Frau Seebergers Keller - Ulrich Lucas - E-Book

Frau Seebergers Keller E-Book

Ulrich Lucas

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Beschreibung

In einem Eliteinternat wird aus einem Spiel blutiger Ernst, ein Workaholic begegnet einem Geist und ändert sein Leben, in Corona-Zeiten mutiert ein Maskenträger, eine vom Teufel gesandte Putzfrau manipuliert einen TV-Sender, Hummer entdecken Menschen als Delikatesse, eine alte Dame macht Ausgrabungen in ihrem Keller und die Schrecken der Schulzeit, die Hausmeister, entpuppen sich als Dämonen.

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Ulrich Lucas

Frau SeebergersKeller

… und weitere Ereignisse

© 2022 Ulrich Lucas

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-57335-2

ISBN E-Book: 978-3-347-57336-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Vorwort

Na, sieh mal einer an! Sie kenne ich doch! Sie waren schon einmal hier, nicht wahr? Offenbar haben Ihnen die damaligen Abgründe nicht gereicht, sonst wären Sie nicht zurückgekommen. Tief im Inneren sind Sie schon etwas morbide, oder? Aber gut, warum auch nicht. Ich freue mich über jeden Besucher in meiner kranken Welt. Immerhin steht meine hier zwischen den Buchdeckeln dazu, während die Ihre ja immer noch glaubt, normal zu sein. Dass ich nicht lache.

Immerhin haben Sie aber schon mal den richtigen Schritt getan, um wenigstens für kurze Zeit Ihrer absurden Realität zu entfliehen. Und muss man das nicht immer öfter? Die einen betrinken sich, die anderen kiffen sich die Kalotte kantig, wiederum andere greifen nach absurden Büchern mit absurden Geschichten. Was besser wirkt, muss jeder selbst entscheiden, ich empfinde Letzteres jedenfalls als körperlich gesünder. Zumindest für den Leser.

Hier hat sich seit Ihrem letzten Besuch* nicht viel verändert.

Es geschehen immer noch seltsame Dinge.

Ja, doch! Seltsamer als bei Ihnen da drüben und das will was heißen!

Oder sind Ihnen Lehrpläne wie die vom Eliteinternat Schloss Kaltenbrunn bekannt? Wissen Sie, was in den Kellern Ihrer Nachbarn so alles vor sich geht? Und was wäre, wenn plötzlich Meeresbewohner die Erde bevölkern würden? Von Hausmeistern, den personifizierten Albträumen aller Schüler ganz abgesehen? Vom Teufel gesandte Putzfrauen? Fanatische Obrigkeitshörigkeit?

Sehen Sie! Wusste ich es doch.

Wenn Sie also immer noch so abgebrüht sind wie damals bei Ihrem ersten Besuch. Wenn Sie immer noch nicht genug kriegen können, dann seien Sie herzlich willkommen bei diesem neuen Streifzug!

*Der Ausflug … und andere Ereignisse

Sie waren doch mit Sicherheit in der Schule. Davon gehe ich jetzt einfach mal aus, sonst könnten Sie kaum lesen, was hier steht. Ich will damit nicht behaupten, dass jemand, der nicht oder nicht regelmäßig in die Schule gegangen ist, nicht lesen kann. Manche bringen es sich auch selbst bei und das gar nicht mal so schlecht. Nun ist Lesen und Schreiben nicht alles, was man im Laufe des Lebens als Jenseitiger so braucht, andererseits braucht man weiß Gott nicht alles, was einem in der Schule eingetrichtert wird. Hinzu kommt, dass der Lernstoff in der Regel von irgendwelchen gesichtslosen Gestalten in Konferenzen fernab des wahren Lebens festgelegt wird, ohne dass jemals ein Kind oder Jugendlicher nach seinen Interessen befragt worden wäre.

Allgemeinbildung nennt man das dann einfach.

Dass diese Allgemeinbildung herzlich wenig mit dem realen Leben zu tun hat, merkt man immer dann, wenn es zu spät ist. Wenn man das erste Mal seine Steuererklärung abgeben muss, zum Beispiel. Oder dass Verträge auch Kleingedrucktes beinhalten. Oder wie man einen Brief formuliert, um gegen eine Entscheidung oder was auch immer Einspruch einzulegen.

