Sturmfahrt - Ulrich Lucas - E-Book

Sturmfahrt E-Book

Ulrich Lucas

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Beschreibung

Ein Jahr nach den Ereignissen im Pfälzer Wald beginnt für Tom endlich ein neues Leben, als ihn eine seltsame Nachricht seines verschwundenen Freundes erreicht. Ist es ein Hilferuf oder eine Einladung? Tom macht sich auf die Suche nach Kai. Sein Weg führt ihn aus der beschaulichen Eifel über Hamburg und Helgoland nach Paris und schließlich in die französische Auvergne. Aber es ist noch jemand hinter Kai her und als er es bemerkt, ist es fast zu spät. Die Fortsetzung von "Achtzehn Tage"

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Inhaltsverzeichnis

Wassenach, Eifel

Hamburg I

Helgoland

Hamburg II

Paris

Clermont-Ferrand

Auvergne

Bergerac

Dordogne

Sturmfahrt

Wassenach, Eifel

Als Tom die Augen aufschlug, fiel sein erster Blick auf den Radiowecker, dessen rote Ziffern zwei Uhr früh anzeigten. Irgendetwas hatte ihn geweckt, ein Geräusch unbestimmbarer Herkunft. Ein Knarren oder Knacken. Er setzte sich in seinem Bett auf und sah sich im Zimmer um. Der Vollmond schien durch das einzige Fenster und tauchte die Einrichtung des kleinen Raumes in ein kaltes, unwirkliches Licht. Tom sah schemenhaft seinen Kleiderschrank, den Schreibtisch mit dem Stuhl davor, die Kommode und den alten Lieblingssessel seines Vaters, den er vor dem Sperrmüll gerettet hatte. Er schwang die Beine aus dem Bett und lauschte. Nichts. Irgendwo entfernt bellte ein kleiner Hund und auf der Hauptstraße wurde das Getriebe eines Autos gequält. Tom ging zum Fenster und sah hinaus. Der Hof lag im fahlen Licht verlassen da. Im Haupthaus war es dunkel. Toms Zimmer befand sich über der ehemaligen Schreinerwerkstatt, in der Max von Steinberg nur noch gelegentlich werkelte. Der Raum war ehemals als Aufenthaltsraum für Angestellte konzipiert gewesen und besaß auch einen kleinen Waschraum nebst Dusche und Toilette. Tom hatte nach seiner Ankunft vor knapp acht Monaten zuerst im Gästezimmer geschlafen, dann aber den Raum entdeckt und Max überredet, dort einziehen zu dürfen. Tom gefielen die vertäfelten Wände, der rohe Holzfußboden und der staubige Geruch, der in der Luft lag, als er das Zimmer zum ersten Mal betreten hatte. Es gab auch keine Heizung, nur einen Holzofen, der zu Zeiten des Schreinerbetriebes mit Holzabfällen befeuert worden war. Die Vertrautheit erschreckte Tom und beruhigte ihn zugleich.

Er wollte gerade wieder ins Bett gehen, als es wieder krachte. Erschrocken fuhr er zusammen und machte einen Schritt rückwärts. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er sah sich verwirrt um. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber die Lampe blieb dunkel. Erneut knackte es um ihn herum. Es war laut wie ein Pistolenschuss und Tom wirbelte um die eigene Achse. Dann sah er nach oben und sog erschrocken die Luft ein. War die Decke schon immer so niedrig gewesen? Ein reißendes Knirschen ließ ihn abermals zusammenzucken und er sah mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination, wie sich die rückwärtige Wand auf ihn zu bewegte. Hinter ihm knackte es und die andere Wand einschließlich der Zimmertür rumpelte auf ihn zu. Staub rieselte aus den Ritzen und seine Augen begannen zu tränen. Am Fenster fiel wie von Geisterhand die Jalousie herunter und auch die Außenwand näherte sich ihm knirschend und ächzend. Tom stand wie gelähmt vor Schreck und beobachtete, wie alle vier Wände und sogar die Decke auf ihn zukamen, wie der Raum immer kleiner wurde und er sich einfach nicht bewegen konnte, er war wie festgenagelt, er konnte nicht einmal schreien. Er presste die Hände an die Schläfen und als die Decke schließlich seinen Kopf berührte und ihn unbarmherzig niederdrückte, ging er in die Knie und erstmals drang ein Stöhnen aus seiner Kehle. Auf dem Boden liegend krümmte er sich zusammen und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, vielleicht würden die Wände stehen bleiben, bevor sie ihn zerquetschten, aber den Gefallen taten sie ihm nicht. Er spürte eine Wand bereits an seiner Stirn, nicht lange, dann würden sie ihn zusammenpressen und als er schließlich einsah, dass er hier sterben würde, löste sich seine Angst in einem befreienden Schrei und er wurde wach.

Das Erste, was er sah, war die Wand direkt vor seinem Gesicht, an die er während seines unruhigen Schlafs gestoßen war. Keuchend stieß er sich von ihr ab und fiel aus dem Bett. Der Aufprall brachte ihn zur Besinnung, er rappelte sich hoch und sah sich unsicher um. Alles war an seinem Platz, nichts hatte sich verändert. Durch das Fenster schien die Morgensonne eines neuen Frühlingstages. Er riss es auf und atmete die kühle, frische Luft gierig in seine Lungen. Schließlich klärte sich das Unwetter in seinem Kopf und er konnte wieder klar denken. Unten im Hof lag Chester auf seinem Lieblingsplatz in der Sonne und Marie spielte mit seinen zuckenden Ohren. Die kleine, bunte Katze hatte Franziska, Max' Freundin, aus dem Tierheim mitgebracht, in dem sie ehrenamtlich arbeitete. Chester hatte die Kleine sofort akzeptiert und ließ nun alles geduldig mit sich machen. Sie durfte auf ihm herumspringen, seinen Schwanz fangen und er ließ sich sogar von den winzigen Pfoten auf die große Nase hauen. Tom beobachtete die Idylle und lächelte. Chester hatte sich in den acht Monaten erstaunlich gut von den Strapazen des vergangenen Sommers erholt. Sein Fell glänzte wieder, er fraß wie ein schwarzes Loch, einzig seine Unternehmungslust schien gebremst zu sein. Längere Spaziergänge strengten ihn an, man sah ihm an, wie froh er war, sich wieder auf die alte Wolldecke legen zu können, wenn sie zuhause ankamen. Tom konnte es ihm nicht verübeln. Ihn dagegen drängte es hinaus, wann immer sich eine Gelegenheit bot. War er in den ersten Wochen noch mit dem Hund zusammen immer wieder zu der Anhöhe vor Wassenach gegangen und hatte dort in den Wald gestarrt, so lief er jetzt alleine und war im Laufe der Zeit zum Joggen übergegangen. Sein Ziel war immer noch jene Wiese, wo er immer kurz verschnaufte und dann weiterlief zum See um dort bis kurz vor das Kloster Maria Laach zu laufen und dann umzukehren. Während er in den Hof blickte, schob sich eine Wolke vor die Sonne und zeitgleich legte sich ein Schatten auf sein Gemüt. Er würde nicht mehr lange die Zeit haben, morgens zu joggen. Er würde wahrscheinlich immer seltener Gelegenheit haben, den Platz aufzusuchen, an dem sich Kai von ihm getrennt hatte. In spätestens vier Wochen, wenn er seine gemeinnützige Arbeit abgeleistet hatte, zu der er vom Gericht verdonnert worden war, würde er wieder in eine Schule gehen. Er würde wieder in einem Klassenzimmer sitzen und Dinge hören, die ihn gar nicht interessierten. Er würde sich wieder Regeln beugen müssen, deren Sinn er nicht einsah. Er spürte wie sich sein Magen bei dem Gedanken hob. Einmal, zweimal… dann stürzte er aus dem Zimmer, stieß die Tür ins Badezimmer auf und erbrach sich brüllend ins Klo.

Keuchend und mit vor Tränen nassem Gesicht hing er über der Kloschüssel und atmete den Geruch seines Mageninhalts ein, was ihm erneut seine Innereien umdrehte und er einen Batzen Schleim hervorwürgte und dann auf den kalten Fliesenboden sank. Es dauerte einige Minuten, bis er sich beruhigte, dann stand er auf, betätigte die Spülung und wusch sich das Gesicht. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken starrten ihn verquollene Augen an. Seine Haare trug er seit einem halben Jahr nur wenige Millimeter kurz. Die verdreckte, juckende Mähne, mit der er hier angekommen war, war nur noch eine schlechte Erinnerung. Er fuhr mit der Hand über die Stoppeln.

Na toll, dachte er. Viel besser als damals siehst du auch nicht aus.

Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser kurbelte seinen Kreislauf an, es löste die verspannten Muskeln der vergangenen Nacht und spülte vor allem den Gestank des Erbrochenen fort. Der Alptraum fiel ihm wieder ein. Es war nicht das erste Mal, dass er ihn heimsuchte, in ähnlicher Form hatte er schon des Öfteren schlecht geträumt. Jedes Mal ging es um Enge, darum, eingesperrt zu sein, sich nicht bewegen zu können. Wieder einmal war er seiner Anwältin dankbar, die ihm geholfen hatte, nicht in den Knast zu müssen, sondern seine Strafe abarbeiten zu dürfen. Die Angst vor dem Gefängnis war das beherrschende Gefühl gewesen, kurz nachdem er in Wassenach angekommen war. Dass Schroeder noch lebte, dass Kai fort war, ja selbst das Wissen, dass er es tatsächlich bis hierher geschafft hatte, war nichts im Vergleich zu der Angst, eingesperrt zu werden. Die Erleichterung, dass seine Strafe letztendlich in mehreren Stunden gemeinnütziger Arbeit bestand, vermochte er auch zwei Monate danach noch nicht in Worte zu fassen. Der Job bestand darin, das Grundstück eines Altenheims in Ordnung zu halten. Sein Revier war somit ein kleines Stück Natur. Er mähte den Rasen, stutzte Sträucher, entfernte Unkraut von den Wegen und Parkplätzen und so weiter. Der Geruch von frischer Erde, von gemähtem Gras und das Gefühl von Zweigen und Ästen in seinen Händen waren für ihn wie ein Aphrodisiakum. Er fühlte sich dann immer für einen kleinen Moment zurückversetzt in den Sommer vergangenen Jahres. Wie schon beim ersten Betreten seines Zimmers empfand er es auch im Garten vom Haus Maria erschreckend, wie schnell sämtliche Anspannung von ihm wich, sobald er in der Erde wühlte. Je dreckiger seine Hände waren, je mehr er vom Harz der Zweige roch, die er schnitt, umso wohler fühlte er sich.

Ein ungewollt tiefer Seufzer entwich ihm, als er das mittlerweile lauwarme Wasser abdrehte und aus der Kabine stieg. Er entließ die dichten Schwaden durch das schmale Fenster und rubbelte sich trocken. Seine Haut hatte wieder etwas Farbe angenommen und seine Augen blickten ihn nicht mehr ganz so müde und erschöpft aus dem Spiegel an. Er zog Jogginghose, T-Shirt und Turnschuhe an und ging hinunter. Auf dem Weg durch die Werkstatt kam er an seinem Chopper vorbei, der abgedeckt unter einer Plane in der Ecke stand. Sein Führerschein war eingezogen worden. Eine Tatsache, die Tom wirklich schmerzte. Er schenkte dem unförmigen, grau glänzenden Gebilde in der Ecke einen wehmütigen Blick und betrat den Hof. Als Chester die Tür quietschen hörte, stand er auf und Marie purzelte von seinem Rücken. Die kleine Katze schüttelte verdutzt den Kopf und beschäftigte sich dann mit einer Motte, die sie zu fangen versuchte. Hund und Herrchen trafen sich in der Mitte des Hofes und Tom ging in die Hocke und strich seinem vierbeinigen Freund übers Fell und klopfte seine Flanken. Chester sah ihn mit dem typischsten aller Hundeblicke an und schien zu grinsen. Er lehnte sich mit seinem vollen Kampfgewicht gegen seinen Menschen und schien die Berührungen zu genießen.

„Komm frühstücken, Dicker“, sagte Tom und erhob sich. Auf dem Weg zum Haus nahm er Marie hoch, strich ihr über das bunte Fell und setzte sie auf der Treppe zur Haustür ab. Die Katze quittierte es mit einem hellen Miauen und widmete sich sofort wieder der Jagd auf Motten und Mücken. In der Küche hantierte jemand lautstark mit Geschirr und der Duft von frischem Kaffee und aufgebackenen Brötchen wehte Tom um die Nase. SWR3 spielte gerade „Fairytale gone bad“ von Sunrise Avenue, als Tom und Chester hereinkamen.

„Na, wen haben wir denn da“, sagte Franziska lachend, als sie die beiden erblickte. „Auch schon wieder unter den Lebenden?“

„Morgen“, sagte Tom gähnend. Chester tappte zu seinen Näpfen, angelte ein paar Frolics heraus, trank etwas und krabbelte dann unter die Eckbank, wo er mit einem tiefen Schnaufer zu Toms Füßen liegenblieb.

„Gut geschlafen“, fragte Franziska und goss Kaffee ein.

„Ganz okay“, antwortete Tom. Er nahm einen Schluck, setzte die Tasse ab und ertappte sich dabei, wie er Franziska auf den Hintern guckte, während sie die Brötchen aus dem Backofen holte. Max’ Freundin war 32 aber man konnte sie glatt für 22 halten. Sie hatte eine tolle Figur, lange dunkelblonde Haare, die sie meist zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und bevorzugte schlabberige Klamotten. Sie rauchte selbstgedrehte Zigaretten, liebte Rockkonzerte, schrieb Gedichte über Freiheit, Freundschaft und Liebe und verdiente ihren Lebensunterhalt als Fotografin. Ihre Bilder verkaufte sie an Magazine, Zeitungen und Buchverlage. Tom war so beeindruckt, dass allein die Tatsache, dass sie mit seinem Vater liiert war, ihn daran hinderte, sich in sie zu verlieben.

„Du hast auch schon mal besser gelogen“, sagte sie plötzlich und klopfte ihm auf die Schulter. Sie stellte den Korb mit den Brötchen auf den Tisch und setzte sich.

„Was meinst du?“

„Ich hab einen Blick dafür. Du hast nicht gut geschlafen, stimmt’s?“

„Nicht wirklich“, gab Tom kopfschüttelnd zu.

„Wieder dieser komische Traum? Enge, Klaustrophobie und so?“

Er nickte und trank die halbe Tasse mit einem Schluck leer. Franziska nahm ein Brötchen und schnitt es auf.

„Hast du mit Doktor Hartwig schon mal geredet?“

„Was soll denn der machen“, fragte Tom. „Der ist Internist, kein Psychiater. Oder meinst du, ich hätte einen nötig?“

„Ach Blödsinn“, antwortete sie. „Nach alldem, was du hinter dir hast, wäre es unnormal, keine schlechten Träume zu haben. Ich dachte nur, es kann nicht schaden, wenn du mit einem Außenstehenden sprichst. Nur um nicht alles in sich reinzufressen, verstehst du? Hast du überhaupt schon mal mit jemanden außer mir darüber geredet?“

Tom zuckte die Achseln. „Mit wem denn? Ich kenn doch sonst niemanden. Und mit Dad will ich darüber nicht reden. Ich glaube, der versteht immer noch nicht so ganz, was letztes Jahr eigentlich passiert ist.“

„Das ist ja auch nicht gerade wenig“, sagte Franziska.

„Ich denke, vielleicht will er es auch nicht verstehen.“

„Das wiederum ist Unsinn.“

„Und wieso weicht er dann immer wieder aus“, fragte Tom verärgert.

Franziska schwieg und biss in ihr Brötchen, dessen dicker Marmeladebelag rechts und links heruntertropfte. Tom nahm sich eines, legte es auf den Teller und starrte auf die Sonnenblumenkerne, die die Kruste bedeckten.

„Eigentlich soll ich’s dir nicht sagen“, sagte Franziska nach einer Weile. Tom sah auf.

„Was nicht sagen?“

„Warum Max nicht darüber sprechen will.“

„Du weißt es?“ Tom war ehrlich überrascht. Franziska nickte.

„Er kriegt Panik, wenn er sich vorstellt, was letztes Jahr alles hätte passieren können. Du hättest irgendwo da draußen krank werden können, dir den Fuß brechen, den Hals oder was weiß ich. Du hättest überfallen werden können, getötet… „

„Das denkt er doch nicht im Ernst“, fragte Tom fassungslos. „Franziska, ich war nicht im Dschungel von Borneo, sondern hier vor der Haustür!“

„Ist eben dein Vater“, sagte sie schulterzuckend. „Aber tu mir einen Gefallen und sag ihm nicht, dass du es von mir weißt. Ich vermute mal, insgeheim weiß er, dass es Unfug ist. Ich glaube eher, es ist die Tatsache, dass er dir sowas nie zugetraut hat. Für ihn warst du immer ein stilles Wasser und plötzlich… naja, plötzlich randalierst du in der Schule, haust einfach ab, kein Mensch weiß wo du bist… das kann so einen bodenständigen Typ wie Max schon aus den Latschen hauen.“

Tom begann zu verstehen, weshalb sein Vater so reserviert erschien und jedes Gespräch über die Ereignisse im vergangenen Sommer vermied.

„Du meinst also, ich bin ihm irgendwie fremd geworden?“

„Versuch doch mal nachzuempfinden wie das sein muss, wenn jemand, den man jahrelang kennt, ganz plötzlich Dinge tut, die man nie von ihm erwartet hätte.“

„Hm“, machte Tom. „Das ist nicht allzu schwer. Ich hätte es auch nie von ihm erwartet, dass er mich und meine Mutter von heute auf morgen sitzen lässt.“

„Der Punkt geht an dich“, sagte Franziska trocken und grinste schief. „Das muss heftig gewesen sein.“

„Yep. Dagegen war der Trip durch den Wald ein Witz.“

Franziska nickte langsam und schlürfte Kaffee.

