Unter dem Schnee - Katrin Burseg - E-Book
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Unter dem Schnee E-Book

Katrin Burseg

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Beschreibung

Schloss Schwanenholz, Ende Dezember 1978: Fünfzig Jahre führte Luise von Schwan die Baumschule auf dem Gut an der Ostsee mit strenger Hand. Nun wird die Gräfin beerdigt. Doch als die Trauerfeier beginnt, fegt ein heftiger Schneesturm über das Land. Bevor das Familienanwesen von der Außenwelt abgeschnitten wird, trifft ein ungebetener Gast aus Frankreich ein. Wer ist die geheimnisvolle Frau, die behauptet, Luises Tochter zu sein? Und hat Luise tatsächlich während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter auf dem Gut ausgebeutet? Fünf Tage, in denen die Familie mit verborgenen Wahrheiten konfrontiert wird. Fünf Tage, die das Schweigen beenden, das sich jahrzehntelang über alles senkte wie Schnee.

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Seitenzahl: 447

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Seit Ende der 1920er-Jahre führte Luise von Schwan erfolgreich und mit eiserner Hand die Geschäfte der Baumschule auf Schloss Schwanenholz. Auch die Zukunft des Familienunternehmens scheint gesichert: Selbst ohne Nachkommen, setzte Luise ihre beiden Neffen Carl und Johann als Erben ein. Doch als am 28. Dezember 1978 Familie und Freunde zu ihrer Beerdigung zusammenkommen, fegt plötzlich ein Schneesturm über das Land, der alle Gewissheiten unter sich begräbt. Denn während es draußen unaufhörlich schneit und ein Entkommen von dem Gut tagelang unmöglich ist, beendet die Ankunft eines ungebetenen Gastes das vorherrschende Schweigen.

Wer ist die geheimnisvolle Französin Aimée, die behauptet, Luises Tochter zu sein? Und wie war das damals während des Krieges, als alle Männer an der Front kämpften und Luise den Betrieb mit Zwangsarbeitern aufrechterhalten musste? Hat sie die Menschen ausgebeutet oder ihnen ein würdevolles Überleben gesichert? Immer mehr werden lange verdrängte Familiengeschichten laut und enthüllen Wahrheiten, die unaufhörlich ans Licht drängen.

Katrin Burseg

Unter dem Schnee

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Zitatnachweis [>>] aus: Mascha Kaléko,

In meinen Träumen läutet es Sturm,

hrsg. v. Gisela Zoch-Westphal, dtv München 2018.

Copyright © 2020 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Covergestaltung: t.mutzenbach design

Covermotive: Trevillion Images (Lee Avison), Shutterstock.com (Dai Yim, slavkoart)

Autorenfoto: © Silje Paul

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24433-0V004

www.diana-verlag.de

Für meine Familie.

Hier wie dort.

»Kein Wort, kein Wort, Gefährte meiner Trauer!

Verwehte Blätter, treiben wir dahin.

Nicht, dass ich weine, Liebster, darf dich wundern,

nur dass ich manchmal ohne Träne bin.«

Mascha Kaléko

DONNERSTAG, 28. DEZEMBER 1978

ISA

1

So, da saß sie also, mit allem Drum und Dran und in Luises schönem schwarzen Kleid. Sie hatten es so abgemacht, vor Jahren schon, doch nun fühlte es sich falsch an, hier mit den Perlen zu sitzen, während Luise da vorne unter dem schweren Sargdeckel aus Eichenholz lag.

Isa Wollin blickte auf ihre Hände. Schön waren sie nicht, alt und runzlig, mit Nägeln, die leicht splitterten. Selbst im Halbdunkel der Kirche meinte sie, den Schmutz zu erkennen, der sich über die Jahre in die Haut gefressen hatte. Kartoffelschälhände, damit musste sie leben. Aber Luises schimmernder Ring, der wie ein Kuckucksei an ihrer rechten Hand saß, schien die Derbheit ihrer Finger noch zu betonen, und auf einmal wünschte sie sich, sie hätte den Schmuck in ihrer Nachttischschublade vergraben. Dort, wo alle Träume endeten.

Ach, Luise.

Isa schluckte und versuchte, die Traurigkeit zurückzuhalten, die sie auf einmal mit fester Hand packte. Sie hatte nicht geweint, als die Freundin gestorben war. Warum auch? Luise war friedlich eingeschlafen, in der Hand eine Tasse ihres Abendtees. Kerzengerade hatte sie in ihrem Ohrensessel am Fenster gesessen, auf den Lippen ein mädchenhaftes Lächeln, das die Spuren der Zeit auszulöschen schien. Selbst das blau-weiße Porzellan aus Kopenhagen, das sie so liebte, war nicht zu Bruch gegangen. Konnte man es sich besser wünschen nach so einem Leben?

Nur der Zeitpunkt, so kurz vor Heiligabend.

Missbilligend schüttelte Isa den Kopf. Da war es natürlich vorbei gewesen mit dem Weihnachtsmarkt auf dem Gut, all dem Glanz und den frisch geschlagenen Bäumen, die Carl noch hatte verkaufen wollen. Und das Lametta? Ging gar nicht. Isa hatte es mühsam aus dem riesigen Weihnachtsbaum in der Halle des Herrenhauses gepult. Gans hatte es an den Festtagen auch nicht gegeben, nur Karpfen blau mit Kartoffeln und scharfem Meerrettich, der allen die Tränen in die Augen trieb. Sogar der stille Johann hatte sich lautstark schnäuzen müssen.

Isa hob den Kopf und schaute sich in der Kirche um. Da saßen sie, Familie, Freunde und die wichtigen Leute, alle, die Luise Emilia Katharina Gräfin von Schwan ehren wollten. Die kleine Dorfkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, selbst auf der Orgelempore standen die Leute dicht an dicht, und der Sarg versank unter Blumen und Kränzen. Immergrün und weiße Rosen. Die Trauergäste gedachten weniger der Patriarchin aus schleswig-holsteinischem Adel als vielmehr einer Frau, die das Gut und die Baumschule von Schwan durch ihre schwersten Jahre geführt hatte.

»Die Gräfin hat immer zuerst an das Wohl des Hauses und des Unternehmens gedacht«, hörte Isa den Pastor sagen. Pastor Siebeling war weiß Gott kein großer Redner, oft fahrig und verzagt, und vielleicht vertraute er überhaupt nur auf die Worte des Herrn, um nicht ganz zu verstummen. Mühsam hangelte er sich durch das Dickicht der Sätze, die gesagt werden mussten, sein Kopf mit dem weißen Haarkranz vor Anstrengung gerötet. »Sie war eine bewundernswerte Frau, stark und unerschütterlich, die ihr Leben …«

Isa zuckte zusammen. Ganz plötzlich erhellte ein Blitz die Kirche, dem ein mächtiger Donnerschlag folgte. Ein Raunen ging durch die Reihen, und der Pastor verstummte für einen Augenblick, bevor er sich sammelte und weitersprach.

»… die ihr Leben ganz in den Dienst der Familie und …« Wieder stockte Siebeling, als merkte er, dass seine Worte Luises Persönlichkeit und ihr Leben nur unzureichend einzufangen vermochten.

Ach herrje. Isa biss sich auf die Lippen und sah angespannt zu den kleinen mittelalterlichen Kirchenfenstern hinauf. Das Licht hatte sich verändert; obwohl erst früher Nachmittag war, schien es bereits zu dämmern. Der böige Nordostwind frischte weiter auf, ein Heulen und Fauchen, das die Kirche erzittern ließ.