Dafür kann man dann aber die Fläche und den Rauminhalt eines Kegels berechnen!

Wow! Das beeindruckt den Finanzbeamten!

Oder den Richter.

Man darf allerdings auch nicht alle Schulen über einen Kamm scheren. Manche bemühen sich tatsächlich um realitätsnahen Unterricht, um ihre Schützlinge auf das Leben nach der Ausbildung vorzubereiten.

Und dann gibt es Einrichtungen wie Schloss Kaltenbrunn in der Schweiz.

Aber erleben Sie es selbst.

Das Richterspiel

Vorher

Dem jungen Lehrer stand die nackte Angst im Gesicht, als er rückwärts das Büro verließ und sich auf dem leeren Gang gehetzt nach allen Seiten umsah.

"Das können Sie nicht machen", murmelte er vor sich hin. Seine Stimme zitterte. Mit einer Hand nestelte er umständlich einen Schlüsselbund aus der Tasche, mit der anderen angelte er nach seinem Handy. "Das können Sie nicht machen, das ist unmenschlich!"

„Franz, kommen Sie zurück, wir müssen darüber reden!“

Der Lehrer hastete weiter den Gang entlang, er hörte, wie sie ihm mit ruhigen Schritten folgte.

„Ich muss nur mit einem reden und zwar mit der Polizei“, rief er mit sich überschlagender Stimme in den leeren Gang hinter sich. „Damit werden Sie nicht durchkommen, niemals!“

„Und wie wollen Sie das anstellen, Herr Kollege“, seufzte seine Verfolgerin. „Warum müssen Sie es unnötig kompliziert machen?“

Franz Kirchner entsperrte sein Handy und starrte auf die Anzeige.

Kein Netz!

„Nein“, flüsterte er. „Bitte nicht!“

Leises Kichern hinter ihm.

„Sie waren doch von Anfang an einverstanden. Sie sagten doch, realitätsnaher Unterricht sei genau ihr Ding. So haben Sie sich ausgedrückt, wissen Sie noch?“

Der junge Lehrer antwortete nicht, er hetzte, so leise er konnte, die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, zum Ausgang. Aufatmend griff er nach der Klinke.

Verschlossen.

„Franz, Sie wissen doch, dass während des Unterrichts und auch während der Arbeitsgruppen die Türen abgeschlossen werden und kein Handyempfang besteht. Konzentration ist das A und O bei uns, nicht wahr?“

Klackende Schritte auf der breiten, steinernen Treppe.

Er sah sich um. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Der Turm! Mit einem Stoßgebet auf den Lippen drehte er den dicken, altertümlichen Türknauf und hätte fast laut gejubelt, als die Tür sich öffnete. Das kreisrunde Treppenhaus lag verlassen vor ihm.

„Franz?“

Er hielt die Luft an, zog die Tür vorsichtig zu und fuhr zusammen, als das Klacken des Schlosses wie ein Pistolenschuss durch die Stille hallte,

„Franz?“ Die Stimme hatte sich verändert. Drängender, fordernder.

„Franz? Verfluchter Mist!“

Kirchner holte Luft und rannte die Wendeltreppe hinauf. Er ignorierte die Zugänge zu den Etagen, er musste aufs Dach. Nur ein paar Stufen von der Falltür entfernt, knickte er mit dem Fuß um und sein Schmerzensschrei hallte durch das alte Gemäuer.

Eilige Schritte, die ihm folgten. Hämisches Gelächter.

„Haben Sie sich wehgetan, Herr Kollege?“

Franz biss buchstäblich die Zähne zusammen und schleppte sich zur Falltür, drückte sie stöhnend auf, kroch hoch auf den düsteren Dachboden des Turms und ließ sie wieder zufallen. Kein Riegel. In einer Schule mit Kindern, die sich einsperren könnten, gab es keinen Riegel. Man hätte einfach die Falltür abschließen können, aber in diesem Drecksladen, der sich dem Wahnsinn verschrieben hatte, galten andere Prioritäten.

