Adas Fest - Katrin Burseg - E-Book

Adas Fest E-Book

Katrin Burseg

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Beschreibung

Ein großer Roman über Festhalten und Loslassen von Familie

Ein Strandhaus an der französischen Atlantikküste mitten im Sommer. Doch der schöne Schein trügt. Der ansteigende Meeresspiegel verschlingt die Küste, und auch ›Les Vagues‹, an das die 74-jährige Ada vor vielen Jahren ihr Herz verloren hat, droht bei einem der nächsten Herbststürme ins Meer zu kippen. Ein letztes Mal noch möchte Ada ein rauschendes Fest feiern: in Erinnerung an ihren Mann, den berühmten Maler Leo Kwant, zusammen mit ihren Kindern, Freunden von früher und Vincent, dem Restaurantbesitzer aus dem Ort. Als die erwachsenen Töchter mit eigenen Sorgen anreisen, entgeht ihnen zunächst, dass Ada und Vincent etwas verbindet, das mit der Vergangenheit zu tun hat. Doch was Ada all die Jahre vor ihnen verheimlicht hat, ist so aufwühlend und tiefgreifend zugleich – es wird ihrer aller Leben für immer verändern.

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Der Roman

Ein Strandhaus an der französischen Atlantikküste mitten im Sommer. Doch der schöne Schein trügt. Der ansteigende Meeresspiegel verschlingt die Küste, und auch Les Vagues, an das die 74-jährige Ada vor vielen Jahren ihr Herz verloren hat, droht bei einem der nächsten Herbststürme ins Meer zu kippen. Ein letztes Mal noch möchte Ada ein rauschendes Fest feiern: in Erinnerung an ihren Mann, den berühmten Maler Leo Kwant, zusammen mit ihren Kindern, Freunden von früher und Vincent, dem Restaurantbesitzer aus dem Ort. Als die erwachsenen Töchter mit eigenen Sorgen anreisen, entgeht ihnen zunächst, dass Ada und Vincent etwas verbindet, das mit der Vergangenheit zu tun hat. Doch was Ada all die Jahre vor ihnen verheimlicht hat, ist so aufwühlend und tiefgreifend zugleich – es wird ihrer aller Leben für immer verändern.

Die Autorin

Katrin Bursegs Faible für Geschichte und Geschichten ließ sie Kunstgeschichte, Literatur und Romanistik studieren. Sie arbeitete als Journalistin, begann dann, Romane zu schreiben und erreichte mit Unter dem Schnee ein großes Publikum. In Norddeutschland aufgewachsen und in Hamburg zu Hause, hat sie sich schon früh für die Ozeane und den Klimawandel interessiert. Die damit einhergehenden Folgen für die Küstenregionen und die dort lebenden Menschen haben sie zu diesem Roman inspiriert.

KATRIN BURSEG

ADAS

FEST

ROMAN

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Copyright © 2023 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © T.S. Harris. All rights reserved 2022/Bridgeman Images; Henryk Sadura/Shutterstock.com

Autorenfoto: © Silje Paul

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24436-1V002

www.diana-verlag.de

»Es ist nie ganz klar, wie etwas Schönes gelingt.

Am wenigsten weiß es der Künstler selbst.«

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

WOCHE 1

1

Das hätte Leo gefallen. Ein letztes Mal Tanzen in den Dünen. Mit Champagner, Austern und Gelächter – so wie früher. Das Leben feiern, bevor das Meer ihr Sommerhaus in die Tiefe riss.

Müde von der langen Fahrt setzte Ada den Blinker und bog von der Küstenstraße in den schmalen Waldweg ein, der inmitten von Seekiefern zum Strand führte. Die Idee, ein Fest zu veranstalten, war ihr unterwegs gekommen, irgendwo zwischen Tours und Bordeaux. Aus dem heißen Asphalt, der vor ihr flimmerte, waren wie Traumbilder die Erinnerungen an die vielen glücklichen Sommer aufgestiegen.

Jetzt kniff Ada die Augen zusammen und blinzelte gegen die tief stehende Sonne an. Eine letzte Kurve noch, ein kurzes Stück über Sand und knisternde Kiefernnadeln, dann war sie da. Wie ein vor langer Zeit in den Dünen gestrandetes Schiff tauchte das Haus zwischen den Bäumen auf.

Als der Motor verstummte, hörte sie durch das geöffnete Seitenfenster endlich das Rauschen der Brandung. Dass sie die Strecke immer noch schaffte! Knapp tausendachthundert Kilometer von Berlin bis Laplage-sur-Mer. Eine Nacht bei Freunden in der Nähe von Düsseldorf, eine Nacht allein in einer weinumrankten Pension unweit der Kathedrale von Reims. Ein Geheimtipp, seit vielen Jahren schon. Und unterwegs ein Anruf von Kiki: »Warum nimmst du nicht den Zug?« Sie hatte gehört, wie ihre jüngste Tochter verständnislos an einer Zigarette zog.

Benommen blieb Ada noch einen Moment im Auto sitzen und sog den Geruch des Atlantiks ein, der sich nun in das Wellenrauschen wob. Es war früher Abend, ein berückendes Licht, Goldstaub, der durch die Kronen der alten Kiefern rieselte.

Schade, dass sie nicht mehr fotografierte.

Aus dem Schatten des Hauses löste sich Vincent, er kam auf sie zu, und für einen Augenblick schien sein Körper sich im flirrenden Licht aufzulösen. Ein Wort durchzuckte Ada und verflog, bevor sie es festhalten konnte. Sie spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog und ihr Herz sich mit Wehmut füllte, bevor die Trauer mit Macht über ihr zusammenschlug. Hilflos wischte sie sich über die Augen. Mein Gott, die Zeit. Als wären die Jahre, die vergangen waren, nur ein Schulterzucken gewesen.

»Nicht schlecht«, sagte Vincent, als er Ada kurz darauf an sich zog. Sie hatte ihn vor zwei Stunden von einer Tankstelle an der Autobahn aus angerufen, und er belohnte ihre Pünktlichkeit mit warmen Küssen auf die Wangen.

»Du kratzt«, erwiderte Ada ruppig, sie mochte sich den Anflug von Rührung nicht anmerken lassen. Schlimm genug, dass er das verräterische Schimmern in ihren Augen sah. Wollte er sich auf seine alten Tage etwa noch mit den jungen Kerlen messen, die ihre kurzen Bärte wie ein Statement trugen?

»Joël gefällt’s.«

»Dein Sohn küsst dich auch nicht.«

Vincent lachte und holte das Gepäck aus dem Wagen. Zwei Reisetaschen, mehr brauchte sie nicht.

»Hast du dich auch noch tätowieren lassen?«, fragte Ada, als sie auf das Haus zugingen. Die Kabbelei lenkte sie für ein paar Sekunden von dem bohrenden Schmerz ab, nach ihrem Mann nun auch noch das Strandhaus zu verlieren. Von dem Gedanken, dass in diesem Moment ihr letzter Sommer in den Dünen von Laplage-sur-Mer anbrach.

Vincent spielte mit. »Willst du mal sehen?«

Er stellte die Taschen ab und tat so, als wollte er sein Hemd aufknöpfen. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre war er immer noch schön: dunkle Augen, Charakternase, volles silbrig weißes Haar. Er hatte sein ganzes Leben am Meer verbracht, der Atlantik hatte sich in sein Gesicht eingeschrieben.

»Später.« Ada schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, und er zwinkerte ihr zu. Doch etwas in seinem Blick sagte ihr, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Wort für Wort. Ja, sie war gekommen, um Abschied zu nehmen. Auch von ihm.

Drinnen war alles perfekt. Das weiße Haus in den Dünen, das Leo einst Les Vagues – die Wellen – getauft hatte, öffnete sich mit der gesamten rückwärtigen Front zum Meer, der Blick auf den Atlantik war spektakulär. Man konnte sich einfach nicht sattsehen. »Au-delà des mots«, wie ihr Mann zu sagen pflegte. »Jenseits aller Worte.« Deshalb hatte Leo hier wie im Rausch gemalt, im Atelier ihres Strandhauses waren seine besten Werke entstanden. Les Vagues hatte aus einem begabten jungen Maler den berühmten Künstler Leo Kwant gemacht, um dessen Bilder sich die Sammler immer noch rissen.

Ada holte tief Luft. Das Haus war voller Erinnerungen. Überall hingen Leos Bilder, dazwischen die gerahmten Fotografien ihres gemeinsamen Lebens. Sie schlüpfte aus den Schuhen, lief barfuß durch die Räume, öffnete die Fenster – und das Haus begann zu atmen. Unterdessen trug Vincent die Reisetaschen nach oben. Als er in die Küche ging, stieg Ada langsam die Treppe hinauf. Es machte ihr nichts aus, dass Vincent sah, wie ihr der Rücken nach der langen Fahrt schmerzte. Sie war schließlich nur ein Jahr jünger als er.

