von einem Sparbuch Geld abzuheben? Sag mir, dass du das nicht gedacht hast."

"Und was sollen wir essen", fragte Tom trotzig, wohl wissend, dass Kai Recht hatte.

"Oh Mann!"

Kai ging zu einem großen Felsbrocken und kam mit einer Pfeil-und-Bogen-Ausrüstung zurück.

"Die Natur ist voller Nahrung, wenn du verstehst, was ich meine."

Tom verstand und war geschockt.

"Das kann ich nicht."

"Du wirst es können müssen. Das ist übrigens ein Compound-Bogen. Zerlegbar und nix für Anfänger. Vielleicht zeig ich dir mal, wie man damit einkaufen geht."

"Du willst mir ernsthaft erzählen, dass du wilderst?"

Ein Achselzucken war die Antwort. Tom war zugleich angewidert und fasziniert. Nie im Leben wäre er auf den Gedanken gekommen, dass er sich seine Nahrung mit Pfeil und Bogen fangen müsste. Nicht in seiner Welt voller Supermärkte und Tiefkühlkost.

"Na egal", sagte Kai. "Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen."

"Glaubst du, die Bullen kommen wieder?"

"Darauf kannst du deinen Arsch wetten. Die werden jetzt die ganze nähere Umgebung nach dir absuchen."

"Vielleicht…"

"Was?"

"Ach nichts."

"Sag schon."

"Ich dachte nur, vielleicht sollten wir uns zusammentun. Die suchen uns ja einzeln, kann sein, dass wir zusammen nicht so auffallen."

"Wir fallen so oder so auf wie die bunten Hunde. Und dein Bettvorleger ist auch nicht gerade unauffällig."

"Er heißt Chester!"

„Ja ja ich weiß“

„Dann nenn ihn auch so, ja?“

Tom ging zu den Trümmern seines Rucksacks. Nichts war mehr zu gebrauchen. Die Gurte waren abgerissen, der Stoff an den rauen Steinen zerfetzt und die Klamotten nicht mehr als solche zu erkennen. Sein Fernglas hatte nur noch Schrottwert. Er fand auch sein Sparbuch, aber das Dokument war nur noch Matsch. Wütend zerriss er die Überreste und warf sie in den Dreck.

"Okay, komm", rief Kai. "Wir müssen weiter. Bis zum Abend sollten wir irgendwo ein Dach überm Kopf finden."

"Also bleiben wir zusammen?"