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Sie glauben an ein Leben nach dem Tod? An ein ewiges Leben? Hoffentlich haben Sie sich diesen Wunsch gut überlegt, denn mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Bundesliga-Samstag im Paradies nicht stattfinden, und ob die himmlischen Pläne eine Versorgung mit Printmedien, Smartphones und Computern vorsehen, wissen allein die Götter. Martin Adamski, Protagonist dieses Buches, hat vom Paradies jedenfalls seine ureigene Vorstellung, die sich als wenig kompatibel mit den göttlichen Plänen erweist. Was Wunder also, dass er nach seiner unerwarteten Auferstehung in einem steinzeitlich anmutenden Garten Eden nicht vorhat, sich dankbar mit der Gnade eines ewigen Lebens zu bescheiden, sondern sich vom ersten Moment an auf Kollisionskurs mit den Himmlischen Heerscharen befindet. In seinem Kampf gegen die Art und Weise, wie die Ewigkeit für ihn ablaufen soll, wird Adamski gezwungen, sich noch einmal mit dem gesamten Spektrum menschlicher Emotionen auseinanderzusetzen und auf die großen Fragen des Lebens unter völlig veränderten Rahmenbedingungen neue Antworten zu finden.
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
Das Buch:
Obwohl sich so viele Menschen Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod machen, haben sich erstaunlicherweise die wenigsten je den Kopf darüber zerbrochen, wie sie denn nun sein wird, die Ewigkeit. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Paradies zwar identisch mit purer, ungetrübter Glückseligkeit - was aber, wenn diese Definition nur auf die Jenseitsträume nomadisierender Hirtenvölker der Bronzezeit zuträfe, nicht jedoch auf die eines Durchschnittsmenschen des 20. oder 21. Jahrhunderts?
Eine Auferstehung im Paradies lag für Martin Adamski, Held dieses Buches, jenseits aller Vorstellungskraft, war er doch Zeit seines leider sehr kurzen Lebens kein gläubiger Christ und weit von jeder frommen Lebensweise entfernt gewesen. Auf die Idee, sich das ewige Leben zu verdienen, wäre er nie gekommen. Als er sich nun am Ende aller Zeiten trotzdem ungefragt in einem sehr ländlichen Garten Eden wiederfindet, denkt er nicht im Traum daran, sich stillschweigend und reibungslos den göttlichen Plänen zu fügen. Von einem, der stets mit dem Kopf durch die Wand wollte und nun erkennen muss, dass das Leben keinen demokratischen Prinzipien mehr folgt, von Stunden stillen Glücks und einer verzweifelten Suche nach Antworten, von unerwarteten Verbündeten und tiefen Einsichten erzählt dieses Buch auf humorvolle Art und Weise.
Die Autorin:
Anne Ast, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Franken. Dies ist ihr erster Roman.
Anne Ast
Adamskis Paradies
Roman
www.tredition.de
© 2014 Anne Ast
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-8495-9929-4
Hardcover
978-3-8495-9930-0
e-Book
978-3-8495-9931-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meinen Bruder, der so lange mit dem Feuer spielt, bis alles brennt.
Für meinen Sohn, der jeden Brand mit einem Lächeln löscht.
Manchmal erwacht einer in einer fremden Welt und eine fremde Welt in ihm
Wagst du zu sagen ob deine Hölle sein Paradies ist
An dem Tag, der seine Welt auf den Kopf stellte, erwachte Martin Adamski aus einem langen, intensiven Traum zum Gesang einer Amsel. Er fühlte sich frisch und wunderbar ausgeschlafen - der Hereinbruch der Katastrophe lag zu diesem Zeitpunkt noch fünfundzwanzig Minuten in der Zukunft - verspürte aber nicht die geringste Lust schon aufzustehen: Ein Morgen, an dem ihn kein Wecker zur Arbeit rief, war Luxus und ein Zustand, den er zu verlängern beabsichtigte. Adamski räkelte sich wohlig und weigerte sich, die Augen zu öffnen. Alles in allem befand er sich in einem beinahe vollkommenen Glückszustand, den der erste Schritt auf den Bettvorleger unweigerlich zerstören würde. Weil er sich sowieso nicht an viele Träume erinnern konnte, wenn überhaupt, dann an solche, aus denen er nach wilden Verfolgungsjagden mit rasendem Puls hochschreckte, hielt er diesen einen, der sein Inneres schweben ließ und leicht wie eine Sommerwolke gewesen war, so gut fest, wie es eben ging. Das allerdings gelang ihm nicht sehr lange, denn als er wieder der Amsel lauschte, die wohl in der höchsten Spitze des Pflaumenbaums ihr Lied sang, und sich fragte, ob die Jungvögel im Nest an der Efeumauer bereits Federn hatten, in diesem Augenblick also war der Traum nicht mehr greifbar, schlagartig entschwunden, auch die letzten Fetzen, nur der selige Zustand wirkte fühlbar nach. Da waren es noch achtzehn Minuten.
Adamskis Hand suchte vergeblich nach Miranda, offensichtlich war sie bereits aufgestanden. Kurz bedauerte er, dass ihm der Traum vollständig entglitten war. Diesmal hätte sie tiefer in ihre Psychokiste greifen müssen, dachte er mit einem leisen Lächeln, wo sie es doch so liebte, jeder menschlichen Regung auf den Grund zu gehen und seine nächtlichen Spaziergänge ins Wunderland stets mit größter Ernsthaftigkeit interpretierte. Seine Sache war das gar nicht, aber er ließ sie gutmütig gewähren. Wurde es ihm allzu ernst, baute er für sie spontan ein paar ungeträumte Absonderlichkeiten in seine sowieso reichlich absonderlichen Träume ein, freute sich dann insgeheim, sie auf eine falsche Spur gelockt zu haben und weit mehr über ihre Entrüstung, wenn sie den Schalk in seinen Augen entdeckte und merkte, dass er sie wieder gründlich auf den Arm genommen hatte. Darin war er gut.
Es war wohl dem Traum geschuldet, dass der unfreiwillige Held unserer Geschichte die erste Merkwürdigkeit des neuen Tages nicht unmittelbar, sondern mit einer kleinen Verzögerung bemerkte: Mirandas Laken fühlte sich an wie Gras, was eigentlich nicht sein konnte. Adamski drehte sich auf den Rücken und streckte beide Arme aus, die Finger vorsichtig tastend, Gras links, rechts auch, das war nun gar nicht gut. Die Vorfreude auf das Sonntagsfrühstück wich umgehend dringlicheren Problemen, beispielsweise dem vergangenen Abend und in grober Näherung der Anzahl der geleerten Bierflaschen. An mehr als drei konnte er sich nicht erinnern. Das war kein Kater, diesen Zustand kannte er zur Genüge. Wo zum Teufel lag er hier? Adamski, 38 Jahre, verheiratet, kinderlos, Assistent am Lehrstuhl für nordeuropäische Geschichte und inzwischen hellwach, war ein sturer Hund. Schwächen gestand er sich höchst ungern ein und zeigen wollte er sie noch viel weniger. Dieses Problem würde sich durch Nachdenken lösen lassen, weshalb er, wie oft in seinem Leben, nicht das tat, was der gesunde Menschenverstand ihm eingeben wollte, sondern sich weiter schlafend stellte. Miranda schon am frühen Morgen mit der Frage „Wo bin ich und wie komme ich hierher“ zu amüsieren, war vorerst keine Option. So groß konnte der Blackout ja kaum sein, als dass er sich durch ein paar rekapitulierende Gedankengänge nicht aus der Welt schaffen ließe. Für Orientierungslosigkeit fühlte er sich zu jung und zu nüchtern. Die Augen blieben zu, die Finger tasteten Gras, die Ohren hörten Vogelzwitschern und Blätterrauschen, die Nase registrierte einen leichten Blumenduft, der Kopf bemühte sich, das alles unter einen Hut zu kriegen, das Schwert des Damokles baumelte an einem seidenen Fädchen über ihm und drohte in sechzehn Minuten zu fallen.
Vielleicht, so überlegte er weiter, irrte er in der Tageszeit. Genauso gut hätte er aus einem Mittagsschlaf im Garten erwachen können, einem von der Sorte, für die man dreißig Minuten einplant, die jedoch manchmal ein Eigenleben entwickeln und einen Stunden später völlig gerädert aus dem Reich der Träume entlassen. Er dachte wieder an die Amsel, die nur morgens und abends sang, was bedeuten würde, dass er den ganzen Tag verschlafen hatte - du liebe Güte. Adamski hielt die Augen geschlossen. Nein, das war es ebenso wenig, er fühlte sich topfit, eine Siesta, aus der man bleischwer erwachte, ließ sich ausschließen. Außerdem wollte Viktor heute Nachmittag auf einen Kaffee vorbeischauen, das sprach gleichfalls gegen den Abend, Miranda hätte ihn mit Sicherheit rechtzeitig geweckt.