Oben war ihr Bett frisch bezogen. Auf dem kleinen Nachttisch lagen die drei kugelrunden Steine, die sie im Laufe der Zeit am Meer gefunden hatte. Einer für jede ihrer Töchter. Da wartete ein neuer Roman, von dem sie schon gehört hatte, und in einem Wasserglas leuchtete eine herrliche Moosrose, die Vincent im Garten von Madame Martinez geklaut haben musste. Alles nur, um ihr eine Freude zu machen. Und sie war vorhin so abweisend gewesen.

Ada duschte rasch. In ein Handtuch gewickelt tappte sie in ihr Schlafzimmer zurück und packte aus. Sie entschied sich für ein weißes Tunikakleid, das den Winter über in Les Vagues geblieben war und schwach nach Lavendel roch. Die beiden neu gekauften Sommerkleider hängte sie in den Schrank. Zu Hause hatte Ada es sich längst abgewöhnt, ihrem Spiegelbild sonderlich viel Beachtung zu schenken, aber im weichen Licht, das durch die transparenten Voilegardinen sickerte, verweilte ihr Blick für ein paar Sekunden auf dem, was sie im Spiegel sah.

Nur schauen und kein Gesicht aufsetzen!

Interessant war wohl das Schmeichelhafteste, was man jetzt über sie sagen konnte. Ada war nie eine klassische Schönheit gewesen, eher herb, mit etwas zu weit auseinanderstehenden grünen Augen, einem breiten Nasenrücken und Sommersprossen, und das Alter tat sein Übriges. Sie schminkte sich kaum; allein das rote Haar, inzwischen das Produkt eines ausgeklügelten chemischen Prozesses, erinnerte an ihre Jugend. »Ma flamme«, hatte Leo sie gerufen, als sie das Haar noch sehr lang trug. Oder, ganz am Anfang, als sie sich ineinander verliebt hatten: »Je suis en flamme – ich stehe in Flammen.« Obwohl er Deutscher war, sprach Leo den Sommer über am liebsten nur Französisch. Eine seiner vielen Marotten, die seiner verworrenen Familiengeschichte entsprungen waren und die er nie abgelegt hatte. Sie gaben ihm Halt.

Das Handy summte und riss Ada aus ihren Gedanken. Kiki. Schon wieder! Unschlüssig wog sie das flache, silbrige Ding in der Hand, dann schob sie es unter ihr Kopfkissen. Unten wartete Vincent mit dem Essen, sie würde sich später bei ihrer Tochter zurückmelden.

Als Ada die Treppe hinabstieg, hörte sie Vincent leise singen. Er hatte den Tisch auf der Terrasse über dem Strand gedeckt, wo man inzwischen wie auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffes saß, und empfing sie mit einem Lächeln voller Zuneigung. Ihr Dankeschön parierte er mit einer kleinen, schnellen Handbewegung, als wäre das alles nicht der Rede wert.

Erwartungsvoll ließ Ada sich in einen der ausladenden Sessel aus Rattan und Teakholz sinken und sah ihm zu, wie er marinierte Feigen und warmen Ziegenkäse auf ihrem Teller arrangierte. Dazu gab es einen herrlich kühlen Weißwein aus Bordeaux, der sie aufmunterte. Schluss mit der Melancholie, sie wollte diese letzten Wochen in ihrem Sommerhaus genießen!

Also erzählte sie ihm beim Essen das Neueste von ihren Töchtern Esther, Imme und Kiki, die er quasi von Geburt an kannte, und den beiden Enkelinnen. Vincent revanchierte sich mit Neuigkeiten aus dem Ort und von Joël, seinem Adoptivsohn, der inzwischen ja auch schon fünfunddreißig war und vor ein paar Jahren das kleine Restaurant seines Vaters übernommen hatte. Nach ein paar Turbulenzen zu Beginn – Vincent hatte nicht loslassen können, und Joël zeigte das Temperament seiner Mutter Mathilde – hatten die beiden einen guten Modus für die gemeinsame Arbeit gefunden. Joël profitierte von den Kochkünsten seines Vaters, während Vincent es genoss, nur noch am Herd zu stehen und sich um die Zahlen keine Gedanken mehr machen zu müssen.

»Er hat den gleichen Geschäftssinn wie mein Großvater«, bemerkte er.

Am Meer packten die letzten Surfer ihre Sachen zusammen, Möwen kreisten träge über dem Wasser. In diesem Jahr führte der Trampelpfad vom Strand zum nahe gelegenen Campingplatz an der Nordseite des Hauses vorbei, und Ada sah, wie sich die jungen Leute zwischen den Lattenzäunen hindurchschoben, die die Dünen schützten. Wie üblich kämpfte die Gemeinde mit Strandhafer und abgesteckten Wegen gegen den Sandverlust an, doch das Meer war gierig. Jedes Jahr fraß es sich näher an den Ort heran.

Vincent ließ nicht zu, dass sie ihn lobte, aber als er den auf der Haut gebratenen Loup de Mer servierte, hörte sie sich leise seufzen. Salz, ein paar Kräuter und Olivenöl, mehr brauchte er nicht, um die Aromen des Meeres einzufangen. Danach nur noch einen Kaffee, während Vincent rauchte. Das vertraute Schweigen war Ausdruck ihrer langen Freundschaft.

Der Wind schien einzuschlafen, eine flache Dünung rollte auf den Sand, die untergehende Sonne ließ die fedrigen Wölkchen purpurrot leuchten. Da war noch ein Streifen Gold am Horizont, das Meer roch nach Muscheln und Tang, wild und vertraut.

»Was willst du machen?«, fragte Vincent nun, nachdem er die Zigarette sorgfältig ausgedrückt hatte. Er wollte nicht mehr warten, sich nicht länger hinhalten lassen. Über den Tisch hinweg sah er sie an, dann deutete er mit dem Kinn auf das Haus, das wie eine Klippe über ihnen aufragte. Kaum zu glauben, dass die Fluten der Herbst- und Winterstürme längst bis an die Treppe zum Strand heranreichten und die kalten weißen Brecher das Haus bis in seine Grundfesten erzittern ließen.

Ada hob die Arme und ließ sie wieder sinken.

»Was soll ich denn tun?«

»Du könntest klagen.«

»Ach komm!«

Sie winkte ab, nicht resigniert, nur realistisch. Als Leo und sie das Haus Anfang der 1970er-Jahre gekauft hatten, hatte man ihnen versichert, es würde noch mindestens siebzig, ach was, achtzig Jahre dauern, bis das Meer ihr Grundstück in den Dünen erreichte. Achtzig Jahre – eine Ewigkeit! Wer wusste denn schon, wie lange sie es überhaupt miteinander aushielten. Damals war das Wasser noch fast hundert Meter vom Haus entfernt gewesen.

Doch in den letzten zwanzig Jahren hatten der steigende Meeresspiegel und eine Reihe verheerender Stürme den Abstand schnell schmelzen lassen. Der letzte Orkan fegte dann endgültig alle Prognosen über die zu erwartende Erosion davon. Zehn Meter hohe Wellen! Fünfzig Kilometer weiter, oben im Norden, hatten die Brecher den alten Leuchtturm von Point Saint Égide zerschmettert. Das Meer hielt sich nicht mehr an die Berechnungen der Experten. Inzwischen war es dort, wo man es erst in dreißig Jahren erwartet hatte.

»Wen sollte ich verklagen?«

»Die Gemeinde. Weil sie dich nicht schützt.«

»Es geht doch längst nicht nur um mich.«

Ada blickte die sanft geschwungene Linie der Dünen entlang, wo im Süden die Lichter der Strandpromenade von Laplage-sur-Mer aufleuchteten. »Wenn ich jetzt nicht gehe, holt sich das Meer in ein paar Jahren dein Restaurant«, sagte sie.

»Es gehört jetzt Joël.«

»Ändert das etwas?«

Vincent schwieg, und Ada dachte unwillkürlich, wie sehr ihr auch Joël am Herzen lag. Fröstelnd wickelte sie sich in ihre Strickjacke, jetzt, wo die Sonne unter den Horizont rutschte, wurde es kühl.