Er humpelte zur Tür und genoss für einen Moment den kühlen Wind, der ihn empfing. Unten flatterte die Fahne im Wind. Er nahm sein Telefon, hielt es hoch, ging von einer Turmecke zur nächsten – und hatte plötzlich Empfang.

„Hallo Franz!“

Der junge Lehrer erschrak, als seine Verfolgerin plötzlich vor ihm stand. Instinktiv hob er abwehrend die Hände, dabei rutschte ihm das Handy aus den schweißnassen Fingern und segelte über die Brüstung in die Tiefe.

„Wie bedauerlich“, sagte sie. „Wir hätten alles klären können, Franz. Ich bin sicher, Sie hätten es verstanden, was wir hier tun. Alle verstehen es. Manche muss man überzeugen, andere sind sofort Feuer und Flamme. Und einige wenige …“ Sie seufzte theatralisch. „Nun, die muss man im ungünstigsten Fall aus dem Verkehr ziehen.“

Franz Kirchner ließ die Hände sinken.

„Was Sie tun, ist unmenschlich“, weinte er. „Es sind Kinder, Jugendliche. Was Sie tun ist M …“

„Nanana“, fiel sie ihm ins Wort und kam mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu. „Nicht das böse Wort benutzen, das wollen wir nicht.“

„Bitte“, flehte Franz, „tun Sie das nicht!“

„Ich tun?“ Sie schaute ihn mit ehrlicher Überraschung an. „Ich werde gar nichts tun. Sie werden es tun. Und zwar auf die Mauer steigen und springen.“

Franz Kirchner sank auf die Knie.

„Bitte … nicht!“

„Nun kommen Sie schon, ich hab heute noch einen Kurs und Sie wollen doch nicht, dass Sie einem Schüler auf den Kopf fallen, wenn er in die Pause geht, oder?“

Sie packte den jungen Lehrer am Revers, wuchtete ihn hoch und stieß ihn gegen die Mauer. Durch den Aufprall löste sich knirschend eine der alten Zinnen, fiel in den Schlosshof und schlug mit einem satten Geräusch auf den Steinen auf.

„Wie praktisch“, sagte sie und schob den jungen Lehrer durch die entstandene Lücke über die Brüstung. Franz Kirchner schrie aus Leibeskräften, schlug um sich, brach sich einen Finger am Mauerwerk … dann fiel er mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht in die Tiefe.

„Wäre alles nicht nötig gewesen, Franz“, sagte sie auf dem Turm. „Nur ein bisschen Anpassung, das ist alles.“

***

Heute

„Du bist so schweigsam“, war der erste Satz, den Ronny's Mutter an ihn richtete, seit sie die Autobahn verlassen hatten. Sein Vater steuerte seinen Liebling, die schwarze S-Klasse, schweigend über die kurvigen Landstraßen und summte leise den Song aus dem Radio Du hast mich tausendmal belogen von Andrea Berg mit.

„Was soll ich denn sagen“, fragte Ronny.