Offensichtlich gab es da gewisse Erinnerungslücken. Gestern, am Samstag, hatten sie bis spät in der Nacht bei Heiner gefeiert und waren anschließend nach Hause gefahren, so viel wusste er noch. Den Rasenplatz konnte er sich allerdings kein bisschen erklären. Adamski, der seit Kindertagen ein begeisterter Spieler war, fand seine Situation vorläufig mehr amüsant denn beunruhigend und spielte deshalb in dem Wahn, nicht verlieren zu können, gerade „Wo bin ich“. Kein Grund also, die Augen zu öffnen, lediglich der Countdown lief unerbittlich weiter, es blieben vierzehn Minuten.
Die Lösung fiel ihm nicht ein, dafür ein Ausflug mit Viktor. Den hatte er überredet, mit ihm die Party eines Bekannten zu besuchen, und gehofft, der Neffe würde, den Führerschein damals erst seit drei Wochen in der Tasche, auf Alkohol verzichten und ihn am Schluss wieder nach Hause bringen. An Autofahren war jedoch nach Viktors viertem Glas Wein nicht mehr zu denken gewesen. Sie brachten, als sich die letzten Gäste verzogen, die Sitze in Viktors Wagen in Liegeposition, und der viele Alkohol bewirkte, dass sie trotzdem schliefen wie tot. Am nächsten Morgen riss sie der Anruf seiner großen Schwester, Mutter des besagten Teenagers, aus einem verkaterten Schlaf. Er hatte das Handy zwar nicht am Ohr, schloss aber von der verzweifelten Frage des Neffen mühelos auf die Frage der Schwester. „Keine Ahnung. Wart mal gerade. Martin? Wo genau bin ich?“ Adamski ließ die Erinnerung strahlen, im Nu war er damals hellwach gewesen, der Schalk war ihm mit Anlauf in den Nacken gesprungen. „Im Auto!“, hatte er geantwortet und der Neffe, weniger wach als er selbst, hatte ohne lange nachzudenken die Antwort an seine Mutter weitergegeben. An der Tatsache, dass Viktor dann das Handy etwas vom Ohr abhielt, erkannte er sofort den Erfolg seiner kleinen Bosheit. „Martin, wo genau steht das Auto?“
Große Schwestern waren gelegentlich, was Amerikaner als ‚Pain in the neck‘ zu bezeichnen pflegen, er hatte gleich zwei davon und damit Lebensumstände, die es beizeiten erforderten, sich zur Wehr zu setzen. Wie hätte er als Kind auch nur den Hauch einer Chance haben sollen, nicht bei diesem Altersunterschied. Adamski wurde als ungeplanter Nachzögling zu einem Zeitpunkt geboren, als Anja bereits siebzehn und Bine fünfzehn Lenze zählte, und er erkannte spätestens im Grundschulalter, dass Survival in seiner Familie besondere Strategien verlangte. Notgedrungen wuchs er an den Herausforderungen, und wer den Vergleich wagte, sah auf Anhieb, dass er es im Laufe seines Lebens zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte. Viktors vorwurfsvolle Zusammenfassung des Telefonats, dass nämlich Anja ihrer Entrüstung in einer bislang nicht dagewesenen Lautstärke Ausdruck verliehen hätte, verbuchte er deshalb mit absoluter Genugtuung. Sogar in diesem Augenblick ließ die Erinnerung daran ein warmes Gefühl von Erfolg in ihm aufsteigen, zumindest eine der uralten Rechnungen war beglichen. Den Neffen liebte er trotzdem abgöttisch. Die Amsel sang wieder und Adamski bemühte sich, seinen Kopf nun doch langsam eine Antwort auf die Frage finden zu lassen, wo ER sich befand. Der Film endete erneut beim dritten Glas Bier. Zeit zu schummeln, und die Uhr des Schicksals gab ihm eine Frist von zwölf Minuten.
Zunächst öffnete er die Augen nur einen winzigen Spalt, teils, um sie an das Sonnenlicht zu gewöhnen, teils um die Tarnung vor Miranda noch etwas aufrechtzuerhalten. Der Himmel über ihm erstrahlte in einem tiefen, wolkenlosen Blau, der Baum neben ihm war nicht der alte Pflaumenbaum und Adamski hätte den Kopf nicht drehen müssen, um sofort zu wissen, dass dies nicht sein Garten war. Er holte tief Luft. Ob dies ein Baum in Heiners Garten war, konnte er im Liegen und aus den Augenwinkeln heraus nicht entscheiden. Möglicherweise hatten sie ja doch gestern in Kronburg übernachtet, vielleicht waren den drei erinnerten Bieren etliche unerinnerte gefolgt, und Miranda hatte sich geweigert, ihn in diesem Zustand zu fahren. Das Gras erklärte dieser Gedankengang allerdings nicht. So betrunken, dass er es nicht einmal mehr in ein Bett geschafft, sondern sich quasi unter die Gartenbank gelegt hatte, war er seit seiner Schulzeit nicht mehr gewesen. Adamski lächelte wehmütig, als er kurz an früher dachte. Ausgelassen hatte er jedenfalls nichts, aber selbst einer wie er wurde irgendwann erwachsen. Gestern musste er jedoch einen gewaltigen Rückfall gehabt haben. Wie auch immer, was er jetzt brauchte, war eine große Tasse Kaffee. Mit einem Ruck setzte sich Adamski auf und wusste umgehend, dass Koffein vorerst keine Option war: In Heiners Garten saß er nämlich leider nicht.
Nein, wir sind immer noch nicht am Ende des Countdowns angekommen, aber für Sekunden spürte unser Held eine Entschleunigung, als würde sein Leben plötzlich in Zeitlupe ablaufen. Mit ungläubigem Staunen blickte er auf die weite Landschaft seiner Heimat, die sich in so atemberaubender Schönheit vor ihm ausbreitete, dass er innerhalb weniger Sekunden sogar die brennende Frage vergaß, wie er hierher geraten war. Überwältigt wie ein Kind, das zum ersten Mal das Meer sieht, tat Adamski für eine Weile nichts anderes, als stumm und andachtsvoll die Aussicht zu genießen, sich nicht bewusst, dass er in seinem Leben so gut wie keine Emotion ausgelassen, nur eben um ‚andachtsvoll’ bisher einen ziemlichen Bogen gemacht hatte.
Vor ihm lag der Rand eines flachen Plateaus, in der Ferne erblickte er sanfte Hügelketten, durchbrochen von einem breiten Tal, durch das sich ein kleiner Fluss schlängelte, unbegradigt, eines der wenigen Täler offensichtlich, das noch nicht von Straßen verunstaltet worden war; an den Hängen stand dunkel der Wacholder zwischen wahren Teppichen blauer Blumen, die er auf Anhieb nicht benennen konnte, die Anemonen zu seiner Linken, immerhin, die kannte er, ein ganzes Feld wuchs dort, die leichten, weißen Köpfe mit den zartrosa Spitzen im Wind wiegend; die Hügel in der Ferne bewaldet, helles Grün der frischen Laubbäume gelegentlich unterbrochen vom dunkleren der Fichten und Kiefern, dazwischen gelbgrüne Flecken der austreibenden Lärchen; im Tal der Fluss, an manchen Stellen mit silbergrauen Erlen gesäumt, der Wiesengrund gelb von Löwenzahn, Weißdornhecken in glänzender Blüte. Der Wind trug einen honigähnlichen, süßlichen Duft heran, der ihm vorhin nicht aufgefallen war; hoch oben in dem unermesslichen Dunkelblau des Himmels verausgabten sich jetzt die Lerchen. Beinahe wäre ihm das Wort jubilieren in den Sinn gekommen, doch so poetisch war er nicht und konnte es in der Kürze der Zeit auch nicht werden, zumal sich wie aus weiter Ferne ein Missklang in diese Idylle zu mischen begann, der mit der Frage Wo unmittelbar zu tun hatte und ihm in Erinnerung rief, dass das ja nun alles soweit ganz schön war, aber weniger gut.
Von den umliegenden Hügeln wusste er keinen zu identifizieren, das Tal erschien ihm fremd, die Farben auf einmal zu intensiv, dass hier offenbar alle menschlichen Spuren zu fehlen schienen, beunruhigte ihn. Immerhin bewirkte die wachsende Verwunderung, dass sich die Chatwin’sche Frage What am I doing here in seinem Kopf zu konkretisieren begann. Mochte die Umgebung noch so unbekannt-vertraut sein, für solche Situationen besaß er ein gewisses Rüstzeug, der Verstand schaltete willig in den analytischen Gang.
Da waren die langen Schatten, es musste Morgen sein, die Sonne stand hinter ihm, er schätzte neun Uhr; Standort Krongau, dessen war er sich sicher, konnte seine Lage allerdings nicht im Mindesten eingrenzen. Die Erkenntnis, dass es in dieser Gegend beinahe unmöglich war, nach höchstens zehn Kilometern Fußmarsch nicht auf eine Straße oder Siedlung zu stoßen, verschaffte ihm einen kurzen Moment der Erleichterung. Leider dauerte das angenehme Kein-Grundzur-Panik-Gefühl, wenn wir den Countdown als Maßstab für den Moment nehmen, von dem ab es in Bälde ein Davor und ein Danach geben würde, nur von der Minute sechs bis zur Minute fünf, dann signalisierte sein analysierendes Auge das Wort „Frühling“ an sein Großhirn, das umgehend „unmöglich“ zurückfunkte, und nun spürte Adamski bereits den Wirbel, der ihn zu erfassen drohte, weshalb er kurz die Augen schloss wie ein Vogel Strauß, den Kopf im Sand, die Wahrheit leugnend, aber er hätte sich dieses Manöver ebenso gut sparen können, denn er wusste es sofort und unmittelbar: Frühling war nicht möglich. Er bemühte sich, den Widerspruch aufzulösen: Sie hatten gestern Sonnwend gefeiert.