»Maire Baudelon hat mich Ende letzten Jahres angerufen«, fuhr sie nach einer Weile fort und registrierte, dass Vincent sich eine weitere Zigarette anzündete. »Er hatte immerhin den Mut, es mir persönlich zu sagen.«

Manuel Baudelon war der Bürgermeister von Laplage-sur-Mer, ein stabiler, rotgesichtiger Mann mit durchdringenden Augen, die stets in Bewegung waren. Eigentlich hatte Ada einen Brief erwartet, eine formelle Aufforderung der Gemeinde, das Haus zu räumen, schließlich befürchtete sie schon seit Jahren, dass es nicht mehr zu retten war. In seinem Telefonat hatte der Bürgermeister von einem sanften Rückzug gesprochen und erklärt, dass die bisherigen Maßnahmen zum Schutz der Küste nicht ausreichten, die Uferzeile sei langfristig nicht zu halten. Sie sei leider die Erste, die weichen müsse, um das dahinterliegende Land durch Sandvorspülungen zu schützen. Man brauche ihre Düne, ihren Strand. Neben einer Entschädigung hatte er ihr ein Grundstück zu vergünstigten Konditionen angeboten, weiter hinten in den Kiefernwäldern bei Talais, aber das hatte Ada abgelehnt. »Wir wussten immer, dass dieses Haus nur auf Sand gebaut ist.« Dabei hatte sie Baudelon verschwiegen, dass sie sich zu alt fühlte, um noch etwas Neues bauen zu lassen. Noch dazu ein Sommerhaus, das sie nur ein paar Wochen im Jahr bewohnte. Was für eine Anmaßung in ihrem Alter, wo sie mit den flirrenden Sommerwochen in Les Vagues doch längst abgeschlossen hatte. Das offizielle Schreiben war dann etwa eine Woche nach Baudelons Anruf in Berlin eingetroffen. Bis Ende September ließ die Gemeinde ihr noch Zeit. Zeit, um Abschied zu nehmen von allem, was sie so liebte.

»Die Holländer mit ihren Deichen lachen uns aus.«

Vincents Stimme klang nun rau, als verlöre er die Fassung. Er knüllte das leere Zigarettenpäckchen zusammen. Nachdem Joël das Restaurant übernommen hatte, war Vincent in einer Bürgerinitiative für den Erhalt des Ortes aktiv geworden. Die Geschäftsleute von Laplage-sur-Mer hatten Szenarien entwickelt, wie sie sich mittelfristig gegen den Bodenverlust wappnen könnten. Auch den strategischen Rückzug hatten sie dort durchgespielt, den Vincent jedoch ablehnte. Er wollte sich nicht geschlagen geben. Kapitulation – so etwas kannte man in seiner Familie nicht.

»Die Stadt müsste mehr als hundert Wohnungen und dreißig Geschäfte aufkaufen, abreißen und das Ufer an die Natur zurückgeben«, sagte er nun. »Und dazu wird es nicht kommen, weil die Gemeinde das nicht bezahlen kann. Hör nicht auf Baudelon! Du opferst dein Haus zu früh – und völlig umsonst.«

»Soll ich warten, bis Les Vagues ins Meer kippt?«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Ada Vincent vor sich, wie er mit Sandsäcken gegen die Fluten ankämpfte. Wie er verzweifelt versuchte, das Strandhaus zu retten. Und wie sie dann in einer stürmischen Nacht Arm in Arm im Meer versanken. Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Armer Vincent, es hatte doch keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen. Es war ein aussichtsloser Kampf, das Haus und alles, was daran hing, war verloren.

Aber Vincent blickte sie eindringlich an. »Vielleicht haben wir noch fünf oder sechs Sommer, Ada.«

Wir? Was stellte er sich vor?

Ada erwiderte nichts, und Vincent rauchte noch eine Zigarette. Ihr Schweigen hatte sich verändert, etwas Schweres, das die Wellen mit ihrem Raunen nicht übertönen konnten, lag darin. Irgendwann stellte Vincent die Teller zusammen und trug sie an ihr vorbei ins Haus. Sie hörte ihn noch eine Weile in der Küche rumoren, schließlich fiel die Haustür sanft ins Schloss, und der Motorroller fuhr davon.

Ada seufzte. Es schmerzte sie, dass er ihren Entschluss nicht verstehen konnte. Hoffentlich kam er bald zurück.

2

Ada machte sich keine Gedanken, als Vincent sich am nächsten Tag nicht meldete. Sie kannte doch seinen Stolz! Außerdem hatte es immer Zeiten gegeben, in denen sie beide bewusst Abstand gehalten hatten, um nicht im Strudel des anderen unterzugehen. Und so gab sie sich den Freuden des Sommers hin – dem Schwimmen, dem Lesen, dem Nichtstun mit Blick aufs Meer. Doch nach drei Tagen wurde sie unruhig.

Was zum Teufel erwartete Vincent von ihr?

Seine Frau Mathilde war vor anderthalb Jahren gestorben. Hatte er geglaubt, dass sie nach einer gesitteten Trauerzeit wieder mehr verbinden könnte als die Erinnerung an früher? War er der sentimentale Hund?

Erst ratlos, dann verärgert versuchte Ada, sich mit langen Spaziergängen am Wasser abzulenken. Das Meer und der Anblick der Surfer, die die Wellen so sicher zu beherrschen schienen, beruhigten sie. Doch wenn Ada nach ein oder zwei Stunden zum Strandhaus zurückkehrte, hoffte sie insgeheim, dass Vincent auf der Terrasse saß und nach ihr Ausschau hielt. Sie wollte keinen Streit, sie wollte die letzten Wochen in ihrem Haus einfach nur genießen und nicht endlos mit ihm über ihre Entscheidung debattieren. Sah er denn nicht, dass sie Les Vagues auch Joëls wegen opferte? Maire Baudelon hatte ihr doch erklärt, dass ihre Düne und die geplanten Sandvorspülungen die Strandpromenade von Laplage-sur-Mer noch für dreißig oder vierzig Jahre vor dem Meer schützen könnten. Dann wäre auch Joël alt genug, um sich im Hinterland zur Ruhe zu setzen.

Aber Vincent blieb stur, er zeigte sich nicht, und schließlich hatte Ada von seinem Schweigen genug. Am Donnerstag, gleich nach dem Frühstück, machte sie sich auf den Weg zu ihm.

Das Strandhaus lag etwas außerhalb, und es war das erste Mal seit ihrer Ankunft in Les Vagues, dass Ada in den Ort ging, denn Vincent hatte ihr einen prall gefüllten Kühlschrank hinterlassen. Butter, Milch, Eier, Aprikosenkonfitüre, Käse, Schinken – mehr als genug. Dazu Obst und Gemüse und sogar noch ein ganzes gebratenes Bressehähnchen mit Siegelring an den kräftigen blauen Füßen. Daran hätte sich eine Familie satt essen können. Die Reste hatte sie dem Streuner hingestellt, einem scheuen grauen Kater, der sie seit ihrer Ankunft auf der Terrasse besuchte. Ada überlegte kurz, das Fahrrad zu nehmen, aber dann ging sie doch zu Fuß durch das schattige Kiefernwäldchen hinter den Dünen. In den vergangenen Tagen war es sehr heiß gewesen, ein wolkenloser, hoher Julihimmel. Fast dreiunddreißig Grad, nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Und auch heute ließ sich die Hitze des Tages schon erahnen, obwohl es erst kurz nach neun war. Der Wind vom Meer war kaum zu spüren, und in den Bäumen knackten die Zapfen und sprangen auf. Wie kleine Hagelkörner prasselten Kiefernsamen auf sie herab. Ein paar Eidechsen glitten durch trockene Nadeln davon, und auf halbem Weg huschte ein Eichhörnchen über den Pfad und kletterte eine Kiefer hinauf.

Als Ada seine warnenden Laute nachahmte, hielt es einen Moment inne und sah sie von oben herab missbilligend an. »Ich gehe schon seit fast fünfzig Jahren hier entlang«, hörte Ada sich sagen, fast ein wenig trotzig. Sie hatte in den vergangenen Tagen kaum gesprochen, jedenfalls nicht mehr als ein paar Locklaute an den Kater, dem sie die vereiterten Augen säubern wollte, ihre Stimme klang wie ein vernachlässigtes Instrument. Im nächsten Moment musste sie lachen, weil sie sich dem Tier gegenüber rechtfertigte. Das Eichhörnchen sprang auf den nächsten Baum und verschwand.

An dem kleinen Weiher, dem die Trockenheit zugesetzt hatte, legte Ada sich einen Moment ins Moos. Ihre Hände strichen über den weichen Teppich, auf dem ihr Körper ruhte, ihr Blick glitt die vom Wind geformten Seekiefern hinauf bis in den Himmel. Plötzlich meinte sie, die Stimmen ihrer Mädchen zu hören, Kinder, die ausgelassen durch das duftende Wäldchen tobten: »Wer ist zuerst bei Mama?« Schwerelos glitten ihre Gedanken davon.