Gestern Abend in der Tagesschau hatten sie heftigen Wind und Regen für die Ostseeküste vorhergesagt. Sturmflutgefahr? Ja, das auch. Aber Isa spürte noch etwas anderes, das ihren morschen Knochen zusetzte. Eiseskälte nämlich, die sie mit spitzen Nadeln piesackte und die Narben der Vergangenheit schmerzen ließ. Und obschon es am Morgen noch mild und feucht gewesen war, typisches Weihnachtswetter eben, hatte sie vorsorglich nach dem Leibchen aus Angorawolle gegriffen und die dicken Strümpfe über die Knie hochgerollt. Nun bemerkte Isa, dass Schneetreiben eingesetzt hatte. Beunruhigt sah sie zu, wie die dicken Flocken die Fenster an der Nordwand der Kirche zukleisterten und das Licht noch weiter verdunkelten.

»Kiek mol na boben!«

Vorsichtig stieß sie Carolin an, die neben ihr saß. Caro war Johanns fünfzehnjährige Tochter. Schlau und kratzbürstig wie eine Wildkatze war sie Carl seit jeher ein Dorn im Auge, und seit sie sich vor ein paar Wochen das Haar feuerrot gefärbt hatte, duldete er sie nicht mehr in seiner Nähe. Er hatte ihr einen Platz im hinteren Drittel der Kirche zugewiesen, bei den Leuten aus dem Dorf, und ihr Vater hatte es geschehen lassen, weil er mit anderem beschäftigt war. Natürlich war Caro zuckersüß lächelnd in Lederjacke und derben Stiefeln und mit einer Sicherheitsnadel im Ohr zur Trauerfeier erschienen. Sie hatte sich nicht zu den Bauern aus Schwanenholz gesetzt, sondern sich zu Isa durchgedrängelt. Das Gör und die Köchin.

»Ist dir auch so kalt?« Caro fasste nach ihrer Hand, der Blick des Mädchens fiel auf den Ring mit der erbsengroßen Südseeperle.

»Sag mal, ist das nicht Luises?«

Isa nickte und legte einen Finger auf die Lippen. »Hat sie mir vermacht«, sagte sie leise, und wieder überkam sie diese wüste Traurigkeit, die ihr die Brust zusammenschnürte und sie leise aufstöhnen ließ.

»Pass bloß auf, dass Carl nichts davon mitbekommt«, flüsterte Caro. Fürsorglich rieb sie Isas Hände. Tatsächlich schienen die Temperaturen mit jeder Minute weiter zu fallen. Der Weihnachtsbaum neben dem Altar zitterte ganz leicht im eisigen Wind, der durch die Risse im alten Mauerwerk fuhr.

»Steht doch im Testament«, gab Isa zurück. »Wirst schon sehen.«

»Trotzdem …«

Mit dem Kinn wies Caro nach vorn, wo Carl mit seiner Frau Anette in der ersten Reihe direkt vor dem Sarg thronte. Luises Sohn war im Krieg gefallen, deshalb hatte sie vor ein paar Jahren die beiden Söhne ihrer Schwester Klementine in die Geschäftsführung der Baumschule berufen. Und obwohl die Brüder gleichberechtigt waren, ging der drei Jahre ältere Carl nun breitbeinig und stolz in seiner Rolle als Familienoberhaupt auf. Johann dagegen hatte sich auf die andere Seite unter die Kanzel neben seine Mutter gesetzt, als wollte er an diesem Tag nicht im Mittelpunkt stehen. Über seinem Kopf prangte das Wappen der Familie, ein silberner Höckerschwan mit weit ausgebreiteten Flügeln auf rotem Schild. Puritas enim cordis, so lautete der Wappenspruch der von Schwans, »Reinheit des Herzens«.

Luise hatte den Spruch immer als Verpflichtung betrachtet, aber ob die beiden Brüder ihm gerecht werden konnten? Zweifeln durfte man da schon.

Isa fischte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich über die feuchten Augen. Gesang, das ging ihr immer so zu Herzen. Weiße Atemwölkchen stiegen über den Köpfen der versammelten Trauernden auf, und die Strohsterne an der Weihnachtstanne schaukelten im Takt. Oder war das der Wind?

Auch Pastor Siebeling suchte Halt, er trat zurück und legte eine Hand auf Luises Sarg, als wollte er ihn segnen. Sein Blick huschte hinauf zu den Fenstern, dann betrachtete er zweifelnd den Tannenbaum neben sich. Die Douglasie, ein mächtiges Exemplar aus dem Nadelholzquartier der Baumschule, hatte Carl gestiftet. So wollte es die Tradition. Und wie in jedem Jahr hatte der Baum einen Makel, der ihn unverkäuflich machte. Dieses Mal waren es die beiden Spitzen, die Isa an Teufelshörner denken ließen.

Aber warum stand der hässliche Baum überhaupt noch?

Weil Pastor Siebeling alles zu viel geworden war, die Festtage und die Vorbereitungen für das Begräbnis.

Carl hatte die Augen verdreht, als er in die Kirche kam. Aber der hätte ja auch mal nach dem Rechten sehen können, dachte Isa nun. Luise, so viel stand fest, wäre das nicht passiert. Die hätte auch den Baum mit den Teufelshörnern nicht abgesegnet. Und überhaupt …

Nee, jetzt kullerte doch eine Träne. Und noch eine und noch eine.

Caro strich ihr wieder über die Hand. Das Mädchen roch gut, ein heller Sommerduft nach Heu und Honig, der der Kälte etwas entgegensetzte und Isa ein wenig tröstete.

»Bald geschafft«, flüsterte Caro.

Bald geschafft?

Du liebes bisschen, dieses Kind. Caro hatte ja keinen Begriff davon, was nach der Trauerfeier noch auf Isa wartete.

Kaffee und Kuchen im Herrenhaus für fünfzig Gäste, Abendessen für dreißig Personen. Die Übernachtungsgäste und das Frühstück am nächsten Morgen. Und dann die Wäscheberge und all das Silber und Kristall, das in die Schränke zurückmusste.

Der Kuchen war gebacken, und die Kartoffeln waren gepellt. Aber mehr als zwei Mädchen zur Hilfe hatte Carl ihr für die Beerdigung nicht genehmigt. Und dabei war sie doch auch schon zweiundsiebzig.

Wieder zog Isa das Taschentuch aus dem Ärmel, um sich ausgiebig zu schnäuzen. Früher, da hatte es eine Köchin und drei Dienstmädchen im Haushalt gegeben. Dazu noch die Knechte, Gärtner, Stallmeister – nur für die Bewirtschaftung des Herrenhauses, die Baumschule noch gar nicht eingerechnet.

Aber das waren andere Zeiten gewesen. Nicht wahr, Luise? Nicht unbedingt glücklicher, aber gediegener.

Wie lange war das her?

Trotzig presste Isa die Lippen zusammen, dann versuchte sie, den Ring von ihrem Finger zu ziehen. Aber der wollte partout nicht und krallte sich fest, als ob er nun mit ihr verwachsen wäre.

Caro lächelte, und das Feuerwerk ihrer Haare sprühte übermütig Funken. »Der bleibt jetzt wohl bei dir.«

Ja? Wäre wohl das Erste, was bei ihr bliebe, dachte Isa. War das Leben nicht ein wilder Strom, der einem ständig das Liebste aus den Händen riss?

Seufzend drehte sie den Ring, sodass die Perle verborgen in ihrer Hand saß. Dann faltete sie die Hände zum Gebet, so wie es Pastor Siebeling nun verlangte.

Segne uns, allmächtiger Gott,

Schöpfer allen Seins.

Begleite mit deinem Segen …

Es war der Wind, der sie aus der Stille des Gebets riss. Und der Baum, der sich plötzlich seufzend nach vorne neigte, als wollte er sich verbeugen.

»Düvel ok!«

Ein Schrei ging durch die Kirche, als die Douglasie mit den zwei Spitzen Pastor und Sarg unter sich begrub.

CARL

2

Sein erster Gedanke? Er konnte es nicht leiden, wenn andere Fehler machten. Und die Douglasie nicht gleich nach den Feiertagen zu verfeuern war ein unverzeihlicher Fehler gewesen. Trocken, wie der Baum inzwischen war, hatte er nicht mehr fest in seinem Ständer gestanden. Und dann noch dieser elende Sturm, der an den Nerven zerrte.

