Adam und Ada - Christian Kellermann - E-Book

Adam und Ada E-Book

Christian Kellermann

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Beschreibung

»Der Atlantik unserer Zeit ist ein Molekül. Der Tunnel unserer Zeit ist dein Algorithmus. Das Kryptonit die intelligente Proteinmaschine. Das Bohren die Manipulation der Moleküle. Der Bohrer der Quantencomputer. Die Arbeiter unserer Zeit, Ada, sind die Daten.« Natürlich hat Ada MacAllan sich als eine der ersten ein Implantat einsetzen lassen, um ihr Projekt »Adam« zu nutzen und zu testen. Schließlich hat die App, die einen auf dem Weg zum optimalen Lebensstil begleitet, ihr Unternehmen AI-X ganz nach vorne auf dem Gebiet der KI-Entwicklung gebracht. Inzwischen arbeitet die Programmiererin mit ihrem Team am nächsten Schritt: der vollständigen Berechenbarkeit von Proteinen – den zentralen Bausteinen des Lebens. Doch es will nicht vorwärtsgehen. Und der Druck auf Ada wächst, während in ihrem Privatleben alles aus den Fugen zu geraten scheint. Ein Roman über den Nutzen und die Gefahren von Künstlicher Intelligenz und Selbstoptimierung, über Größenwahnsinn und Karriereziele, über Prioritäten im Leben und das Streben nach Unendlichkeit.

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Originalausgabe

© 2023 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

[email protected]; www.hirnkost.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage April 2023

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkund:innen und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

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Buchsatz: Grit Richter

www.artskriptphantastik.de/coverdesign.html

Lektorat: Melanie Wylutzki

Print: 978-3-98857-005-5

Epub: 978-3-98857-006-2

PDF: 978-3-98857-007-9

Auch als Hörbuch erhältlich: 978-3-98857-008-6

Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur. Mehr Infos: www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag/

CHRISTIAN KELLERMANN, geboren 1974, lebt in Berlin; er forscht und lehrt zu Künstlicher Intelligenz aus der Perspektive von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft.

INHALT

TEIL I

14. OKTOBER 1920

16. OKTOBER 1920

TEIL II

16. OKTOBER 1920

TEIL III

22. MÄRZ 1923

06. AUGUST 1924

1. MAI 1925

NACHWORT

TEIL I

»Macht mal Pause, Männer!«, rief Allan so laut er konnte. »Pause, Männer, Pause!«

Der Lärm war ohrenbetäubend. Allan erhöhte die Lautstärke seines Befehls, indem er die Hände vor seinem Mund zu einem Trichter formte. Es hatte keine Wirkung.

Allan blickte auf die enormen Maschinen. Wie zwei wütende Riesen fraßen sich die beiden Bohrer mit ihren diamantharten Zähnen parallel in zwei Stollen; Hunderte Arbeiter schaufelten das Gestein weg, das aus der Bergwand geschlagen wurde. Der brutale Lärm der Maschinen, des Hackens, des Schaufelns, des Geschreis der Männer hallte in die Tiefe des Berges hinein. Kurz kam es Allan so vor, als machte der Tunnel selbst das ungeheure Geräusch und nicht die Menschen mit ihren Maschinen. Die Männer konnten ihn nicht hören.

Allan gab Harriman ein Zeichen, dass er die Sirene läuten solle. Der Chefingenieur ging in das mobile Büro, das nicht viel größer war als ein Container und immer wieder ab- und neu aufgebaut werden musste, sobald die Bohrarbeiten ein paar hundert Meter vorangekommen waren. Ein schrilles Signal durchschnitt die massive Geräuschwand nur mit Mühe. Es dauerte ein paar Sekunden, bis es endlich etwas ruhiger wurde. Die Maschinenführer ließen die beiden Bohrmaschinen im Leerlauf vor sich hin rattern. Es war immer noch laut. Allan streckte den Daumen zu Harriman, der wieder aus dem Büro zurückgeeilt kam.

Es war unerträglich heiß. Die Luft war ein Brei aus Gasen, Steinstaub und einem mickrigen Rest Sauerstoff, durchtränkt vom Geruch von Schweiß und heißem Metall. Die Ventilatoren liefen ununterbrochen, pumpten alte Luft aus den Stollen ab und gleichzeitig frische Luft in den Tunnel hinein. Aber trotz dieses Windkanals war die Luft von erstickender Qualität. Jeder Atemzug fühlte sich an, als versuchte man, einen nassen Lappen einzuatmen. Die Augen offen zu halten, fiel den Arbeitern schwer. Jede Oberfläche, jedes Gesicht war mit grobem Staub bedeckt. Der Boden war feucht, an einigen Stellen hatten sich kleine Pfützen angesammelt. Überall lagen Steine, die aus dem Berg gebrochen worden waren. Kleine Steine, große Steine. Manche mussten mehrfach zerkleinert werden, damit sie in den Eisenwaggons abtransportiert werden konnten. Die elektrischen Lampen, die an den Bergwänden befestigt waren, kämpften Tag und Nacht damit, den Bergraum aufzuhellen, was den Tunnelmännern jedes Zeitgefühl raubte. Mittlerweile waren sie einige hundert Kilometer tief im Berg, tausende Meter unter dem Meeresspiegel angekommen. Jeder Transport nach draußen dauerte viele kräftezehrende Stunden.

»Hier, Mr. MacAllan! Sehen Sie selbst. Das Gestein ist nicht fest!«, rief Harriman Allan zu. »Immer wieder fallen große Brocken von der Förste. Die gesamte Kalotte ist seit Kilometer 398 instabiler geworden.«

Allan inspizierte den oberen Teil des Tunnelquerschnitts und schritt ungeduldig auf und ab. Dutzende Arbeiter starrten ihn dabei aus ihren schwarzen Gesichtern an. Ihre Augen funkelten, folgten den Schritten des legendären Bauherrn des Tunnels genau.

»Mr. MacAllan hier bei uns im Stollen!«, flüsterten sie sich zu.

»Hobby, was denkst du?«, fragte Allan seinen Chefarchitekten, der ebenfalls mit in den Tunnel gekommen war.

Wie immer war Hobby elegant gekleidet, trug ein kariertes Sakko und hellbraune Lederstiefel. Aber sowohl sein blonder Lockenschopf als auch sein Anzug waren bereits grau von Dreck und Ruß. Hobby ging zu Allan, der die Holzkonstruktion begutachtete, die die Tunneldecke abstützte. Anders als Allan und all die anderen trug Hobby keinen Kopfschutz.

»Unsere Berechnungen haben ergeben, dass wir einen ausreichend hohen Grad an Gewölbestabilität haben, Allan. Das ist der übliche Nachbruch. Berufsrisiko, würde ich das nennen!«

Ein blitzschnelles Lächeln.

Ohne darauf zu reagieren, ging Allan weiter den Stollen in Richtung des Vortriebs, wo eine der riesigen Bohrmaschinen im Leerlauf lief. Er fuchtelte an der Lampe seines Schutzhelms herum, der nicht mehr war als eine dünne wellblechartige Schicht. Die Lampe hatte einen Wackelkontakt. Sie ging ständig an und aus. Allan fluchte verärgert vor sich hin. Er winkte den Fahrzeugführer zu sich, der sich umgehend anschickte, vom Fahrerhaus seiner Maschine zu klettern.

»Wie heißen Sie?«

»Jamaal Jackson, Sir.«

Die schwarze Haut des Arbeiters war vom Dreck verschmiert, das spröde Blech seines Helms stark verbeult.

»Wie lange arbeiten Sie schon mit der Maschine?«

»Seit fast drei Jahren, Sir.«

Er hob seine nackte Brust.

»Gut.«

Allan zog den Mann am rechten Arm mit sich an die Spitze der Bohrmaschine. Selbst im Leerlauf machte sie einen Höllenlärm. Sie standen direkt neben dem Motor.

»Hören Sie das?«, schrie er in das Ohr des Fahrzeugführers.

»Ja, sicher, Sir! Der Motor läuft nicht rund.«

Jamaal blickte Allan direkt ins Gesicht.

»Es ist das Getriebe! Die Radlager sind ausgeschlagen. Der Bohrkopf ist stumpf und zerstört das Getriebe. Das Kryptonit des Bohraufsatzes müsste ersetzt werden!«

Allan wischte sich mit dem Arm die Spucke und den Schweiß des Mannes von der Wange.

»Und warum ist das noch nicht geschehen?«

»Anweisung, Sir. Wir sollen die Maschinen solange fahren, bis sie ausfallen. Wir reparieren erst, wenn die Maschine stillsteht.«

Der Arbeiter hustete keuchend in die Beuge seines Armes.

»Wäre es nicht sinnvoller, die Maschine zu reparieren, bevor sie kaputtgeht?«

»Ja, Sir. Unbedingt!«

Er sagte noch mehr, aber Allans Ohr dröhnte so sehr, dass er sich ein paar Zentimeter von Jackson entfernte. Er hörte nur noch »Zeitverschwendung« und nickte.