Wie alles Schöne war Les Vagues ganz unvermittelt in ihr Leben gekommen. Sie hatten damals nicht nach einem Haus gesucht, aber als Leo das verlassene Gebäude bei einem Spaziergang entdeckte, war er begeistert. Er hatte sofort das Potenzial (die Lage, der Blick, das unsagbar Schöne) und nicht die Ruine gesehen, obwohl das Dach kaputt gewesen war, die feuchten Mauern bröckelten und überall Möwendreck lag.

Es war nicht teuer gewesen, das Haus zu kaufen, aber es bewohnbar zu machen, hatte Leos Erbe verschlungen und alles, was sie damals besaßen. Deshalb mussten sie die Maurer, Tischler und Elektriker auch mit Adas Arbeit bezahlen. Mit ihrer Leica hatte sie die Männer und deren Familien porträtiert, oft auch noch die kleinen Handwerksbetriebe und ihre Angestellten, in verlegenem Stolz auf dem Trottoir aufgereiht. Vom zahnenden Neugeborenen über den linkischen Laufburschen bis zur achtzigjährigen Großmutter, die die Deutsche grantig und unversöhnlich als Boche beschimpfte, hatte Ada sie alle vor der Kamera gehabt. Später gab es dazu sogar eine Ausstellung mit einem schmalen Katalog. Ein Bild von Leo hatte damals kaum jemand haben wollen, noch nicht einmal geschenkt. Wenn Ada heute davon erzählte, konnte das niemand glauben. Selbst auf der Strandpromenade verkauften sie Postkarten von Leos berühmtestem Gemälde, dem »Mädchen in der Brandung«, das inzwischen keine sechzig Kilometer entfernt in Bordeaux im Museum für zeitgenössische Kunst hing.

Als ein paar Radfahrer an ihr vorüberfuhren, blieb Ada einfach liegen. »Alles in Ordnung?«, rief jemand besorgt, weil man bei einer Frau ihres Alters wohl auf solche Gedanken kam, und Ada winkte beruhigend zurück. »Ja, alles in Ordnung!« Aber als die Gruppe nicht mehr zu sehen war, brach sie ganz plötzlich in Tränen aus.

War es die Trauer um das Strandhaus, die sie doch noch überwältigte?

Der Schmerz darüber, dass sie vor vielen Jahren so leichtfertig gewesen war, ihr Herz an dieses Stückchen Erde zu verlieren? An das Haus, in dem noch immer ihre Träume siedelten und wo sie die schönsten, aber auch die schwersten Stunden ihres Lebens erlebt hatte?

Ärgerlich drückte Ada sich die Fäuste auf die Augen, aber die Verzweiflung ließ sich nicht mehr aufhalten. Ihr Kummer bahnte sich den Weg. Die Vorstellung, dass bald ein Bagger die Erinnerung an das gemeinsame Leben mit Leo brutal in Stücke reißen würde und nur noch Trümmer davon zurückbleiben sollten, ließ sie entsetzt nach Luft schnappen.

Adas Weinen steigerte sich, schwoll an von einem stillen, fast ungläubigen Tränenfluss hin zu einem unbeherrschten wilden Schluchzen. Die Trauer um den bevorstehenden Verlust schüttelte sie, ihre Wogen schwappten über all die so mühsam konstruierten Dämme in ihrem Inneren.

Hilflos grub Ada ihre Hände in das Moos, aber es dauerte eine Weile, bis der Schmerz etwas nachließ, bis sie sich zur Ordnung rief und allmählich wieder beruhigte.

Himmel, was war sie nur für eine Närrin!

Ihr Leben sei doch in Ordnung, würden die Töchter sagen. Und irgendwie stimmte es ja. Jedenfalls hatte Ada nach Leos Tod im Winter vor zweieinhalb Jahren das Schlimmste wohl überstanden. In Berlin war sie sogar in eine neue, lichtdurchflutete Wohnung umgezogen, und finanziell konnte sie nicht klagen. Leos Bilder sicherten ihr immer noch ein komfortables Einkommen, auch Esther als seine Galeristin lebte davon. Und gelegentlich profitierte noch Kiki, die immer mal wieder eine Finanzspritze benötigte.

Sogar Adas Rücken war etwas besser geworden, die Schmerzen ließen immer nach, wenn sie morgens und abends im Meer schwamm. Wenn sie spürte, wie das Wasser sie trug.

Und Vincent?

Ihn würde sie auch noch einfangen, er musste ihr doch helfen. Das Fest! Ada rechnete nach. Es war inzwischen Mitte Juli, und am zweiten Samstag im August wollte sie feiern – genau wie früher. Höchste Zeit also, dass sie ihre Einladungen verschickte.

Auf der Suche nach Halt heftete Ada den Blick auf die Kiefern, deren Äste den Himmel zerteilten. Das Fest würde eine Brücke in ein Leben ohne das geliebte Strandhaus sein, wenn sie es schaffte, Vincent von ihrem Plan zu überzeugen.

Laplage-sur-Mer war noch immer das hübsche, kleine, sorglose Städtchen, das es für Ada stets gewesen war. Der Ort empfing sie mit seinen schönen alten Villen im Belle-Époque-Stil. Das Frühstück in den Pensionen und Ferienhäusern war beendet, überall bereiteten sich die Sommergäste auf einen Strandtag vor. In den Vorgärten türmten sich Strandtaschen, Sandspielzeug und Surfbretter, Gelächter hing in der Luft, und Kinder tobten herum. Hinter dem Marktplatz, in der Rue Gorgol, war Madame Martinez mit ihren Rosen beschäftigt. Als die alte Dame Ada erkannte, winkte sie erfreut und kam für einen Plausch an die Straße.

»Er denkt, ich merke es nicht, wenn er an meine Rosen geht.«

»Vincent Flamant?« Ada lächelte entschuldigend und musterte die kleine, energische Person, die in ihrem pastellfarbenen Sommerkleid und dem Sonnenhut auf dem schlohweißen Haar ein wenig der englischen Königin glich. Ihr Gesicht war von Falten zerfurcht, trotzdem leuchtete es, und an den durchscheinenden Handgelenken unterstrichen empört klimpernde Armreifen ihr Temperament. Ada kannte sie schon ewig, und selbst vor fünfzig Jahren war die Martinez schon alt gewesen. »Niemand hat so schöne Rosen wie Sie, Madame.«

»Er hat Glück, dass ich nicht mehr so schnell laufen kann.«

In gespieltem Ärger verzog Madame Martinez das Gesicht und deutete auf ihre geschwollenen Füße, die in roten Pantoffeln aus weichem Ziegenleder steckten. Sie ging inzwischen wohl auf die hundert zu und teilte sich Haus und Garten mit Inès, ihrer zwanzig Jahre jüngeren Nichte, die früher einmal Tänzerin gewesen war. Inès hatte Leo ein paarmal Modell gestanden, der Akt »Inès mit Spiegel« war kurz nach Leos Tod aus einer Privatsammlung für eine knapp siebenstellige Summe bei Sotheby’s in London versteigert worden. Inès hatte es immer genossen, dass die ganze Welt ihren nackten Körper kannte, und sich mit einem selbstbewusst-ironischen Lächeln als Leos Muse bezeichnet.

»Wie geht es dem Maler?«, fragte Madame Martinez in diesem Moment. Obwohl ihr Gedächtnis absolut in Ordnung war, weigerte sie sich beharrlich, Leos Tod zur Kenntnis zu nehmen. Offenbar gehörte er zu Ada so wie die Rosen zu Madame Martinez.

»Ich denke, es geht ihm gut.« Ada deutete in den seidig blauen Himmel, und die alte Dame fasste sich an die Stirn.

»Der Maler ist nie an meine Rosen gegangen«, murmelte sie ein wenig verlegen, dann drehte sie sich um und kehrte in den Schatten ihres Hauses zurück. Die Audienz war beendet.

Lächelnd blieb Ada noch einen Moment an der Straße stehen und betrachtete das schöne Haus. Von Vincent hatte sie schon gehört, dass Inès kaum noch vor die Tür ging, aber vielleicht zeigte sie sich hinter einem der Fenster. Erst als Ada sicher war, dass weder Madame Martinez noch Inès sie beobachteten, knipste sie eine der schweren Moosrosenblüten ab, die über die Gartenmauer hingen. Für Vincent.

Das Café Victoire an der Strandpromenade blieb vormittags geschlossen. Trotzdem stand die Tür des Restaurants für Lieferanten offen, und auf einen Kaffee konnten Freunde und Nachbarn immer hereinschauen. Am Tresen entdeckte Ada Joël, den Kopf über eine seiner Listen gebeugt. In seinem Rücken funkelte die verspiegelte Regalwand mit den polierten Gläsern und bunt gefüllten Flaschen. Einen Augenblick blieb Ada stehen und ließ den Raum mit den dunklen Bistrostühlen, weiß eingedeckten Tischen und tropfenförmigen Lampen auf sich wirken. Hier hatte sie vor mehr als einem halben Jahrhundert Leo kennengelernt, dahinten an dem Tisch in der Ecke hatte er in seinem bunt bestickten Hemd vor einem Teller Austern gesessen. Und als er aufschaute und sie in ihrem staubigen Kleid durchdringend musterte, fand sie ihn arrogant.