Eine Welle heißen Zorns durchflutete Carl und lähmte ihn. Für einen Moment war er wie erstarrt, doch dann setzte sein Verstand wieder ein, und er ballte die Hände zu Fäusten und sprang auf.

Seiner Frau war der Schreck anzumerken, blass sah sie aus, verstört, und seine Mutter schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Aber zum Glück war Pastor Siebeling nichts passiert, soeben krabbelte er benommen unter dem Baum hervor. Johann half ihm auf und zupfte ihm einen Strohstern aus dem Haarkranz, dann führte er Siebeling rasch nach rechts zu seiner Bank unter der Kanzel und redete beruhigend auf ihn ein.

Gut so. Nur die Ruhe bewahren!

Carl drückte das Kreuz durch und drehte sich zu den Trauergästen um, die zum Teil aufgesprungen waren und wild durcheinanderredeten. Hatte man so etwas schon mal erlebt? Am turbulentesten ging es in den hinteren Reihen bei den Bauern zu, während die Gäste im vorderen Drittel ihn nur sprachlos anblickten und auf eine Erklärung zu warten schienen.

»Tante Luise wollte immer unter einem Baum begraben werden«, versuchte Carl einen Scherz, doch niemand lachte. Sein Blick streifte kühle, verständnislose Mienen und blieb schließlich an Carolins rotem Schopf hängen. Ziviler Ungehorsam war das, ihr Haar leuchtete wie das Banner der kommunistischen Partei. Wollte sie alles um sich herum in Brand setzen? Am liebsten hätte er sie gepackt und kräftig geschüttelt, um ihr die Flausen auszutreiben.

Er spürte, wie eine Ader an seiner Stirn pulsierte und ihm das Blut in die Wangen schoss. Umständlich rückte er seine Krawatte zurecht, dann flüchtete er sich an das rettende Ufer seiner gräflichen Autorität: »Mannslüüd!«

Wie auf Kommando sprangen ein paar Männer aus Schwanenholz auf. Carl dirigierte, mit großen, eindrucksvollen Gesten, und nach einigem Hin und Her gelang es ihnen, den Baum vom Sarg herunter und zurück in den Ständer zu hieven, während der Organist auf der Empore geistesgegenwärtig improvisierte.

Na also. Ging doch!

Festlich sah es nun nicht mehr aus, der Altarraum glich einem Schlachtfeld. Überall Strohsterne, Tannennadeln und zerdrückte Rosen und Kränze, auch die weißen Kerzen waren umgefallen und verloschen. Aber der Sarg stand gänzlich unbeeindruckt in diesem Chaos, wie ein Fels über dem schäumenden Meer, und für einen Moment meinte Carl, ein leises Glucksen zu vernehmen, das aus der Tiefe aufstieg. Tante Luise schien sich prächtig zu amüsieren, und auf einmal fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als sie noch mit hochgezogenen Brauen und einem versteckten Lächeln im Mundwinkel über alle seine Streiche zu Gericht gesessen hatte.

Carl setzte sich wieder und machte dem Pastor ein Zeichen, mit dem Gottesdienst fortzufahren, doch sowohl Siebeling als auch sein Bruder schüttelten den Kopf.

Ja, wie nun?

Also wieder hoch und rüber zu Siebeling.

»Sie muss doch unter die Erde.«

»Aber doch nicht unter diesen Umständen!«

Der Pastor wirkte ehrlich empört, als verlangte Carl etwas Unmögliches von ihm. Ein Kratzer, aus dem ein wenig Blut sickerte, zog sich wie ein Schmiss quer über seine Wange, und der Talar hatte einen Riss an der Schulter.

»Da sitzen hundertfünfzig Leute und warten darauf, dass es weitergeht.«

»Interessiert mich nicht«, erwiderte Siebeling mit einer Festigkeit, die Carl ihm nicht zugetraut hätte. »Wir sind doch hier nicht im Theater.«

»Aber …«

»Carl«, mischte sich sein Bruder besänftigend ein, »das können wir Tante Luise nicht antun.«

Carl holte tief Luft. Johanns Gutmenschenstimme und sein Verständnis für alles und jeden konnten ihn wahnsinnig machen. Er spürte, wie sein Blutdruck stieg, nervös fuhr er sich mit der Zunge von innen über die Zähne. Er sehnte sich nach einer Zigarette, jetzt, sofort!

Also alle zurück ins Herrenhaus, in der Kirche aufräumen und dann noch mal von vorn? War es das, was die beiden wollten? Gereizt sah er Johann an, und seine Nägel bohrten sich schmerzhaft in die Handballen, dann blickte er auf seine Uhr: Es war bald drei.

»Dann ist es dunkel, bis wir sie unter der Erde haben«, knurrte er heiser.

Siebeling schüttelte den Kopf. »Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte er ruhig und wischte sich über die Wange. Carl wurde den Eindruck nicht los, dass ihm die Verschiebung der Trauerfeier ganz gelegen kam.

»Mutter?«

Carl suchte ihren Blick, doch Klementine von Rüstow, geborene von Schwan, schien noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse zu stehen. Ihre Lider flatterten nervös, und sie umklammerte Johanns Hand. Das schwarze Kostüm betonte ihre schlanke Taille, und auf einmal fiel ihm auf, wie schmal und zerbrechlich sie geworden war.

Also gut. Seufzend stieß Carl den Atem aus, dann machte er kehrt, trat an den Altar und reckte das Kinn. Mit fester Stimme verkündete er die Verschiebung der Trauerfeier auf den nächsten Tag.

Die Trauergäste erhoben sich nur zögerlich, sie fühlten sich um Kaffee und Kuchen betrogen. Einige murrten, aber dann kam doch Bewegung in die hintersten Reihen, und die ersten Bauern verließen die Kirche. Wenn es heute keinen Leichenschmaus mehr gab, dann konnte man ja gleich zum Melken fahren.

Und der Sarg?

Carl hob fragend die Arme, doch Pastor Siebeling bedeutete ihm, dass sie ihn in der Kirche stehen lassen sollten. Wohl kein Problem bei diesen Temperaturen.

Aber der Baum, um den würden sich seine Leute nachher als Erstes kümmern. Raus damit!

Nach einem letzten Blick auf Luises Sarg reichte Carl seiner Frau den Arm und geleitete sie steif den Mittelgang hinunter. Vor etwas mehr als fünf Jahren hatten sie sich in dieser Kirche die Ehe versprochen, und für einen Augenblick dachte er an die nüchterne Zeremonie zurück. Er hatte Anette nicht aus Kalkül geheiratet, aber auch nicht aus brennender Liebe. Sie mochten sich, schon seit dem Studium, und Anette brachte ein wenig frisches Kapital in die Familie. Geld, das sie in der Baumschule dringend benötigten. Im Tausch hatte sie den gräflichen Titel bekommen und die Aussicht auf ein angenehmes Leben, das sie ganz ihren Pferden und einer zu gründenden Familie widmen konnte. Es hatte etwas gedauert, bis sie schwanger geworden war, aber nun sollte ihr erstes Kind in etwa drei Wochen auf die Welt kommen. Mit einem Seufzer schob Anette ihren mächtigen Bauch vor sich her, und er konnte an ihrer Miene ablesen, dass sie wenig Lust hatte, das Prozedere morgen noch einmal über sich ergehen zu lassen.

Carl biss sich auf die Lippen und tastete in seiner Hosentasche nach dem Zigarettenetui. Der engere Familienkreis konnte im Herrenhaus übernachten – und der Rest? Er würde gleich jemanden damit beauftragen müssen, die Hotels in der näheren Umgebung abzutelefonieren. Aber Silvester stand vor der Tür, und die Preise …

Es dauerte einen Moment, bis Carl bemerkte, dass die Prozession ins Stocken geraten war. Im Vorraum stauten sich die Leute, etwas hielt sie auf, die Stimmen schwollen wieder an. Ein ehrfürchtiges, ungläubiges Geraune, das den heulenden Wind übertönte.