„Vielleicht, ob du dich freust?“

„Oh klar, ich freu mich wahnsinnig“, antwortete Ronny und machte aus seiner Abneigung keinen Hehl, war doch dieser Internatscheiß nicht auf seinem Mist gewachsen, sondern auf dem seines Vaters. Gelangweilt sah er aus dem Fenster, wo die Landschaft bergiger wurde. Schloss Kaltenbrunn lag auf einem Berg oberhalb des gleichnamigen Städtchens im Schweizer Kanton Wallis. Eines der teuersten Internate weltweit, wurde es im gleichen Atemzug mit Salem am Bodensee genannt. Warum seine Eltern ihn nicht nach Salem, sondern in eins der abgelegensten Täler der Schweiz abschoben, wussten nur sie selbst. Ronny war das mittlerweile egal, er hatte sich daran gewöhnt, dass er nur die dritte Geige spielte, wenn überhaupt. Seine Eltern waren der fleischgewordene Inbegriff der Familie Neureich, deren Studenten-StartUp durch die Decke gegangen war und sich im Laufe von wenigen Jahren zu einem kleinen Konzern entwickelt hatte. Dummerweise war dann nach einer durchzechten Nacht Ronny entstanden und hatte vor allem die Pläne seiner Mutter ordentlich durchkreuzt. Von der Business-Frau beinahe zur Hausfrau mutiert, kostete es sie eine gewaltige Überwindung, ihren Bekannten, Freunden und Geschäftspartnern gegenüber nicht als jemand dazustehen, der es vor der neuen Rolle grauste. Eigentlich wäre sie eine gute Schauspielerin geworden, dachte Ronny. Spätestens, als das erste Kindermädchen eingestellt wurde und seine Mutter nur quasi zur Kontrolle vorbeikam und ihm einen angedeuteten Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn hauchte, spürte er, dass er nur eine Nebenrolle spielte. Entsprechend distanziert entwickelte sich sein Verhältnis zu den Eltern, die er eher als unvermeidbares Beiwerk in seinem Leben betrachtete. Was dazu führte, dass er sehr schnell, schneller als andere Kinder, selbstständig wurde. Und lernbegierig. Die weitestgehend elternlose Zeit verbrachte er mit Lesen und Internet-Tutorials auf YouTube. Besonders hatte es ihm das Recht angetan und alles was damit zu tun hatte. Gesetzgebung, Polizei, Strafvollzug. Legislative, Judikative, Exekutive. Ronny beherrschte solche Begriffe, wie andere in seinem Alter die Namen von Figuren in World of Warcraft oder Tombraider. Woher dieses Interesse an derart trockener Materie stammte – niemand wusste es.

„Es ist nicht einfach, dir irgendwas recht zu machen“, meldete sich sein Vater in gewohnt vorwurfsvollem Ton.

„Tut mir leid“, sagte Ronny und sah wieder aus dem Fenster. Der erste Wegweiser zum Schloss huschte an ihnen vorbei.

„Ist Kaltenbrunn nicht bekannt für seine Arbeitsgruppen“, fragte sein Vater. „Die sollen doch für alle Interessen irgendwas bereithalten, oder?“ Seine Mutter nickte und blätterte in einem Flyer, den sie aus dem Seitenfach fischte. Das Schweizer Internat war ihre Entscheidung gewesen. Ronny verdrehte die Augen, als sie zum wiederholten Male begann, aus dem Flyer vorzulesen. Langsam kannte er den Text auswendig.

„Schloss Kaltenbrunn ist über seine Grenzen hinaus berühmt für seine realitätsnahen, unterrichtsbegleitenden Arbeitsgruppen zu den unterschiedlichsten Themengebieten“, las sie laut vor. „Ob Börsenspiele mit echtem Geld, deren Erträge in die Klassenkasse fließen, ob Praktika in nahegelegenen Krankenhäusern für Schülermit Interesse an moderner Medizin, oder eine hauseigene KFZ-Werkstatt, Schloss Kaltenbrunn lässt keine Wünsche offen. Oh, schau mal, es scheint sogar eine Schüler-Gruppe zu geben, die aktuelle Gerichtsprozesse bespricht und analysiert.“

An dieser Stelle hatte Ronny schon beim ersten Mal aufgehorcht und sich gleichzeitig bemüht, sein Interesse nicht offen zu zeigen. Sein Vater lachte und schüttelte den Kopf.

„Mannomann, und bei uns gab‘s grade mal furztrockenes BWL und ein bisschen Rechtslehre in der Schule. Na, was sagst du?“

„Klingt okay, auch wenn du mich das jetzt zum hundertsten Mal fragst“, antwortete Ronny. Tatsächlich klang es sogar nicht uninteressant, aber den Triumph wollte er seinen Leuten nicht gönnen.

Siehst du, haben wir doch recht gehabt!

„Klingt okay“, wiederholte sein Vater brummig. „Na, immerhin etwas.“

Der Mercedes schnurrte die kurvige Auffahrt zum Schloss hinauf und schließlich rollten sie durch ein eindrucksvolles Torwächterhaus auf den Vorplatz. Der helle Kies knirschte leise unter den breiten Reifen. Auf der imposanten Treppe zum Haupteingang stand eine Frau in einem hellen Sommerkleid und winkte, als sie um das Rondell mit dem Springbrunnen in der Mitte herumfuhren und stoppten. Das Schloss war ein wuchtiger Bau, weiß getüncht, die Fensteröffnungen aus rotem Sandstein, Stuckverzierungen an den Wänden und einem gewaltigen Turm in der Mitte, der das Gebäude dominierte. Er endete in einem spitzen Dach, umringt von Zinnen, wie man sie von alten Ritterburgen kannte. Eine Zinne schien zu fehlen. Ein paar Meter unterhalb ragte ein Fahnenmast aus der Wand, an dem träge die Schulfahne hin und her schwang. Der Fuß des Turmes war gleichzeitig der Eingang ins Schloss.