Wehmütig blickte Ada auf die Rose in ihren Händen, aber dann straffte sie die Schultern und hob das Kinn. Verflixt noch mal, sie wollte sich doch nicht schon wieder von der Vergangenheit überrollen lassen! Nicht, dass Joël ihr noch ansah, dass sie geweint hatte.

»Ada!« Als Joël sie bemerkte, glitt ein jungenhaftes Lächeln über sein Gesicht, und er kam auf sie zu, um sie fest zu umarmen. Auch seine Küsse kratzten.

»Na«, sagte sie keck und strich ihm liebevoll über die Wange. »Dir geht es gut, ja?«

»Keine Klagen.«

Joël lächelte hinreichend überzeugend, und Ada unterdrückte das Verlangen, ihn noch einmal an sich zu ziehen und seinen Duft in sich aufzunehmen. Er sah gut aus, war größer als Vincent, mit pechschwarzem, leicht lockigem Haar und irritierend blauen Augen. Dazu ein schwarzes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, schwarze Jeans, Turnschuhe und die bordeauxrote Schürze mit dem Schriftzug des Restaurants. Ada konnte nicht verstehen, dass er immer noch allein lebte.

»Entschuldige, dass ich noch nicht zu dir rausgekommen bin. Du weißt ja, das Geschäft …« Joël setzte eine zerknirschte Miene auf, aber Ada winkte ab. Er war ihr nichts schuldig.

»Ich hätte doch auch längst vorbeischauen können.«

»Kaffee?«

Ohne ihr Nicken abzuwarten, löste Joël sich von ihr und trat an die blitzende Baristamaschine. Adas Blick fiel auf das kleine goldgerahmte Foto von Mathilde, das wie ein Madonnenbildchen neben der Maschine hing. Sainte Mathilde. Verschwörerisch nickte sie der Freundin zu.

»Kiki will dich sprechen«, sagte Joël, als er ihr den Kaffee über den Tresen schob. »Sie hat mich vorhin angerufen.«

Ada verdrehte die Augen. Ihre jüngste Tochter benötigte immer noch so viel Aufmerksamkeit wie ein Kind. »Ich glaube, ich habe mein Telefon im Strandhaus vergessen«, sagte sie leichthin, wohl wissend, dass Joël das nicht verstehen konnte. Er selbst trug das Handy stets griffbereit in der Gesäßtasche seiner Jeans, und bei ihren Töchtern hing das jeweilige Ding gewöhnlich an einer Kordel quer über den Oberkörper.

»Papa ist hinten.« Joël sah aus, als wollte er sich wieder über seine Orderlisten beugen. Hatte Vincent ihm denn nichts erzählt? Joël musste doch wissen, dass sie das Strandhaus aufgeben wollte und mit seinem Vater wegen ihrer Kapitulation vor Maire Baudelon über Kreuz lag.

»Hm.« Ada nickte und nippte an ihrem Kaffee. Sehr heiß, sehr stark. Auf einmal zögerte sie, in die Küche zu gehen, wo sie Vincent arbeiten hörte. Verlegen legte sie die Rose auf den Tresen.

Joël sagte nichts, aber er sah sie forschend an, dann stellte er die Rose in ein Wasserglas. Also doch, er wusste von ihrem kleinen Streit.

»Ich möchte doch nur noch einmal ein Fest in Les Vagues feiern«, sagte Ada und erwiderte trotzig seinen Blick. »Ein Sommerfest. So wie früher. Erinnerst du dich?«

Joël nickte, als hätte er sich so etwas gedacht. Schon als Kind hatte er sich in sie hineinfühlen können, und bisweilen hatte Ada sich gefragt, ob er ihre Gedanken lesen konnte. Wenn Joël in den Sommerferien zum Spielen draußen in Les Vagues gewesen war, hatte er immer sofort bemerkt, wenn ihr die tobenden Kinder auf die Nerven gingen. Kiki hingegen konnte nie ein Ende finden. »Mehr, mehr, mehr!« Kiki war wild und laut und kaum zu bändigen gewesen, sie hatte ihre Mutter immer herausgefordert, während er versucht hatte, ihr zu gefallen.

»Wen willst du denn einladen?«, fragte er.

»Alle.« Ada lächelte und breitete die Arme aus. Der Gedanke an das Fest belebte sie, erfüllte sie mit Freude und ließ den Abschied vom Strandhaus ein wenig in die Ferne rücken. »Alle, die kommen möchten und spontan Zeit haben.«

In diesem Moment kam Vincent aus der Küche. Er umfasste sie ganz leicht von hinten, seine Hände lagen auf ihren Hüften, und er küsste sie sanft, irgendwo zwischen Ohr und Mund. Ein Kuss, der sie fortzutragen schien und die Melodie einer fernen Sommernacht in ihr wachrief.

Dass Vincent sich vor Joël zu so einer Intimität hinreißen ließ! Um Verzeihung bittend blickte Ada zu dem Tisch hinten in der Ecke, an dem Leo immer gesessen hatte.

»Ich koche«, sagte Vincent und ließ sie nicht los, »und Joël ordert den Champagner. Natürlich helfen wir dir.«

3

Ada hatte das Strandhaus noch nie vom Horizont aus gesehen, das fiel ihr auf, als sie am nächsten Morgen auf der Terrasse saß, um die Einladungen zu schreiben. (Nein, keine elektronische Post, dieses letzte Fest erforderte Tinte und Papier!)

Wie mochte es aus der Ferne wirken?

Und was sah man von einem Boot aus beim Näherkommen zuerst?

Das mit grauen Schindeln gedeckte Dach? Den hervorspringenden Giebel? Die türkisfarbenen Fensterläden? Oder den weißen, würfelförmigen Anbau mit dem Atelier?

Seltsam, dass sie noch nie darüber nachgedacht hatte.

Ada besaß eine Reihe von Fotografien von Les Vagues, die sie vom Strand aus gemacht hatte, ein paar Zeichnungen von Leo und unzählige Bilder, die die Mädchen gemalt hatten (hauptsächlich von Esther und Kiki, denn Imme hatte lieber das Meer gemalt, das flackernde Muster der Wellen), aber keine Aufnahme vom Meer aus, mit der Brandung des Atlantiks vor dem Strandhaus. Und plötzlich quälte sie der Gedanke.

Was, wenn es für dieses eine Bild längst zu spät war?

Bisweilen meinte Ada zu spüren, wie das Meer an ihrem Haus zog. Sein flüsterndes Schmeicheln, wenn es nachts zu ihm sprach und dann seine Netze aus weißer Gischt ausrollte: »Komm zu mir, ma belle!« Es war, als wäre auch die Düne unter dem Fundament längst in Bewegung geraten, bereit, sich vom Wasser fortreißen zu lassen.

Einen Moment lang saß Ada einfach nur da und blickte auf das Meer. Sie hatte die Briefbögen mit dem Schriftzug von Les Vagues und den drei stilisierten Wellen, den Leo einst entworfen hatte, mit einem Stein beschwert, damit der Wind sie nicht davonwirbeln konnte. Leos alter Strohhut, mit Haarklammern festgesteckt, beschirmte ihr Gesicht. Der Wind hatte sich über Nacht gedreht und war aufgefrischt, die Wellen schlugen an den Strand und trugen leuchtend weiße Schaumkronen. Beste Bedingungen zum Surfen.

Unten an der Wasserlinie trugen die ersten Wellenreiter ihre Bretter in die Brandung. Es war nicht mehr so viel los wie früher, als der Strand noch breiter gewesen war, aber immer noch genug, um dem Treiben auf dem Wasser den ganzen Tag zuzuschauen. Ein junges Paar fiel ihr auf, das sie in den vergangenen Tagen schon ein paarmal beobachtet hatte. Er war ziemlich gut, sie eine Anfängerin. Geduldig unterwies er sie im Weißwasser, ließ sie durch die brodelnde Gischt paddeln, bis sie nach einer Weile erschöpft aufgab. Sie setzte sich an den Strand, schlang die Arme um die Knie und wartete auf ihn. Er dagegen hatte noch lange nicht genug. Immer wieder zog es ihn hinaus, er surfte die grünen Wellen, ohne müde zu werden.