Noch ein Baum, der umgestürzt war?

Entschlossen bahnte Carl sich einen Weg durch die Menge, doch als er mit seiner Frau an der Hand aus der Kirche hinaustrat, begriff er kaum, was geschehen war.

Alles war weiß.

Ein wildes, wirbelndes, wogendes Weiß, lebendig wie ein wütendes Tier, und das Fauchen des stürmischen Windes machte ihm Angst.

Der Schnee hatte alles verschluckt, den Friedhof, das Pfarrhaus und die Wiesen und Felder, die sich dahinter erstreckten. Eine unwirkliche Szenerie, denn als sie die Kirche vor nicht einmal anderthalb Stunden betreten hatten, regnete es noch. In der Zwischenzeit mussten etwa dreißig Zentimeter Schnee gefallen sein, gleichzeitig waren die Temperaturen auf unter null gerutscht.

So etwas hatte er noch nie erlebt. Der Wind war inzwischen so stark, dass er den Schnee nahezu waagerecht übers Land peitschte und zu Verwehungen auftürmte. Einige Grabsteine waren schon nicht mehr zu sehen, ebenso wenig die Laufwege zwischen den Gräbern und der Zaun, der den Friedhof zur Straße hin abgrenzte. Der Himmel war schwarz, als wäre es bereits Nacht. Schwer und unheilschwanger hing er über dem Land.

Als sie aus dem Windfang hinaustraten, schlugen ihnen die Schneeflocken ins Gesicht. Anette klammerte sich an seinen Arm, als hätte sie Angst davonzufliegen.

»Ich bring dich zum Wagen«, sagte Carl. Er legte den Arm um sie, und plötzlich gab es nur noch sie beide und das Baby in ihrem Bauch, das er beschützen wollte.

Auf dem Parkplatz an der Straße rutschten die ersten Wagen davon. Die Straße musste spiegelglatt sein, denn Bauer Habeck, der seinen Diesel beherzt beschleunigte, schoss gleich quer über die Fahrbahn und landete auf der anderen Seite im Graben.

Menschenskinder!

Carl stemmte die Beifahrertür seines weinroten Mercedes Coupés auf und bugsierte Anette in den Wagen.

»Ich bin gleich wieder da!«

Wo war seine Mutter? Und wo war Johann?

Der Wind versetzte ihm Hiebe. Mühsam kämpfte er sich gegen den Strom der geduckt laufenden Trauergäste zur Kirche zurück.

Im Vorraum stieß er auf Carolin, die Isa Wollin untergehakt hatte. Beide würdigten ihn keines Blickes, so als wäre alles, was geschehen war, seine Schuld. Angespannt stemmte Carl die schwere Holztür zum Kirchensaal auf.

Die Kirche hatte sich inzwischen geleert. Seine Mutter stand vorne am Sarg, sie schien in ein Zwiegespräch mit ihrer Schwester vertieft zu sein. Fürsorglich hatte ihr Johann den Arm um die Schultern gelegt, so gelassen, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Carl hastete nach vorn.

»Wir müssen los, da draußen ist …«

Nach einem kurzen Seitenblick auf den Pastor, der die Kerzen am Altar wieder aufrichtete, ließ er den Satz unvollendet zwischen ihnen stehen.

Johann schüttelte bedächtig den Kopf und bedeutete ihm mit einer Geste, Klementine nicht in ihrer Andacht zu stören. »Ich nehme sie gleich mit«, las Carl von seinen Lippen ab. »Kümmerst du dich um Isa?«

Er hätte nicht sagen können, was ihn mehr aufregte. Dass Johann schon immer der Liebling seiner Mutter gewesen war oder dass er gleich die grummelnde Köchin und ihr vorwurfsvolles Doppelkinn zum Herrenhaus zurückkutschieren durfte.

Ungehalten drehte Carl sich auf dem Absatz um und eilte aus der Kirche.

KLEMENTINE

3

Ein Riss durch die Zeit. Als der Baum sich wie ein Vorhang auf den Sarg senkte, hatte sie sofort Bilder ihrer Kindheit vor Augen. Ein Weihnachtsfest Anfang des Jahrhunderts. Wie alt waren sie damals? Neun, sechs und fünf? Fritz hatte eine Spielzeugeisenbahn bekommen, eine elektrische Märklin, Lok, Wagen und Gleise. Dazu noch Zinnfiguren, eine ganze Armee. Was für ein Spektakel! Die Mädchen hatten ihre neuen Puppenwagen bald stehen gelassen und Fritz angebettelt, mit der Bahn spielen zu dürfen. Ihr Bruder zeigte sich gnädig, »aber nur ein Mal!« Als Gegenleistung verlangte Fritz Marzipan und kandierte Früchte von ihren bunten Tellern.

In der Nacht hatte Klementine bemerkt, wie Luise aus ihrem Bettchen schlich. Ganz leise war sie ihr gefolgt, über die Korridore, die Treppe hinab ins Weihnachtszimmer, wo Fritz die Bahn in einem weiten Rund um den Baum herumgeführt hatte. Luise saß im Dunkeln, den Persianerkragen, ein Geschenk des Vaters für die Mutter, umgelegt, die Hand am Regler. Der Raum duftete nach Tannennadeln, Kerzenwachs und Zuckerzeug, und mit ihren Mahagonilocken und dem silbrigen Pelz sah Luise wie ein dunkler Weihnachtsengel aus. Behäbig und mit Nüssen beladen, schnaufte die kleine Lok durch den Wald aus Tannengrün und Weihnachtsglück.

Klementine blieb an der Tür stehen und schaute ihr durch den geöffneten Spalt fasziniert zu. Sie traute sich nicht, das Weihnachtszimmer zu betreten. Das, was Luise da tat, war verboten. Die Mädchen durften die Bahn nur mit Fritzens Erlaubnis fahren, aber Luise scherte sich nicht darum. Ihre gold gesprenkelten Augen blitzten, und das Gesicht schien von innen heraus zu leuchten, so groß war ihr Vergnügen, und in diesem Moment begriff Klementine, dass Luises Leben reicher sein würde als ihres. Nicht einfacher, aber größer. Ein Evenement.

Nicht dass sie dies damals schon hätte in Worte fassen können, aber sie spürte es. Ein Gefühl, das wehgetan hatte, ein Brennen ganz tief in ihrem Inneren.

Ein paar Minuten später war ihre Mutter die Treppe herabgekommen, sie schickte die Mädchen zurück ins Bett. Und am nächsten Tag hatte Friedrich Wilhelm von Schwan über seine beiden Töchter gerichtet. Geschlagen wurde nicht im Hause von Schwan, nicht einmal der Französischlehrer durfte den Rohrstock gebrauchen, um ihnen die Konjugationen einzubläuen. Aber eine väterliche Anordnung war nicht verhandelbar.

»Habt ihr mich verstanden?«

»Jawohl, Herr Papa.«

Klementine kam mit einem Tadel davon. Schmerzlich genug. Aber Luise musste ihren Puppenwagen hergeben.

Sie bekam ihn nie zurück. Jahre später, sie waren inzwischen längst erwachsen und verheiratet, hatte die Schwester Puppe und Wagen auf dem Dachboden in einer Kiste mit vergessenem Weihnachtsschmuck entdeckt. Da erst waren ihr die Tränen gekommen, die sie damals nicht vergossen hatte.

Ja, das war Luise.