„Herzlich willkommen“, begrüßte sie eine Stimme, noch bevor sie ausgestiegen waren. Eine junge Frau kam die geschwungene Treppe herunter, direkt auf Ronny zu und ergriff seine Hand. Sie war dermaßen hübsch, dass er sie nur stumm anstarrte.

„Du musst Ronald sein.“

„Ronny“, antwortete er. „Bitte nur Ronny, wenn das okay ist.“

„Aber immer doch“, sagte sie schmunzelnd. „Ich heiße Tanja und bin die Assistentin vom Direktor. Du weißt schon, Kaffeekochen, Hemden bügeln, Arm aus der Sonne legen und sowas.“

Ronny lächelte und kam nicht umhin, dass sein Blick ihren Körper musterte. Unter dem Kleid zeichneten sich perfekte Konturen ab und ihm brach der Schweiß aus. Was aber ebenso daran liegen mochte, dass das Auto klimatisiert war und im Schlosshof gefühlte dreißig Grad herrschten. Tanja begrüßte seine Eltern und Ronny starrte auf ihren Hintern.

„Cooles Teil, was?“

Ronny erschrak und wirbelte herum. Vor ihm stand ein blonder Junge, etwa in seinem Alter, einen halben Kopf kleiner und grinste wissend.

„Was meinst du“, fragte Ronny. Der Junge kicherte.

„Euer Auto natürlich. Nee, du Depp, die Lamberti. Oder glotzt du auf ihren Arsch, weil er so hässlich ist?“

„Ich zeige Ihnen dann mal die Anlage“, sagte Tanja und rettete Ronny aus der Verlegenheit.

„Wir sehen uns“, sagte der Junge. „Dann zeig ich dir die echt interessanten Sachen hier! Ich bin Colin.“

„Ronny“, sagte Ronny und Colin hob einen Daumen, bevor er die Treppe hinauf sprintete und im Schloss verschwand.

In der Folge lauschte er nur mit halbem Ohr den Erläuterungen von Tanja Lamberti. Über die Geschichte von Kaltenbrunn, seine Rolle in den Kriegen, die Gründung des Internats, die Entwicklung zur Eliteschule, dass der Direktor zur Zeit auf einem Pädagogenkongress Vorträge hielt und so weiter. Ronny spürte die Blicke der anderen Schüler, die ab und an ihren Weg kreuzten. Die eher abschätzenden, taxierenden Blicke der Jungs und die interessierten der Mädchen. Er war mit seinen knapp einsachtzig und den dunklen, wuscheligen Haaren alles andere als unattraktiv. Von seinen Eltern hatte er nicht sehr viel mitbekommen, außer Geld und eben gute Gene, was man ihm anhand seiner männlichen Gesichtszüge und den blauen Augen ansah.

„Das ist einer der beiden Chemieräume“, sagte Tanja. „Wir haben auch zwei Physikräume, sowie einen Computerraum. Dort finden Kurse in HTML, Webdesign, IT-Sicherheit und so weiter statt, alles auf dem neuesten Stand, versteht sich. Wir gestalten sowohl den Unterricht, als auch die Arbeitsgruppen immer so realitätsnah wie nur möglich! Hast du schon eine Idee, welche Gruppen dich interessieren könnten, Ronny?“

„Natürlich“, sagte seine Mutter bewundernd.

„Auf dem neuesten Stand, bis auf den Turm, was?“, erwiderte Ronny, der die Frage bewusst ignorierte. Er deutete auf das Schild an der Turmtür.

Bauarbeiten – Betreten verboten!

Tanja Lamberti schmunzelte.