Ada genoss es, ihm zuzusehen. Sein kraftvoller, langgliedriger Körper, das zerzauste Haar, seine Begeisterung und sein Spiel im Wasser waren eine Freude. Gewiss hätte Leo den Zauber dieses Bildes aus Bewegung, Licht und Körperlichkeit in wenigen Strichen einfangen können, und bevor Ada zu schreiben begann, schaute sie zu dem Podest hinüber, wo er beim Zeichnen mit dem Skizzenblock in der Hand gesessen hatte. Jetzt lag dort der Kater in der Sonne und schlief, die Augen immer noch verkrustet. Es war ihr nicht gelungen, ihn einzufangen.

Die ersten Wellenreiter waren Anfang der 1980er-Jahre an ihrem Strand aufgetaucht. Leo war sofort fasziniert gewesen, er hatte es sogar selbst probiert, sich aber als gänzlich untalentiert erwiesen. Er schaffte es einfach nicht, die Welle zu erspüren, und wenn es ihm überhaupt gelang, über die Sandbänke zu einer vielversprechenden Stelle hinauszupaddeln und sich aufs Brett zu ziehen, hielt er sich nur wenige Sekunden aufrecht, bevor er kopfüber ins Wasser stürzte. Einmal war ihm sogar das Board ins Gesicht geschlagen, und er hatte eine Platzwunde über dem Auge davongetragen. Danach hatte er diesen Sport aufgegeben und den Mädchen später sogar verboten, mit dem Wellenreiten anzufangen.

Natürlich hatten sich die Kinder nicht daran gehalten, ihre mittlere Tochter Imme hatte es sogar recht weit gebracht. Imme konnte das Wasser lesen, immer schon, konnte seine Launen deuten. Als Neunjährige hatte sie Ada einmal erklärt, dass die Brandung an ihrem Strand ursprünglich von Stürmen weit draußen auf dem Ozean herrühre. Stürme, deren Wellen im tiefen Wasser mitschwangen und mit dem Grund an der Küste erst dann wechselwirkten, wenn die Wassertiefe exakt die Hälfte der Wellenlänge betrug. »Dann passieren drei Dinge, Mama«, hatte sie gesagt, und ihre Kinderhände malten eifrig in die Luft, um ihre Worte zu illustrieren: »Die Wellenlänge verkürzt sich, die Höhe nimmt zu, und der Kamm bewegt sich schneller als der tiefste Punkt der Welle. Wenn dann die Wellenhöhe etwa der Wassertiefe entspricht, bricht die Welle, und der Surfer kann auf ihr reiten.«

Schon damals war Imme vom Meer fasziniert gewesen, sie hatte alles verschlungen, was ihr über die Ozeane in die Hände kam. Heute arbeitete sie als Meeresgeologin. Was genau Imme erforschte, erschloss sich Ada nicht. Irgendetwas, was auch mit dem Klimawandel zu tun hatte. Zuletzt jedenfalls hatte Imme sich mehrere Monate lang mit anderen Wissenschaftlern auf einem Eisbrecher in der Arktis einfrieren lassen. Für ihren Beruf hatte sie sogar ihre Kinder beim Vater gelassen, von dem sie getrennt lebte. Für Ada nicht leicht zu verstehen – und trotzdem war sie unglaublich stolz auf Imme und die kompromisslose Leidenschaft, mit der sie ihr Leben lebte.

Imme, so dachte Ada nun, würde sich auf das Fest in Les Vagues freuen. Ihren Lebensweg hatte das Haus in den Dünen wohl am stärksten geprägt, und Ada beschloss, ihr den ersten Brief zu schreiben, bevor sie auch Esther, Kiki und die anderen einlud. Voller Vorfreude beugte Ada sich über das Papier. Es blieben nur noch etwas mehr als drei Wochen bis zum Fest, die Einladungen würden sehr kurzfristig eintreffen. Aber Ada war sicher, dass ihre Freunde spürten, wie wichtig ihr das Fest war, und versuchen würden, für dieses eine Wochenende nach Frankreich zu kommen.

Als Vincent nach der Mittagsschicht im Café Victoire bei ihr eintraf, hatte Ada schon mehr als zwanzig Einladungen zustande gebracht. Stolz zeigte sie ihm den Stapel.

Vincent nickte anerkennend, dann lächelte er fast ein wenig spöttisch. »Ja, das war immer deine Aufgabe«, sagte er, was wohl eine Anspielung darauf war, dass Leo früher ganz selbstverständlich die Gästeliste zusammengestellt hatte und sie dann die Einladungen schreiben und zur Post tragen ließ.

»Ich habe das gern gemacht«, erwiderte Ada. Ja, sie hatte Leo vieles abgenommen, er hatte sich auf sie verlassen können. Warum auch nicht? Ein wenig gekränkt folgte sie Vincent mit den Briefen ins Haus.

»Natürlich.« Vincent drehte sich zu ihr um, und einen Augenblick lang standen sie stumm voreinander. Sein Blick war so direkt, so schmerzlich liebevoll, dass sie ihn kaum ertrug und den Kopf zur Seite drehen musste.

»Du hast deinen Töchtern noch nichts davon gesagt, dass du das Haus aufgeben wirst, oder?«, fragte er.

Ada schüttelte den Kopf.

»Nicht einmal Esther?«

»Nein.«

»Ada …«

Wieder dieser Blick, und sie sah, wie er mit sich kämpfte. Dass er mit ihr diskutieren und sie umstimmen wollte: Keine Kapitulation! Schon gar nicht vor dem Bürgermeister, dessen Ansichten er nicht teilte. Aber dann hielt er sich gut, so als wollte er seinen Fehler vom ersten Abend nicht wiederholen.

Tapferer Vincent! Ada unterdrückte das Verlangen, eine Hand auf sein Herz zu legen. »Ich will doch nur noch einmal feiern. Unbeschwert und ohne die mitleidigen Blicke der anderen. Verstehst du das nicht? Nach dem Fest werde ich den Mädchen sagen, dass ich Les Vagues aufgebe. Und dann packe ich hier zusammen.«

Vincent seufzte, aber er nickte, bevor er die Klammern aus ihrem Haar löste und ihr Leos Hut abnahm. Seine Lippen streiften ihre Wange. »Ich habe Artischockenherzen dabei.«

In der Küche leerte Vincent seine Markttasche. Er kochte die Artischocken zunächst ein paar Minuten in Zitronenwasser, dann schreckte er sie in kaltem Wasser ab, bevor er die halbierten Herzen mit Olivenöl und Knoblauch in der Pfanne goldbraun anbriet. Ada liebte es, ihm dabei zuzusehen. Ein Schuss Essig, Salz und Pfeffer, während sie die Petersilie hackte, die er zum Schluss über die Artischockenherzen streute. Zum Essen nahmen sie wieder auf der Terrasse Platz. Der Kater strich Ada um die Beine, aber von gebratenen Artischocken hielt er nicht viel.

»Joël will noch einen zweiten Koch einstellen«, sagte Vincent, als sie aufgegessen hatten. »Um mich zu entlasten. Er schaut sich schon seit einer Weile um.«

»Er wird es nicht leicht haben, jemanden zu finden, der es an deiner Seite aushält«, neckte Ada ihn. »Selbst mich lässt du nach all den Jahren nur die Kräuter hacken.«

»Es hat fast fünf Jahre gedauert, bis du das Messer richtig halten konntest!«

»Ich bin halt Linkshänderin.«

Ada hob ihre Hände, und der schwere Silberring mit dem Türkis, den Leo ihr einst zur Hochzeit geschenkt hatte, leuchtete in der Sonne auf. Er hatte ihn aus Marokko mitgebracht, wo Leo und Vincent sich 1967 kennengelernt hatten. Damals hatte Leo gerade sein Kunststudium in Berlin abgebrochen, und Vincent wollte das Restaurant seines Großvaters übernehmen, aber zuvor noch ein wenig reisen. In der Medina von Essaouira waren die beiden wegen eines Mädchens aneinandergeraten. Die Schöne zog weiter, aber Leo und Vincent blieben zusammen, und als Vincent das Geld ausging, überredete er seinen Freund, mit ihm nach Frankreich zurückzukehren. Tagsüber half Leo Vincent in der Küche oder im Service des Restaurants, und abends versuchte er, seine kleinen, bunten marokkanischen Bildchen auf der Strandpromenade von Laplage-sur-Mer zu verkaufen. Manchmal porträtierte er auch eine Touristin, die ihm gefiel, dann signierte er die Zeichnung mit einem erfundenen Namen. Immer, wenn Leo ein Bild verkauft hatte, leistete er sich ein halbes Dutzend Austern im Café Victoire, aber das wusste Ada nicht, als sie ihm im Sommer 1968 zum ersten Mal begegnete.