Angestrengt versuchte Klementine, sich zu erinnern, was mit der Eisenbahn geschehen war. Auch sie war verschwunden, mitsamt den Zinnfiguren, nur ein paar Wochen später, denn Fritz hatte nicht mehr lange zu leben gehabt. Eine Scharlachinfektion, die die beiden Mädchen mit Halsschmerzen, Schüttelfrost und Fieber glimpflich überstanden hatten, führte bei ihm zu einer schweren Mandelentzündung, die seinen dünnen Jungenkörper mit Bakterien überschwemmte. Ein toxischer Schock. Nur zweiundsiebzig Stunden, nachdem Fritz über die ersten Symptome geklagt hatte, verlor er in den Armen seiner Mutter das Bewusstsein, dann hörte sein Herz einfach auf zu schlagen.

Vielleicht hatten die Eltern ihm die Eisenbahn mit ins Grab gegeben, untröstlich, wie sie waren?

Der einzige Sohn.

Der Erbe.

Es kam keiner mehr, konnte keiner mehr kommen, bei so viel Traurigkeit im Haus, die bleiern von den Wänden tropfte.

Gab es danach überhaupt noch ein Weihnachtsfest, an dem keine Tränen flossen?

Ach, wenn sie nur daran dachte, musste sie weinen. Klementine blinzelte und pflückte eine der zerdrückten weißen Rosen von Luises Sarg und roch daran.

Dass ausgerechnet sie nun beide Geschwister überlebt hatte!

Die Kleine, Zarte, Fügsame.

Klementine spürte, wie Johann sie fester umfasste.

Zwei Söhne hatte sie der Familie geschenkt. Der eine stolz und mit Aplomb, ein ganzer Kerl, so einer, wie ihr Bruder Fritz es vermutlich geworden wäre, wenn Gott ihn nicht zu sich geholt hätte. Der andere zarter, eine verletzliche Seele, einer, der sich immer wieder in den Fängen der Frauen verhedderte.

Sie liebte beide, aber wenn Gott sie auf die Probe stellte?

Sie würde Johann wählen.

Nicht weil sie eine Frau war, immer noch, nicht wahr? Sondern weil er ihr viel näher war. Weil er das Land liebte und nicht die Zahlen. Und weil er sie nicht an seinen Vater erinnerte.

Klementine räusperte sich und spitzte die Lippen. Nun war es aber auch genug mit diesen Sentimentalitäten. Sie hob den Blick, und trotz ihrer schlechten Augen bemerkte sie, dass Carl in die Kirche zurückgekommen war.

Er hatte den Vorfall gut bewältigt, nicht gelassen, aber mit einiger Nachdrücklichkeit in seinen Anweisungen. Doch offenbar war die Krise noch nicht ausgestanden, sie hörte es seinen schnellen Schritten an.

Der Wind, der Wind, er mahnte zum Aufbruch.

Das bisschen Sturm.

Ach, Kinder, wir haben doch schon Schlimmeres mitgemacht, dachte sie.

Nicht, dass sie an die Vergangenheit rühren wollte, aber das bisschen Wetter? Du liebe Güte.

»Ich fahr mit dir zurück«, flüsterte sie Johann zu.

Und das tat sie dann auch.

In Johanns Wagen sah es aus wie früher in seinem Jungenzimmer. Bücher, Zeitungen, Apfelreste.

Bisweilen dachte sie, dass er sich nur von Äpfeln ernährte.

Nur mit Mühe kamen die Scheibenwischer gegen das Schneetreiben an, das alle Farben verwischte.

»Mit wem fährt Carolin zurück?«

Johann zuckte die Achseln, angestrengt sah er auf die Straße. Die Kirche, in der einst schon die Wikinger ihren Göttern gehuldigt hatten, lag etwas außerhalb des Ortes, an einem Nebenarm der Schlei. Alles war weiß und die Kolonne der vor ihnen fahrenden Wagen im dichten Schneetreiben kaum auszumachen. Für einen Moment stellte Klementine sich vor, dass Luise da oben auf einer Wolke saß, mit den Beinen baumelte und es schneien ließ. Einfach so, weil es ihr gefiel.

»Sie ist irgendwie zur Kirche gekommen, also wird sie auch wieder zurückkommen. Vielleicht hat Niki an der Straße auf sie gewartet?«

Niklas war Caros Freund, ein unbekümmerter, hoch aufgeschossener Taugenichts, Sohn des Sparkassendirektors aus dem Nachbarort. Die beiden hatten sich in der Schule kennengelernt, und seit ein paar Wochen »gingen« sie miteinander. Praktisch hieß das wohl, dass sie die Schule schwänzten und mit Nikis Mofa über die Dörfer düsten.

»Machst du dir keine Sorgen?«

»Um Caro?« Johann schüttelte den Kopf, und da war der Anflug eines Lächelns, das sich um seine Mundwinkel malte. Als erinnere er sich noch daran, wie dieses Gefühl von Freiheit schmeckte. »Sie kann Carl die Stirn bieten, warum sollte ich mir Sorgen machen?«

»Du tust deinem Bruder unrecht.«

»Weil ich seine herrische Art nicht mag?«

Vorsichtig bog Johann vom schmalen Kirchenweg auf die Dorfstraße ein, die quer durch Schwanenholz führte. Der kleine Ort war aus dem Bauerndorf hervorgegangen, das früher zum Gut gehört hatte. Neben den Höfen und einer kleinen Molkerei gab es noch einen winzigen Tante-Emma-Laden. Und das Kriegerdenkmal an der Blutbuche, dessen Obelisk sich wie ein mahnender Fingerzeig aus dem Schnee erhob. Dann kam auch schon die lange gepflasterte Allee, die auf das Gut zuführte. Zwei Kilometer Katzenkopf und Eichen, mehr als hundert Jahre alt. Das Laub der Bäume schloss sich im Sommer zu einem schattigen Dach.

»Ihr müsst euch zusammenraufen, wenn ihr die Existenz der Baumschule nicht aufs Spiel setzen wollt.«

Johann antwortete ihr nicht.

»Wir mussten alle Opfer für die Familie bringen«, fuhr Klementine fort. »Immerzu.« Dann schwieg sie ebenfalls. Je älter sie wurde, desto mehr Platz nahmen die alten Geschichten in ihrem Herzen ein. Nachdenklich strich sie den Rock ihres Trauerkostüms glatt.

Nach einer Weile tauchte aus dem Sturm der wirbelnden Flocken das Gut vor ihnen auf. Behutsam lenkte Johann den Wagen durch das historische Torhaus, dann fuhren sie zwischen den Wirtschaftsgebäuden und den Scheunen links und rechts um die herrliche Kastanie herum auf das Herrenhaus zu.

Der prächtige quaderförmige Backsteinbau stammte aus dem Spätbarock und war an drei Seiten von Wasser umgeben. Wegen seines weißen Anstrichs und des majestätischen Mittelrisalits wurde das Herrenhaus in der Umgebung auch »Schloss Schwanenholz« genannt. Im Giebelfeld prangte das Wappen der Familie, ein mächtiges Walmdach mit halbrunden Gaubenfenstern krönte das Haus, das ihrem Großvater einst samt Titel vom dänischen König für seine besonderen Verdienste »um die Verbreitung nutzbarer Holzpflanzen in den Forsten des Landes« verliehen worden war. Hinter dem Haus, über eine steinerne Brücke zu erreichen, erstreckte sich ein alter englischer Landschaftsgarten, dessen Bäume im Osten in die geometrischen Quartiere der Baumschule übergingen. Achtzig Hektar Land, Anbaufläche für die berühmten Bäume mit dem Schwanenwappen, die dort soldatisch aufgereiht wuchsen.

Klementine war erst am Morgen aus dem nahe gelegenen Kiel angereist, und der Anblick ihres Elternhauses versetzte ihrem Herzen einen Stich.

Johann fuhr den Wagen bis vor die breite Sandsteintreppe, auf der eine Reihe kugeliger Buchsbäume Spalier standen. Früher, zu Vaters Zeiten, hatte ein Diener die ankommenden Gäste empfangen. »Enchanté, Madame.« Aber die Vergangenheit interessierte ja keinen mehr.