„Naja, in so einem alten Haus gibt’s immer wieder was zu reparieren. In diesem Fall ein Wasserschaden. Das Dach ist leider undicht und eine Zinne muss nachgearbeitet werden, vielleicht hast du es ja gesehen. Ansonsten wird der Turm gern als Abkürzung zwischen den Etagen genutz, aber jetzt …“ Sie zuckte entschuldigend die Achseln.

Ronny warf einen Blick in den leeren Arbeitsraum und stellte fest, dass er gar nicht leer war. In der zweiten Reihe saß ein Mädchen und las in einem Buch. Als sie die Stimmen hörte, sah sie auf.

„Hi“, sagte sie. „Bist du der Neue?“ Ronny nickte.

„Cool!“ Dann vertiefte sie sich wieder in ihr Buch und machte sich Notizen.

Eine Stunde später besaß Ronny ein nagelneues Tablet sowie einen Laptop, auf denen ihm jederzeit alle Lehrbücher und Arbeitshefte als pdf zur Verfügung standen. Der Anschluss ans hauseigene W-LAN würde bis zum Abend stehen.

„Kaltenbrunn ist stets bemüht, immer auf dem modernsten und aktuellsten Stand zu sein“, dozierte Tanja Lamberti auf dem Weg zum Auto und die Selbstbeweihräucherung ging Ronny langsam auf die Nerven. Seine Eltern tauschten hingegen anerkennende Blicke. Klar, was sonst? Sein Vater reichte ihm zum Abschied die Hand. Hatte er ihn eigentlich schon jemals in den Arm genommen, fragte Ronny sich und ließ es zu, dass ihn stattdessen seine Mutter umarmte und küsste. Nicht nur, dass es sich wie eine Pflichtübung ihrerseits anfühlte, er hoffte, dass keiner der anderen Jungs aus dem Fenster sah. Hihi, der Neue kriegt Bussi von Mami, kicher kicher.

„Wir telefonieren“, sagte sie. „Versprochen?“

„Klar!“ Niemand würde anrufen. Sein Vater saß schon am Steuer und ließ den Motor an.

„Ich schreib euch!“ Auch das war eine Lüge. Wenigstens klang sie nach außen positiv.

„Ich hab dich lieb!“

Ach komm!

„Ich dich auch“, sagte Ronny. Dann stieg sie ein und der Mercedes rollte durchs Tor. Tanja Lamberti winkte. Ronny nicht.

„Ich zeig dir dann mal dein Zimmer“, sagte die hübsche Assistentin. Sie führte Ronny in die zweite Etage, wo sich eine Tür an die andere reihte. Auch dort hing das Verbotsschild an der Turmtür. Ronny hörte Stimmen, Gelächter, Musik, irgendwo fiel etwas rumpelnd zu Boden, gefolgt von einem herzhaften Fluch. Tanja Lamberti öffnete schließlich eine Tür am Ende des Ganges.

„Bitteschön“, sagte sie. Und gleich darauf: „Hey, Marvin! Darf ich dir deinen neuen Zimmergenossen vorstellen? Das ist Ronny.“

An einem der beiden Schreibtische unter den hohen Fenstern saß ein Junge mit Kopfhörern vor seinem Laptop, auf dem Jennifer Lopez zu On the Floor tanzte. Er bewegte sich rhythmisch zur Musik und sang leise mit. Tanja seufzte und tippte ihm auf die Schulter. Erschrocken drehte er sich herum und riss das Headset herunter.

„Herrgott, geht‘s noch“, fauchte er. „Da scheißt man sich ja fast ein!“

„Darf ich dir deinen neuen Mitbewohner vorstellen“, wiederholte Tanja schmunzelnd. „Das ist Ronny. Ronny, Marvin!“

Marvin packte Ronny's Hand und schüttelte sie.

„Na endlich“, sagte er. „Hoffe, du bist cool. Ist er cool?“ Fragend sah er Tanja an, ohne Ronny's Hand loszulassen. Tanja lachte.

„Ich denke, ihr werdet euch verstehen“, sagte sie.