Jetzt bloß kein sichtbares Zeichen von Unsicherheit zeigen, Herr-der-Lage-sein war Regel Nummer eins in seinem Leben, wer Schwächen zugab, hatte meist schnell verloren. Äußerlich ruhig kämpfte Adamski diesmal erfolglos gegen die zunehmende Nervosität an, solche Spiele mochte er nicht. Herr der Lage? Momentan eher weniger. Er zwang sich, der Erinnerung an die vergangene Nacht auf die Sprünge zu helfen: das große Feuer stand ihm deutlich vor Augen, ein halbes Dutzend seiner Freunde war bei Heiner im Garten gesessen, sie hatten gegrillt, sie hatten gesungen, sie hatten Bier getrunken und Met in seinem Trinkhorn herumgereicht… Lassen Sie mich an dieser Stelle anmerken, dass Adamski weder ein religiöser Mensch war noch einer der braunen Betonköpfe, auch wenn er für die Zeit der Wikinger ein nicht nur berufsbedingtes Faible hatte; gegen die Unterstellung, ein beeinflussbarer oder gläubiger Zeitgenosse zu sein, hätte er entschieden protestiert. Wenn Sie an einen zähen Zweifler, an einen hartnäckigen Provokateur denken, werden Sie ihm weit mehr gerecht, doch befriedigte es sein unterentwickeltes Bedürfnis nach Spiritualität, die alten, germanischen Bräuche wach zu halten, ganz abgesehen davon, dass ihm in Abgrenzung zu seiner christlichen Umgebung die Rolle des modernen Wikingers gut gefiel. Und deshalb dachte er nun Odin hilf und was sonst.
Was sonst hätten sie feiern sollen, Ostern, gut, da hatten sie gelegentlich ein Feuer angezündet, aber gab es nichts, was noch für Sonnwend sprach? Mirandas Geburtstagsfeier fiel ihm ein, das war Ende Mai gewesen, daran erinnerte er sich genau, zum einen an die dreißig kleinen Geschenke, die er liebevoll für ihren ‚Runden‘ eingewickelt hatte, zum anderen an den Streit mit seiner jüngeren Schwester, der jüngeren von den beiden älteren, die er wieder einmal kräftig hochgenommen hatte, was Bine vor der versammelten Verwandtschaft kein bisschen schätzte. Ihr vorwurfsvolles Gezeter Kannst du niemals… Musst du denn ständig…! klang ihm im Ohr, als wäre es gestern gewesen. Kurz dämmerte ihm, dass die meisten seiner guten Erinnerungen mit dem Ärger anderer Leute verknüpft waren. Wie auch immer, Ostern schied aus.
Die Unruhe wuchs nun spürbar, die symbolische Uhr tickte, noch drei Minuten. Von Drogen hatte er gelesen - waren die intensiven Farben der Landschaft ein Hinweis, halluzinierte er, bildete er sich das alles bloß ein? Keiner seiner Freunde hatte jemals mit solchem Zeug experimentiert, keinem traute er zu, ihm heimlich etwas ins Bier zu kippen, ja würde man das denn nicht schmecken? Sein Kopf arbeitete inzwischen fieberhaft, nicht, dass er sich über einen Streich hätte beschweren wollen, nur war das hier gerade wenig lustig, bestünde in so einer Verfassung ja durchaus die Möglichkeit, auf den Rand des Plateaus zuzulaufen und hinunterzustürzen, steil genug war es in jedem Fall. Ärger stieg in ihm hoch, gepaart mit Ungeduld, das Spiel wurde langsam albern. Adamski hasste es, wenn man ihn auflaufen ließ. Nichts war schlimmer, als mit den eigenen Waffen geschlagen zu werden. Irgendeiner musste ja schließlich da sein, Miranda, Heiner, irgendwer. Einen Schrei konnte man riskieren, einen Schrei konnte man sicher nachträglich erklären, Adamski füllte also seine Lungen mit Luft und brüllte.
„Mira!“
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„Heiner!“
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„Wo seid ihr denn, ihr Nasen?“
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Wenn das ein Witz war, dann war es ein selten blöder.
„Mira?“
Keine Antwort. Die Amsel unterbrach ihr Lied, bis auf das leichte Rauschen des Windes in dem Baum zu seiner Linken und den Lerchen am Himmel war die Stille vollkommen. Es fiel ihm erst jetzt auf, dass sie das bereits den ganzen Morgen über mehr oder weniger gewesen war.
Mangels göttlicher Eingebungen ließ Adamski zum vierten Mal Szene für Szene den vergangenen Abend vor sich ablaufen. Hatte er wieder jemanden hochgenommen, war einer sauer auf ihn, hatte er in einer Diskussion den Gegner so zerlegt, dass Grund zur Rache bestand? Himmel, sie kannten ihn doch alle! So gründlich er auch mit leisem Schuldbewusstsein alle Möglichkeiten durchging: Er war an diesem Abend zumindest nach seinen persönlichen Standards in Bestform gewesen, ein eher seltenes Optimum, aber dass er zum professionellen Gutmenschen absolut nicht taugte, war jedem klar, der mit ihm zu tun hatte. An der hereinbrechenden Katastrophe, inzwischen unabwendbarer Teil seiner Existenz, hätte allerdings auch ein Heiligenschein nichts geändert. Möglicherweise hätte es ihm geholfen, die richtigen Schlüsse ein bisschen schneller zu ziehen, doch fiel das Wort ‚Heiliger’ in seinem Verständnis von der Welt in den Bereich der Schimpfwörter, und seiner Welt waren noch exakt dreißig Sekunden vergönnt.
Wütend geworden sprang Adamski auf, und genau in diesem Augenblick durchzuckte ihn die erste brauchbare Idee des Tages. Zumindest glaubte er das, und wir lassen ihn vorläufig in diesem Glauben, die Realität sollte ihn schnell genug einholen. Er würde Viktor anrufen. Sein praktisch veranlagter Neffe würde herausfinden, wo er, Adamski, sich befand und in höchstens einer Stunde eintreffen. Er musste wirklich arg benebelt sein, dass er erst jetzt an sein Smartphone dachte. Mit dem gewohnten Selbstbewusstsein schob er die Hand in die Hosentasche, er tastete ein zweites Mal und schaute dabei an sich herunter. Nun endlich kommen wir zu dem Moment, in dem die Uhr auf null springt, der Countdown ist abgelaufen, die Frist verstrichen. Der lauen Frühlingsluft kann der Big Bang nichts anhaben, es ist einzig Adamski, der gerade vor unseren Augen zu Eis erstarrt und heute bereits von der zweiten ihm vollkommen fremden Emotion geradezu angesprungen wird, einer Emotion, die wir vorhin, als wir die Andacht erwähnten, geflissentlich verschwiegen haben, pardon.
Ungewohnt vorsichtig, so als hätte er mit einem Mal Angst zu stolpern oder zu fallen, setzte sich Adamski wieder ins Gras, zog die Knie an und legte den Kopf auf die vor dem Bauch verschränkten Arme. Selbst wenn Sie psychologisch zu den Anfängern gehören, wissen Sie auf Anhieb, was das bedeutet: Unser Held verspürte an diesem Tag schon zum zweiten Mal das dringende Bedürfnis sich zu irren, es würde vorbeigehen, er brauchte nur zu warten. Bevor wir ihn ob seiner Weil-nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf-Strategie verurteilen, fragen wir uns ehrlich, ob wir diesem Theorem noch nie gehuldigt haben, und verzichten darauf, den ersten Stein zu werfen. Es konnte nicht sein. Instinktiv suchten Adamskis Finger nach der Kette um seinem Hals, irgendwo Halt finden, ein allzu menschlicher Impuls, aber er hatte kein Glück: Thors Hammer war auch nicht mehr da.
Sie werden bereits erraten haben, dass die unbekannte Komponente in Adamskis Leben die Angst war, welche wohldosiert dafür sorgt, dass auf den Friedhöfen nicht ausschließlich tote Helden ruhen. Nun hatte unser Held jedoch von klein auf dafür gesorgt, dass eben diese Emotion aus Gründen, auf die wir sofort zu sprechen kommen, in seinem Inneren niemals ein Plätzchen finden konnte, weshalb es sich für ihn erübrigt hatte, Strategien zu entwickeln, um die Dämonen in etwaige Nischen zurückzudrängen. Darin war er also völlig ungeübt, und was die Vogel-Strauß-Taktik betrifft, so vermuten wir, dass sie zu den angeborenen und nicht zu den erworbenen Strategien zählt. Von klein auf hatte Adamski alle Winkel in seinem Inneren derart zu vermauern verstanden, dass sich nichts dort hätte einnisten können, Angst jedenfalls nicht, Liebe zunächst genauso wenig.