Klementine seufzte und gab sich wehmütig den Erinnerungen hin, während Johann sie nachdenklich von der Seite her ansah. Er schien ihr anzumerken, dass sie auf einer ihrer Seelenwanderungen war, wie er ihre sentimentalen Anwandlungen gelegentlich bezeichnete.

Erst als sie nickte, stieg er aus, um ihr die Wagentür zu öffnen.

»Bitte sehr, Gräfin«, sagte er liebevoll, denn er wusste, wie viel ihr an dem Titel lag, dann reichte er ihr den Arm. »Willkommen auf Schwanenholz.«

JOHANN

4

Tante Luise hatte sie gewarnt. »Wenn ich einmal unter die Erde komme, werdet ihr euer blaues Wunder erleben«, hatte sie gelegentlich augenzwinkernd gedroht, wenn ihr die Neffen mit ihren Kapriolen die Nerven raubten. Aber dass sie ihre Drohung tatsächlich wahr machen würde …

Johann stellte seinen alten Wagen vor der großen Gerätescheune ab, wo bereits ein paar andere Autos parkten, dann lief er mit hochgeklapptem Kragen auf das Herrenhaus zu.

Der Sturm war herrlich. Der Wind packte ihn, schob ihn vorwärts, als wäre er ein Segelschiff, das durch das Wasser der Schleimündung flog. Windstärke acht, in Böen zehn, und da kam noch mehr. Johann breitete die Arme aus und schlitterte durch den Schnee, der sofort alle Spuren verschluckte. Alle, die heute noch über Land fahren mussten, würden nicht mehr weit kommen.

War das ein Blizzard? Darüber hatte er doch schon einmal etwas gelesen.

Seltsam, dass die Meteorologen diesen Temperatursturz nicht vorhergesagt hatten. Lächelnd leckte er sich über die Lippen. Der Schnee war übers Meer gekommen und schmeckte nach Salz.

In der Halle tropften die Mäntel.

»Wo ist mein Bruder?«, fragte er Heike, die sich um die Garderobe der Gäste kümmerte. Das blasse Mädchen sah in seinem schwarzen Kleid wie eine vertrocknete Blume aus, beflissen nahm es ihm die Jacke ab und wies nach rechts auf die hohe Flügeltür. »Der Herr Graf hat uns angewiesen, den Kaffee im Gartensaal zu servieren.«

Der Herr Graf …

Johann wandte sich ab und verdrehte die Augen, während er sich auf den Weg nach unten in die Küche machte. Im Gegensatz zu Johann hatte Carl nie wirklich im Herrenhaus gelebt (wenn man von seiner Kindheit absah). Sein Bruder hatte in Hamburg und Frankfurt studiert und später als Rechtsanwalt in Kiel gearbeitet. Unternehmensrecht, dazu noch CDU-Anhänger mit exzellenten Beziehungen zur Landesregierung. Als Carl heiratete, hatte er sich mit dem Geld seiner Frau (Einzelkind, Eltern früh verstorben) einen luxuriösen Bungalow mit Panoramafenstern und Swimmingpool auf die grüne Wiese gesetzt. Nach Schwanenholz kam er nur zum Arbeiten.

In der Küche prusteten die Kaffeemaschinen. Isa hatte sich eine Schürze über das schwarze Kleid gebunden und schnitt Blechkuchen. Auf dem Küchentisch warteten bereits ein paar schwer beladene Silberplatten mit Bienenstich und Butterkuchen. Vor den Souterrainfenstern heulte der Sturm, als wollte er sich nicht damit abfinden, draußen vor der Tür bleiben zu müssen.

Johann nahm sich ein Stück Bienenstich und biss hinein, süß und sahnig quoll die Füllung heraus, und er leckte sich die Finger ab.

»Weißt du, mit wem Caro gefahren ist?«

Isa schüttelte den Kopf, aber sie blickte nicht auf.

»Das war ja was«, sagte sie düster.

»Schätze, wir werden noch mehr Übernachtungsgäste haben«, erwiderte Johann. Das Herrenhaus verfügte über zwei Gästezimmer, sicherlich hatte Isa schon im Vorfeld für frisch bezogene Betten und saubere Bäder gesorgt.

»So viele Wärmflaschen haben wir gar nicht«, seufzte Isa. Sie zuckte die Achseln, dann arbeitete sie weiter. Die Heizung des Herrenhauses stammte noch aus Vorkriegszeiten und war eine Katastrophe. Ein kilometerlanges, undurchdringliches Geflecht aus Leitungen, das niemand durchschaute. Richtig warm wurde es nie. In strengen Wintern blühten Eisblumen auf dem alten Fensterglas, und sowohl Isa als auch Caro gingen mit je zwei Wärmflaschen zu Bett.

»Da hilft nur Alkohol«, bemerkte Johann.

Er zwinkerte ihr zu und aß sein Kuchenstück auf, dann begann er, den Kaffee in große silberne Thermoskannen umzufüllen. In der Küche gab es einen kleinen Speiseaufzug, der das Kellergewölbe mit dem oberen Stockwerk verband. Als er die Aufzugtüren öffnete, um die Kannen hineinzustellen, sprang ihm Luises grauer Kater entgegen.

»Na, dich hab ich schon vermisst.« Isa wischte die Hände an der Schürze ab und stellte dem ausgehungerten Tier eine Schale Futter hin. Dann strich sie ihm ruppig über das Fell. »Du Döspaddel.«

Zum ersten Mal sah Johann ihr die Traurigkeit an, in die Luises plötzlicher Tod sie gestürzt haben musste. Schwarz und schwer hockte sie ihr auf den Schultern. Die beiden Frauen hatten fast siebzig Jahre zusammen in diesem Haus verbracht, denn Isa war schon als kleines Kind mit ihrer Mutter, die ebenfalls Köchin auf Schwanenholz gewesen war, ins Haus gekommen und nie wieder fortgegangen. Seine Tante hatte ihm einmal erzählt, dass Isa nur einmal versucht gewesen sei, ihre Anstellung einer Ehe zu opfern. Aber Kochen, Putzen und Waschen, das hätte sie auch bei ihrem Mann gehabt, und so habe sie sich schließlich gegen die schwankenden Planken einer Ehe und für die soliden Mauern von Gut Schwanenholz entschieden. Eigentlich war Isa längst in Rente, aber sie arbeitete einfach weiter. Ließ nicht mit sich reden! Luise hatte ihr die Treue mit unerschütterlicher Zuneigung und einem lebenslangen Wohnrecht auf dem Gutshof gedankt.

»Kann ich sonst noch was für dich tun?«, fragte Johann und sah sie forschend an. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er das Kleid, das sie trug, schon einmal bei seiner Tante gesehen hatte.

»Nee, lass mal gut sein.« Mit einer resoluten Handbewegung scheuchte Isa ihn aus ihrem Reich. »Du gehörst doch nach oben.«

Johann verzog das Gesicht, aber dann machte er sich doch auf den Weg zurück ins Erdgeschoss.

Der Gartensaal war der schönste Raum des Herrenhauses, das einst für die Geliebte eines dänischen Königs und die Versorgung der unehelichen Kinderschar erbaut worden war. Die verblassten Seidentapeten mit Rokokomotiven und die prächtige Deckenbemalung, ein Wirbel aus tanzenden Nymphen, die den Raum schmückten, stammten noch aus dieser Zeit. Immer wenn sich etwas für die Familie Bedeutsames ereignet hatte, war es im Gartensaal mit Blick auf den weitläufigen Park begossen worden. Gute Geschäfte, Krieg und Frieden, Rettung aus höchster Not (meist finanzieller Natur).

Und nun also Luises Beerdigung – oder zumindest der Versuch.