»Und das Kryptonit?«, hustete Allan in Jacksons Richtung. »Kommen Sie damit gut durch den Berg?«

Jamaal nickte und hob den Daumen. Die wenigen Zähne in seinem Mund leuchteten.

»Hart wie Diamant, Sir!«

»Danke!«

Allan drückte ihm die Hand und ging zurück zu Hobby und Harriman, die in einiger Entfernung an das Gewölbe gelehnt standen und das Gespräch beobachtet hatten. Er winkte Harriman zu sich.

»Ich will, dass die Maschinen gewartet werden.«

Der Lärm war abseits der Bohrmaschine etwas erträglicher.

»Und zwar in kürzeren Abständen! Die Maschinenführer sollen anzeigen, wenn sie eine Wartung für notwendig halten. Haben Sie mich verstanden, Harriman?«

»Aber Mr. MacAllan! Das kostet uns sehr viel Zeit!«

»Im Gegenteil! Wenn wir warten, bis die Bohrmaschinen kaputtgehen, haben wir viel längere Stillstandzeiten.«

»Aber …«

»Notieren Sie, Harriman! 10. Oktober 1920. Neuberechnung der Gewölbestabilität. Verkürzung der Stillstandzeiten der Bohrmaschinen durch vorausschauende Wartung.«

Allan schaute angewidert in die Luft.

»Und die Luft, um Himmels willen! Hier kann man ja kaum atmen. Wir brauchen leistungsstärkere Turbinen der Belüftung!«

Harriman notierte hastig auf einen Zettel die Anweisungen.

»Standort?«

»Kilometer 402, Tiefe 4.403 Meter.«

»Kilometer 402, von über 5.000!«

Allan schüttelte den Kopf.

»Der Weg nach Europa ist lang, Harriman. Sehr lang!«

Er schaute in die Masse der Tunnelarbeiter, die aus der dunklen Tiefe der Stollen zurückblickten.

»Wir müssen schneller werden! Sonst schaffen wir das nie. Jeder Meter, jede Stunde zählt. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren! Haben Sie das verstanden?«

Er fixierte die müden Augen seines Chefingenieurs.

»Das Kryptonit! Es funktioniert ja! Wir müssen daran nicht sparen. Es ist genug da, das wissen Sie. Wechseln Sie die Bohrköpfe regelmäßig aus. Das schont die Maschinen. Sie sind unser wichtigstes Werkzeug! Wir können hier unten nicht mehr sprengen.«

Aufmunternd klopfte Allan ihm auf die Schulter. Dann drehte er sich um und ging mit Hobby zur Lok, die sie zurück nach MacCity, der Tunnelstadt südlich von New York, bringen würde.

Wegen Krankheit geschlossen stand auf dem kleinen vergilbten Schild in der Auslage. Der in die Jahre gekommene Fischladen war schon seit einiger Zeit geschlossen. Das Fenster war von innen mit braunem Papier abgeklebt.

»Verflucht!«, seufzte Ada leise.

Sie lehnte sich näher ans Fenster und spähte durch einen schmalen Riss im Papier.

»Was da wohl los ist? Etwas Ernstes oder nur einfach keine Lust, bei diesem bleiernen Januarwetter aufzustehen?«

Ada MacAllan drückte ihre feuchte Nase gegen die kalte Scheibe.

»Wie auch immer. Mist!«

Sie zog die kalte Luft tief in die Lungen hinein.

Auf ihrem Ernährungsplan stand heute frischer Skrei. Die Fangsaison in der Barentsee hatte gerade begonnen, und ihre Trainingseinheit empfahl diese magere Fischsorte mit festem Muskelfleisch und hohem Omega-3-Anteil.

Die nächste potenzielle Quelle für den Fisch war gut zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Sie musste dafür bis nach Liljeholmen fahren, erst über die lange, zugige Brücke, dann noch ein Stück entlang an der lauten, mehrspurigen Zubringerautobahn. Das würde sie insgesamt noch eine halbe Stunde kosten.

Ada setzte sich wieder auf ihr Fahrrad und trat in die Pedale. Nieselregen benetzte ihr Gesicht, Jeans und Oberschenkel verschmolzen zu einem feuchtklebrigen Brei, die Kuppen ihrer Finger wurden taub. Auf der Straße spiegelten sich die starken Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Die Straßenlichter führten im Windkanal der Häuserschluchten ein apokalyptisches Tänzchen auf. Stockholm schien zu dieser Jahreszeit von der Dunkelheit verschlungen zu sein. Leuchtenden Schnee, der früher in den Wintermonaten gegen die Dunkelheit ankämpfte, gab es seit Jahren nicht mehr.

Ziemlich genau eine halbe Stunde später kam sie zu Hause an.

»Ich habe uns was zu essen mitgebracht«, rief sie Iris fröhlich zu und zog die nasse Hose direkt im Flur aus.

»Uhum.«

Iris antwortete aus ihrem Zimmer, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu lassen. Ada ging in die Küche.

»Fisch!«

»Proteine, Proteine, Proteine?«, maulte Iris kaum hörbar.

»Kabeljau«, rief Ada zurück.

Skrei hatte es auch in dem Supermarkt in Liljeholmen nicht gegeben. Also musste sie sich mit der minderwertigen Variante zufriedengeben.

»Der ist gesund und schmeckt gut.«

Ada hörte, wie Iris sich aus ihrer knarzenden Couch in Richtung Esszimmer in Bewegung setzte und zum Tisch schlurfte.

»Wie war dein Tag?«

Das Essen dampfte auf den Tellern der beiden. Fisch und Kartoffeln, wie immer ohne Soße.

»Gut«, antwortete Iris.

Sie aßen leise. Ada war in Gedanken bei ihrem Konditionstraining. Aufgrund des Umwegs nach Liljeholmen war es bereits zu spät geworden für die tägliche Trainingseinheit. Dabei stand sie am Anfang ihres nächsten Zyklus’. Ihre Zielmarke für das Quartal war, ein Sauerstofflevel von achtzig Milliliter zu erreichen. Profi-Level – das musste doch zu schaffen sein! Das hieß aber, ihre Grenze weiter auszureizen. Ihre Sauerstoffaufnahme war zu gering, die Mitochondrien in ihrer Muskulatur schafften schlicht zu wenig Leistung.

Iris stocherte in dem glibberigen Fisch auf ihrem Teller herum. Ihr Gesicht strahlte Ekel aus. Tatsächlich war der Fisch glasig und fad und hatte noch dazu mörderische Gräten.

Scheppernd warf Iris das Besteck auf ihrem Teller zusammen.

»Ich muss mich noch für morgen vorbereiten«, sagte sie und stand auf. »Mathe.«

»Brauchst du Hilfe?«

Iris lächelte mitleidig und ging zurück in ihr Zimmer. Ada schaute ihr nach. In letzter Zeit war ihre Tochter immer schweigsamer geworden. Sollte sie sich Sorgen machen? Sie dachte an ihre eigenen Teenagerjahre, diese verwirrende Zeit, als sich alles in der Welt immer schneller bewegte, nur man selbst nicht. Ada hatte früh den Sport entdeckt, als Halt im perfekten Sturm. Stundenlanges Rennen oder Schwimmen, immer hatte sie ihren Körper an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, einfach, damit das Gefühl, zu versagen, nicht mithalten zu können, für eine kurze Zeit Ruhe gab.

Ada stand auf, wusch schnell die Teller ab und ging in das Arbeitszimmer. Seufzend setzte sie sich an den Schreibtisch und öffnete ihren Laptop. In der privaten Mailbox fand sie nichts außer zwei Versandbestätigungen. Sie konnte ihr Gesicht im verspiegelten Monitor vage erkennen, doch selbst in der Dunkelheit des Spiegels meinte sie, ihre Müdigkeit zu sehen. Sie strich sich reflexartig über die Wange und spürte die leichte Erhöhung der Flechte, ihres Schönheitsflecks, wie sie sie auch zu nennen pflegte.

Ada lag schon wach in ihrem Bett, als das Alarmsignal um 5 Uhr 30 ertönte. Ihr Gehirn arbeitete in Hochgeschwindigkeit die Termine des Tages durch. Wer war im Meeting, was wollte sie von wem wissen oder bekommen, wo musste sie etwas einbringen, wann konnte sie Pausen machen?

Zunächst aber war eine Extraschicht fällig. Die Laufkleidung lag vorbereitet auf dem Sessel neben ihrem Bett. Ein Monitor zeigte einen Halbmond, zwei Grad und leichten Regen, wie gestern vorhergesagt. Sie entschied sich für zwei Schichten aus wasser- und winddichtem, schweißleitendem Smart-Nylon mit Thermomembranen, die sich der Körpertemperatur anpassten. Leise schlich sie sich aus der Wohnung und lief die Treppe hinunter auf die Straße. Ein kalter Wind peitschte ihr feinen Regen ins Gesicht. Der ewige Nieselregen.

In ihrer Laufbrille startete das Display.

Guten Morgen, Ada, hier ist Adam. Du hast gut geschlafen. Keine Einheit gestern Abend? Berechne Ersatztraining auf Grundlage deiner aktualisierten Parameter, schrieb ihr Fitness-System. Ada atmete tief ein. Sie hatte geahnt, dass ein verpasstes Training nicht ungestraft bleiben würde.