Angst war für ihn identisch mit Abhängigkeit und Unterwerfung. Seinem Lebensmotto Freedom’s just another word for nothing have to lose war er seiner Meinung nach bislang ziemlich nahe gekommen, wenig erschien ihm so wichtig, dass er Opfer dafür gebracht hätte. Sollten Sie daraus den Schluss ziehen, dass er nichts geben konnte, so irren Sie allerdings, gerade weil er nämlich an materiellen Dingen nicht wirklich hing, war er ein durchaus großzügiger Mensch. Doch selbst in der Geste des Gebens lag bei ihm etwas Gönnerhaftes, denn Geben war Stärke und Nehmen Schwäche. Dass es im Leben oft mehr Kraft braucht, an der abhängigen Position nicht zugrunde zu gehen, zu derartigen Feinheiten war Adamski nie vorgedrungen. Wer also nichts brauchte, musste sich vor der Schwäche nicht fürchten, das hatte er bereits als Kind erkannt. An Angst gab es schlichtweg keine Erinnerung.
Bine, das Familiengedächtnis, erzählte aus seinem ersten Kindergartenjahr, dass er, von Älteren immer wieder bedrängt und vom Vater schließlich ermuntert sich zu wehren, verwundert gefragt hätte: „Ja darf man das denn?“ Zumindest hörte er diese Episode in regelmäßigen Abständen, verbunden mit dem wehmütigen Kommentar, wie pflegeleicht und umgänglich er damals gewesen wäre. Natürlich liebte er solche Geschichten gar nicht, standen doch pflegeleicht und umgänglich für die Umkehrung der ihm vorschwebenden Machtverhältnisse, womit er schnell hatte aufräumen müssen. Stark sein hieß, keine Angst zu kennen, und wir stellen uns vor, dass Tyrannosaurus Rex sein erstes Vorbild gewesen sein musste, obwohl, wenn man die reine Körpergröße nüchtern betrachtet, Velociraptor die bescheidenere Variante dargestellt hätte. Nur war Bescheidenheit eine weitere Feinheit, zu der vorzudringen Adamski noch nicht die Gelegenheit hatte. Er trainierte den starren Blick und merkte schnell, dass andere die Augen dann senkten, und ähnlich erfolgreich war er beim Erlernen der Bedürfnislosigkeit, mit der die Erkenntnis einherging, dass er dergestalt nicht zu erpressen war, zu erziehen notgedrungen ebenso wenig, das lief beinahe auf das Gleiche hinaus.
Die Familie erinnerte sich mit Schrecken an die wenigen, allesamt gescheiterten Versuche. Einmal hatte man ihm beispielsweise mit dem dreiwöchigen Entzug seines Lieblingsflugzeuges gedroht und nicht damit gerechnet, dass er es umgehend selbst vor den Vater auf den Boden legen und zertreten würde. Die Bestürzung in den Gesichtern der Erwachsenen spiegelte deren Niederlage, so machte Erziehung ja wohl keinen Spaß, weshalb man die Bemühungen in seinem Fall immer öfter unterließ. Aber die Botschaft war sonnenklar: Wenn dein Herz an nichts hängt, bist du verteufelt schwer zu besiegen. Keiner der vier Erwachsenen fühlte sich aufgerufen, gegen den Widerstand der restlichen Familie weiterhin konsequent Grenzen zu setzen und für deren strikte Einhaltung zu sorgen. An den halbherzig vor ihm aufgebauten Hürden ließ sich im Gegenteil vortrefflich das Durchsetzen der eigenen Interessen üben, ohne dass Adamski auch nur für den Bruchteil einer Sekunde hätte fürchten müssen, der bedingungslosen Liebe der Eltern und Schwestern verlustig zu gehen. Wovor also Angst haben, wovor sich fürchten?
Er war intelligent und meisterte die Schule ohne große Anstrengung. Der Unterricht, der im Gegensatz zu ihm einen Ordnungsrahmen benötigte, bot sich naturgemäß für weitere Feldversuche in Punkto Überlegenheitstraining an, Verweise musste er nicht fürchten, weil der Vater sie mit einem beinahe stolzen Lächeln unterschrieb - sein Sohn wusste sich zu behaupten. Mit den bedauernswerten Pädagogen spielte Adamski Katz und Maus. Wahrscheinlich betrank sich das Kollegium in wilder Freude und Erleichterung an dem Tag, an dem er die Schule mit dem Abiturzeugnis verließ, Tyrannosaurus Rex war endlich weitergezogen. Im Sport hatte er sich aufs Kickboxen verlegt, war inzwischen beim dritten Dan und leitete in seiner Freizeit die Selbstverteidigungskurse einer türkischen Jugendgruppe. Mit ihm in der Nähe fühlten sich alle Freunde sicher. Martin Adamskis Universum kannte keine Angst.
Soweit die Theorie, die, wenn man von den letzten zehn Minuten absieht, achtunddreißig Jahre lang Gültigkeit besessen hatte. Nun allerdings saß er wie ein vom Blitz getroffener Dinosaurier am Boden und versuchte verzweifelt, das Chaos in seinem Kopf so weit zu ordnen, dass wenigstens ein einziger vernünftiger Gedanke wieder Fuß fassen konnte. Das Innere seines Schädels wurde momentan vom Kleinhirn gesteuert und zwischen den urzeitlichen Reflexen ‚Flucht‘ und ‚Angriff‘ aufgerieben, weshalb die zaghaften Rettungsversuche seines Großhirns allesamt ins Leere liefen. Erschwerend kam sicherlich hinzu, dass Adamski bisher weder den Feind, vor dem er auf der Flucht war, ausgemacht hatte, noch den Gegner, auf den er den Angriff hätte konzentrieren können. Wie gesagt, Strategien, mit Angst umzugehen, besaß er keine.
Die leise Stimme der Vernunft murmelte so etwas wie Ruhe bewahren, vielleicht auch Bleib cool, Mann, war aber leider schwer verständlich, was ohnehin nicht ins Gewicht fiel, denn für Adamski kam diese Stimme aus der Zukunft. Er befand sich gerade auf einer Entwicklungsstufe, die Jahrmillionen von der Entstehung der Großhirnrinde entfernt war. Dinosaurier eben. Im Erbmaterial des Tyrannosaurus Rex konnte kein Gen aktiviert werden, das auf Angst ansprang und Alternativen anzubieten gehabt hätte. Es kommt uns jedoch unbestreitbar entgegen, dass die Evolution quasi im Zeitraffer ablief, was in Adamskis Fall die Spanne bis zur Normalisierung des Adrenalinspiegels umfasste. Da, endlich, konnte die Großhirnrinde die Chance für einen erfolgreichen Befehl wahrnehmen: Denk nach!
Adamski konzentrierte sich auf seine Atmung, bemüht, das Grauen, das nach wie vor im Hintergrund lauerte, zu ignorieren. Mit spitzen Fingern betastete er den grünen Kittel, in dem er steckte, hätte sich gerne eingeredet, dass dies lediglich ein Nachthemd darstellte, ihm möglicherweise von Heiner wohlmeinend angetragen, weil er seine eigenen Kleider im Suff vollgekotzt hatte, aber er wusste mit Bestimmtheit: so war es leider nicht. Das Grüne blieb selbst bei wohlwollender Auslegung ein Klinikkittel, freiwillig und bei klarem Bewusstsein hätte er diese Art von Uniform jedenfalls niemals angezogen. Man brauchte nicht Logik studiert zu haben, um den richtigen Schluss zu ziehen: Es musste in einem hochgradig unfreiwilligen Daseinszustand passiert sein, womit der Gegner langsam einen Namen bekam. Er hieß so ähnlich wie ‚Wer-bestimmt-über-mich’ oder ‚Bin-ichnoch-Herr-der Lage’.
Die Stimme in seinem Inneren drängte nun darauf, diesen Begriff genauer zu definieren, was, bitteschön, meinte er denn mit unfreiwillig. Adamski zog sich entschlossen den Kittel über den Kopf, suchte nach eingenähten Etiketten, um Rückschlüsse zu ziehen - das Material weich und anschmiegsam, bestimmt keine billige Qualität, sorry, das war es schon - nichts gab die Herkunft preis, die Stimme blieb unzufrieden. Warum?
Über das Warum konnte er nur vage spekulieren: Vielleicht ein Unfall nach der Sonnwendfeier? War er mit Miranda nach Hause gefahren, anstatt wie geplant bei Heiner zu übernachten, und irgendein Idiot war ihnen ins Auto gerast? Wenn man ihn ins Krankenhaus gebracht hätte, würde das immerhin erhebliche Verletzungen implizieren, Bettruhe in jedem Fall. Adamski war durchaus klar, dass sich auf dem Planeten vernünftigere Männer tummelten, aber auf die Idee, verletzt und nur mit einem grünen Kittel bekleidet aus dem Hospital zu fliehen, wäre nicht einmal er gekommen. Vorsichtshalber schaute er trotzdem an seinem nackten Körper herunter: alles wie gewohnt, alles dran, alles heil, bloß keine Panik, holla, da gab es nichts, nicht einmal Narben, er fühlte sich kerngesund. Was dann?