„Voll die Diplomatin“, sagte Marvin. „Aber du schaust cool aus, also die linke Seite ist meine, die rechte gehört dir. Da kannst du machen, was du willst, außer du kiffst und gibst mir nix ab, das geht gar nicht! Und nicht zu laut wichsen, ich hab einen leichten Schlaf, weißt du?“

„Oh Gott, ich geh jetzt lieber“, sagte Tanja Lamberti lachend und verließ den Raum „Geht klar“, antwortete Ronny. „Leise wichsen, check!“

Jemand hatte Ronny's Gepäck und seine neue Ausrüstung schon aufs Zimmer gebracht. Er platzierte Laptop und Tablet auf dem leeren Schreibtisch und machte sich daran, seine Klamotten in den Schrank zu räumen. Mittendrin hielt er inne und ihm wurde bewusst, dass das für die nächsten zwei Jahre bis zum Abitur sein Zuhause sein würde.

„Man kommt sich abgeschoben vor, stimmt‘s?“

Ronny sah zu Marvin, der ihn beobachtete.

„Irgendwie, ja“, sagte er nickend. „Du auch?“

„Klar. Aber ganz so übel ist es hier gar nicht. Man vergisst die Alten ziemlich schnell und irgendwann werden sogar die Anrufe, Briefe und Besuche irgendwie lästig. Kennst du die Arbeitsgruppen schon?“

„Hab davon gehört. Juristerei soll dabei sein, stimmt das?“

„Oh“, sagte Marvin überrascht. „Das interessiert dich?“ Er schaltete seinen Computer aus und musterte Ronny.

„Ja, aber da treffen sich wahrscheinlich nur die Langweiler, oder?“

Marvin schaukelte auf seinem Schreibtischstuhl langsam vor und zurück.

„Würde ich so nicht sagen“, meinte er nachdenklich. „Willst du mal was in der Richtung machen? Also, jobtechnisch und so?“

„Vielleicht“, sagte Ronny. Er hob seine leeren Koffer auf den Schrank. „Anwalt wäre mein Ding. Denk ich jedenfalls, keine Ahnung.“

„Warum Anwalt? Wegen der Kohle?“

„Weil man Leuten helfen kann, die Probleme haben und alleine sind“, antwortete Ronny wie aus der Pistole geschossen.

„Gut zu wissen“, sagte Marvin. „Einen guten Anwalt können wir hier brauchen.“

„Na klar!“ Ronny lachte und im selben Moment ertönte auf den Fluren ein Gong.

„Es gibt Mampf“, sagte Marvin und zog seinen neuen Mitbewohner mit sich aus dem Zimmer. „Das Essen ist übrigens super! Schnitzel, Braten, Pommes, dunkle Soßen, alles Ungesunde was man zum Überleben braucht.“

Die Flure füllten sich mit Schülern, als sie zum Speisesaal gingen. Unterwegs stellte Marvin Ronny dem einen oder anderen vor, er schüttelte Hände und erntete durchweg freundliche Blicke. Er war erleichtert, er hatte es sich viel anstrengender vorgestellt, Kontakt zu finden. An seinem Tisch wurde er neugierig beäugt und mit Fragen gelöchert, woher er käme, was seine Hobbys wären, ob er Sport treibe, ob er eine Freundin hätte.

„Er will Anwalt werden“, verkündete Marvin. „Verteidiger gegen die dunklen Künste sozusagen.“

Eine Gruppe von Schülern hielten im Gespräch inne und musterten ihn auffallend intensiv, bevor sie mit dem Essen fortfuhren.

„Das ist nur so‘n Hobby“, sagte Ronny. „Interessiert mich halt.“

Einer der Jungen, dessen Namen er nicht kannte, taxierte ihn während des Essens immer wieder auffällig.

„Wer ist der blonde Typ“, wandte sich Ronny an Marvin. „Der in der Mitte vom Tisch, der mich so komisch anguckt.“

„Der Richter“, sagte Marvin, ohne hinzusehen, und verfiel anschließend in Schweigen.