„Und wie geht’s jetzt weiter“, fragte sie vorsichtig. „Hast du schon irgendwelche Pläne?“

„Was kann man denn schon großartig planen? Man wird verplant, findest du nicht?“

„Es sei denn, man tut was dagegen“, sagte Franziska. Ehe Tom fragen konnte, wie sie das meinte, klingelte das Telefon. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Tom bekam mit, wie sie einen scheinbar aufgebrachten Kunden seines Vaters zu beruhigen versuchte, der dann mitten im Gespräch auflegte.

„Blödmann“, hörte er sie sagen und das Mobilteil in die Ladestation rammen. „Was für ein Benehmen“, sagte sie kopfschüttelnd, als sie wieder in die Küche zurückkam. Sie nahm ihr Tabakpäckchen und knallte es auf den Tisch.

„Ich muss jetzt frustrauchen“, erklärte sie. „Auch eine?“

Tom nickte. Er rauchte nicht oft, aber in Gegenwart von Franziska machte es Spaß. Außerdem gefiel es ihm, dass er seinen Vater damit ärgern konnte. Max von Steinberg hatte kein Verständnis dafür, wenn man sich bewusst ungesund verhielt. Rauchen und Trinken gehörte dazu. Vom Kiffen mal ganz abgesehen. Tom bezweifelte, dass dieses Wort überhaupt in seinem Wortschatz existierte und er hütete sich, auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu verlieren, was im letzten Sommer in einer ganz bestimmten Hütte in einem ganz bestimmten Wald passiert war.

„Das Leben ist viel zu kostbar, als dass man sich bewusst dieses Zeug in die Lungen pumpt“, dozierte Max immer, wenn das Thema darauf kam.

„Weißt du, was noch viel ungesünder ist“, hatte Tom gesagt, als Max ihn das erste Mal hatte rauchen sehen.

„Na was?“

„Das Leben selbst. Es endet immer mit dem Tod“, hatte Tom gesagt und einen tiefen Zug von Franziskas überaus aromatischem Tabak genommen. Max war brabbelnd und schimpfend in seinem Atelier verschwunden und hatte die Tür zugeknallt.

Er sah zu, wie sie eine Zigarette drehte und sie ihm reichte. Der Rauch kratzte etwas, aber daran hatte er sich schon gewöhnt. Er goss Kaffee ein und sie saßen eine Weile schweigend gegenüber.

„Wie hast du das gemeint, es sei denn man tut was“, fragte er.

„So wie ich es gesagt hab. Jeder ist seines Glückes Schmied. Den Spruch wirst du doch kennen, oder?“

„Wenn das mal immer so einfach wäre.“

„Niemand sagt, dass es einfach ist“, sagte Franziska. „Aber was wäre die Welt ohne all diejenigen, die eben nicht immer den einfachsten Weg gewählt haben? All die Künstler, Musiker, Maler, Schriftsteller, Philosophen. Stell dir mal vor, die wären alle Staubsaugervertreter geworden. Oder Versicherungsangestellte. Oder, noch schlimmer, Sachbearbeiter in irgendeinem Großraumbüro. Bah pfui!“

Sie steckte sich symbolisch den Finger in den Hals und Tom musste lachen. Franziska grinste und drückte ihre Zigarette aus. Tom nahm noch einen Zug und tat es ihr gleich.

„Die Welt braucht Individualisten, Tom“, sagte sie mit einem vielsagenden Lächeln. Dann stand sie auf und begann den Tisch abzuräumen. Tom bot sich an, zu helfen, aber sie schüttelte den Kopf.

„Ich geh dann mal laufen“, sagte er.

Als er aufstand, wuchtete Chester seine fünfunddreißig Kilo unter der Eckbank hervor und folgte seinem Herrchen in den Hof. Dafür, dass es erst März war, hatte die Sonne schon sehr viel Kraft und Tom genoss die warmen Strahlen auf seiner Haut. Es würde ein schöner Frühlingstag werden und er freute sich schon auf seine Arbeit in dem Altenheim. Während Tom hinüber zur Werkstatt ging, warf sich Chester auf seine dicke Wolldecke neben der Haustür und sah ihm nach.

Er verließ in leichtem Laufschritt den Hof und lief die Hauptstraße entlang aus dem Dorf hinaus. Unterwegs kam ihm der Range Rover von Doktor Hartwig entgegen. Der Arzt begrüßte ihn mit Lichthupe und bremste ab, um Tom einen fragenden Blick zuzuwerfen. Tom quittierte es, indem er beide Daumen hob, lächelte und weiterlief. Das tiefe Blubbern des schweren Motors wurde hinter ihm leiser und Tom war auf dem Weg zur Anhöhe. Er spürte, wie die Muskeln in seinen Beinen arbeiteten, wie sein Herz schneller pumpte und seine Lungen anfingen, leicht zu brennen. Als er an „ihrer“ Stelle vorbei kam, zwang er sich, weiterzulaufen. Er beschleunigte, rannte den Feldweg weiter in Richtung Haus Waldfrieden und legte seine ganze Wut, die ihn an dieser Stelle fast regelmäßig übermannte, in einen Sprint, den er keuchend und japsend erst auf der großen Lichtung vor dem Hotel beendete. Schnaufend beugte er sich über eine Parkbank und wartete, bis sich seine Atmung normalisierte. Sein Körper war unter den Laufklamotten nass vor Schweiß und er spürte sein Herz hart in der Kehle pochen. Er stemmte die Hände in die Seiten und lief langsam am Waldrand entlang. Schließlich ging sein Puls langsam runter. Er blieb stehen und starrte in das Dickicht vor ihm. Das Gewirr von Ästen, Zweigen und frischen, hellgrünen Blättern verschwamm vor seinen Augen zu einem surrealen Bild, zu einer Art Spirale, die ihn in ihren Bann zog. Als er wieder zu sich kam, stand er mitten im Unterholz. Verwirrt sah er sich um. Er war mindestens fünfzig Meter in den Wald vorgedrungen, ohne sich daran erinnern zu können. Seine Füße waren im Laub verschwunden, er atmete tief den modrigen Geruch von Waldboden und fauligem Holz ein und sank in die Knie. Seine Hände gruben sich wie von selbst in die noch kalte Erde vor ihm und seine Nase sog gierig den würzigen Geruch ein. Auf wundersame Weise war plötzlich sämtliche Anspannung von ihm gewichen. Kein Zorn. Keine Angst. Er fühlte sich nur noch unsagbar wohl. Er zerkrümelte die Erde zwischen seinen Fingern und ließ sie zu Boden rieseln. Ein kleiner schwarzer Käfer kroch über seine Hand und er ließ ihn behutsam hinunter. Ein Geräusch wie von menschlichen Schritten in trockenem Laub ließ ihn aufhorchen. Er sah sich in alle Richtungen um. Nichts. Er stand auf und lauschte. Die Schritte schienen näher zu kommen. Schließlich war es nur eine Amsel, die durch das Laub hüpfte und mit dem Schnabel die Blätter nach Essbarem durchsuchte. Tom holte tief Luft und atmete hörbar aus. Erschrocken flatterte die Amsel hoch und verschwand schimpfend in den Baumwipfeln. Tom beschloss, nach Hause zu laufen.

Was war das überhaupt für ein komischer Morgen? Tom ließ die jüngsten Ereignisse Revue passieren, während er zum zweiten Mal duschte und kam zu keinem Ergebnis. Unterschwellig verborgene Sehnsüchte oder Wünsche? Irgendwo hatte er mal diesen Begriff gelesen oder gehört. Weshalb kam er ihm wohl gerade jetzt in den Sinn? Er rubbelte sich so heftig trocken, dass sein Rücken anfing, zu jucken und zog sich seine Arbeitsklamotten an, Jeans, alte Turnschuhe, T-Shirt und einen abgelegten Kapuzenpullover seines Vaters, der an ihm herumschlabberte. Anschließend ging er ins Haupthaus und nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser, belegte ein Stück Baguette mit Wurst und Käse und wickelte es in Alufolie. Sein Mittagessen packte er in einen kleinen Rucksack, schwang sich auf das Fahrrad seines alten Herrn und fuhr vom Hof. Gerade, als er um die Ecke bog, kam Franziska aus dem Haus gelaufen, schwenkte ein Stück Papier und rief: „Tom, du hast… Post!“ Als sie das Heck des Fahrrads gerade verschwinden sah, zuckte sie die Achseln, betrachtete noch einmal die seltsame Postkarte, die heute Morgen eingetroffen war und stellte sie auf den Heizkörper in der Diele, wo Tom sie sehen würde, wenn er zurückkam.