Widerstandslos nahm sie das aufgerufene Intervalltraining zur Kenntnis. Das System navigierte sie in Richtung Söder Mälarstrand. Sofort erkannte sie das Level, ein Spaziergang würde das nicht werden. Neunzig Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz war das Ziel. Sie war 43 Jahre alt. Gemessen am Alter lag ihr optimaler Trainingswert bei 173 Schlägen pro Minute. Ihr jüngster Lactattest hatte aber ergeben, dass der Wert derzeit bei 181 Schlägen lag. »Adam muss sich irren! Er überschätzt mich«, spottete sie über ihr Trainingssystem, wenn sie mit anderen darüber sprach. Gleichzeitig war sie stolz. Schließlich rechnete sie ihr System biologisch jünger, als sie eigentlich war.

Der Riddarfjärden zog schwarz an ihr vorbei. Hier und dort kleine Eisschollen. Große, alte Eisenboote mit abblätternder Farbe lagen auch im Winter hier vor Anker. Ada kannte alle ihre Namen: Litetill, Kajsa H. E. B., Siri Therese, Otto Olof, Sjöfareren Thomas, Michaels Motörbåt, Rödarummet, Storebror, Kejsaren, Hårdvik, TusenTack und etliche weitere. Manchmal, wenn sie nachts nicht einschlafen konnte, sagte sie sich alle Bootsnamen in der Reihenfolge stadteinwärts auf. Dann wieder in umgekehrter Reihenfolge runter.

Trotz der frühen Stunde und des ausladenden Wetters war sie nicht allein unterwegs. Ein Dutzend anderer Läufer trainierte ebenfalls. Man grüßte sich zurückhaltend, sprach aber nicht miteinander. Viele liefen, wie Ada, mit einem kleinen, grünleuchtenden Display vor den Augen.

Ada erhöhte die Laufgeschwindigkeit. In ihre Laufunterwäsche waren Sensoren eingenäht, die ihre Herzfrequenz, Atmung und ihren Bewegungsablauf direkt in ihr System und die Brille übertrugen. Die Sensoren für das Herz und die Atmung waren für sie überflüssig, denn die maß bereits Adam mit höchster Präzision. Vor allem die Wärme- und Bewegungsparameter halfen ihr, den Laufstil zu optimieren. Sie rannte gegen sich selbst, hatte einen perfekten Trainingsplan und einen perfekten Trainer, der Adam hieß und keine Sünde verzieh.

Auf der anderen Uferseite kam die Nachtbeleuchtung des Stockholmer Rathauses in ihr Sichtfeld. Schrittfrequenz erhöhen, befahl Adam. Sie erhöhte die Pace in Richtung des Schwellenwerts ihrer persönlichen Laufgeschwindigkeit, so, wie es Adam ihr anzeigte. Ihre Schuhe zogen neongelbe Bahnen über den Asphalt. Ihr Atem ging schneller, die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Stechend, beißend – sie kannte den Schmerz, und sie wusste, dass er nach wenigen Minuten vorbei war.

Ihr Display zeigte 178 Herzschläge. Noch 445 Meter in diesem Intervall. Zeitziel. Aber das las Ada nicht mehr. Mit einer kurzen Kopfbewegung deaktivierte sie die digitale Brille und rannte durch die schwarze Stadt. Die Straßenlaternen links und rechts blitzten im Nieselregen und flogen an ihr vorbei. Ihre Lunge arbeitete jetzt wie eine Maschine, ihr schmaler Körper glitt beinahe widerstandslos durch die Luft. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Endorphine zerstoben ihr Gewicht. Ihre Füße verloren den Kontakt zum Asphalt. Ihr Kopf war völlig leer.

Mit schnellem Schritt ging Ada auf das Bürogebäude in der Kungsholmsgatan zu. Sie trug eine enge schwarze Jeans, der gefütterte dunkelgrüne Parka schirmte sie gegen die Morgenkälte ab. An den Füßen hatte sie sich für die kastanienbraunen Chelsea Boots entschieden. Die Schuhwahl nahm jeden Morgen etwas Zeit in Anspruch, ihre Stimmungslage, der Tagesplan und die Wettersituation mussten stets neu in Einklang gebracht werden. Das weiche, genarbte Kalbsleder der Boots schmiegte sich an ihre Füße wie eine zweite Haut. Ihre Augen folgten ihren Schuhen beim schnellen Gehen und sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Mehr als einmal war es ihr schon passiert, dass sie wieder nach Hause gefahren war, weil die Schuhe nicht in ihr Tageskonzept gepasst hatten.

Die Fassade des Bürogebäudes stach aus den angrenzenden Gebäuden hervor. Auf eine Art wirkte es unscheinbarer als die anderen Bürokomplexe, weil es schmaler war. Gleichzeitig erinnerte es aufgrund der anthrazitgrauen Farbgebung an den Monolith aus Kubricks Space Odyssey und machte in der Flut der blitzenden Glasfronten der Nachbarhäuser einen eher geheimnisvollen Eindruck. Allein durch die asymmetrische Anordnung der Fenster wurde der verdunkelte Gebäudeblock etwas aufgelockert.

Ihr Büro lag im siebten Stockwerk, von wo aus sie am Rathaus vorbei auf den Riddarfjärden blicken konnte.

»Hej!«, wurde sie von Helen begrüßt. »Rekord oder Rente?«

»Weder noch.«

Ada zwinkerte ihrer Assistentin zu. Dann ging sie in ihr Büro und schloss die Tür, ohne eine weitere Reaktion von Helen zuzulassen, die ihr vergeblich signalisierte, noch Informationen für sie zu haben.

Ada setzte sich an einen der zwei großen Schreibtische, die den halben Raum ausfüllten. Mit dem automatisierten Scan ihres Fingerabdrucks aktivierte sie die Monitore, die augenblicklich erstrahlten und unmissverständlich die Baustellen der Arbeit vom Vortag anzeigten. Der routinierte Blick auf die E-Mails verriet ihr, dass ein Update zu ihrem Algorithmus vorlag. Ihr Team aus der Vier hatte wieder einmal eine längere Schicht eingelegt. Zufrieden öffnete sie die Mail von Lee, einem ihrer Programmierer, und überflog den Code ihres Algorithmus. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Neues entdecken.

Sie rollte auf ihrem Schreibtischstuhl zu dem anderen Schreibtisch. Auf ihm lagen Stapel von ausgedruckten Artikeln und Kopien. Da sie ein ausgeprägtes Faible für Papierkram hatte, war sie eine der wenigen bei AI-X, die noch einen Drucker hatte und diesen auch exzessiv nutzte.

Sie nahm ihren Rechner aus dem Rucksack und legte ihn zwischen die Papierstapel. Das Herstellerlabel war mit einem Aufkleber Property. Of/f. NSA überklebt, welcher stets zum Kommentieren einlud und seine Wirkung in der Regel nicht verfehlte, zähe Gesprächssituationen aufzubrechen. Vor allem der Kniff mit dem zweiten »f« forderte die besonders Spitzfindigen zu ungeahnter Wortklauberei heraus, die je nach Ungeschicklichkeit des Gegenübers bereits viel über dessen politische Tendenz aussagte. Die National Security Agency, der größte Auslandsgeheimdienst der US-Regierung, war ein Dauerthema in der Tech-Szene. Der Aufkleber war ein besserer Eisbrecher als jeder Sturm oder Dürresommer. Wetter spielte bei Leuten in ihrer Branche keine allzu große Rolle.

Ada zog einen Artikel aus dem äußersten Stapel. Er war bereits fünf Jahre alt, aber sie suchte darin eine bestimmte Information. »Methoden Künstlicher Intelligenz in der Molekularbiologie«, lautete der Beitrag von einem Forscherteam aus Edinburgh. Solch alte Artikel waren in ihrem Metier eigentlich verrostetes Eisen, mit der Halbwertzeit dieses Artikels verhielt es sich aber anders. Für Ada war er ein Schlüsseldokument. Sie sah darin einen echten, einen realistischen Weg beschrieben, um KI und Molekularbiologie zusammenzubringen, den bisher niemand entdeckt hatte. Natürlich stand dieser nicht konkret im Text. Das wäre zu schön gewesen. Vielmehr war es der methodische Zugang, der interessant war.

Konzentriert fing sie an, ihn durchzublättern. Die überstehenden Ränder waren mit einer dünnen Staubschicht belegt und leicht vergilbt.

»Organische Vergänglichkeit«, murmelte sie. »Mal sehen … Wo war noch mal … Ah, hier ist es!«

Der Text war übersät mit grünen, gelben, orangenen und lila Markierungen.

Mittels Künstlicher Intelligenz wurden die Winkel der Aminosäuren berechnet, aus denen sich ein Protein zusammenfaltet. Im Durchschnitt sind das 100 bis 500 Aminosäuren, die zu einer Kette verknüpft sind. Eiweißmoleküle falten sich schnell und effizient in ihre dreidimensionale Form.

Ada scannte konzentriert die Textpassage.