Johann lockerte die Krawatte, dann band er sie ganz ab und steckte sie in die Hosentasche. An der Tür zögerte er kurz, bevor er den Raum betrat.

Die Baumschule von Schwan feierte im kommenden Frühjahr ihr hundertjähriges Bestehen. Seine Tante hatte ein Fest geplant und eine Chronik in Auftrag gegeben, doch die Aktivitäten konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um die Baumschule nicht zum Besten stand. Entscheidungen standen an, sie mussten handeln, wohl auch investieren, um das Unternehmen, das seine Pflanzen in alle Welt verkaufte, auch in Zukunft auf Kurs zu halten.

Carl wollte Wachstum, Johann Qualität. Gesunde Bäume, besondere Bäume, die man nur in der Baumschule von Schwan kaufen konnte. »Charakterbäume«, hatte seine Tante diese begehrten Exemplare genannt. Solitäre, die einen Garten oder Park wegen ihrer besonderen Größe oder Färbung optisch dominierten und ein gutes Jahrhundert und mehr überdauern konnten. »Gesunde Wurzeln, gerader Wuchs, majestätische Krone.«

Johann wischte sich das Haar aus dem Gesicht, strich sich über den Bart, dann gab er sich einen Ruck. Immer wieder geriet er mit seinem Bruder über die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens aneinander. Luises Tod hatte sie zu einer Art Waffenstillstand genötigt, doch sie wussten beide, dass sie diesen Kampf nach kurzem Innehalten wieder aufnehmen würden.

Johann seufzte leise, dann öffnete er die Tür. Mit dem Tod seiner Tante hatte er seine größte Fürsprecherin verloren.

Im Gartensaal waren weniger als zwanzig Personen versammelt, offenbar hatte sich ein Großteil der Trauergäste wegen des Wetters vorsorglich auf die Heimfahrt gemacht oder ins Hotel nach Kappeln begeben. Er sah seinen Bruder und dessen Frau, seine Mutter, die in einem der Sessel versunken war, ein paar Angestellte der Baumschule, den Bürgermeister von Schwanenholz mit Frau und Sybille Meister, die Journalistin, die Luises Firmenchronik geschrieben hatte. Ein Feuer brannte im Kamin und verbreitete wohlige Wärme.

Seine Tochter fehlte.

»Johann!«

Carl winkte ihn zu sich, und er folgte der Aufforderung, ließ sich Kaffee einschenken und einen Cognac, der ihn ein wenig versöhnlicher stimmte. Wie aus weiter Ferne verfolgte er die kurze Ansprache seines Bruders, der Luises Wirken noch einmal würdigte, bevor er zu den organisatorischen Details kam, welche die Verlegung der Trauerfeier mit sich brachte.

»Auf Ihre Tante!«

Sybille Meister war an seine Seite getreten, sie hob das Glas und nickte ihm zu. Die Journalistin, sie war ein klein wenig älter als Johann, arbeitete für die Lokalzeitung in Kappeln. Im vergangenen Jahr hatte sie gemeinsam mit Luise das Familienarchiv durchforstet. Die Chronik, die Luise sich in den Kopf gesetzt hatte, war ein ambitioniertes Werk geworden: »Von Himmel und Erde. 100 Jahre Baumschule Gustav von Schwan, 1879–1979«. Texte und Bilder auf mehr als einhundertzwanzig Seiten, dazu einige Glückwunschadressen aus aller Welt, denn Bäume aus der Schwanenholzer Baumschule wuchsen sowohl im Garten des Weißen Hauses als auch am japanischen Kaiserhof.

»Sie hatte noch so viel vor.«

Nachdenklich ließ Sybille Meister den Blick durch den Gartensaal wandern. Ihr Blick blieb an einem Familienporträt hängen, das Luises Vater mit Frau und den drei Kindern zeigte. Friedrich Wilhelm von Schwan hatte das Unternehmen 1896 von seinem Vater Gustav übernommen und erfolgreich ausgebaut.

»Der erste Erbe«, sagte sie, dann musterte sie Johann forschend. Für die Chronik hatte sie auch mit den Brüdern ein Gespräch geführt, und obwohl sie sich beide bemüht hatten, sich ihren Zwist nicht anmerken zu lassen, musste sie die Spannungen wahrgenommen haben, die unter der Oberfläche brodelten.

»Mein Großvater hat den Grundstein für den Erfolg des Unternehmens gelegt«, erwiderte Johann. Er dachte daran, dass Friedrich Wilhelm den ausgesuchten Baumschulkatalog seines forstwirtschaftlich denkenden Vaters um Obstbäume und Ziergehölze erweitert hatte. Außerdem hatte er sich auf Straßen- und imposante Einzelbäume sowie Heckenpflanzen spezialisiert. Die Nachfrage dafür war um die Jahrhundertwende stark angestiegen, weil die Wohlhabenden ihre Villen dahinter verstecken konnten. »Je größer, desto begehrter«, lautete damals die Maxime, und der Handel mit Großbäumen und Solitären war zu einer Spezialität der Baumschule von Schwan geworden, die auch heute noch von Bedeutung war. Sein Großvater hatte den guten Ruf der Baumschule in Bankiers- und Unternehmerkreisen sowie im europäischen Adel begründet.

»Und Ihre Tante hat das Unternehmen äußerst erfolgreich fortgeführt. Nicht einfach für eine Frau in diesen Zeiten und in dieser konservativen Branche.«

Johann nickte, ja, das war wohl so. Zwei Weltkriege und die dazugehörigen Wirtschaftskrisen und Umwälzungen hatten die Baumschule mehrfach an den Rand des Ruins geführt. Doch Luise hatte sich nie unterkriegen lassen. Auch nicht, wenn es hieß, sie sei ja nur die Tochter vom alten Schwan. In einer seiner frühesten Erinnerungen an seine Tante stapfte sie mit Hut und in Gummistiefeln wie ein General durch die Baumschulquartiere und bellte Anweisungen an ihre Gärtner. Die Bäume jedoch behandelte sie stets mit Liebe und Respekt. »Sie hat ihr Reich mit Zähnen und Klauen verteidigt«, sagte er traurig, weil er ihren Elan und ihre Zuversicht schon jetzt vermisste.

»Ich hatte bei unseren Gesprächen bisweilen den Eindruck, sie hätte sich auch ein anderes Leben vorstellen können«, sagte Sybille Meister. Sie holte ein Päckchen mit Zigaretten aus der Tasche, und Johann gab ihr Feuer.

Vor den hohen Sprossenfenstern war es inzwischen dunkel, es ging auf halb fünf Uhr zu. Johann bemerkte, dass der Schneesturm aus dem Inneren des Hauses betrachtet einen anderen Eindruck auf ihn machte. Das Fauchen des Windes und die lauernde Kälte, die unter dem Getöse zu spüren war, ließen die Welt da draußen nun feindlich und bedrohlich wirken.

»Sie wissen aber, dass sie dieses Leben bewusst gewählt hat«, erwiderte er überrascht.

Luises Vater war immer mit der Zeit gegangen. Nach dem Tod des Sohnes, dem Ende des Kaiserreichs und der mit der Republikgründung am 9. November 1918 verbundenen neuen demokratischen Grundordnung, die auch das Frauenwahlrecht beinhaltete, hatte er es seiner ältesten Tochter freigestellt, sich für oder gegen das Erbe und die Familientradition zu entscheiden. Und so war Luise nach einem Jahr, das sie 1927 reisend verbracht hatte, aus freien Stücken nach Schwanenholz zurückgekehrt, um dem Ruf der Familie zu folgen und ihr Leben der Baumschule zu widmen. Danach hatte es nur noch das Unternehmen für sie gegeben, das Land, die Arbeiter und die Bäume, die ihr anvertraut worden waren. Selbst ihr privates Glück und die Ehe mit einem Unternehmer, der der einzige Sohn Fritz entsprang, hatte sie dem Wohl des Familienbetriebs untergeordnet.