Haus Maria befand sich zwei Ortschaften von Wassenach entfernt in einem kleinen, idyllischen Park. Das alte Backsteingebäude mit den Spitzbögen, an dem stellenweise Efeu emporrankte, hatte Tom vom ersten Tag an gefallen. Irgendwann war es mal ein Kloster gewesen, doch dann war der Konvent aufgelöst worden. Im Zweiten Weltkrieg diente es als Lazarett, bis es in den fünfziger Jahren von einer Trägerschaft übernommen, renoviert und zu einem Altenpflegeheim umgewandelt wurde. Tom hatte nicht die geringste Ahnung von Altenpflege, dessen ungeachtet hatte er absolute Hochachtung vor der Arbeit des Personals. Der Kies in der Einfahrt knirschte unter seinen Rädern, als er langsam auf das Haus zufuhr und sein Rad neben dem Geräteschuppen abstellte. Wobei der „Schuppen“ eigentlich ein solides, kleines Blockbohlenhaus mit Ziegeldach war, das sich harmonisch in den Park einfügte und auf den ersten Blick eher für ein Gästehaus gehalten werden konnte. Im Innern befand sich eine komplette Werkstatt voller Gartengeräte und Maschinen und war das unangefochtene Refugium des Hausmeisters Franz Meinrad. Wer hier etwas durcheinander brachte oder einen Schraubenschlüssel nach Gebrauch nicht sofort wieder an seinen Platz an der Lochwand hängte, war der ewigen Verdammnis gewiss. Tom hatte einmal mitbekommen, wie Herr Meinrad die Heimleiterin zusammengefaltet hatte, als sie sich ungefragt eine Zange geborgt und sie anschließend einfach wieder auf die Werkbank gelegt hatte. Frau Bergmann war bei ihren Untergebenen selbst eine Respektsperson, der man so leicht nichts vormachte, aber gegenüber Franz Meinrad hatte sie keine Chance. Er dozierte sie über Ordnung und Anstand in Grund und Boden, so dass sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nur nach Luft schnappen konnte.

„Wenn ich Verstopfung habe, klau ich mir ja auch keine Scheißhaustropfen aus Ihrem Schrank, junge Frau“, hatte er gesagt, als er sie zur Rede gestellt hatte. Tom war Zeuge geworden, während er Laub geharkt hatte und hätte fast losgelacht. Er konnte gerade noch ein Glucksen unterdrücken. Ansonsten war der alte Hausmeister ziemlich umgänglich. Immer etwas knurrig, manchmal ungeduldig und hektisch aber nie ungerecht oder gar bösartig. Jedenfalls hatte Tom diesen Eindruck in der Zeit gewonnen, seit er herkam, um seine Stunden abzuarbeiten. Toms größte Angst zu Beginn war gewesen, dass man ihm wegen seiner „Vergangenheit“ unfreundlich oder gar ablehnend begegnen würde, aber genau das Gegenteil war eingetreten. Frau Bergmann äußerte zwar beim ersten Gespräch ganz offen ihre Zweifel, ob es richtig gewesen sei, Tom den Job zu geben und er wiederum überraschte sie mit den Antwort, er sei dankbar für ihre Offenheit und als er ihr dann in kurzen Sätzen erklärte, was genau im vergangenen Jahr vorgefallen war, wurde sie sehr nachdenklich. Dann stand sie abrupt auf, gab Tom die Hand und wünschte ihm gutes Gelingen und „viel Spaß mit Franz Meinrad“. Zum übrigen Personal hatte Tom so gut wie keinen Kontakt. Abgesehen davon, dass jeder seine Arbeit zu tun hatte, kam es einfach kaum zu Begegnungen. Tom machte seine Pausen meist im Garten, die Pflegekräfte in deren Schwesternzimmer, Tom hatte im Haus nichts zu tun und die anderen nichts im Park. Allerdings war ihm durchaus bewusst, dass er beobachtet wurde. Ob es Kontrolle war oder reine Neugier, war ihm egal, er hatte sich nichts vorzuwerfen und dass er seinen Job gut machte, merkte er allein schon an der Reaktion Franz Meinrads.

„Guten Morgen“, sagte Tom, als er die Werkstatt betrat. Der Hausmeister stand über den Rasentraktor gebeugt und schraubte daran herum.

„Morgen“, knurrte der kleine, drahtige Mann. „Schön, dass du auch mal kommst.“

„Irgendwas nicht in Ordnung“, fragte Tom verunsichert. Der ärgerliche Tonfall über sein Eintreffen war neu, schließlich konnte er kommen, wann er wollte, solange er seine vereinbarten Stunden abarbeitete. Meinrad stand stöhnend auf und bog seinen Rücken durch.

„Diese blöden, modernen Maschinen taugen einfach nichts“, schimpfte er. „Kosten ein Schweinegeld, aber wehe, da kommt mal ein bisschen Feuchtigkeit dran, schon kannste sie wegschmeißen.“

Er warf einen Schraubenzieher in den Werkzeugkasten und drehte sich um.

„Tut mir leid, Junge, das war gerade nicht so gemeint. Ich hab heute zudem noch Schmerzen im Kreuz, das ist echt nicht mehr feierlich.“

„Kein Problem“, antwortete Tom achselzuckend. „Kann ich Ihnen denn irgendwas Schweres abnehmen oder…?“

„Nein.“ Franz Meinrad schüttelte den Kopf. „Es bleibt dabei. Du kümmerst dich heute um die Buchsbaumhecke im kleinen Vorgarten. Da muss Unkraut raus, Dünger dran und dann Formschnitt. Du weißt, wie?“

„Klar, Chef“, sagte Tom.

„Was stehst du dann noch rum? Mach dich ins Grünzeug!“

Tom schmunzelte, griff sich die Schubkarre und belud sie mit den nötigen Sachen. Draußen zog er den Kapuzenpullover aus und legte ihn auf sein Rad. Er sah zum strahlend blauen Himmel, den keine Wolke verunzierte und von dem eine sehr warme Sonne schien, die den Buchsbaumgarten bis in den letzten Winkel wärmte. Ein schmales, schmiedeeisernes Tor trennte den Garten vom übrigen Park ab. Es quietschte, als Tom es öffnete und aus dem Augenwinkel sah er, wie sich eine Gardine hinter einem der Fenster bewegte. Das Unkraut wuchs eng an der Unterseite der niedrigen Hecke, weshalb er auf die Knie gehen musste und von Hand Löwenzahn, Gras, Schafgarbe, Klee und anderes Gewächs entfernte. Er war so vertieft in seine Arbeit und irgendwie benebelt vom Geruch feuchter, warmer Erde, dass er erst merkte, wie spät es war, als sein Magen knurrte. Er stand auf, wischte mit seinem T-Shirt über sein schweißnasses Gesicht und ging zurück zum Gerätehaus. Als er am Haupteingang des Heimes vorbeikam, waren zwei Pflegerinnen gerade dabei, Sonnenschirme aufzustellen und einer der beiden Zivis schob einen Rollstuhl mit einer alten Dame in den Schatten. Sie tätschelte ihm den Arm und er nickte lächelnd. Als er Tom sah, hob er grüßend die Hand und verschwand im Haus. Die beiden Pflegerinnen winkten ihm ebenfalls zu und Tom quittierte den Gruß mit einem Nicken.

Franz Meinrad war nicht da, der Rasentraktor stand immer noch aufgeklappt in der Mitte der Werkstatt. Tom nahm einen Camping-Klappstuhl und seinen Rucksack und setzte sich in den Schatten der Kastanie, die das Blockhaus jeden Herbst mit einer dicken Laubschicht zudeckte. Während er das Baguette verschlang, wurden noch einige Bewohner des Heimes vor die Tür gebracht und in den Schatten der Schirme bugsiert. Die meisten saßen in Rollstühlen, einige konnten ganz langsam laufen und wurden von den Pflegekräften gestützt und geführt. Selbst aus der Entfernung war unschwer zu erkennen, wie liebevoll das Personal mit jedem einzelnen der Bewohner umging. Einer der Zivis hielt einer großen, schlanken Frau mit einer Gehhilfe die Tür auf und geleitete sie zu einem Korbsessel, wo sie sich vorsichtig niederließ und von dem blonden Jungen noch eine bunte Decke über die Knie gelegt bekam. Tom hatte die Frau schon öfter gesehen. Er fand, sie hatte irgendwas Vornehmes an sich. Sie trug manchmal einen Strohhut, so dass man ihr Gesicht nicht genau sehen konnte, aber wie sich bewegte und kleidete, das hatte etwas Außergewöhnliches. Tom spülte das Baguette mit einem Schluck Wasser hinunter und drehte sich eine Zigarette. Als er von seinem Tabakpäckchen aufsah, kam der Zivi herangeschlendert, die Ärmel seines Kittels hochgekrempelt, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

„Hi“ sagte er. „Du bist Tom, stimmt’s?“

„Hundert Punkte“, antwortete Tom. „Und du?“

„Jens. Kann ich mir auch eine drehen?“

„Klar!“

Tom reichte ihm den Tabak und zündete seine Zigarette an.

„Machst du hier Zivildienst“, fragte er. Jens nickte, reichte Tom den Tabak und ließ sich Feuer geben.

„Danke. Ja, wir sind zu zweit, Mädchen für alles sozusagen. Aber im Gegensatz zu Marlon krieg ich hier sogar einen Ausbildungsplatz. Da hab ich echt Schwein gehabt.“

„Wie ist das so da drin“, fragte Tom.

„Supergeil“, kam die Antwort ohne zu überlegen. „Die Arbeit macht total Spaß.“

„Hm. Ist das nicht manchmal deprimierend, wenn die Leute hilflos sind und gar nichts mehr selbst machen können?“

„Überhaupt nicht“, sagte Jens. „Du glaubst gar nicht, wie viel du an Dankbarkeit zurückkriegst, wenn du jemandem hilfst.“

Doch, dachte Tom und nahm einen tiefen Zug, das weiß ich wohl.