Sein neuer Zimmergenosse hatte nicht übertrieben. Das Essen war wirklich sehr lecker und hatte für alle Geschmäcker etwas zu bieten. Die Mittagspause verging mit dem Kennenlernen neuer Leute, netten Gesprächen und lustigen Sprüchen viel zu schnell. Er erhielt praktische Tipps zu einzelnen Lehrern und deren Eigenarten, oder auf welchen Webseiten man am ehesten Texte finden konnte, die nicht als Plagiat zu erkennen waren, vorausgesetzt, man machte sich die Mühe, sie jedes Mal individuell anzupassen. Ronny bekam am Nachmittag sogar Gelegenheit, die ersten Arbeitsgruppen zu besuchen und stellte fest, dass in einer netten Runde selbst so etwas Langweiligem wie dem Myzel eines Pilzes Interessantes abzugewinnen war. Am späten Nachmittag passte ihn Colin am Haupteingang ab. Die Sonne schien angenehm warm und Ronny war mit einer Mappe voller Unterlagen auf dem Weg in den Park. Er hatte noch einen Fragebogen vom Direktor auszufüllen und wollte sich mit dem neuen Stundenplan beschäftigen.

„Hey!“

Ronny zuckte zusammen, als er ins Freie trat. Colin lehnte lässig an der Treppe und grinste.

„Hey, wo warst du denn die ganze Zeit“, fragte Ronny. „Hab dich beim Essen gar nicht gesehen.“

„Ich hol mir was und geh wieder aufs Zimmer“, erklärte Colin. „Zuviel Gesabbel. Isst du gern Wild?“

„Ähm, naja, nicht so gern, ehrlich gesagt. Wieso?“

„Siehst du, ich ess auch lieber langsam und in Ruhe.“

Colin schaute ihn todernst an und erst nach ein paar Sekunden kapierte Ronny den Witz.

„Dein Gesicht“, prustete Colin. „Müsstest dich grade sehen!“

„Blödmann“, sagte Ronny und fiel in sein Lachen ein. „Was machst du eigentlich hier?“

„Hab auf dich gewartet.“

„Auf mich?“

„Jap. Bock, einen durchzuziehen?“ Colin sah sich kurz um, griff in seine Hemdtasche und fischte einen kapitalen Joint heraus.

„Wow!“ Ronny machte große Augen. „Woher …“

„Betriebsgeheimnis“, fiel ihm sein neuer Freund ins Wort. „Bist du cool?“

„Klar!“ So oft wie heute war er das noch nie gefragt worden. „Aber ich müsste eigentlich den Kram hier erledigen.“ Ronny hielt die Mappe hoch.

„Geil“, sagte Colin, seinen Einwand ignorierend und forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen.

„Den bürokratischen Scheiß kannste später noch zusammenlügen. Der Alte ist eh nicht da.“

Sie durchquerten den Schlosspark und kamen zu einer schmalen, eisernen Tür in der Mauer, fast komplett unter Efeu und anderen Schlingpflanzen verborgen. Ohne Ortskenntnis war der Durchgang unmöglich zu finden. Unmittelbar hinter der Tür führte eine steile, uralte Treppe hinunter in den Wald. Die Stufen waren brüchig und das rostige Geländer machte alles andere als einen sicheren Eindruck. Einmal rutschte er auf feuchtem Moos aus und konnte sich gerade noch an einem dicken Efeu-Stamm festhalten.

„Pass auf, wo du hinlatscht“, sagte Colin.

„Danke für die frühe Warnung. Wo gehen wir eigentlich … oh!“

Unvermittelt hatten sie das Ende der Treppe erreicht. Nur wenige Meter entfernt, zwischen zwei Felsen, sah Ronny eine weitere, vergitterte Tür schräg in den Boden gebaut.

„Fass mal mit an“, sagte Colin. „Das Ding ist schwer.“

Mit einem leisen Quietschen kam ihnen die eiserne Konstruktion entgegen und leicht muffige Luft drang aus dem Loch nach außen.

„Was zum Fick ist denn das“, fragte Ronny.

„Liegst gar nicht so falsch“, antwortete Colin lachend. „Die einen treffen sich hier zum ficken, die anderen zum kiffen. Was hier weniger gemacht wird, sind Hausaufgaben. Los komm!“

Colin knipste eine kleine Taschenlampe an und verschwand in dem Loch. Ein paar Stufen führten in die Tiefe und Ronny folgte ihm zögernd. Wohl war ihm bei der ganzen Sache nicht.