Erst dann entfaltet es seine Funktion in der Zelle. Wir konnten beinahe 50 Prozent der Zielzustände der Faltung aus den Winkeln modellieren, in denen die Aminosäuren noch ungefaltet zueinanderstehen.

Die Methode, die Winkel als Basis für die Berechnung der Proteinfaltung zu nehmen, war ihre Idee gewesen. Sie hatte diese Spur damals als Erste vorgeschlagen und den vollen Erfolg dafür eingefahren. Lange hatte sie an diesen Weg geglaubt, versucht, ihn zu modellieren. Andere auch. Aber jetzt war sie in eine Sackgasse geraten, zumindest fühlte es sich so an.

Was sie suchte, dürfte auf der nächsten Seite stehen. Falsch gefaltete Proteine … schwere Krankheiten … mRNA … Alzheimer, sie übersprang die nächsten Abschnitte.

»Hier!«, rief sie erregt.

Das Molekül sucht immer die energetisch niedrigste Formation … Es geht durch lokale Energie-Täler…

Das Lila war so dick über die Stelle gestrichen, dass sie kaum lesbar war.

»Lokale Energie-Täler … Nur woher weiß ich, wo die liegen«, flüsterte sie unruhig.

»Yu will dich so schnell wie möglich sprechen«, rief Helen ins Büro. »10 Uhr 15 für eine halbe Stunde. Passt das für dich?«

Ada schaute hinter ihren vier Monitoren hervor und nickte. Dann blickte sie wieder auf die Monitore zurück. Grüne Zeichen leuchteten auf dem schwarzen Hintergrund. Copyright AI-X Technologies Limited stand es auf dem linken Monitor geschrieben. Darunter folgten die Zeilen, die Adas Programmierer überarbeitet hatten. Sie überflog die markierten Stellen.

Was will Yu so dringend von mir?

Sie merkte, dass sie die Konzentration verlor.

Ich muss ihr etwas geben, einen kleinen Fortschritt. Irgendwas. Ich kann nicht sagen, dass wir immer noch auf der Stelle treten.

Ada schaute wieder auf die grünen Programmierzeilen.

»Helen, ruf bitte Ale hoch. Es eilt«, rief sie.

Ein paar Minuten später klopfte Ale an die halbgeöffnete Bürotür.

»Morgen«, raunte er Ada zu.

Ale war Finne und ein genialer, aber manchmal etwas fauler Programmierer. Ada mochte ihn. Sehr sogar. Sie fand, dass er Ähnlichkeiten mit einem zahmen Bären aus den Wäldern Nordfinnlands hatte: groß, kräftig, halblanges, dunkelblondes Haar. Warm. Er hatte sogar die Augen eines Teddybären. Ein mittelalter Teddybär, der gut programmierte und ansonsten seine gut hundert Kilo auf einem Skateboard durch Stockholm balancierte.

»Sie haben nach mir gerufen«, säuselte er.

»Ja, Komiker. Erklär mir, was ihr gemacht habt. Ich habe nicht viel Zeit. Yu will gleich von mir hören, was wir haben. Also schieß los!«

»Okay, hier«, Ale stellte sich hinter Ada vor die Monitorwand, »mach protein.py auf, dann siehst du die neuen Sequenzen.«

Er wartete kurz, bis Ada alles auf dem Bildschirm hatte.

»Was wir gemacht haben, ist in erster Linie, die Schwellenwerte des Algorithmus anzupassen. Du siehst das hier in der Grafik. Lee hat die Daten weiter bereinigen können und uns neue Schwellenwerte berechnet, die wir dann eingebaut haben.«

Ale langte mit seinem klobigen Zeigefinger auf die Zeilen, wo die Änderungen eingefügt worden waren. Sein Finger hinterließ deutlich sichtbare Fettabdrücke auf dem Schirm. Er wusste, dass Ada das nicht mochte, aber es gehörte zu ihren kleinen Neckereien.

»Croissants?«

»Mit Schokolade.«

Er grinste.

»Verstehe«, murmelte Ada und beugte sich näher zum Monitor. »8.112 … Wie weit kommt ihr mit dem Wert?«

»Na ja. Wir landen etwas höher bei der Berechnung. In der Darstellung siehst du es. Die Treffergenauigkeit der räumlichen Abstände der von uns getesteten Aminosäurereste liegt um circa 0,3 Prozent höher als beim alten Wert.«

»Das ist jetzt kein wirklicher Durchbruch! Woher kommen die Daten?«

»Eigenes Material.«

Ada drehte den Kopf und blickte Ale tief in die Augen.

»Wieder synthetische Daten! Echt jetzt?«

Ada blies die Backen und ließ die Luft pfeifend zwischen ihren Lippen entweichen.

»Verflucht, Ale! Wir brauchen echte Daten. Damit brauche ich nicht zu Yu zu gehen. Die lacht mir ins Gesicht.«

»Wir können doch nicht zaubern. Wir bekommen die Daten nicht. Baltimore bringt es nicht, also müssen wir mit synthetischen Daten arbeiten. Was sollen wir sonst tun? Es sind Trainingsdaten. Das ist besser als nichts. Ohne Trainingsdaten wird dein Algorithmus nie besser.«

»Wenn’s nicht läuft, ist es mein Algorithmus, schon klar. Wenn’s läuft, dann ist es wieder unser Algorithmus.«

Ada stand ruckartig von ihrem Bürostuhl auf, sodass sie fast mit Ale zusammenstieß.

»Ich geh jetzt zu Yu, und du setzt mit der Vier und den BTs ein Meeting an. Heute noch!«

»Ja ja«, knurrte Ale. »Aber vor zehn braucht man in Baltimore nicht anzurufen. Biotechnologen brauchen ihren Schönheitsschlaf.«

»Frustrationstoleranz«, murmelte Ada beim Hinausgehen aus ihrem Büro. Die müsse sie schon mitbringen, hatte man ihr gesagt, als sie in das Feld der Molekularbiologie eingestiegen war. »Experimente misslingen in der Regel«, erinnerte sie sich an die mahnenden Worte ihres Mentors aus Universitätszeiten. »Du musst die Fähigkeit haben, andere um Rat zu fragen, und gleichzeitig deine Idee mit aller Hartnäckigkeit verfolgen. Tempo ist alles. Und du bestimmst das Tempo.«

Sie eilte über den Flur zum Aufzug, der sie in das oberste Geschoss brachte. Dort war die Chefetage, die Vorstandsebene oder der Milliardärs-Club, wie das Stockwerk auf den unteren Fluren auch bezeichnet wurde.

»Setz dich«, kommandierte Yu, als Ada in ihr Zimmer eintrat.

Ada setzte sich in den verchromten Freischwinger an Yus überdimensioniertem Tisch aus Plexiglas. Yu Zhang saß im Vorstand der Genetik-Sparte AI-X und war Adas Vorgesetzte.

»Elevation Version 4.8 on Screens 1 to 4«, diktierte Yu ihrem Computer. »Zwei Kaffee und keine Anrufe! Du trinkst doch noch Kaffee, oder?«

»Äh, ja«, stammelte Ada überrumpelt.

Eigentlich trank sie um diese Uhrzeit keinen Kaffee. Adam errechnete strikte Zeitfenster für die Aufnahme von Koffein. Das nächste Fenster an diesem Tag war erst von 12 Uhr 30 bis 12 Uhr 50, nicht jetzt.

»Was macht die Vorbereitung auf die Olympiade?«, stieg Yu direkt ein.

»Ehrliche Antwort. Wir treten mehr oder weniger auf der Stelle.«

»Was ist das Problem?«

»Es sind die Trainingsdaten. Und der Code. Wie gehabt.«

»Ich brauche dir nicht zu sagen, dass Mitte April die ersten Ziele für die Modelle ausgegeben werden. Wir reden hier von knapp drei Monaten. Dann ist Startschuss!«

Ada blickte Yu an. Es war wahrlich keine neue Information für sie, dass die nächste Runde im globalen Wettkampf um die Berechnung von Proteinfaltungen bald eröffnet wurde. Alle zwei Jahre das gleiche Spiel. Alle zwei Jahre die gleiche Hetze, der gleiche Ablauf. Und der Druck stieg von Wettkampf zu Wettkampf. Vor sechs Jahren hatte Ada für AI-X einen riesigen Durchbruch geschafft, kurz nachdem sie zum Unternehmen gekommen war. Yu selbst hatte sie damals zu AI-X geholt.

»Ada, wir müssen diesmal mehr bringen! Wir können nicht einfach unser Ergebnis halten. Wir brauchen einen echten Schritt nach vorne. Einen Durchbruch wie damals! Ich will, dass es knallt, und ich will, dass die ganze Welt diesen Knall hört. Ich will, dass die Reagenzgläser im Dezember heulend in die Economy Class ihrer verseuchten Linienflüge steigen und für zwanzig Dollar Tomatensaft aus Plastikbecher schlürfen. Verstehen wir uns?«

»Wir landen ziemlich konstant bei einer Genauigkeit von 92,4 Prozent. Mal mehr, mal weniger. Wir sind mit Abstand die Nummer eins«, warf Ada ungewollt genervt ein.