„So, ich muss wieder“, sagte Jens nach ein paar Minuten, drückte die Zigarette aus und schnippte sie in die offenstehende Mülltonne neben dem Gerätehaus. Tom nickte und stand ebenfalls auf, um sich wieder seinen Buchsbäumen zu widmen. Die Sonne stand mittlerweile fast senkrecht über dem Vorgarten und schon nach kurzer Zeit rann ihm der Schweiß aus sämtlichen Poren. Die Arbeit war körperlich nicht einmal besonders anstrengend, aber die Hitze stand wie eine Glocke über den knapp hundert Quadratmetern, so dass jede kleinste Bewegung zur Herausforderung wurde. Tom stand schnaufend auf und streckte sich. Dann zog er sein T-Shirt aus, wischte sich über Gesicht und Brust und zog den feuchten Lappen wieder an. Einen Sonnenbrand konnte er gerade jetzt am wenigsten gebrauchen. Er setzte die Wasserflasche an, trank einen Schluck und als er sie absetzte, bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Hinter dem eisernen Tor zum Park stand die große, alte Dame mit ihrem Rollator und sah zu ihm herüber. Ihr Gesicht lag auch diesmal im Schatten des Strohhutes.

„Hallo“, rief Tom unsicher und hob grüßend die Hand. Eigentlich war es ihm ausdrücklich verboten, Kontakt zu den Bewohnern zu haben, das hatte ihm die Heimleiterin unmissverständlich klar gemacht, aber gegen einen freundlichen Gruß konnte doch niemand etwas einwenden. Die Dame stand unbeweglich hinter dem Tor in der Sonne. Toms Unsicherheit wandelte sich in Unbehagen, als er die Hitze spürte und daran dachte, dass ein alter Mensch an einem so heißen Tag vielleicht doch besser im Schatten aufgehoben war. Er ging ein paar Schritte auf die Frau zu.

„Hallo“, sagte er nochmal freundlich. „Ist es Ihnen nicht zu heiß in der Sonne? Soll ich jemanden rufen, der Sie… „

Er brach ab, als er näher kam und ihr Gesicht zum ersten Mal aus der Nähe sah. Erschrocken hielt er für einen Moment die Luft an. Die gesamte linke Gesichtshälfte hing wie ein trockener Lappen an ihr herunter. Der linke Mundwinkel, das linke Augenlid, sämtliche Gesichtsmuskeln schienen erschlafft oder gelähmt zu sein, wohingegen die rechte Seite vollkommen in Ordnung zu sein schien. Sie hatte stahlblaue Augen, stellte Tom fest und die rechte Seite schien zu lächeln, als sie Tom ansah. Ihm dagegen wurde die Situation immer unwohler. Wieso kam niemand, um sie wieder in den Korbsessel zu führen, wieso holte sie niemand aus der Hitze? Was, wenn sie plötzlich umkippen und sich verletzten würde, oder wenn…

„Änelüchen“, sagte sie plötzlich schwerfällig und aus ihrem schlaffen Mundwinkel tropfte ein feiner Spuckefaden. Und dann wiederholte sie: „Änelüüüchen!“

Tom blinzelte nervös.

„Wie bitte? Ich versteh nicht…“

Der Blick der alten Dame wurde schlagartig anders. Das gesunde Auge senkte sich und als sie Tom wieder ansah, rann eine Träne ihre Wange hinunter.

„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was…“

Er sah zu, wie sie umständlich einen Gehstock aus dem Rollator nahm und an ihm vorbei irgendwo auf den Boden zeigte.

„Änselüchen“, wiederholte sie angestrengt und versuchte offenbar, die Buchstaben einzeln hervorzupressen. Tom drehte sich um und im selben Moment ging ein Fenster auf. Eine der Pflegerinnen sah hinaus und winkte ihm freundlich zu.

„Oh“, sagte sie, als Tom um Hilfe für die alte Dame bat und schloss das Fenster sofort. Kaum eine Minute später kam sie schmunzelnd um die Ecke.

„Na, Frau van der Laak, Sie würden Tom wohl gerne zur Hand gehen, was? Der könnte bestimmt noch was von Ihnen lernen.“

„Tut mir echt leid“, sagte Tom nervös. „Ich weiß, dass ich die Leute nicht ansprechen soll, aber ich konnte sie ja nicht einfach so stehen lassen, außerdem wollte sie irgendwas von mir und…“

„Na, jetzt komm mal wieder runter“, sagte die Schwester kopfschüttelnd. „Du hast im Haus nichts zu suchen, das stimmt, aber wenn dich die Bewohner ansprechen oder du ihnen Guten Tag sagst ist das doch was anderes.“

„Hm, okay“, antwortete Tom erleichtert. „Darf ich fragen, was sie hat?“

„Schlaganfall. Die linke Seite ist fast komplett gelähmt. Sie war übrigens Floristin, daher ihr Faible für Blumen und Grünzeug und so. Deswegen hat sie dir sicher auch zugeguckt.“

„Sie hat irgendwas gesagt, aber ich konnte nichts verstehen“, sagte Tom.

„Das kommt durch den Schlaganfall. Abgesehen von der Lähmung hat es auch ihr Sprachzentrum erwischt.“

Tom rann ein Schauer über den Rücken. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das sein musste, wenn man möglicherweise genau wusste, was man wollte, aber man es nicht mehr äußern konnte, sei es durch Sprache oder Gesten.

„So“, sagte die Schwester. „Jetzt guck mal nicht so bedröppelt und mach deine Arbeit weiter und ich geh mit Frau van der Laak Kaffee trinken.“

Tom nickte und sah der alten Dame bedauernd nach, als sie begleitet von der jungen Schwester um die Ecke verschwand. Er atmete tief ein und prustend wieder aus, dann ging er auf die Knie um weiteres Unkraut zwischen den Buchsbäumen, die kein Ende zu nehmen schienen, herauszurupfen. Er grübelte immer noch über das seltsame Wort, das die alte Frau benutzt hatte und als er während des Jätens zufällig zur Seite sah, hielt er überrascht die Luft an und stand auf. Unterhalb des Findlings, auf dem eine altertümliche Sonnenuhr montiert war, streckten eine Gruppe kleiner, weißer Blumen ihre Köpfe in die Sonne.

„Änelüchen“, hatte Frau van der Laak mühsam hervorgebracht. Tom lächelte, als ihm endlich klar wurde, was sie gemeint hatte.

Gänseblümchen!

Am späten Nachmittag war er endlich fertig. Die Buchsbäume waren unkrautfrei und frisch geschnitten, die Erde um die Wurzeln gelockert und gedüngt, der Kiesweg geharkt, der Grünabfall auf dem Kompost, die Geräte gereinigt und an ihrem Platz in der Werkstatt. Tom seufzte, als er sich in den Klappstuhl fallen ließ und die zweite Flasche Wasser leertrank. Während er sein Tabakpäckchen hervor kramte, ließ er seinen Blick durch den Park schweifen. Durch das Gartentor hatte er einen guten Blick auf die Sonnenuhr und direkt darunter leuchteten die Gänseblümchen.

Komisch, sie waren Tom nie aufgefallen. Andererseits waren es ja auch nicht gerade besondere Blumen. Normalerweise hätte er sie auch zusammen mit dem anderen Unkraut entfernt, aber da sie der alten Dame aus irgendeinem Grund zu gefallen schienen, hatte er sie stehenlassen und sogar gegossen, da die Erde im ganzen Vorgarten staubtrocken war. Der Korbsessel neben dem Eingang war leer. Hinter der doppelten Eingangstür sah Tom das Personal geschäftig hin und her laufen. Hinter dem Gebäude kam Franz Meinrad mit einem Hochdruckreiniger im Schlepptau zum Vorschein.

„Na so gut möchte ich es auch mal haben“, grantelte er, als er Tom in seinem Klappstuhl sitzen sah. Der grinste und zündete sich eine Zigarette an.

„Das lässt sich einrichten“, sagte er, stand auf und klappte einen weiteren Campingstuhl auf. Der alte Hausmeister hob die buschigen Augenbrauen.

„Da sag ich nicht Nein“, seufzte er, ließ die Maschine mitten auf dem Weg stehen und setzte sich mit angestrengtem Gesicht hin.

„Immer noch der Rücken“, fragte Tom. Meinrad nickte verkniffen.

„Waren Sie mal beim Arzt?“

„Junge, ich war seit fünfzehn Jahren nicht mehr bei so einem Quacksalber. Die wollen heutzutage nur noch Geld verdienen und verschreiben dir irgendeinen Mist, der dich dann früher oder später in so was bringt.“ Er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Altenheimes. „Immer wenn ich die alten Leute sehe, bin ich froh, dass ich überhaupt noch arbeiten kann. Heute Abend kommt eine Moorkompresse aufs Kreuz und morgen ist das vergessen. Basta!“

„Kennen Sie die alte Dame, die immer in dem Korbsessel sitzt?“

„Frau van der Laak? Ja, die kenn ich. Wieso?“

Tom erzählte von seiner Begegnung und Franz Meinrad nickte wie zur Bestätigung.

„Das macht sie ab und an, wenn sie mal einen klaren Moment hat. Sie liebt Blumen und Pflanzen über alles. Sie war mal Gärtnerin oder sowas, glaube ich.“

„Floristin, hat die Schwester gesagt.“

„Kann sein, ja.“

„Sie sieht traurig aus“, sagte Tom nachdenklich.