»Leo war die schlimmste Küchenhilfe, die ich je hatte«, sagte Vincent beim Blick auf Adas Ring und grinste in der Erinnerung daran. »Er hatte gleich zwei linke Hände.«

»Aber er hat dir Mathilde vorgestellt«, antwortete Ada.

»Eigentlich kannte ich Mathilde schon aus der Schule.« Vincent beschirmte die Augen und schaute zum Wasser, Ada sah, dass er ihren Surfer beobachtete. Sie hielt Ausschau nach dem Mädchen, aber es war verschwunden. »Als Leo mit ihr ankam, musste ich sie ihm einfach abjagen. Ich hatte doch die älteren Rechte …«

Ada lächelte. Natürlich, sie kannte die alten Geschichten, die über die Jahre und in ihren unendlichen Wiederholungen zu einer Art Gründungsmythos der Freundschaft zwischen Leo und Vincent geworden waren. Der schöne, dunkle, eher in sich gekehrte Vincent und der wenige Jahre ältere Leo, der als unbekümmerter Lebenskünstler auftrat. Der scheinbar mühelos mit den Mädchen ins Gespräch kam, aber ebenso schnell das Interesse an seinen Eroberungen verlor.

»Eine Ménage-à-trois«, sagte Ada leichthin.

»Mathilde hatte nie etwas mit Leo«, erwiderte Vincent scharf.

»Das weiß ich doch.« Ada unterstrich ihre Worte mit einer besänftigenden Geste und schwieg.

Vincent zündete sich eine Zigarette an. Wenn er doch nur weniger rauchen würde! Auch Leo hatte immer geraucht. Beim Malen waren die Zigaretten zwischen seinen Lippen verglommen, und am Ende eines langen Arbeitstages hatte Ada zwei randvolle Aschenbecher aus dem Atelier getragen. Bisweilen dachte sie, dass seine Bilder nicht nur aus Farbe und Leinwand, sondern auch aus Rauch bestanden.

»Mein Arzt sagt, ich überlebe es nicht, wenn ich jetzt aufhöre«, kommentierte Vincent finster ihren kritischen Blick.

Ada zuckte nur die Achseln und stand auf, um das Geschirr in die Küche zu tragen. Als sie mit dem Kaffee zurückkam, hatte Vincent sich auf dem Liegestuhl am anderen Ende der Terrasse ausgestreckt. Er schlief, das Gesicht furchtlos der Sonne zugewandt.

»Er trauert immer noch um Mathilde«, sagte Ada leise zu dem Kater, der sich nun einen Schattenplatz gesucht hatte. »Er kann einfach nicht allein sein.«

Sie stellte den Kaffee ab, versenkte die Hände in die weiten Taschen ihres Kleides und tastete nach dem Siegelring des Bressehähnchens. Sie hatte den Aluminiumclip nicht wegwerfen können. Liebevoll betrachtete sie Vincents Schlafgesicht. Mathilde war nicht einmal ein Jahr nach Leo verstorben. Das Herz, natürlich, auch sie eine leidenschaftliche Raucherin. So war es damals eben. Und als sie endlich aufhörte, war es schon zu spät.

Vincent und Mathilde waren fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen. Sie hatten eine stabile Ehe geführt, mit den üblichen Verletzungen, aber getragen von gegenseitigem Respekt. Schon vor der Hochzeit hatte Mathilde angefangen, im Café Victoire zu arbeiten. Seitdem stand sie Vincent zeitlebens zur Seite und war eine großartige Gastgeberin, meist gut gelaunt und selten erschöpft. Selbst nach Mitternacht schickte sie Vincent noch in die Küche, wenn ein später Gast nach einer Kleinigkeit verlangte. »Lass ihn nicht verhungern!« Mathilde ließ niemanden mit leerem Magen davonziehen.

Auch Ada war nicht fortgeschickt worden, als sie damals barfuß und verzweifelt an ihrem Tresen stand und fragte, ob sie einmal telefonieren dürfe. Ein Auslandsgespräch. Nein, Mathilde, zierlich und apart, mit kastanienbraunem Haar, das sie bis zu ihrem Lebensende zu einer Art Farah-Diba-Turban auftürmte, hatte ihr das Telefon hingeschoben und dazu ein Glas Wein eingeschenkt. Und nachdem Ada aufgelegt hatte, bugsierte Mathilde sie auch noch resolut an Leos Tisch und stellte ihr einen Teller duftender Soupe au pistou vor die Nase.

»Ich habe aber gar kein Geld dabei.« Ada war verlegen wegen so viel Großherzigkeit. Im Hintergrund spielte die Jukebox Johnny Hallyday, das wusste sie noch genau: »Noir c’est noir, oh, oh, oh, oh. Il n’y a plus d’espoir, oh, oh, oh, oh …«

»Wer hungrig ist, der soll auch etwas zu essen bekommen«, hatte Mathilde darauf mit einem Lächeln erwidert. Bis heute erinnerte Ada den Geschmack dieser köstlichen Pistou, und noch immer war sie davon überzeugt, dass Mathilde ihr damals mit diesem kleinen Satz das Leben gerettet hatte.

»Il n’est jamais trop tard«, sang Johnny Hallyday in ihrem Kopf.

Nein, es war noch nicht vorbei. Aber Ada fehlte der Mut, sich nach so vielen Jahren der Vergangenheit zu stellen.

4

Erst am späten Nachmittag machte Vincent sich auf den Weg zurück ins Restaurant. Er nahm Adas Einladungen für die Töchter und Freunde mit und versprach, sie gleich in die Post zu geben. Zweiunddreißig Briefe – alles war gut.

Doch in der Nacht konnte Ada nicht schlafen. Wie blasse Gespenster geisterten Erinnerungen, die das Briefeschreiben wachgerufen hatte, in ihrem Kopf umher, sie ließen sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Schließlich stand Ada wieder auf, kochte sich einen Kräutertee, gab einen Löffel Lavendelhonig dazu und wanderte durchs Haus. Vorbei an den vielen Aufnahmen, die sie von Leo gemacht hatte. Und von ihrem Leben in Les Vagues.

Da war Leo am Meer. (Der Mensch.)

Und in seinem Atelier. (Der Künstler.)

Mit den Kindern. (Der liebevolle Vater.)

Und den Freunden und Verehrern. (Der große Zampano.)

Da waren Bilder von langen Sommernächten in den Dünen, von herumtollenden Kindern, von ausgelassenen Partys und von all den Tieren, die sich im Lauf der Zeit bei ihnen eingenistet hatten. (Erinnerten sich die Töchter noch an die Möwe, die so zahm gewesen war wie ein Hündchen? Die ihnen überallhin folgte? Emma hieß sie. Natürlich Emma.)

All die Erinnerungen, durch einen fast magischen Prozess auf Barytpapier gebannt. In der Dunkelkammer unter dem Dach hatte Ada ihnen zu ewigem Leben verholfen. Schwarz und Weiß, denn sie liebte den Kontrast. Und das, was sich darin offenbarte.

Nur von ihrem Kennenlernen gab es kein Bild, und auch nicht von ihrer ersten gemeinsamen Nacht in den Dünen. Die Erinnerung daran lebte allein in ihren Gedanken fort.

Mit dem Tee in der Hand trat Ada auf die Terrasse. Die Nacht war mild, die Luft schmeckte nach Salz und Tang, und in der Dunkelheit bekam das Meeresrauschen Konturen. Der Wellenschlag wurde zu etwas, an das sie sich anlehnen konnte. In eine Decke gehüllt ließ Ada sich auf dem Liegestuhl nieder.

Wo der Kater wohl seine Nächte verbrachte?

Pirschte er sich in den Dünen an schlafende Vögel heran?

Vor Adas innerem Auge erschien wieder Leo. Leo in einem bestickten marokkanischen Hemd und weißen Hosen an seinem Tisch im Café Victoire. Wie er zunächst kein Wort an sie richtete, sie aber während des Essens aus dem Augenwinkel betrachtete. Wie seine rechte Hand unablässig über das Tischtuch strich, als suchte er etwas, woran er sich festhalten konnte. Und wie sie spürte, dass er ihr flammendes Haar berühren wollte. Unbedingt.

»Ah, vous voilà!« Das waren Leos Worte, nachdem sie die Suppe ausgelöffelt hatte.

Was sollte das bedeuten?

Ada blickte in sein scharf konturiertes, fast kantiges Gesicht, das ihm etwas Machohaftes gab, sah das zurückgestrichene, viel zu lange Haar, die blauen Augen mit dem dunklen Kranz, die sich offensichtlich ihrer Wirkung bewusst waren. Sein Französisch war ohne Akzent, und so hielt Ada ihn für einen Gauner aus dem Norden, der zu etwas Geld gekommen war.