Yu zog ihre rechte Augenbraue in einen strafenden rechten Winkel.

»Ada, was soll das? Das reicht nicht, das weiß du genauso wie ich! Niemand interessiert sich in diesem Feld für die Nummer eins.«

Ada blickte durch das Panoramafenster in den grauen Himmel.

»Es geht hier nicht um Rankings«, setze Yu fort. »Sondern um den finalen Durchbruch. Um die Geschichtsbücher, Ada. Wir sind so nah dran! Und das Feld ist doch erbärmlich. Seien wir ehrlich. Es geht nur darum, dass wir die Proteine endlich knacken! Volle Voraussage. 100, nicht 92,4 Prozent! Zack, und die Proteine sind entschlüsselt.«

Sie knallte mit der Handfläche auf das Plexiglas. Adas Blick fiel auf Yus unnatürlich straffe Haut über dem hohen Jochbein.

»Dann sind wir nicht nur noch reicher, wir können uns auch das dämliche Botox ein für alle Mal sparen.«

Yu setzte sich wieder hin.

Langsam durch die Nase einatmen, dachte Ada, nicht provozieren lassen.

»Wir sind weit, Yu. Sehr weit sogar. Sag du mir, wie wir den letzten Sprung schaffen können.«

Ada verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kann ich nicht. Das ist dein Job. Du leitest das Programm.«

»Auf dem jetzigen Weg können wir nur kleine Optimierungen schaffen, fürchte ich.«

Ada hörte, wie ihre Stimme vibrierte. Kraftvoller setzte sie nach:

»Wir müssen noch einmal grundsätzlich neu denken. Wir haben viel zu wenig echte Daten.«

Sie schaute an die Decke.

»Ich weiß, ich erzähle dir nichts Neues, aber wir stehen immer an der gleichen Front. Der beste Algorithmus bringt nichts, wenn die Daten nichts taugen.«

Sie suchte Yus Augen, deren Blick aber auf ihr Handy gerichtet war.

»Reale Daten aus echten Zellen von echten Menschen und maximale Rechenkapazität. Dann vielleicht. Aber so? Am Algorithmus, das kann ich dir versprechen, wird unser Projekt nicht scheitern.«

Yu blickte von ihrem Handy auf und sah Ada mit ihren ungewöhnlich dunklen Augen durchdringend an.

»Und der Q2.9? Wie kommt ihr mit dem zurecht?«, spielte Yu auf den neuesten Quantencomputer an, den AI-X für die eigene Forschung entwickelt hatte. Es war eine der schnellsten Rechenmaschinen der Welt, übertraf die meisten anderen Computer um Längen. Und es gab nur ein Exemplar.

»Der ist schnell, keine Frage. Aber auch er stößt mit unseren reduzierten synthetischen Daten schnell an seine Grenzen. Wenn wir beispielsweise Wechselwirkungen einer Proteinfaltung auf andere Proteine berechnen, kann es vorkommen, dass wir Wochen auf das Ergebnis warten. Und selbst dann ist das Ergebnis noch unterkomplex. Da nützt auch die schlaueste Messenger-RNA nichts.«

»Verstehe«, murmelte Yu abwesend.

Ihr Blick war wieder auf ihr Smartphone gerichtet, wo sie offensichtlich eine längere Nachricht las.

Nichts verstehst du, dachte Ada. Eigentlich wusste sie, dass Yu keine Ahnung von den molekularbiologischen Details ihrer Forschung hatte. Sie schimpfte innerlich, dass sie nicht mehr Selbstvertrauen ihr gegenüber hatte. Schließlich war sie die Expertin auf diesem Gebiet, nicht Yu.

»Okay. War’s das?«, fragte Yu nach einer Pause, vom Handy aufblickend.

»Von meiner Seite aus schon. Wenn du nichts mehr hast?«

»Nein. Wir sind fertig.«

Es hätte nur gefehlt, dass Yu sie wie einen lästigen Diener aus dem Zimmer gewunken hätte.

Ada erhob sich geräuschlos aus ihrem Stuhl und ging zur Tür. Auch Yu stand aus ihrem dunkelroten Lederstuhl auf.

»Ada, ich sehe, was du tust«, sagte sie mit fester Stimme und blickte ihr herausfordernd in die Augen. Sie zog die Mundwinkel in die glatten Wangen und presste die Lippen zusammen, das rechte Auge kniff sie zu einem Schlitz.

Vergeblich bemühte sich Ada, die Einschüchterung zu ignorieren, und schloss hinter sich die Tür mit einem trotzigen Ruck. Eiligen Schrittes ging sie vorbei an einer gläsernen Front, hinter der gut und gerne zwanzig Mitarbeiter gebeugt vor ihren Rechnern saßen. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr war das Büro der Vorstandsebene besetzt. Jederzeit konnte der Vorstand auf sie zurückgreifen. Es gab nichts, was dieses Büro nicht hätte organisieren können: einen Abstecher in den Amazonas, eine Mediation in der Wüste, eine Audienz beim Papst oder einen frischen Botox-Shot.

Zurück in ihrem Büro versank Ada in ihrem Sofa.

»Ich will nicht gestört werden«, rief sie Helen zu, wissend, dass noch mehrere Termine anstanden.

Ihr Tonfall ließ jedoch keinen Zweifel an der Ansage aufkommen, sodass eine Nachfrage ihrer Assistentin ausblieb und sie unmittelbar begann, die anstehenden Termine zu verschieben.

»Aber ein Kaffee wäre schön«, rief sie hinterher.

Sie hörte, wie Helen pausierte, dann sich aufmachte, um einen Kaffee ohne Milch und Zucker vorzubereiten.

Ada klappte ihren Laptop auf. Puls 147 – Ruhephase beachten – Atmung kontrollieren, sendete Adam auf den Schirm.

Doch ihr stand nicht der Kopf nach Atemübungen. Sie ignorierte Adams Anweisungen. Gleich wird er mir auch den Kaffee vorwerfen, dachte sie böse.

Sie öffnete ihren Mail-Account. Das Abarbeiten von E-Mails half ihr gewöhnlich, wieder Ruhe zu finden. »Anfrage Keynote: Künstliche Intelligenz und die Zukunft der Menschheit; Berlin, 20. April«, lautete der Betreff der ersten Mail.

Sehr geehrte Frau Dr. MacAllan, wir wollen Sie gerne an unsere Anfragen vom Dezember und vom Anfang Januar erinnern und einmal mehr nachfragen, ob Sie den Eröffnungsvortrag auf unserer Konferenz halten möchten. Wir erwarten über 2.500 Teilnehmer und streamen das Ereignis in die ganze Welt per OmegaTranslate.

An die früheren Anfragen konnte Ada sich nicht erinnern.

Wir behandeln die Fortschritte bei Methoden Künstlicher Intelligenz, insbesondere beim maschinellen Lernen künstlicher neuronaler Netze in der Biochemie. Wir würden gerne mehr von Ihren Erfolgen in der Molekularbiologie und Ihren weiteren Plänen erfahren. Natürlich sind wir sehr gespannt auf mögliche neue Fortschritte mit Blick auf den nächsten CASP, den globalen Wettbewerb um die Vorhersage von Proteinfaltungen.

Ada schüttelte den Kopf und verfasste eine einsilbige Antwort:

Danke für die Anfrage. Leider ist aus Zeitgründen eine Teilnahme nicht möglich. /AM.

Ihren Kalender hatte sie gar nicht erst konsultiert. Ich kann ja schlecht über unseren Stillstand reden, dachte sie und schaute nach, wer die Konferenz organisierte. Bundesministerium für Bildung und Forschung und Bundesministerium für Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland. Eine Anfrage, die sie normalerweise gerne angenommen hätte. Aber was hätte sie denen erzählen sollen? »Leider kommen wir nicht weiter. AI-X tritt auf der Stelle, weil wir keine Daten haben. Die große Ankündigung im letzten Jahr, das Altern aufzuhalten, war leider nur ein Marketing-Gag.«

Sie öffnete die nächste E-Mail. Es war der Newsletter des VIT Technology Review, einem führenden Institut, das die digitalen Neuerungen unter die Lupe nahm. Durchaus mit Sachverstand. Mit dem Virtual Institute of Technology war Ada schon häufiger in Kontakt gewesen. Vor allem respektierte sie deren Gründer, den Amerikaner Jack Wurm mit Schweizer Wurzeln, der seine Milliarden aus dem Tech-Hype durchaus sinnvoll einsetzte, wie sie meinte. Er gehörte zu denjenigen, die seit Jahren warnten, dass aus schwacher Künstlicher Intelligenz am Ende starke, übermenschliche Intelligenz entstehen könnte. Ada teilte diese Ansicht, denn das Rechenergebnis eines Algorithmus konnte die Macht haben, die Welt grundlegend zu verändern. Mochte die Berechnungsmethode noch so einfach sein.

»Die fünf größten KI-Durchbrüche der letzten zehn Jahre« stand im Betreff.