„Deshalb sagte ich ja eben, dass ich froh bin, noch arbeiten zu können. Wenn ich mir allein vorstelle, ich könnte nichts mehr tun und müsste von anderen gepflegt werden und dir möglicherweise zuschauen, wie du meine Arbeit machst… „ Franz Meinrad holte tief Luft und schüttelte sich.

„Nein, danke… Dann lieber beim Heckenschneiden tot umfallen. Apropos Hecke…“

„Alles erledigt“, sagte Tom. „Ich hab die paar Gänseblümchen übrigens mal stehenlassen. Ist das okay?

„Welche Gänseblümchen“, fragte der Hausmeister verdutzt.

„Die an der Sonnenuhr.“

„Ach, sind da welche? Von mir aus. Warum willst du sie stehenlassen?“

„Nur so“, antwortete Tom.

„Wie gesagt, von mir aus.“ Franz Meinrad wuchtete sich aus dem Klappstuhl und fuhr den Hochdruckreiniger ins Haus. Tom ging ihm nach und zog den Kapuzenpullover an.

„Ich hau dann mal ab“, sagte er. „Bis morgen!“

Der alte Mann nickte und hob die Hand.

Tom sah nicht mehr, dass der Hausmeister ihm noch nachsah, als er schon vom Anwesen gefahren war. Noch ein paar Minuten blickte er den Kiesweg entlang, bevor er sich umdrehte und selbst Feierabend machte.

„Guter Junge“, brummelte er versonnen. „Echt guter Junge.“

Tom fuhr mit einem ausgesprochen zufriedenen Gefühl nach Hause. Zufrieden, weil er gute Arbeit geleistet hatte und zufrieden, weil er gemocht und offensichtlich anerkannt wurde, ungeachtet dessen, was er sich hatte „zuschulden“ kommen lassen. Wie so oft, wenn er über die schmalen Straßen nach Wassenach fuhr, auf denen ihm kaum Autos oder Fußgänger begegneten, schweiften seine Gedanken ab und verloren sich in Erinnerungen an den letzten Sommer. Natürlich dachte er auch an Kai. Es bedurfte keines besonderen Anlasses, an seinen Freund und Wegbegleiter zu denken, sein Bild stahl sich in den verschiedensten Momenten in seinen Kopf und stets fragte er sich, wo er wohl gerade sein mochte und wie es ihm wohl ginge. Wie oft war er wohl in der Zwischenzeit seinen Verfolgern wieder entwischt? Dass man ihn nicht gefangen hatte, spürte Tom irgendwie. Er war sich sicher, dass Kai nach wie vor durch die Wälder streifte und sich eher einen Abhang hinunterstürzen würde, als sich den Behörden zu stellen. Tom schreckte aus seinen Gedanken hoch, als ihn eine dunkle Limousine nur ganz knapp überholte und eine Staubwolke aufwirbelte, die ihm fast die Sicht nahm. Die feinen Sandkörner brachten seine Augen zum Tränen und er hielt hustend an.

„Arschloch“, schrie er dem Fahrer nach, der aber schon hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Tom wischte sich den Dreck aus dem Gesicht und fuhr weiter. Hatte er nicht heute Morgen neben dem Tor zum Pflegeheim auch ein dunkles Auto auf dem Seitenstreifen stehen gesehen? Egal, und wenn schon. Langsam bekam er Hunger und er freute sich auf die Pizza, die er sich gleich nach dem Duschen einfahren würde. Als er auf den Hof einbog, kam ihm Chester schwanzwedelnd entgegen und hätte ihn fast vom Rad geschubst. Tom stieg ab, lehnte das Fahrrad an die Hauswand und strich seinem Hund übers warme Fell und klopfte seine Flanken. Chester genoss es sichtlich, indem er den Kopf senkte und ihn am Bein seines Herrchens rieb.

Nach dem Duschen zog er frische Klamotten an und als er schließlich auf der Bettkante saß und ein leichter Luftzug durch das geöffnete Fenster herein wehte, spürte er, wie die Anstrengung des Tages von ihm wich und er müde wurde. Noch im Sitzen fielen ihm die Augen zu und er ließ sich rücklings ins frisch gemachte Bett fallen. Es roch nach Weichspüler. Bestimmt irgendein Sommerfrische-Duft. Franziska schien dagewesen zu sein, obwohl er ihr gesagt hatte, dass sie sich nicht um seine Bude zu kümmern brauche. Das Rollo klapperte leise, ein zartes Miauen kam von der Tür her, dann sprangen vier kleine Pfoten auf seine Brust und Marie begann zu schnurren und zu treten. Als sie sich auf seiner Brust zusammenrollte, war er schon eingeschlafen.

Drüben im Wohnhaus saßen Franziska und sein Vater vorm Fernseher. Ein plötzlicher Luftzug wehte durch die geöffnete Haustür. Das Windspiel im Flur klingelte leise und die Postkarte rutschte hinter den Heizkörper.

Tom wachte am nächsten Morgen auf und hatte wie aus heiterem Himmel eine Idee, die ihm so gut gefiel, dass er es kaum erwarten konnte, zur Arbeit zu kommen. Wahrscheinlich war er der erste straffällig gewordene Jugendliche, der sich auf seine Strafe freute. Wobei er die Arbeit im Altenheim noch keinen Moment als Strafe empfunden hatte. Er war im Freien, er wühlte in der Erde, er schrammte sich die Hände an rauem Geäst auf, anders gesagt, er fühlte sich wohl. Und heute Morgen fühlte er sich so wohl und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Er schnappte sich Marie, die die ganze Nacht neben ihm geschlafen hatte und trug die protestierende kleine Katze in den Hof, wo er sie behutsam absetzte und ins Haus joggte. Franziska und Max saßen am Frühstückstisch und sahen überrascht hoch, als Tom hereinstürmte und sie lachend begrüßte.

„Na, da ist aber jemand munter“, stellte Max fest.

„Morgen Tom“, sagte Franziska. „Kaffee?“

„Literweise“, antwortete Tom.

„Brötchen?“

„So viel wie möglich!“

„Darf man erfahren, was los ist“, fragte Max stirnrunzelnd.

„Nix ist los“, sagte Tom achselzuckend. „Darf ich nicht mal gut gelaunt sein?“

„Von mir aus. Hast du dich mal wegen der Schule erkundigt?“

Tom bekam mit, wie Franziska die Kaffeekanne zurück in die Maschine stellte und leise „Autsch“, sagte und fühlte gleichzeitig, wie sämtliches Wohlbefinden aus seinem Inneren entwich, wie ein Ballon, dessen Hülle einen langsam sich dehnenden Riss bekam.

„Nein, hab ich nicht“, sagte Tom tonlos. Er hatte inständig gehofft, sein Vater hätte wenigstens diesen Teil verstanden. Ziemlich viel Zeit war seit dem letzten Mal vergangen, als Max dieses Thema angeschnitten und damit einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Dazwischen lagen die Verurteilung, der Führerscheinentzug, die Arztbesuche sowie die Möglichkeit, im Altenheim arbeiten zu dürfen, was zeitweise auch auf der Kippe gestanden hatte.

„Und warum nicht?“

„Ich dachte eigentlich, das Thema wäre abgehakt“, seufzte Tom.

„So, dachtest du?“ Max schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. „Dann erklär mir mal, wie du dir das vorstellst. Dir fehlt ein ganzes Jahr Schule. Ohne Zeugnis kannst du irgendwo hilfsweise Kloschüsseln auswischen. Du kriegst doch nirgendwo einen Ausbildungsplatz, du weißt doch wie wichtig das ist.“

Tom starrte in seinen Kaffee und schwieg. Ein kleines bisschen gewann die gute Laune dann doch wieder Oberwasser.

„Bist du denn nicht froh, wenn du unterwegs ein sauberes Klo findest“, fragte er.

„Pfff“, machte Franziska und stand grinsend auf, um die angespannte Situation nicht noch anzuheizen. Max atmete tief ein schlug genervt mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Verdammt noch mal, Tom, ich meine es ernst!“

„Ich auch“, rief Tom und seine Faust landete auf dem Rand des Tellers, der sich überschlug und klirrend auf dem Boden zersprang. „Ich hab dir schon mal gesagt, ich betrete in diesem Leben keine Schule mehr. Ich scheiß auf diese Lernfabriken und ich scheiß auf Zeugnisse und Noten und ich scheiß ebenso auf Menschen, die einen nur danach beurteilen. Und wenn du auch einer von denen bist, dann schei…“

„Tom“, fuhr ihm Franziska ins Wort.

„Lass nur“, sagte Max mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Mein Herr Sohn gehört offenbar zu denjenigen, die zwar gern ein Dach über dem Kopf haben, immer was zu essen in greifbarer Nähe und ordentliche Klamotten tragen wollen, aber nicht bereit sind, dafür auch was zu tun. Mann, was war ich so blöd, zu lernen, zu studieren, mich nächtelang hinzusetzen und den Meisterbrief zu machen. Warum bin ich nicht einfach ziellos durch die Welt gezogen, hab mir hier und dort was zusammengeschnorrt, bin in Wochenendhäuser eingebrochen, hab Motorräder geklaut…“

„Max, bitte!“ Franziska verdrehte die Augen.