Die zweite Möglichkeit gefiel ihm bedeutend weniger. War der Körper fit, musste der Kopf etwas abbekommen haben. Kein Krankenhaus also, sondern eine Art Sanatorium für Leute mit Gedächtnisverlust, denn den hatte er unbestreitbar. Wohin brächte man solche wie ihn? Bedeutete in diesem Fall ‚Sanatorium’ das gleiche wie ‚Nervenheilanstalt’? Gut, von dort wäre er bei der ersten Gelegenheit getürmt, unter Umständen sogar barfuß und im grünen Kittel.
Sollte jetzt tatsächlich Frühling sein und der Unfall vom letzten Juni datieren, musste das bedeuten, dass er seit beinahe zehn Monaten aus dem Verkehr gezogen war, nun wurde es schon enger. Andererseits gab es wohl keinen vernünftigen Grund, ihn nach so langer Zeit noch dermaßen lächerliche Anstaltskleider tragen zu lassen, überhaupt hätte das Miranda zu verhindern gewusst. Ob er im Koma gelegen hatte und ohne Erinnerung aufgewacht war? Adamski merkte, dass jeder Weg, den er gedanklich einschlug, nur neue Fragen aufwarf. Widersprüche ohne Ende. So kam er nicht weiter.
Die Gedanken kurvten auf einer Art Kreisbahn zum ersten passablen Lösungsansatz zurück, steuerten auf Viktor zu, der keine schlechte Idee gewesen war, er, Adamski, würde jemanden suchen, der ein Handy bei sich trug. Für den blöden, grünen Kittel war zur Erklärung zwar ein Geistesblitz von Nöten, doch daran hatte es ihm bisher nie gemangelt, Viktors Nummer kannte er auswendig, eigentlich konnte nichts schief gehen. Die Zuversicht kehrte langsam zurück, schließlich arbeitete sein Gedächtnis wieder völlig normal, das ließ sich sicher beweisen, möglicherweise noch eine kleine Untersuchung, dann würde man ihn sofort entlassen, dankbar, ihn los zu sein. So einfach war das. Nun, das war es leider nicht, aber davon hatte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt Gott sein Dank keine Ahnung.
Dann griff die Angst aus der Deckung heraus erneut frontal an, gerade, als er versuchte sich vorzustellen, wer wohl bereits auf der Suche nach ihm war, die Polizei, Viktor, die Schwestern, Miranda… er hielt inne, fühlte für Momente eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Was, wenn Miranda auch etwas zugestoßen war? Den zweiten Angriff wusste er bereits deutlich souveräner zu parieren, das Großhirn ließ sich kein weiteres Mal ins evolutionäre Nirwana katapultieren und wie um sein Dasein zu rechtfertigen, spuckte es sofort eine beruhigende These nach der anderen aus: Wer hat schon etwas von einem gemeinsamen Unfall gesagt, langsam Junge, mal nicht gleich den Teufel an die Wand, ein Schlaganfall kommt schließlich ebenfalls in Betracht oder ein unglücklicher Treffer beim Kickboxen auf den Kopf, woher willst dudenn wissen, dass die Sonnwendnacht die Stunde X war Unwillig schüttelte Adamski den Kopf, es hieß, Wir suchen jemanden mit Handy und nicht Wir spekulieren munter weiter. Sich selbst zur Raison rufend schlüpfte er widerwillig in den flaschengrünen Kittel und straffte die Schultern. Zeit zu handeln, er war bereit zum Kampf.
Mit den Augen suchte er das Plateau nach einem Weg in die Tiefe ab. Direkt vor ihm lag eine längere Kletterpartie, für die er in seiner Anstaltskleidung nicht optimal gerüstet war, weshalb er zunächst dem Bergrücken folgte, aus den Augenwinkeln den Sonnenstand registrierte, die Himmelsrichtung bestimmte und sich erfolgreich einredete, alles fest im Griff zu haben. Obwohl er bisher nie barfuß durch die Natur gelaufen war, schienen sich seine Fußsohlen nicht an den kleinen Steinchen zu stören, das Gras war weich, an den schattigen Stellen noch taufrisch, so schlimm war das alles auch wieder nicht. Adamski summte ein Lied aus seinem Heavy-Metal-Repertoire.
Nach einer Viertelstunde erreichte er eine Stelle, an der ein schmaler Weg von unten kommend auf das Plateau traf. Adamski bog ohne langes Nachdenken in den Pfad ein und begann mit dem Abstieg. Zu seiner Rechten überwucherte gelbes Fingerkraut die Kalksteinfelsen und bildete mit Moos, Hauswurzarten und niedrigen Farnen einen bunten Flickenteppich, dazwischen huschten smaragdgrüne Eidechsen, darüber schaukelten die Schmetterlinge. Adamski starrte zuerst fasziniert, dann zunehmend irritiert auf Flora und Fauna; richtete er seinen Blick auf die Landschaft zu seiner Linken, fand er dort ein Panorama von solcher Perfektion, dass er mehrmals kopfschüttelnd stehen blieb und sich schließlich fragte, ob der Klimawandel in Deutschland nun endgültig angekommen war. Den Krongau kannte er weiß Gott zur Genüge, aber einen derartigen Frühling hatte er noch nie erlebt. Nur schnell nach Hause, regeln, was geregelt werden musste, und dann mit Miranda und einer Wanderkarte wieder hinaus an diesen Ort, den er aus welchen Gründen auch immer bisher in seinem Leben verpasst zu haben schien. Trotz des Schauens und Staunens war das Ende des kleinen Abstiegs schnell erreicht. Unter einem alten, blühenden Kirschbaum, in dem ein Heer von Bienen summte, hielt er ein letztes Mal inne. Die Sonne stand nun schon deutlich höher am Himmel, es mochte vielleicht zehn Uhr sein, der Friede der Landschaft war vollkommen und Adamski fühlte sich plötzlich wie ein Tourist im Traumurlaub. Sein Pech und gelegentlich das seiner Mitmenschen war allerdings, dass er Frieden schwer ertrug, Frieden taugte für einen wie ihn nur bedingt.
Er war auch keiner, der langes Schweigen aushalten konnte, wobei das Reden in seinem Fall nicht unbedingt einen Gegenpart aus Fleisch und Blut erforderte. Wem das Herz voll ist, dem läuft der Mund über sagt das Sprichwort, Adamski hätte jedoch, spontan nach dem verfügbaren Rauminhalt seines Herzens gefragt, nur höchst ungefähre Angaben machen können. Wir vermuten, dass es da noch ausreichend unbesetzte Stellen gab, und tauschen in seinem Fall das weniger volle Herz gegen den übervollen Kopf aus. Der nun war ständig mit etwas beschäftigt und bot ihm in jeder wachen Minute ein Zwiegespräch mit seiner eigenen Wenigkeit an. Während solcher inneren Dialoge vernichtete Adamski politische Gegner, erklärte dem Schiedsrichter nach dem Spiel die Regeln, wies Aristoteles, Fidel Castro oder dem Papst in langen Diskussionen, die auf Grund der körperlichen Abwesenheit der Kontrahenten nur eingeschränkt als fair bezeichnet werden können, weil er notgedrungen auch den Gegenpart übernehmen und deshalb logischerweise immer Sieger bleiben musste, deren Denkfehler nach und schärfte so im imaginären Schlagabtausch seine Argumente für die Diskussion mit weniger illustren Alltagsgegnern, die schon schwere Geschütze auffahren mussten, wenn sie gegen ihn ein Bein auf den Boden zu kriegen gedachten.
Der volle Kopf suchte nun also ein Gespräch mit Adamskis Alter Ego und übernahm bereitwillig den Part der Anstaltsleitung, die nicht daran dachte, ihn so ohne weiteres ziehen zu lassen. Während unser Held dem Pfad durch blühende Wiesen folgte, übte er verschiedene Plädoyers für seine sofortige Entlassung, widersetzte sich in einer zweiten Debatte der Festnahme durch die Polizei und spielte schließlich gedanklich die Möglichkeit durch, einem entgegenkommenden Wanderer den grünen Kittel zu erklären. Dies, so wurde ihm schnell klar, wäre der heikelste Teil seiner Rückkehr, schließlich musste er mit gezielten Argumenten unterbinden, dass der Fremde umgehend selbst das Handy ergriff, um die Welt vor einem Verrückten zu warnen, anstatt das Objekt der Begierde kommentarlos an Adamski weiterzureichen.