Natürlich antwortete sie ihm nicht. Weil sie nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt richtig verstanden hatte. Und weil sie nicht mit ihm flirten wollte. Ganz bestimmt nicht! Stattdessen schüttelte sie nur unbestimmt den Kopf, stand auf, dankte Mathilde und verließ das Restaurant.

Doch draußen wusste sie nicht mehr weiter. Ihr Freund Volker hatte sie sitzen lassen. Nach einem katastrophalen Streit, der sich an Nichtigkeiten entzündet hatte, war sie mitten im Nirgendwo aus dem Auto gesprungen – und Volker war nach einem letzten wütenden Blickwechsel davongefahren. Mit ihren Schuhen, dem Gepäck und der Kamera. Nur ihr leeres Portemonnaie und den Reisepass hatte er aus dem offenen Fenster geworfen. Für ein paar Sekunden flatterte das Dokument wie ein aufgeregter Spatz durch die Luft, bevor es am Straßenrand im Staub landete. Es war vorbei – und aus der geplanten Reise ans Ende der Welt war plötzlich ein Albtraum geworden.

Wie sollte es bloß weitergehen?

Eine mitfühlende Seele in einem göttlichen himmelblauen Citroën DS hatte Ada ein Stück mitgenommen und in Laplage-sur-Mer abgesetzt, vielleicht, weil da auch Deutsche Urlaub machten. Dort hatte sie ratlos an der Strandpromenade gestanden, ehe sie sich ein Herz fasste und das Café Victoire betrat.

Bei ihrem Anruf zu Hause hatten die Eltern kühl reagiert. Es werde ein paar Tage dauern, bis sie ihr Geld für die Rückreise nach Deutschland schicken konnten, so lange müsse sie eben sehen, wie sie zurechtkam. Das habe sie nun davon!

»Darf ich?«

Auf einmal war Leo wieder da, eine Weinflasche in der Hand. Ganz selbstverständlich setzte er sich neben sie auf das Mäuerchen an der Strandpromenade und ließ die Beine baumeln.

Ada verdrehte die Augen. »Ich habe genug Probleme«, sagte sie und rückte ein Stück von ihm ab. Dafür reichte ihr Schulfranzösisch gerade so.

»Sie sind ja eine Landsfrau!«, erwiderte Leo auf Deutsch, denn ihr Akzent hatte sie sofort verraten. Dann stellte er sich formvollendet und mit einer ironisch angedeuteten Verbeugung vor: »Gestatten, Leo Kwant mein Name. Kwant mit K. Nicht zu verwechseln mit den schändlichen Quandts. Ich bin ein ehrbarer, aber mittelloser Maler.«

»Aha.« Ada bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. Sie dachte an die Austern, die er gerade noch verspeist hatte. An die Art, wie er sich mit der Serviette großspurig die Lippen abgetupft hatte, bevor er einen Schluck Wein trank.

»Mögen Sie?«

Leo reichte ihr die Flasche, und nach kurzem Zögern trank sie von dem Wein, der wie ein flüchtiger Kuss schmeckte. »Merci.«

»Zigarette?«

»Ich rauche nicht.«

»Da entgeht Ihnen aber was.«

Sein Feuerzeug flammte auf, und wenig später nahm sie den süßlichen Duft von Marihuana wahr. Seltsamerweise fühlte sie sich sofort ein wenig leichter.

»Immer noch nicht?«

Er hielt ihr die Zigarette hin, aber sie blieb bei ihrem Nein, verriet ihm jedoch ihren Namen. »Ada«, sagte sie schlicht und nahm noch einen Schluck Wein.

»Die Liebe ist Sieger, stets rege ist sie bei Leid«, entgegnete Leo prompt, und als sie ihn verständnislos anblickte, erklärte er ihr, dass man ihren Namen genau wie diesen Satz vorwärts wie rückwärts lesen könne. »Ein Palindrom.«

»Ich glaube, Sie sind mir zu schlau.«

Leo lachte auf, aber in diesem Lachen schwang auch Stolz mit, das hörte sie genau.

Eine Weile schwiegen sie, während die Sonne vor ihnen ins Meer tauchte und versank. Das Licht nahm eine bläuliche Färbung an, alle Schatten verschwanden darin, lösten sich auf. Unten am Wasser lief ein Liebespaar Hand in Hand. Schnell wandte Ada den Blick ab und starrte auf ihre Füße.

»Ich könnte Ihnen helfen, Ada«, sagte Leo nach einer Weile und schnippte die Zigarette fort. Ihr Glutpunkt schwebte wie eine winzige Sonne durch die einsetzende Dunkelheit.

»Ich brauche kein Mitleid«, erwiderte Ada steif und lehnte sich ein wenig zurück. Nein, sie wollte keine Hilfe, auf keinen Fall. Und von diesem Wichtigtuer schon gar nicht. Lieber würde sie in den Dünen schlafen, warm genug war es ja. Und morgen früh würde sie sich auf dem Markt eine Arbeit und ein Paar Schuhe suchen.

Dass Volker mit ihrer Kamera davongefahren war, schmerzte sie mehr als das Ende ihrer Liebelei. (War die nicht sowieso nur für den Augenblick gewesen? Ein Vehikel für die Reise sozusagen.)

»Sie werden frieren, Ada. Nachts trägt der Wind die Feuchtigkeit vom Meer in die Dünen. Und selbst wenn Sie sich ein Fischerboot suchen, wird die Kälte Sie wecken.«

Aha, er war nicht nur schlau, er konnte offenbar auch in ihrem Gesicht lesen.

»Ich schaffe das schon. Es sind nur ein paar Tage.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Ada zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und legte den Kopf zurück. Das rote Haar floss ihr über den Rücken.

»Sie geben also auf? Kehren nach Hause zurück und begraben alle Träume?«

»Was wissen Sie denn von meinen Träumen?«

»Ich sehe Ihnen doch an, dass in Deutschland nichts auf Sie wartet.«

»Hören Sie mal!«, sagte sie empört, obwohl er recht hatte. Zu Hause, das war das kleine, stickige Fotoatelier ihres Vaters am Markt. Die ewig gleichen, schablonenhaften Bilder von Täuflingen, Konfirmanden und Hochzeitspaaren. Das Hantieren im Labor. Vaters Belehrungen und das, worüber er nicht sprach. Die müden Augen ihrer Mutter, ihre schmallippigen Zurechtweisungen. Das Gefühl, ihnen längst eine Last zu sein. Warum heiratete sie nicht endlich?

Ada hoffte, dass Leo das wütende Funkeln in ihren Augen bemerkte. »Sie wissen doch gar nichts von mir.«

»Ich weiß, dass jemand Sie sitzen gelassen hat. Ohne Schuhe. Eine Schande, wenn Sie mich fragen. Sollte ich Ihrem Chauffeur jemals begegnen, dann kann er sich auf etwas gefasst machen. Und ich weiß, dass Sie zu Hause angerufen und um Geld gebeten haben.«

»Sie haben gelauscht!« O Gott, er hatte gehört, wie sie bei ihrer Mutter zu Kreuze gekrochen war.

»Nein, nein, dafür war es viel zu laut im Restaurant. Mathilde hat mir verraten, dass Sie Hilfe brauchen.«

»Mathilde?«

»Sie hat Ihnen die Pistou gebracht. Und als Sie das Restaurant verlassen haben, hat sie mich hinter Ihnen hergeschickt.«

»Ich brauche keinen Wachhund.«

»Himmel, Ada, machen Sie es mir doch nicht so schwer.«

»Ich möchte, dass Sie gehen.«

»Also gut.«

Abrupt sprang Leo von der Mauer auf den Strand, was Ada nicht erwartet hatte. Sie verlor die Balance und wippte erschrocken vor. Einen Moment lang stand er nur da und sah ihr von unten ins Gesicht. Dann nahm er ihre Füße in seine großen, warmen Hände.

Mehr nicht.

Als er ging, rief sie ihm nach: »Sind Sie wirklich ein Maler, Leo?«

»Bien sûr.«

»Ich bin … Fotografin.«

»Eine Fotografin ohne Kamera«, präzisierte er. »Viel Erfolg, Ada.«

Er drehte sich nicht mehr um. Im Schein der bunten Lichterketten, die über der Promenade im Wind schaukelten, sah sie, wie er aus dem Handgelenk winkte.

Gut, dass er ihr den Wein dagelassen hatte.

In der Nacht kam er zurück.

Keine Ahnung, wie er sie in den Dünen gefunden hatte.

»Ich bin es, Ada«, sagte er leise, um sie nicht zu erschrecken. »Leo, der Maler.« Sie spürte, wie er eine Decke über sie breitete und sich dann neben sie setzte.

»Der Kwant mit K«, kiekste sie, unendlich erleichtert, dass sie nicht mehr allein in der Dunkelheit lag. »Hat Mathilde Sie wieder geschickt?«