„Was denn, hab ich Unrecht?“

„Du hast leider gar nichts verstanden, Papa“, seufzte Tom. Max lachte gekünstelt.

„Aber sicher, Tom. Niemand versteht dich ja wirklich. Vielleicht hast du irgendwann die Freundlichkeit, deinen bescheuerten Vater in deine Gedankengänge einzuweihen. Aber bis dahin…“ Er stand auf, trank die Tasse leer und stellte sie klirrend wieder hin.

„Bis dahin muss ich wohl leider noch ziemlich viel arbeiten. Kannst den Begriff ja mal im Duden nachschlagen. Ihr werdet mich entschuldigen, ich bin im Atelier.“

Als er verschwunden war, stand Tom auf und begann, die Scherben zusammenzufegen. Franziska räumte das Geschirr ab und schwieg.

„Sorry wegen dem Teller“, sagte Tom.

„Der Teller ist völlig wurscht. Ich frag mich nur, wie das in Zukunft mit euch beiden weitergehen soll.“

„Das liegt an ihm.“

„Nein, da irrst du dich“, sagte Franziska. „Das liegt auch an dir.“

„An mir? Rede ich ihm in sein Leben rein? Sage ich ihm, dass er sich nur noch beim Frühstück sehen lässt und sonst ständig in seinem Büro hockt? Werfe ich ihm vor, dass wir noch kein einziges Mal irgendwas zusammen unternommen haben, wo vielleicht auch mal Gelegenheit gewesen wäre, miteinander zu quatschen? Vielleicht würde ich ja gern mal mit meinem alten Herrn ein Bier trinken gehen, oder zusammen joggen, oder ins Kino. Hast du jemals gehört, dass ich ihm irgendwas davon vorgehalten habe?“

„Ich…“, setzte Franziska an, aber Tom unterbrach sie wütend.

„Nein, hast du nicht. Und weißt du auch wieso? Weil ich nicht das Recht hab, in jemandes Leben rein zu pfuschen. Er will vielleicht kein Bier, okay! Er will vielleicht nicht joggen, auch okay. Vielleicht hat er auch einfach Angst davor, mit mir zu reden, von mir aus! Aber dann soll er sich, verdammt noch mal, auch aus meinem Leben raus halten. Ist das denn zu viel verlangt!?“

„Hast du ihm das alles denn schon mal selbst gesagt?“

„Um mir dann wieder anzuhören, dass ich ihm auf der Tasche liege? Nein, danke.“

Franziska trat einen Schritt auf Tom zu.

„Aber so meint er das doch gar nicht“, sagte sie betroffen.

„Ach nein? Und was war das eben? Er ist derjenige, der schwer arbeitet und ich klaue nur Motorräder, oder hab ich da was nicht mitgekriegt?“

„Mensch Tom, er macht sich doch nur Sorgen um dich. Er will, dass du was lernst und nicht irgendwann Hartz IV kriegen musst. Er will doch nur, dass es dir mal gut geht.“

Tom lächelte schief und stellte die Kehrschaufel wieder in den Schrank unter der Spüle zurück.

„Hörst du dir eigentlich selbst zu“, fragte er. „Er will, er will, er will. Es geht nur darum, was er will. Es geht immer nur darum, was andere wollen. Und was ich will, das zählt gar nicht?“

Franziska sah zu Boden und schien nach Worten zu suchen. Tom winkte lächelnd ab.

„Ist schon gut, brauchst nix zu sagen. Sobald ich achtzehn bin, zieh ich aus. Dann ist er die Sorge schon mal los.“

„Ach Mensch Tom…“

„Und jetzt muss ich los. Im Moment arbeite ich zwar nur, weil ich dazu verknackt wurde, aber ob du es glaubst oder nicht, es macht mir Spaß. Bis heut Abend.“

Unterwegs stellte er fest, dass er gar nicht so wütend war, wie er es erwartet hatte. Er fuhr ganz entspannt, genoss den Fahrtwind und die Landluft und freute sich, als die Mauer in Sichtweite kam, die den Park von Haus Maria umgab. Er bog mit Schwung in die Einfahrt ein und der Kies spritzte unter seinen Rädern zur Seite. Franz Meinrad war damit beschäftigt, Unkraut von einem gepflasterten Weg mit einem Gasbrenner wegzubrennen. Das Geräusch ähnelte einem tieffliegenden Heißluftballon.

„Guten Morgen“, rief Tom, aber das Fauchen der Flammen übertönte ihn. Er ging ins Gerätehaus und steuerte das Regal an, in dem verschiedene Blumentöpfe der Größe nach sortiert herumstanden. Im Fach darunter, ebenfalls der Größe nach sortiert, fand er passende Übertöpfe in verschiedenen Farben und Formen. Er lächelte in sich hinein, weil ihm seine Idee, die er heute Morgen plötzlich gehabt hatte, so gut gefiel und wahrscheinlich war sie auch der Grund, weshalb ihm der Streit mit seinem Vater an einer bestimmten Stelle gerade mal vorbei ging.

„Was wird denn das, wenn’s fertig ist?“

Tom war so vertieft in die Auswahl der Töpfe, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie der alte Hausmeister hereingekommen war.

„Guten Morgen“, wiederholte er. „Kann ich die haben?“ Er hielt einen normalen Terrakotta-Blumentopf und einen passenden Übertopf aus mattgelber Keramik hoch.

„Wie, haben“, fragte Meinrad verdutzt. „Was hast du denn vor?“

„Kann ich, oder kann ich nicht?“

„Von mir aus. Aber ich muss schon wissen, warum.“

„Nur wenn Sie nicht lachen.“

Das Gesicht des Hausmeisters war ein einziges Fragezeichen und als Tom ihm seine Idee erzählte, grinste er von einem Ohr zum anderen und schüttelte den Kopf.

„Du bist schon ein verrückter Knochen“, sagte er. „Na mach schon. Aber vergiss nicht, dass heute die Rosen dran sind. Düngen, Erde lockern und so, okay?“

„Klar, Chef“, sagte Tom. „Danke.“

Er ging mit seinen Töpfen quer über den Rasen und öffnete das kleine Tor zum Vorgarten. Frisch geharkt und frei von Unkraut streckten die Buchsbäume ihre grünen Zweige in die Sonne. Tom hatte keinen Blick dafür, sondern steuerte geradewegs die Sonnenuhr an und ging vor ihr in die Knie. Lächelnd betrachtete er die Gruppe Gänseblümchen, dann grub er beide Hände rund um zwei der kräftigsten Pflanzen in die Erde und hob sie vorsichtig aus dem Boden. Der Ballen passte genau in den Blumentopf, dieser wiederum in den Übertopf und beide schienen wie für die kleinen, weiß-gelben Blumen gemacht zu sein. Er ging mit dem Topf ums Haus herum und als er zum Haupteingang kam, saß Frau van der Laak wie gewohnt nahezu regungslos in ihrem Korbsessel, eine bunte Decke über den Knien und das Gesicht unter dem Strohhut verborgen. Sie war allein, die übrigen Plätze unter den Sonnenschirmen waren leer. Tom bekam etwas feuchte Hände. Er räusperte sich und rief leise ihren Namen.

„Entschuldigung, Frau van der Laak“, wiederholte er etwas lauter, als sie keine Reaktion zeigte. Die Knie unter der Decke zuckten zusammen, dann hob sich der Strohhut und die alte Dame sah ihn mit ihrem ewig traurigen Blick an.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte Tom. „Ich soll eigentlich auch gar nicht mit Ihnen reden, aber ich dachte, das hier würde Ihnen vielleicht gefallen.“

Er stellte den Blumentopf vor der alten Frau auf den Tisch und ging einen Schritt zurück. Frau van der Laak starrte zuerst ihn fragend an, dann senkte sie den Blick und betrachtete die Gänseblümchen. In dem entstellten Gesicht war keine Regung auszumachen. Dann hob sie eine Hand, berührte den Topf, als wolle sie sich vergewissern, dass sie sich ihn nicht nur einbildete und tippte eine der kleinen Blüten mit dem Finger an. Tom schluckte unwillkürlich, als die alte Dame ihn wieder ansah, denn die gelähmte Gesichtshälfte hing nach wie vor schlaff herunter, die Gesunde jedoch strahlte vor Freude. Die blauen Augen schienen zu leuchten, der Blick wanderte zwischen Tom und den Blumen hin und her und sie schüttelte langsam den Kopf, so, als wolle sie nicht glauben, was sie sah. Sie hob ihre gesunde Hand und bedeutete ihm, näherzukommen. Er zögerte und sah nervös zum Eingang, von wo aus man das Schwesternzimmer sehen konnte, aber es schien niemand da zu sein. Er trat vor und nahm die knochige, von Altersflecken übersäte Hand der alten Frau vorsichtig in die seine. Frau van der Laaks Griff war erstaunlich fest und Tom lächelte sie an und nickte. Sie schluckte ein paarmal angestrengt.

„Danke, mein Junge“, brachte sie schließlich mühsam, aber deutlich hervor.