Auf einmal drang aus nicht allzu großer Ferne der Klang von Kirchenglocken an sein Ohr, schwebende, klare Töne in vollkommener Harmonie, einem Glockenspiel weit ähnlicher als den üblichen dumpfen Schlägen. Adamski straffte sich unwillkürlich, versuchte die Richtung festzustellen, aus der der Beweis für menschliche Existenz kam, und schob den Gedanken an einsame Wanderer beiseite; das Glockengeläute stellte eher ein ganzes Dorf in Aussicht. Der Pfad führte ihn jetzt durch ein lichtes Buchenwäldchen, von erwartungsvoller Unruhe ergriffen beschleunigte Adamski seinen Schritt. Kurz bedauerte er das Verschwinden der guten alten Telefonzelle, die es ihm womöglich erlaubt hätte, anonym zu bleiben, bis ihm einfiel, dass dazu früher Kleingeld nötig gewesen war, wovon er gerade eben nicht die Spur besaß. Ohne Leute würde es nicht gehen, nichtsdestoweniger rückte das Ende dieses unwürdigen Abenteuers in greifbare Nähe, also Augen zu und durch.
Auf der anderen Seite des Hains blickte er in eine flache Senke, an deren Grund eine kleine Siedlung lag, das Kirchlein im Mittelpunkt. Es war nun langsam an der Zeit, eine plausible Erklärung für den Klinikkittel zu ersinnen, doch fielen ihm nur derart lächerliche Begründungen ein, dass er beschloss, in diesem Punkt die Taktik zu ändern und das grüne Unding mit dem gleichen Selbstbewusstsein zu tragen wie seinerzeit das Cowboykostüm zur Faschingsparty oder den Wikingerhelm zur Sonnwendfeier, dies war ein freies Land. Während er auf die Siedlung zulief, registrierte er die Einzelheiten, strenggenommen eher das Fehlen derselben: keine Autos, keine Stromleitungen, keine Landwirtschaft. Sein Kopf, der wie alle Köpfe nichts wahrnehmen kann ohne gleich interpretieren zu müssen - viel wäre manchmal gewonnen, wenn wir uns an die nackten Tatsachen hielten anstatt mit dem zu operieren, wozu unser Hirn die Fakten ruckzuck verarbeitet, meist merken wir ja nicht einmal den Unterschied zwischen Input und eigenem Design - sein Kopf jedenfalls spuckte umgehend die Wörter Freizeitcamp aus und CVJM und so was in der Richtung, woran wir merken: sicher war er sich nicht. In jedem Fall eine Ansammlung guter Christen, da alle in der Kirche zu sein schienen, zwischen den Häuschen war zumindest keine Menschenseele unterwegs. Häuser konnte man das aus der Nähe betrachtet sowieso nicht nennen, Unterstände traf es eher, ein wunderlicher Ort.
Adamski lehnte sich seitlich des Kircheneingangs an die niedrige Mauer, die das Holz gedeckte Gebäude mit dem primitiven Glockentürmchen in fast geschlossenem Kreis umgab. Für Religion hatte er nichts übrig, er verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis, die Kirche zu betreten, es kam auf eine halbe Stunde nicht an, er wartete und begann sich zu entspannen. Jetzt sangen sie dort drinnen. Sie sangen gut, das musste ihnen der Neid lassen. Die einfache Acappella-Melodie, der perfekte Wechsel der hohen und tiefen Stimmen, die Wärme des nahenden Mittags – ein Sog entstand, der Adamski ganz gegen seinen Willen in Bann schlug. Er schloss die Augen, drinnen stimmten sie Lobet den Herren an, der Friede war beinahe körperlich spürbar und kroch lautlos hinter seine Verteidigungslinien.
Wann hatte er das letzte Mal eine Kirche von innen gesehen? Es musste am Tag der Taufe von Georgs Sohn gewesen sein, fünf Jahre war das her, sie hatten ihn ausdrücklich darum gebeten, wohl wissend, dass er ein überzeugter Gegner frühkindlicher Gehirnwäsche war und nicht anders definierte er religiöse Erziehung. Überzeugen konnte er Georg natürlich nicht, mit diesem Anspruch aufzutreten hätte das schnelle Ende ihrer langjährigen Freundschaft bedeutet, aber für einen guten, verbalen Schlagabtausch ließ er jederzeit alles liegen und stehen. Miranda nannte das lächelnd Der fromme Georg kämpft gegen den Drachen. Drachen mochte er, in dieser Eigenschaft war er häufig gegen den frommen Georg angetreten, und es sprach für den Freund, ihm seine manchmal doch recht seltsamen Standpunkte nie zu verübeln, sondern gutmütig auf seine Debattierfreude einzugehen.
Wie es dem Kleinen ging? Adamski hatte sich seit er denken konnte eigene Kinder gewünscht und hoffte inständig, dass sich dieser Traum eines Tages erfüllen würde. Bis dahin war Elias sein Ersatzsohn, er riss sich förmlich ums Babysitten, er machte jeden Blödsinn mit, er liebte Kinder und die Kinder liebten ihn, und drinnen sangen sie, und richtig warm war es auch, und was wäre der Knirps überrascht, wenn er plötzlich vor der Tür stünde, zehn Monate nicht gesehen - für ein Kind in diesem Alter eine kleine Ewigkeit - und so langsam könnten sie jetzt wirklich aufhören mit der Singerei, Moment mal, die singen ja gar nicht mehr, Himmel, warum sagt mir das keiner, Mist.
Er war dermaßen abgelenkt und in seinen Gedanken so sehr mit dem erhofften Wiedersehen beschäftigt gewesen, dass er weder das Ende des Gottesdienstes noch das Öffnen der Kirchentüre mitbekommen hatte. Als das Schweigen in ihm endlich einen Impuls auslöste und er hektisch die Augen aufriss, stand die kleine Gemeinde bereits im Halbkreis vor ihm. Wenn sie überrascht waren, ihn zu sehen, ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken, er konnte für sich nur das Gleiche hoffen, denn das imaginäre Abbild seiner Erwartungen kollidierte unmittelbar und recht heftig mit dem Anblick, der sich ihm bot. Ein zweisilbiges Wort mit großem Sch am Anfang begann sich in seinem Kopf zu formen; er schätzte die Zahl der Männer und Frauen auf rund zwanzig, sie waren in seinem Alter und blickten ihn abwartend an. Wegen des Kittels hätte er sich nicht einen Moment sorgen müssen, sie trugen alle das gleiche Modell wie er, ihres allerdings in einer Farbe, die Miranda als ‚wollweiß‘ bezeichnet hätte.
„Äh, guten Morgen“, setzte Adamski an, völlig überrumpelt und um Fassung bemüht. Instinktiv begann er mit der Reorganisation seiner auseinandergefallenen Erscheinung, stellte sich so gerade wie möglich auf, die Beine leicht gespreizt, das Gewicht gleichmäßig verteilt, den Kopf erhoben, höchste Zeit für das Herrder- Lage-Spiel.
„Guten Morgen, Bruder!“
Die Antwort kam in ruhigem Ton, es war der Mann in der Mitte des Halbkreises, der gesprochen hatte. Murmelnd fielen die anderen in den Gruß ein, machten jedoch keine Anstalten, eine Frage an ihn zu richten, weshalb Adamski einen neuen Anlauf nahm, nicht ohne seine Stimme ein bisschen tiefer zu drücken, um ihr mehr Gewicht zu verleihen.
„Ich habe mich anscheinend verlaufen“, erklärte er mit gespielter Souveränität. „Würde jemand von Ihnen so freundlich sein, mich sein Handy benutzen zu lassen? Ich möchte meine Frau bitten, mich abzuholen.“
„Hat noch keiner mit dir gesprochen?“, fragte eine Frau aus der Gruppe, ungeschminktes Gesicht, offene, braune, lockige Haare, im Blick eine Mischung aus Verwunderung und Besorgnis.
Adamski ignorierte das ‚Du’. „Nein“, antwortete er, „darum geht es ja gerade. Ich bin hier fremd. Es wäre gut, mit jemandem zu reden und es erschien mir passend, mit meiner Frau anzufangen. “
Viktor, Viktor wäre die sicherere Lösung gewesen, dachte er wehmütig, aber bei dieser konservativen Gruppe machte es wahrscheinlich einen besseren Eindruck, von ‚meiner Frau’ zu sprechen, um den Mindestanforderungen christlicher Moral Genüge zu tun. Er hoffte nur, Miranda würde einmal in ihrem Leben nicht erst lange fragen, sondern einfach tun, worum er sie bitten würde: Hol mich hier raus!
„ Wir kennen deine Frau leider nicht, Bruder“, entgegnete der Mann, der ihn begrüßt hatte. Adamski musterte, während sein Kopf die Antwort formulierte, sein Gegenüber: dunkler, kurzer Vollbart, schmale Lippen, gerade Nase, buschige Augenbrauen, nicht unsympathisch. Trotzdem: ER würde keine fremden Menschen duzen.
„Schon klar. Wissen Sie, ein Telefon würde genügen. Ich möchte sie ja bloß anrufen.“
Adamski wartete auf die Antwort und fühlte eine leichte Ungeduld in sich aufsteigen. Wo war das Problem?
„Hier gibt es kein solches Gerät. Können wir dir sonst irgendwie helfen?“ Der Bärtige war nach wie vor die Ruhe selbst.
Adamski ging zu Plan B über.