Ada scrollte schnell die Mail durch. »Hier! Okay, Platz zwei. Nicht übel. ›Vorhersage von Proteinstrukturen mittels künstlicher neuronaler Netze – AI-X‹.« Sie las flüsternd, saugte die Buchstaben auf. Immerhin befand sie sich in der Bestenliste. Begründet wurde der zweite Platz damit, dass die Fortschritte in der Molekularbiologie zwar noch nicht das Rätsel der Proteine lösen, aber die Medizintechnik früher oder später revolutionieren könnten. »Maßgeschneiderte Medikamente für jedermann … mRNA«, las sie weiter. »Die Maschine der Biologie ist aus Proteinen … Proteine – das Origami der Zelle … Kann man ihre Faltung voraussagen, kann man sie manipulieren. Die Proteindetektive von AI-X sind der Lösung auf der Spur, sie sind ganz nah dran.«

Sie lachte kurz auf.

»Wie Perlen auf einer Perlenkette falten sich Proteine zu dreidimensionalen Strukturen. Erst in ihrer dreidimensionalen Form entfalten sie ihre Funktion im Organismus. Verklumpen Proteine bei der Faltung, kommt es zu schwerwiegenden Folgen, wie neurodegenerativen Krankheiten, wie Alzheimer.«

Ada übersprang den nächsten Absatz, schließlich kannte sie die Details ihrer eigenen Forschung in- und auswendig.

»Der Durchbruch bei der Proteinfaltung ist potenziell die größte, wohl aber auch die gefährlichste Anwendung von KI, die die Menschheit je sehen wird. Noch steht der finale Durchbruch aus, aber die Fortschritte der letzten zehn Jahre sind beeindruckend. Dafür Platz zwei für AI-X unter der Leitung von Dr. Ada MacAllan.«

Sie lächelte zufrieden.

Es waren Ada MacAllan und ihr anfangs noch kleines Team gewesen, die die globale Grundlagenforschung in der Biochemie aus dem Nichts überrannt hatten. Eine Handvoll talentierter Programmierer und Biochemiker, einer der damals schnellsten Computer der Welt, ausreichend starker Kaffee, wenig Schlaf und freie Hand hatten ausgereicht, um ein Forschungsfeld innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf zu stellen. Ein Feld, das sich sechs Jahrzehnte mehr oder weniger auf der Stelle bewegt hatte. Globale Sensation, biochemischer Urknall waren die Reaktionen der Fachpresse auf den Erfolg von AI-X. Ein Konzern, dessen Kernkompetenz Künstliche Intelligenz war, triumphierte in einem Feld, das bislang der globalen Pharmaindustrie und der Grundlagenforschung vorbehalten war. Das war tatsächlich ein Riesenerfolg. Und Ada war die Werkmeisterin hinter diesem Coup.

Soll man aufhören, wenn es am schönsten ist, überlegte sie, stand auf und ging zum Fenster. Sie spürte das morgendliche Intervall-Training in den Oberschenkeln. Als Zweiter aus dem Rennen auszusteigen, ist keine Schande.

Ein weißes Fährboot legte gerade am Kai an, die blau-gelbe Fahne Schwedens wehte sanft auf dem Bug der Fähre und fügte sich in die Farbe des Wassers und des klaren Himmels. Sie sehnte sich nach ihrem Segelboot, das in Bullandö lag, einem kleinen Jachthafen in der Nähe Stockholms. Allerdings im Trockendock, schließlich waren es noch mehrere Monate bis zur Segelsaison.

Zurück am Schreibtisch las sie die E-Mail weiter. Auf Platz eins der Bestenliste war Yus OmegaSpeech-System. Ada stöhnte. Sie überflog die Begründung.

»Der Durchbruch bei der natürlichen Spracherkennung ist der Sieger des Jahrzehnts. Die Imitation von Sinn und Bedeutung der Sprache war die Uraufgabe der Künstlichen Intelligenz. In der Mitte des letzten Jahrhunderts hat Alan Turing das schon treffend beschrieben. Mehr als 70 Jahre später ist das Ziel endlich erreicht! Buchstaben sind Zeichen. Haben die Ägypter einen Tisch noch als Tisch gezeichnet, sind unsere Buchstaben kleinste sinnentleerte Einheiten, die erst in der Zusammensetzung in unserem Gehirn Sinn ergeben. Den Sinn der Sprache mittels Künstlicher Intelligenz zu knacken, ist unbestritten das Weltwunder unserer Zeit. Die KI versteht unsere Sprache. Die KI spricht unsere Sprache – häufig besser als wir selbst. OmegaSpeech hat den Code unserer Sprache geknackt. Platz eins geht unangefochten an OmegaSpeech von Dr. Yu Zhang, heute Vorstand bei AI-X. Epochal.«

»Epochal«, wiederholte Ada, widerwillig anerkennend, »tatsächlich kein Zweifel.«

Sie löschte die E-Mail aus ihrem Account.

»Aber was ist schon Intelligenz?«, fragte sie ihren Rechner mit so lauter Stimme, dass sie kurz zur Tür blicken musste, ob diese auch verschlossen war. Helen sollte nicht denken, sie habe vollends den Verstand verloren.

»Du siehst mich, Yu? Du siehst nur die Oberfläche!«, zischte sie kämpferisch durch ihre Zähne, öffnete ihren Algorithmus und fing an zu programmieren.

»Hallo!«, rief Ada betont fröhlich, als sie durch die Wohnungstür in den Flur trat.

Keine Reaktion.

Sie zog ihre Schuhe aus und steckte sie umgehend in die Schuhspanner. Dann klopfte sie kurz an Iris’ Zimmertür und wartete.

Keine Reaktion.

»Iris«, rief sie laut.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und lugte hinein. Ihre Tochter lag auf dem Bett. Mit den übergroßen Kopfhörern, die sie ihrem Vater abgerungen hatte, sah sie aus wie eine Astronautin. Die rechte Hörmuschel zog sie bis an die Grenze des Mundes, fast über die Lippen. Dorthin, wo die Flechte endete, die ihr Gesicht auf der rechten unteren Hälfte vom Wangenknochen bis zum Kinn und hoch zum Mund bedeckte. Angeboren, wie ein Muttermal, leuchtete sie dunkelrot in ihrem Gesicht.

»Wie ein verdammter Krake!«, hatte Iris völlig aufgelöst geschrien, als sie das letzte Mal darüber geredet hatten.

»Unsinn!«, hatte Ada dagegengehalten, aber sie musste insgeheim zugestehen, dass die Flechte auf die helle Haut weitverzweigt ausgriff, nicht unähnlich einem gründlich missratenen Gesichtstattoo.

Reflexhaft berührte sie sich an der Wange. Ihre eigene Flechte war zum Glück viel dezenter.

Ada winkte wild mit den Armen, bis Iris endlich Kenntnis von ihr nahm.

»Ja?«, sagte Iris mit einem skeptischen Lächeln und zog die Kopfhörer ab.

Ihre Stimme war rau und brüchig, sodass sie sich kurz räusperte.

»Wie war dein Tag?«, fragte Ada, wohl wissend, dass sie darauf kaum eine Antwort von ihrer Tochter zu erwarten hatte.

»Gut.«

»Ich habe uns Hühnerbrust mitgebracht. Willst du Vollkornnudeln oder Reis dazu?«

»Ich hab’ keinen Hunger. Mach das, was dir am liebsten ist«, erwiderte Iris abwehrend.

»Okay, der Hunger kommt beim Essen. Ich geh mal in die Küche und werfe den Herd an.«

Ada ging in die Küche, schaltete das Radio ein und verfluchte schon beim ersten Ton den Sender. Kurze Popsongs verschwommen zu einem Klangbrei, gemischt mit Stimmen, die nur hauchten und stöhnten, mit seichten Beats und der notwendigen Kürze, um die Bezahlschranke beim Streaming zu überschreiten. Iris liebte ihn.

»Digitaler Plastikmüll«, schimpfte sie leise.

Schnell drückte sie ihren Lieblingssender rein. Zumindest hatte der noch Speicherplatz Nummer eins. Den würde sie verteidigen! Schon beim ersten Ton erkannte sie entzückt das Lied und drehte die Lautstärke hoch.

Ehrfürchtig sang sie leise mit und bewegte den Oberkörper in den Wellen der Töne. Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie schloss die Augen und ließ die sirenenhafte Gitarre Joey Santiagos in sich eindringen, bis Kim Deal das Ende des Liedes elfenartig aushauchte.

Das spritzende Öl für die Hähnchenbrust holte sie zurück. Sie rief Iris zum Tischdecken.

»Wie war eigentlich die Matheklausur?«, fragte Ada, als ihre Tochter das Esszimmer betrat.

»Ganz okay, glaube ich.«

»Ich habe mich für die Nudeln entschieden«, sagte Ada mit Nachdruck, als sie sah, dass Iris keine Anstalten machte, sich zu bedienen, sodass Ada ihr eine Portion auftat.

»Nicht zu übersehen.«

Ada aß wie immer konzentriert. Sie kaute wie eine Maschine, hielt sich strikt daran, jeden Bissen so oft wie möglich, am besten dreißig Mal zu kauen. Dabei knackte ihr Kiefer leise, aber unüberhörbar in der Stille des Essens. Iris schob das Essen auf ihrem Teller hin und her.

»Ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Du musst etwas essen, Iris«, protestierte Ada und sah ihre Tochter mit einem strengen Blick an. »Ich will nicht jeden Tag über das Essen mit dir streiten. Jetzt mach schon!«

»Ich will aber nicht! Mir schmeckt das nicht.«

»Natürlich schmeckt dir das! Du bist doch kein kleines Kind mehr. Oder willst du, dass ich den Flieger spiele?«

Sie grinste scherzhaft und hob ihre Gabel in die Luft mit Kurs auf den Mund von Iris.

Iris verdrehte die Augen.

»Also gut. Ich stelle deinen Teller neben den Kühlschrank. Vielleicht bekommst du ja später Hunger. Das musst du nicht mal aufwärmen, es schmeckt auch kalt«, sagte Ada mit versöhnlicher Stimme. »Oder willst du vielleicht etwas anderes? Ich kann dir schnell eine Pizza bestellen.«

»Nein, lass mal.«

Ada musterte ihre Tochter, die ihr unter dem Licht der Esszimmerlampe auf einmal sehr bleich, beinahe transparent vorkam.

»Bist du krank? Du siehst ein bisschen blass aus«, untertrieb Ada.

Iris Augenhöhlen waren tief und von einem dunklen Schatten umgeben. Von der blassen, dünnen Winterhaut ihres Gesichts setzte sich die dunkelrote Flechte deutlicher ab als sonst. Überhaupt fiel ihr auf, dass das Jochbein betont hervorstach und ihrer Tochter einen fast porzellanhaften Zug verlieh, den sie so noch nicht wahrgenommen hatte. Im schwachen Lichtkegel, den die Lampe von oben auf Iris warf, sah sie aus wie eines jener Heroinmodels, die das Magersein zum Schönheitsideal ikonisierten.

»Sag mal, wo hast du denn gelernt, deine Konturen so geschickt zu betonen? Das sieht ja toll aus«, versuchte Ada, Iris in ein Gespräch zu locken.

»Internet«, konterte Iris gereizt.

»Schon klar. Wo genau? Ich würde mir das auch gerne mal anschauen. Könnte mir vielleicht auch nicht schaden, ein bisschen Konturen-Tuning, oder was meinst du?«, ließ Ada nicht locker.

Iris blickte auf und scannte lustlos das Gesicht ihrer Mutter.

»Ich schick dir den Link«, sagte sie und nahm ihren unberührten Teller. »Ich habe noch ein paar Sachen für morgen zu tun.«

Sie stand auf und verschwand mit dem Teller in der Küche.

»Willst du vielleicht später mit zum Training kommen?«, rief ihr Ada hinterher. »Eine Stunde Cycling steht auf dem Trainingsplan.«

»Lieber nicht«, rief Iris zurück.

»Ich leihe dir das Oberteil, das du so cool findest.«

»Wie gesagt. Ich habe noch zu tun.«

Iris zog die Tür deutlich hörbar hinter sich zu.

Ada saß am Tisch und blickte auf die Wand, an der ein Bild von einem alten Greis hing, dessen Gesichtszüge völlig entgleist waren und zu einer wahnsinnigen Grimasse verzerrten. Sie mochte das Bild, es war eines der wenigen Gemälde, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Sie dachte oft, dass genau dieser Wahnsinn nicht nur das Ergebnis eines langen Lebens sein konnte oder sogar sein musste, sondern dass dieser Wahnsinn hinter jeder glatten Fassade lauerte und nur mittels sehr viel Selbstkontrolle, Schminke und Uniformen versteckt werden konnte. Jederzeit drohte er, durchzubrechen. Früher oder später, in welcher Form auch immer.

14. OKTOBER 1920

Allan MacAllan lief schnaufend durch die Flure, wild fuchtelnd mit ein paar Skizzen in seiner Hand. In der anderen Hand hielt er eine Zigarette, deren Asche er unvorsichtig auf den Boden schnippte.

»Herrgott, wo ist denn Hobby!«, schnauzte er eine Mitarbeiterin an, die ihm zufällig auf dem Flur des Hochhauses begegnete. »Weiß das hier jemand?«, rief er durch die Rauchwolke in den Flur und stapfte fluchend weiter, nicht einmal die Antwort abwartend, die von der jungen Frau hätte kommen können.

»Es ist nicht zum Aushalten! Sauhaufen!«

Hobbys Bürotür stand einen Spaltbreit offen. Aber auch, wenn sie geschlossen gewesen wäre, hätte es Allan MacAllan nicht davon abgehalten, ohne anzuklopfen in das Büro seines Chefarchitekten einzutreten. Das Gebäude war der Stammsitz der Tunnel Inc., und er war schließlich der Chef.

»Hobby, da bist du ja! Warum …«

Er verstummte, als er Maud erblickte. Sie saß auf der Besucherseite von Hobbys massivem Holzschreibtisch, die schlanken Beine übereinandergeschlagen, eine lange, schwarze Zigarettenspitze in der Hand, aus deren Ende es qualmte.

»Allan!«, rief Hobby überdreht. »Maud und ich haben gerade von dir geredet. Wenn man vom Teufel spricht!«

Hobby zeigte sein jugendliches Lächeln.

»Nur Gutes, will ich meinen«, reagierte Allan, musterte den Raum und richtete sich an seine Frau. »Darling, ich wusste gar nicht, dass du heute in der City bist.«

Er ging auf sie zu und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

»Es stimmt. Eigentlich wollte ich mit Edith zum Reiten fahren. Aber Edith wollte lieber mit Georgina auf den Hof, und da hatte ich plötzlich frei.«

Sie lächelte hektisch.

Allan war immer noch verärgert, dass Hobby nicht ans Telefon gegangen war. Er ging zum Fenster und zündete sich eine neue Zigarette an. Der Blick aus dem 57. Stockwerk war immer wieder aufs Neue überwältigend. Ganz Manhattan lag ihm zu Füßen, auf dem Broadway bewegten sich die Menschen wie graue Ameisen auf und ab, nur ganz leise hörte man die Geräusche der klobigen Automobile, die in Zeitlupe am Boden entlang zu kriechen schienen.

Hobby saß, elegant wie immer, in einem hellen Anzug mit Weste auf seinem Ledersessel. Wie fast jeden Morgen war er vor der Arbeit beim Barbier gewesen, der ihn perfekt rasiert, seine blonden Locken zurechtgestutzt und ihn mit einem kräftigen Aftershave parfümiert hatte, das den härtesten Bürotag mit unzähligen Zigaretten und Whiskeys spielend überstand.

»Wir haben ein Problem«, kam Allan ohne weitere Umschweife zur Sache und schaute Hobby tief in die blauen Augen.

»Nur eins?«, scherzte der umgehend zurück.

»Gut, gut. Ich merke, dass ich hier nur störe«, sagte Maud flink, stand auf und strich mit ihren Händen das enge, rote Kleid glatt. »Auf Wiedersehen, die Herren!«

Sie winkte mit einer Hand, ohne sich noch einmal umzudrehen. Allan ging hinter ihr zur Tür und zog sie zu.

»Wir hatten am Samstag wieder massive Nachbrüche, nicht nur am Bohr. Du bist davon in Kenntnis, nehme ich an«, bedrängte Allan seinen Architekten. »Wieder sind Arbeiter ums Leben gekommen. Dreizehn an der Zahl! Siebenundzwanzig sind verletzt, zum Teil schwer. Wir müssen das unter Kontrolle bekommen, Hobby!«

Hobby richtete sich auf und kramte eine Zeichnung unter einem Stapel großformatiger Blätter hervor. Mit feinem Bleistift waren die Maße der Kalotte und des Firsts des Tunnels gezeichnet, darunter befanden sich eine Reihe von Berechnungen. Er massierte sein markantes Kinn, sodass das Grübchen mal kleiner, mal größer wurde.

»Meine Berechnungen stimmen, Allan. Wir haben standfestes Gebirge. Zumindest liegen mir keine anderweitigen geologischen Proben vor. Ist das schon im Richtstollen passiert oder beim Nachbrechen?«, fragte er konzentriert.

»Sowohl als auch. Und zwar nicht nur beim Vortrieb. Die letzten zweihundertfünfzig Meter sind betroffen.«

»Nicht gut. Das ist nicht gut«, murmelte Hobby und studierte seine Zeichnung.

»Ich habe neue Karten. Hier schau dir die mal an.«

Allan rollte drei Zeichnungen auf Hobbys Schreibtisch aus, die sie eine Weile betrachteten. Hobby flüsterte unverständlich vor sich hin.

Allan ging zum gläsernen Servierwagen und schenkte sich einen Schluck Bourbon ein. Er setzte sich auf die Fensterbank und schaute in den grau verhangenen Himmel über New York. Hobby hob die Blätter an, fluchte leise, bis er endlich den Rechenschieber fand, der unter einem Papierstapel versteckt war.

»Wollen mal seh’n.«

Er fing an zu kalkulieren.

»Das hier sind die aktuellen Aufschlussbohrungen?«, fragte er, ohne aufzublicken.

»Ja«, antwortete Allan kurz, nachdem er geprüft hatte, dass Hobby auf das richtige Blatt schaute.