„Gern geschehen“, antwortete Tom. „Ich geh dann mal wieder an die Arbeit, sonst haut mir Herr Meinrad noch den Besen ins Kreuz.“

Frau van der Laak lächelte und versuchte, zu zwinkern, aber selbst mit dem gesunden Auge war es nur mehr ein Zucken als ein Zwinkern. Als Tom sich umwandte, streifte sein Blick eines der Fenster, hinter dem sich der Speiseraum befand und er sah der Heimleiterin direkt ins Gesicht. Erschrocken hielt er kurz die Luft an und lief dann zum Gerätehaus. Der Ausdruck von Frau Bergmann hinter dem Fenster war undefinierbar gewesen, aber Tom schwante nichts Gutes, immerhin hatte er seine Anweisungen, was die Bewohner betraf.

Den Rest des Tages arbeitete er wie ein Wilder, gönnte sich nicht mal eine richtige Mittagspause und selbst eine Einladung von Jens zum Rauchen schlug er aus. Er hatte irgendwie das Gefühl, eine Scharte auswetzen zu müssen und fand seine Idee mit den Blumen plötzlich gar nicht mehr so toll.. Er vergaß darüber völlig die Zeit und erst als Franz Meinrad sich stirnrunzelnd vor ihm aufbaute, schreckte er aus seinen Gedanken hoch.

„Du hast seit zehn Minuten Feierabend“, sagte der alte Hausmeister. „Bist du krank?“

„Nein“, sagte Tom. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das okay war.“

„Was meinst du?“

„Das mit den Blumen für Frau van der Laak.“

„Ach so.“ Franz Meinrad lachte leise. „Hat ihr die Fleurop-Aktion nicht gefallen, hm?“

„Nein, im Gegenteil“, antwortete Tom. „Aber Frau Bergmann hat das wohl gesehen.“

„Na und?“

„Ich weiß ja auch nicht. Ich soll ja nicht mit den Bewohnern… Sie wissen schon. Und wenn ich deswegen jetzt Stress kriege, wär das ganz übel.“

„Blödsinn!“ Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Das glaub ich nicht. Soll ich mal mit der Frau Feldwebel reden? Ich hab einen ganz guten Draht zu ihr.“

Nein, lassen Sie mal, danke.“ Tom schüttelte den Kopf. „Das muss ich selbst hinkriegen.“

„Okay, wie du meinst“, sagte Meinrad. „Auf jeden Fall ist für heute Schluss. Pack die Geräte ein und dann ab nach Hause.“

In den nächsten Tagen fuhr Tom regelmäßig mit einem schlechten Gefühl zu seiner Arbeit. Jedes Mal bekam er kurz vor dem Anwesen einen staubtrockenen Hals, sein Puls beschleunigte sich und bei der Arbeit war er oft nicht ganz bei der Sache. Abends ging er direkt joggen und hoffte, die Angst durch Anstrengung zu vertreiben. Aber trotzdem er todmüde ins Bett fiel, schlief und träumte er schlecht. Auch der Alptraum, in dem sein Zimmer immer kleiner wurde und ihn zu erdrücken drohte, wiederholte sich immer öfter.

„Tom, die Dinger hier an dem Zweig nennen sich Knospen. Also diese Zweige bitte nicht abschneiden, sondern die trockenen, ja?“

„Sorry“, sagte Tom und traute sich nicht, Franz Meinrad ins Gesicht zu sehen.

„Jesses, man könnte meinen, du seist verliebt. Hast du schon was gegessen?“

„Nein, ich mach das hier noch fertig und…“

„Tom!“

Er fuhr zusammen, als er seinen Namen hörte und wäre fast von der Leiter gefallen. Jens kam über den Rasen geschlendert und grüßte den Hausmeister mit einem Kopfnicken.

„Die Chefin will dich sehen“, sagte der blonde Zivi. Tom hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals und wechselte einen nervösen Blick mit seinem Chef, als er von der Leiter kletterte.

„Mich“, fragte er unsicher.

„Yep. Wir haben hier nur einen Tom.“

„Hat sie… hat sie gesagt, warum?“

„Nö.“ Jens zuckte die Achseln.

Tom wusch sich die Hände, dann ging er mit dem Zivi ins Haus. Der Geruch von Putzmitteln umwehte seine Nase. Er war erst einmal hier gewesen, als die Heimleiterin ihm die Regeln klarmachte, die für ihn zu gelten hatten. Sie hatte damals auch durchblicken lassen, dass es ihr nicht leichtgefallen war, ihm die Chance zu geben und dass sie hoffte, nicht enttäuscht zu werden.

„Kennst dich ja aus“, sagte Jens und deutete mit dem Daumen Richtung Obergeschoß. Tom nickte. Langsam ging er durch die Eingangshalle zur Treppe und es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, den ersten Stock zu erreichen. Er hatte das Gefühl, als wehrten sich seine Beine dagegen, weiterzulaufen. Die Tür zu Frau Bergmanns Büro stand einen Spalt offen. Sie musste ein Gehör wie eine Fledermaus haben, vielleicht knarrten auch nur die Dielen, jedenfalls hatte Tom gerade die Hand gehoben, um zu klopfen, als sie „Kommen Sie rein“ rief. Tom betrat das modern eingerichtete Büro.

„Hallo“, sagte er zögernd. Die Heimleiterin wandte sich von ihrem Bildschirm ab, legte einen Stapel Papiere beiseite und stand auf. Sie reichte Tom die Hand und lächelte. War es ein freundliches Lächeln oder eher ein säuerliches, er vermochte es nicht einzuordnen. Sie deutete auf den Besuchertisch unter dem Fenster und machte eine einladende Geste.

„Setzen Sie sich. Was zu trinken?“

Tom nickte und sie goss ein Glas Orangensaft ein. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz.

„Kommen Sie mit Franz zurecht?“

„Auf jeden Fall“, sagte Tom. „Bestens sogar.“ Frau Bergmann nickte.

„Das ist schön. Alles andere hätte ich auch schon längst von ihm erfahren. Die Arbeit ist auch in Ordnung für Sie?“

„Natürlich! Was Besseres hätte mir gar nicht passieren können. Dafür bin ich auch echt dankbar!“

Frau Bergmann nickte wieder.

„Hmm“, machte sie und Tom ahnte, dass sie nun auf den Punkt kommen würde. „Weshalb ich Sie hergebeten habe…“

„Frau Bergmann“, unterbrach Tom, „ich weiß, was Sie mir am Anfang gesagt haben und es tut mir auch wirklich leid. Das hätte ich bestimmt nicht tun sollen, aber ich fand es eine nette Geste gegenüber Frau van der Laak, sie schien die Blumen irgendwie zu mögen und ich… naja, sie tat mir irgendwie leid aber ich halte mich ab sofort daran. Sie werden mich nie wieder bei einem der Leute sehen, versprochen.“

„Das ist schade“, sagte die Heimleiterin.

„Wie… schade. Ich versteh nicht…“, sagte Tom verdutzt.

„Wie lange sind Sie noch bei uns? Zwei Wochen?“

„So in etwa, ja.“

„Und dann?“

Tom zuckte die Achseln. Auf solche Fragen war er nicht gefasst gewesen.

„Weiß ich noch nicht.“

„Sie werden dieses Jahr Achtzehn, richtig?“

„Ja, im Mai.“

„Dann kommt ja noch die Bundeswehr.“

„Nein“, sagte Tom gepresst. „Da geh ich auf keinen Fall hin. Niemals.“

Frau Bergmann hatte den Kopf auf die Hand gestützt und spielte mit einem Kugelschreiber. Sie schmunzelte.

„Hmm… also was ich Sie fragen wollte, und jetzt unterbrechen Sie mich nicht wieder, ich möchte Ihnen anbieten, dieses neue Freiwillige Soziale Jahr bei uns zu machen und wenn alles gut läuft, daran anschließend eine Ausbildung zum Altenpfleger.“

In Toms Kopf hallten die Worte der Heimleiterin wider und sein Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was er gerade gehört hatte. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und sein Herz im Hals pochte. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Ich soll… ich kann… aber wie…“

„Dann kann ich das als ein Ja werten?“

„Äh… Frau Bergmann, ich hab aber keinen Schulabschluss. Ich kann Ihnen kein Zeugnis liefern, gar nichts. Und wieso… ich meine, warum bieten Sie mir das an?“

„Also erstens interessiert mich Ihr Zeugnis weniger“, sagte Frau Bergmann, „zweitens können Sie den Abschluss auch noch hinterher in der Abendschule nachholen, wenn Ihnen daran gelegen ist und drittens haben Sie eine meiner Bewohnerinnen sozusagen ins Leben zurückgeholt.“

„Was hab ich?“

„Frau van der Laak. Sie redet seit ein paar Tagen wie ein Buch und lässt Ihre Blumen nicht mehr aus den Augen. Zudem fragt sie ständig nach Ihnen.“

„Tatsächlich?“

Tom war platt. Und das war noch ein milder Ausdruck für das Gefühlschaos, das in ihm wütete. Er war im festen Glauben hergekommen, dass er gleich anschließend seine Sachen packen und verschwinden konnte und jetzt das!

„Alles klar bei Ihnen“, fragte Frau Bergmann, „Sie haben einen ganz roten Kopf.“