„Wenn Sie mir sagen würden, in welche Richtung die nächste Ortschaft liegt? Dann versuche ich dort mein Glück.“
Die Wollweißkittel tauschten bedeutungsvolle Blicke, was ihm nicht entging. Was zum Teufel war hier los? Vielleicht, und die ähnliche Bekleidung ließ ihn plötzlich Schlimmes vermuten, waren die anderen auch Insassen eines potentiellen Sanatoriums und nicht ganz zurechnungsfähig. Sicher war er sich nicht. Die Frau mit dem braunen Lockenkopf unterbrach seine Gedanken.
„Die nächste Siedlung liegt in dieser Richtung“ – sie gestikulierte hinaus in die Ebene – „aber ich sage dir gleich: Da ist es genau wie bei uns.“
Adamski probierte Plan C.
„Vielleicht wissen Sie, wo ich einen Arzt finden kann?“
Er merkte sofort, dass er wieder das Falsche gefragt hatte.
„Den Chef“, setzte er nach. „Es wäre gut, den Chef zu sprechen.“
Sie schwiegen.
„Wer ist denn hier der Boss?“ Adamskis Ungeduld wuchs. Wie vernagelt konnte jemand sein?
„Gott steht allen vor!“, erklärte jetzt ein dritter aus der Gruppe, leichte Empörung in der Stimme.
In dem, was Adamski sein ‚normales Leben‘ zu nennen begann, hätte er diesen religiösen Fuzzi zerlegt. Waren das fundamentalistische Spinner, eine Art weltfremde Hutterer-Gemeinde, oder - und bei diesem Gedanken überkam ihn Bedauern und ein seltener Anflug von schlechtem Gewissen - solche wie er noch gestern, Menschen also ohne Gedächtnis, möglicherweise auch mit anderen psychischen Problemen behaftet? Eigentlich war das Mirandas Gebiet, davon verstand er nichts, aber vielleicht war der Glaube für sie die letzte Haltestation vor dem Abgrund. Schaudernd erinnerte er sich seines eigenen Taumels in Abgrundnähe, was allerdings kein besonderes Kunststück darstellte, war die Erinnerung daran doch so frisch wie der Morgen. Gedächtnisverlust war die Hölle auf Erden, das wenigstens konnte er seit fast zwei Stunden gut nachvollziehen, er war ja mit neun bis zehn fehlenden Monaten bereits komplett bedient.
Sie konnten nichts dafür. Er würde Geduld haben. Adamski nahm einen neuen Anlauf.
„Ich dachte gerade nicht an Gott, äh, ich meine: ich denke ständig an Gott, bloß jetzt gerade eben hatte ich so eine Art Stellvertreter im Sinn. Jemand, der hier zuständig ist, jemand den ich fragen könnte. Wissen Sie: Gott redet nicht sehr oft mit mir.“
„Du musst beten, Bruder. Hab Vertrauen, er wird dich hören.“ Der Mann, den Adamski ‚Nummer drei’ getauft hatte, war, als er sprach, einen Schritt aus dem Halbkreis nach vorne getreten.
„Du weißt, dass man manchmal lange auf Antwort warten muss“, entgegnete der erste. „Ein Stellvertreter hätte ihm längst alles erklären sollen. Möglicherweise sind sie sehr beschäftigt. Heute ist Ostersonntag.“
Er wandte sich wieder an Adamski.
„Sorg dich nicht weiter. Jemand wird kommen. Hab Geduld.“
Adamski verspürte einen wachsenden Fluchtreflex. Hier verschwendete er nur seine Zeit.
„Gut“, sagte er resignierend, „dann mache ich mich mal auf den Weg. Keine Ursache und frohe Ostern!“
Der Halbkreis öffnete sich schweigend, um ihn durchzulassen. Er spürte, dass sie ihm nachsahen. Als er schon fast an der letzten Hütte vorbei war, fiel ihm noch etwas ein. Er kehrte um und lief die wenigen Schritte zurück.
„Sie hätten nicht zufällig ein Glas Wasser für mich?“
Obwohl er keinen Durst verspürte, hielt er es trotzdem für ratsam, seinen Flüssigkeitsvorrat aufzufüllen. Wenn sich die Aufregung gelegt hätte, würden Hunger und Durst unweigerlich kommen, in seiner Bundeswehrzeit hatte er gelernt, auf Vorrat zu trinken.
Es war eine harmlose Frage gewesen. Seiner Meinung nach zumindest.
„Ein Glas? Wasser?“
Mit einer Betonung, die grenzenloses Erstaunen ausdrückte, wiederholte die Braungelockte seine Bitte. So, als hätte er ‚Gülle’ oder ‚Erdöl’ verlangt. Die plötzliche Aufwallung grenzenlosen Ärgers konnte Adamski nicht mehr rechtzeitig unterdrücken.
„Hei, Mädel“, entfuhr es ihm, „ich nehm’ auch gerne ein kühles Bier aus der Flasche, bloß schaut es nicht so aus, als hättet ihr hier welches. Und da ich nicht mit flüssigem Helium betrieben werde, wäre Wasser echt cool!“
„Lass ihn!“, antwortete der Sprecher der kleinen Gruppe und fügte an Adamski gewandt hinzu: „Komm mit!“
Er führte ihn an der Kirchhofmauer entlang den Weg zurück, den er gekommen war, bog beim ersten Unterstand ab und zeigte nach wenigen Metern schweigend auf eine Quelle, die glasklar aus dem Boden sprudelte.
Wasser, o.k., dachte Adamski und kniete sich hin, um mit den Händen das Nass zu schöpfen. Die anderen waren ihnen offensichtlich gefolgt, er hörte sie verhalten miteinander tuscheln. „Zacharias, was soll das alles?“
„Er ist ein Grüner. Kümmere dich nicht um ihn.“
Adamski überlegte kurz, ob er gegen diese politische Unterstellung entschieden protestieren sollte, ließ es aber sein, es machte bei diesen Menschen keinen Sinn, besser, er trank, so viel er konnte. Dann stand er auf, wischte sich mit dem Ärmel die Wassertropfen aus seinem roten Bart, nickte ein kurzes ‚Danke’ in die Richtung des Wortführers und lief schweigend den kurzen Weg zurück. Bloß weg von hier.
In seinem Inneren gaben sich Ärger, Enttäuschung und Frustration die Hand, hinter seiner Stirn standen Schimpfwörter der schlimmsten Sorte in roten Lettern. Vorurteile waren normalerweise seine Sache nicht, in diesem Moment jedoch verschob sich seine Prioritätenliste dahingehend, dass er das dringende Bedürfnis verspürte, sich Luft zu machen, weshalb er hinter der Siedlung einen armdicken, toten Ast aus dem Unterholz riss und damit den am Wegrand wachsenden Löwenzähnen die gelben Köpfe abhieb, jede erfolgreiche Hinrichtung mit einem animalischen Brüllen begleitend.
Den Varianten menschlichen Adrenalinabbaus haftet allen - vorausgesetzt, man hat sich rechtzeitig aus der Schusslinie gebracht und verfolgt das Schauspiel aus sicherer Entfernung - etwas demütigend Lächerliches an, sind doch die Tage des Säbelzahntigers schon lange vorbei, aber wir nutzen die Gelegenheit, um an dieser Stelle Zweifel an der Theorie des Intelligent Designs anzumelden.
Unser Held hatte keinen Plan D.
Mit langen Schritten stapfte Adamski durch blühende Wiesen den schmalen Pfad entlang und fühlte sich wie Rübezahl auf Mallorca. Für die Schönheit der Natur fehlte ihm gerade der Blick, sein Inneres loderte in allen Rottönen der Hölle und es dauerte eine gute Weile, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Die Ernüchterung kam unerwartet und plötzlich. Unter einer mächtigen, alten Esche hielt er an, setzte sich ins weiche Gras darunter und lehnte sich an den grauen Stamm.
Now what?
In diesem Moment hätte er viel für ein Blatt Papier und einen Stift gegeben. Adamski war ein Mann der Listen: Einkaufslisten, Literaturlisten, To-do-Listen, Geburtstagslisten. Sein Hirn arbeitete überwiegend linear, mit mehr als drei Punkten konnte er nicht gleichzeitig jonglieren. War aber alles in schriftlicher Form festgehalten, sortierte, ordnete und filterte er mit einem Blick auf seine Liste auch zehn Punkte auf einmal problemlos nach Dringlichkeit, Preis, Datum oder jedem anderen, denkbaren Kriterium, ohne den Überblick zu verlieren. Außerdem war es beruhigend, Unerledigtes aufzuschreiben, es gab ihm das Gefühl, sein Leben im Griff zu haben, aktiv zu sein, den ersten Schritt zur Problembewältigung zu tun, kurz: ohne Liste fühlte er sich nicht als Herr der Lage, und in dieser Lage erleben wir ihn nun.