»Materialkennwert, so so … Druckmessung, Gewölbewinkel unverändert, gut.«

Er notierte einige Zahlen seiner Kalkulationen, dann überprüfte er die Zahlen mit den Zahlen der letzten Berechnungen.

»Ich kann keine Veränderung feststellen. Zumindest nicht anhand der paar Daten hier.«

Er drehte sich zu Allan, der mit verärgertem Gesichtsausdruck immer noch aus dem Fenster schaute.

»Das habe ich mir fast gedacht. Meine Vermutung ist, dass wir es mit einer anderen Geomechanik zu tun bekommen. Die Tiefe, der Druck, stärkere Bewegungen.«

»Gut möglich. Der Gesteinswert ist leicht verändert. Aber nicht so, dass wir von Nachbrüchen ausgehen müssten. Wir können fürs Erste noch mehr absichern. Aber mit Holz kommen wir nicht mehr weit«, überlegte Hobby laut. »Zu heiß da unten. Auch mit dem Hartholz ist das Brandrisiko zu hoch.«

»Verdammte Hölle!«, fluchte Allan. »Verdammte Gluthölle!«

»Stahlgerüste funktionieren doch«, versuchte Hobby ihn zu beschwichtigen.

»Aber die sind teuer und schwer. Und was uns das an Zeit kosten wird!«

Allan nahm einen großen Schluck vom Bourbon und schaute wieder nachdenklich aus dem Fenster.

»Aber wir können die armen Teufel ja nicht ohne Absicherung da runterschicken.«

Hobby stand aus seinem Stuhl auf und ging ebenfalls zum Servierwagen, um sich einen Drink einzuschenken.

»Sehe ich anders.«

Allan schaute ihn an.

»Die Messwerte sind mehr oder weniger konstant. Das zwingt uns noch nicht zu handeln.«

»Hobby! Jetzt hör aber auf! Wir können doch nicht so tun, als ob alles nach Plan läuft«, protestierte Allan. »Die Tunnelmänner verrecken da unten.«

»Ich sag ja auch nicht, dass wir nichts tun sollen. Ich will darauf hinaus, dass wir mehr Zeit brauchen. Wir müssen mehr Proben nehmen, den Druck messen, die Statik. Erst wenn wir neue Daten haben, wissen wir, ob wir mehr absichern müssen.«

Allans Blick wurde von einem plötzlichen Sonnenstrahl angezogen, der sich durch die Wolkendecke brach und in den stählernen Hängeseilen der Brooklyn Bridge funkelte. Was für ein Meisterwerk, dachte er. Fast außerirdisch. Dann wandte er sich wieder an Hobby.

»Das kann Wochen oder Monate dauern, Hobby. Wir spielen hier auf Zeit, ist mein Gefühl. Bislang hatten wir vielleicht einfach nur verdammtes Glück!«

Hobby lachte selbstsicher.

»Glück, mein lieber Allan, Glück ist heute kalkulierbar«, konterte er, hob den Rechenschieber in die Luft, das schmale Holzstück, aus dem der weiße Mittellauf herausragte, und warf ihn demonstrativ in den Papierkorb rechts neben seinem Schreibtisch. »Genau deswegen haben wir ja die Tabelliermaschine gekauft. Um eben nicht auf unser Glück warten zu müssen. Wir füttern sie mit den Messdaten, und dann werden wir schon sehen, wo das Problem liegt.«

Hobby klatschte schallend in die Hände.

Tatsächlich hatte Hobby vor Kurzem Allan und die Investoren davon überzeugen können, eine der sündhaft teuren Tabelliermaschinen für die Tunnel Inc. anzuschaffen. Sie war das neueste Modell der Tabulating Machine Company und konnte eine Vielzahl von Daten erfassen, sortieren und auswerten. Sie konnte Querverbindungen herstellen, auf die Allan nie gekommen wäre, auf die Hobby nie gekommen wäre, auf die man als Mensch nicht kommen würde. Vor allem dann nicht, wenn man immer nur einen Ausschnitt der Daten betrachtete. Allan fand die Maschine faszinierend, sträubte sich aber, ihr zur vertrauen. Hobby hatte jedoch so eindringlich auf ihn eingeredet, dass er das Geld für die Anschaffung am Ende bewilligte. Nur mit dieser Rechenmaschine, hatte Hobby ihm eingetrichtert, könne man mit Sicherheit berechnen, wo man bohren sollte und wo besser nicht.

Das Prinzip der Maschine war im Grunde einfach: Sie funktionierte auf der Basis von Lochkarten. Hobby hatte erklärt, dass auf diesen gelochten Karten aus Karton Informationen gespeichert wurden. Jedes Loch war eine Information. Die Tabelliermaschine könne viel mehr Daten auf einmal auswerten als die beste menschliche Rechenabteilung. Sie würde den Bau nicht nur schneller und sicherer machen, sondern auch noch dabei helfen, Geld zu sparen. Schließlich bräuchte man die Horden von Menschen nicht mehr, die bislang alles von Hand gerechnet hatten und letztlich doch keine guten Lösungen präsentierten.

»Hauptsache, wir finden eine Lösung«, erwiderte Allan. »Uns läuft die Zeit davon.«

Er stand auf und stellte sein leeres Glas auf die Fensterbank.

»Zu viele Tote sind nicht gut, Hobby. Es spricht sich rum. Dann können wir gleich dicht machen.«

Er räusperte sich.

»Also drück aufs Tempo!«

Allan verließ schnellen Schrittes das Büro.

Ada wurde von Adam aus ihren Gedanken zurückgeholt. Obwohl das Biosystem wiederholt versuchte, sie auf die anstehende Trainingseinheit aufmerksam zu machen, stand sie auf und ging zum Zimmer ihrer Tochter. Das Parkett des langen Flurs der großen Altbauwohnung knarzte sanft. Sie klopfte, wartete aber nicht ein Herein ab, sondern öffnete rasch die Tür und betrat den Raum. Iris lag wieder auf ihrem Bett, die Kopfhörer tief ins Gesicht gezogen.

»Huhu! Ich dachte, du musst lernen«, rief Ada halb scherzhaft, halb verärgert. »Zeig mir bitte, was für morgen ansteht. Ich will mir das mal ansehen.«

Ihr Familientherapeut hatte sie ermahnt, ihre Rolle als Mutter konsequenter wahrzunehmen. Es reiche nicht aus, ab und an zu belohnen oder zu bestärken. Sie müsse sichtbares Vorbild sein. Dazu aber müsse sie häufiger anwesend sein. Dabei sein. Seine eindringlichen Worte gingen Ada nicht mehr aus dem Kopf.

»Also jetzt mach schon! Zeig mal her, was du für morgen machen musst«, mahnte sie, das Training im Blick.

Aber Iris lümmelte weiter unbeteiligt auf dem Bett und ignorierte ihre Mutter.

»Ich werde gleich ernsthaft sauer, Fräulein!«, wurde Ada ungeduldig.

»Das ist dir doch sonst auch egal«, murmelte Iris und bewegte sich widerwillig aus der Komfortzone des Betts in Richtung Schreibtisch, der am Doppelfenster stand und von dem aus sie auf die Insel der Altstadt Stockholms blicken konnte.

»Das ist mir nicht egal. Jetzt nicht und sonst auch nicht«, protestierte Ada.

Schließlich war es schlicht nicht nötig, dass sie sich um Iris’ Schule kümmerte. Ihre Tochter war eine Top-Schülerin, wenn auch keine besonders enthusiastische.

Iris zeigte auf ihren Schreibtisch, auf dem drei Bücher und ihr Rechner lagen.

»Für morgen ist nur Bio, aber keine Klausur. Könnte sein, dass ich mit der Wiederholung drankomme.«

Ada setze sich an den Schreibtisch.

»Was nehmt ihr gerade durch?«, fragte sie neugierig.

»Kapitel 4 und 5.«

Ada starrte Iris auffordernd an.

»Zellenlehre.«

Das Biologiebuch sah gebraucht aus. Es war am Einband mehrfach mit durchsichtigem Klebeband geflickt worden. Ada blätterte bis zum vierten Kapitel durch.

»Dann verrat mir doch mal, was ist ein Organell?«

»Mama, bitte!«, zog Iris die Silben flehend in die Länge, um der Situation zu entfliehen.

Dann hob sie resigniert den Kopf und ließ ihn kraftlos in den Nacken fallen, sodass die Wirbelsäule knackte. Sie setzte sich an den Tisch.

»Organellen sind Zellteile, die besondere Funktionen haben.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, der Zellkern zum Beispiel. Der hat die wichtigste Funktion in einer Zelle.«

»Welche genau?«

»Er enthält Informationen, die der Zelle sagen, was zu tun ist. Zum Beispiel das genetische Material.«

»Nicht zum Beispiel, sondern vor allem! Die genetische Information steckt im Zellkern«, präzisierte Ada. »Wie heißen die Bausteine der Gene?«

»Chromosomen.«

»Ach komm, jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Das ist doch hoch spannend! Wie sehen die aus, die Chromosomen, und was passiert mit denen?«