Als er im Baumschatten - früher Nachmittag, Heerscharen lärmender Vögel über sich - begann, Wissen von bloßen Vermutungen zu trennen, Informationen auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überdenken, zu verknüpfen, Schlüsse zu ziehen und wieder zu verwerfen, drehte er sich schnell im Kreis. Ständig entschlüpfte ihm etwas, das er auf seiner imaginären Liste weiter hinten einzufügen gedachte, das dann jedoch, weil seine Gedanken abschweiften, im entscheidenden Moment, zum Schatten verblasst, nicht mehr greifbar war. Adamski stand unter Stress und damit hatte er noch nie gut umgehen können. Des Öfteren fühlte er sich komplett überfordert, leichte Panikschübe blockierten seinen Gedankenfluss meist dann, wenn er sich kurz vor einer neuen Entdeckung wähnte, so dass er wieder von neuem anfangen musste, eine logische Kette aufzubauen. Was, davon war er überzeugt, mit Stift und Papier keine zehn Minuten gedauert hätte, beschäftigte ihn gerade über Gebühr lange, aber schließlich hatte er die wesentlichen Punkte beisammen und wunderte sich, dass er sie an den fünf Fingern einer Hand leicht aufzählen konnte.
Sicher war er sich
- Daumen: Es war Ostersonntag, wobei er sich allerdings inzwischen die Möglichkeit einräumte, länger als zehn Monate verpasst zu haben: ein Jahr und zehn Monate, drei Jahre und zehn Monate… Er hätte sich definitiv nach der Jahreszahl erkundigen müssen und nahm sich vor, dies bei nächster Gelegenheit umgehend nachzuholen.
- Zeigefinger: Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es jemanden, der für die Kittelträger, ihn eingeschlossen, zuständig war, er hoffte jedoch inständig, dass es sich bei diesem mysteriösen Stellvertreter, der angeblich ausgerechnet am Ostersonntag so sehr beschäftigt war, um keinen religiösen Stellvertreter handelte.
- Mittelfinger: Es gab noch mindestens eine weitere ‚Gemeinde‘ mit Kittelträgern, die er, auch wenn er wenig Lust verspürte, mit wohlüberlegten Fragen präpariert aufsuchen musste.
- Ringfinger: In ein Sanatorium im üblichen Sinne konnte er nicht eingeliefert worden sein: selbst die weitläufigsten Parkanlagen ermöglichten keine Wanderung wie die, welche hinter ihm lag.
Den kleinen Finger konnte er sich bereits sparen.
Mehr gedankliche Arbeit musste er für den Versuch aufwenden, seinen Platz in diesem Schlamassel zu erklären. Es war nicht exakt so, dass er sich nur im Kreis bewegte, eher liefen seine Gedanken auf konzentrischen Bahnen, die ihn vom Ausgangspunkt zwar entfernten, aber aus Mangel an gesicherten Fakten nirgendwo hinbrachten. Wie also an Informationen gelangen, was von einer weiteren Kittelgemeinschaft erwarten, wenn schon die erste auf konkrete Fragen nur in Rätseln geantwortet hatte, die dem delphischen Orakel zur Ehre gereicht hätten? Waren die Fragen falsch formuliert gewesen, durften sie nichts sagen, wollten sie nichts sagen, konnten sie nichts sagen? Die einzige brauchbare Angabe, die er ihnen entlockt hatte, war der Ostersonntag gewesen. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit des Datums, aber das war nun beinahe der Super-GAU, wie, bitteschön, sollte er den Ostersonntag erklären, ausgerechnet! Bei diesem Wetter zogen an Feiertagen wahre Karawanen von Ausflüglern durch den Krongau, fast überall würde man wenigstens die Motorradfahrer mit ihren schweren Maschinen um die engen Kurven heizen hören, doch nicht einmal an einem Regentag im November hatte er den Gau je so ausgestorben erlebt. Vom Vogelgezwitscher abgesehen, war es leider vollkommen ruhig. Und vollkommen sauber - er konnte sich an keine Bierdose, keine Zigarettenschachtel, kein Fitzelchen Zivilisationsmüll entlang seines Weges erinnern. Und vollkommen idyllisch. Alles einfach nur vollkommen. Selbst wenn es nicht Ostern sein sollte: Das Land war so wenig normal wie er.
Adamski lief im Geiste den Globus ab: Gab es vielleicht irgendwo auf der Welt eine ähnliche Landschaft mit Leuten, die Deutsch sprachen, weit ab von jeder Zivilisation? Seine geographischen Kenntnisse waren eher mittelmäßig, Belutschistan, Montevideo oder Timbuktu hätte er womöglich sogar in knapp unterdurchschnittlicher Zeit auf einer Weltkarte gefunden, aber was wusste er schon, wie es dort aussah. Bine war vor Jahren in Chile gewesen und hatte von deutschen Gemeinden am Fuß der Anden erzählt, komplett mit Schwarzwaldhäusern und deutschem Bier. Kittelträger hatte sie definitiv keine erwähnt. Grundsätzlich stellte er sich Chile auch nicht wie den Krongau vor, weshalb er diesen Punkt auf seiner imaginären Liste mit dem Kürzel vu (verdammt unwahrscheinlich) abhakte und unmittelbar vor eine Entführung durch Außerirdische setzte, einem Punkt, dem er mit grimmigem Galgenhumor nvu (noch verdammt unwahrscheinlicher) verpasste.
Wie immer er seine spärlichen Fakten kombinierte, drehte und wendete: Es fiel ihm nicht eine einzige halbwegs realistische Erklärung für seine Lage ein. Ob er träumte? Konnte man im Traum wissen, dass man nur schlief, konnte man im Wachsein sicher sein, dass man nicht träumte? In der Theorie alles schön und gut, bloß war sich Adamski vollkommen sicher, dass er im Traum NICHT darüber nachdenken würde, ob es sich hier um ein reales Szenario handelte, im Traum wäre es nämlich real. Trotzdem wünschte er sich für einige Momente nichts sehnlicher, als aufzuwachen. Himmel, wie konnte das kein Albtraum sein! Andererseits war er erst am Morgen aufgewacht, mitten in diesen Albtraum hinein. Adamski schob alle philosophischen Gedanken beiseite und wandte sich wieder den medizinischen Möglichkeiten zu.
Es gab Menschen, die jahrelang im Koma gelegen hatten. Was hätte in dieser Zeit auf dem Planeten passiert sein können? Der dritte Weltkrieg (keiner hat mehr Geld für laute Motorräder), die ultimative Energiekrise (keiner hat mehr Benzin für laute Motorräder), ein generelles Handyverbot (Zacharias, warum WEISS er denn davon nichts??), eine neue Mode (Kittel statt Jeans), eine Invasion Außerirdischer, die alles menschliche Leben in eine Matrix gezwungen hatten (das hier war dann wohl die Anfängerversion, bei der der Dümmste merken musste, dass etwas oberfaul war)…? Adamski mit seiner blühenden Fantasie wäre problemlos in der Lage gewesen, diese Liste beliebig zu verlängern, gestand sich aber nach einer Weile ein: alles Spekulieren würde nichts nützen, er brauchte definitiv mehr Informationen. Im Aufstehen griff er nach seinem Stock, dehnte die Muskeln und machte sich wieder auf den Weg. Als er aus dem noch lichten Schatten der alten Esche hinaus in die Sonne schritt, fiel ihm Raumschiff Enterprise ein: Man betrat einen Raum, der Holodeck genannt wurde, ein Computer erzeugte die gewünschte Fantasielandschaft und man konnte in jede Rolle schlüpfen, die zu spielen man gerade Lust verspürte. Adamski war sich absolut sicher, dass er dieses Programm nie gewählt hätte. Der Captain im grünen Kittel? Ha, ha! Trotzdem ertappte er sich dabei, dass er halblaut „Computer, Programm beenden!“ sagte. Er hatte nicht erwartet, dass das etwas ändern würde.
Beim Laufen bemühte er sich, in der Landschaft etwas mit Wiedererkennungswert zu finden, achtete genau auf besondere Bergformen, Felsgruppen, alte Bäume, irgendetwas, das ihm hätte helfen können, seinen Standort zu bestimmen, um von dort aus die Route für den Weg nach Hause zu ermitteln. Manchmal glaubte er auch, ein vertrautes Detail ausgemacht zu haben, stieß dann aber gleich wieder auf Unvereinbares. So war er sich, als er den Blick einmal zurückwandte, mit klopfendem Herzen sekundenlang sicher, dass die Umrisslinie des Plateaus, von dem er am Morgen heruntergestiegen war und das jetzt in nicht allzu weiter Ferne die Ebene dominierte, der des Walpeterberges exakt glich. Für einen kurzen Moment der Erleichterung wähnte er sich in der Nähe seines Lieblingsortes im Krongau, unweit des Platzes, an dem er vor sechs Jahren Miranda kennengelernt hatte, doch schnell setzte die Enttäuschung ein, erfasste ihn wie eine große, dunkle Welle: Das war ein anderer Berg, seiner war oben völlig baumlos, der hier dagegen trug im Westen einen kleinen Wald aus schlanken, silbrigen Pappeln. So schnell wuchsen selbst die nicht, da hätte er ja inzwischen sechzig Jahre alt sein müssen, ganz zu schweigen davon, dass der Blick vom Walpeterberg auf die kleinen Dörfer und Weiler in der Ebene hätte fallen müssen.