Sybille Meister nickte. Sie rauchte beiläufig, ihre silbergrauen Augen suchten Johanns Blick. Sie war eine Frau, die Kraft und Selbstsicherheit ausstrahlte, in Gesellschaft bewegte sie sich stolz wie eine Löwin. Ihr sandfarbenes Haar trug sie lang und offen, und die Fingernägel (vielleicht auch die Zehennägel?) waren stets rot lackiert. Luise hatte sie gemocht und ihr vieles anvertraut, und auch Johann fand sie klug – und attraktiv.

»Haben Sie sich schon entschieden?«, fragte sie ihn.

»Entschieden?«

Johann lächelte, weil sie Fragen formulierte, die er sich selbst nicht zu stellen wagte.

»Werden Sie bleiben?«, setzte sie nach, und ihrer Miene entnahm er, dass sie von den Überlegungen wusste, ihn als Kandidaten der Grünen Liste für die Landtagswahlen aufzustellen. Die Wählervereinigung war aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangen, im kommenden Herbst würde die Liste erstmals bei den Wahlen in Schleswig-Holstein antreten. »Bleiben Sie auf Gut Schwanenholz, oder gehen Sie ganz in die Politik?«

Johann schürzte die Lippen, dann blickte er Hilfe suchend zum Deckengemälde hinauf. Der sinnliche Tanz der Nymphen in ihrem blauen Schwalbenhimmel ließ ihn schwindeln.

»Ich bin ein politischer Mensch, und natürlich interessiere ich mich für Politik«, setzte er zu einer Antwort an, so leise, dass sein Bruder ihn nicht hören konnte. »Aber meine politischen Überzeugungen sind eng mit dem Fortbestand des Gutes und der Baumschule verknüpft. Uns allen geht es doch um die Bewahrung der Natur und um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.«

Er schwieg, lauschte dem Nachhall der Worte, die in diesem herrschaftlichen Ambiente ganz anders klangen als in den nüchternen Versammlungsräumen der Wählervereinigung. Sybille Meister entließ ihn nicht aus ihrem Blick, und er bemerkte, wie sich das Kaminfeuer in ihren Pupillen spiegelte.

»Ihr Bruder fährt einen anderen Kurs«, erwiderte sie und schien dabei insgeheim über seinen offenen Hemdkragen zu lächeln.

»Wissen Sie«, sagte Johann und schwenkte das Cognacglas in seiner Hand, bevor er den letzten Schluck nahm, »das Land hier ist alt, ein Großteil der Bäume wurde schon vor unserer Geburt gepflanzt. Wir sollten uns selbst nicht so wichtig nehmen. Unsere Tante hat uns ihr Vertrauen geschenkt, und Carl und ich werden einen Weg finden, um ihr Erbe fortzuführen.«

Wieder flüchtete er sich zu den heiteren Bildern des Reigens über ihm. Die Nymphen zwinkerten ihm zu, und für einen Moment wollte er seinen zuversichtlichen Worten tatsächlich Glauben schenken.

CAROLIN

5

Den letzten Kilometer mussten sie das Mofa schieben. Der Wind kam von der Seite und traf sie mit Wucht, an manchen Stellen türmte sich der Schnee, und sie versanken bis zu den Knien darin. Eine Landschaft ohne Horizont. Mit einer Hand hielt Carolin sich an Niki fest, die andere ruderte durch die eisige Luft, um das Gleichgewicht zu halten.

Wie im Krieg, dachte sie plötzlich und wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Wahrscheinlich hatte sie zu viele von den alten Fluchtgeschichten gehört. Wie ihre Oma Klementine sich mit den beiden kleinen Jungen bei eisiger Kälte von Pommern aus auf den Weg nach Westen gemacht hatte, über die zugefrorene Ostsee. Am Wegesrand die zurückgelassenen Kinderwagen mit den blaugefrorenen Püppchen darin, die zu Tode erschöpften Alten, die im Eis versunkenen Schlitten und Gespanne, das Gepäck voller Erinnerungen an ein zerstörtes Leben, das im Schnee liegen geblieben war. Und im Nacken die Angst vor den russischen Panzern, davor, auch noch das letzte bisschen zu verlieren, was einem geblieben war: das nackte Leben.

»Irre«, hörte sie Nikis Stimme, er musste schreien, damit sie ihn verstehen konnte. Er hörte sich glücklich an, fast euphorisch, als erlebte er gerade das größte Abenteuer seines Lebens. »Kann ich bei euch pennen?«

»Klar«, schrie sie zurück. Wenn das mit dem Sturm so weiterging, würde ihn wohl niemand vor die Tür setzen. Dann stellte sie sich vor, nachts die Arme um seinen mageren, vor Tatendrang vibrierenden Körper zu schlingen, sich an ihn zu schmiegen, so wie sie es tat, wenn sie hinter ihm auf dem Mofa saß und sie über die Dörfer fuhren.

Auf der Allee hatte der Schnee die Spuren der vorausfahrenden Wagen schon wieder verschluckt. Die Bäume ächzten und schienen sich vor der Gewalt des Sturms zu ducken. Es kam ihr so vor, als wären sie die letzten Menschen. Die ersten Menschen. Niki und Caro. Sie versuchte, in seinen Spuren zu laufen.

Niklas. Niki.

Es war ihr fast ein wenig unheimlich, wie verliebt sie plötzlich in ihn war.

In der Schule hatte Carolin ihn zunächst kaum wahrgenommen, es war das Mofa, eine rote Sachs Hercules 503, die seine Eltern ihm im Herbst zum Geburtstag geschenkt hatten, was ihn besonders machte. Das Gefährt befreite sie aus ihrem ländlichen Gefängnis, verlieh ihnen Fliehkräfte. Anderthalb Stunden bis nach Kiel oder eine Stunde nach Flensburg. Dazu der Fahrtwind, das Kitzeln im Bauch bei einem waghalsigen Manöver. Die kleinen Fluchten in den Wald, an die Küste, an den Strand.

Wenn sie dann zusammen auf seinem Parka saßen, rauchten und er ihre Gedanken lesen konnte, ein Lächeln in den Augen, schmeckte das Leben nach mehr. Irgendwann, das spürte Carolin nun, würde sie immer weiterfahren und nicht mehr nach Hause zurückkehren wollen.

Ihre Großtante Luise hatte als Erste bemerkt, wie viel Niki ihr bedeutete. »Genießt es!«, hatte sie gesagt. Kein mahnender Zeigefinger, kein Verbot, keine Vorbehalte, als hätte sie eine Ahnung davon, wie es war, alle Türen aufzustoßen und hindurchzustürmen. Verdammt, Luise. Sie fehlte ihr.

Isa war da anders, fast schon ängstlich. »Die Schule, Kind. Dein Vater. Und dein Onkel.« Aber eigentlich meinte sie dabei wohl nur sich selbst. »Denk doch auch an mich, Caro-Herzchen.« Ein wogendes Meer mütterlicher Liebe, denn es war Isa gewesen, die sie aufgezogen hatte. In ihrer Küche hatte Carolin die ersten Schritte gewagt und sich die Finger verbrannt, Kartoffeln schälen konnte sie schon mit vier. Die Hausaufgaben am Küchentisch, die heiße Schokolade mit Zwieback an verregneten Herbstnachmittagen, die Brettspiele und Patiencen, Rührkuchen und Wunschkonzerte im Radio. Eltern, die gab es im eigentlichen Sinne für sie nicht. Ihre Mutter hatte es Jo überlassen, sich um sie zu kümmern, und der ließ seine Tochter laufen. Als Carolin drei oder vier Jahre alt gewesen war, hatte sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Danach hatte sich Beates Spur in einer Hippiekommune in Westberlin verloren.

Als sie das Torhaus erreichten, schob Carolin ihre Hand unter Nikis warmen Parka, und er gab ihr einen schnellen, atemlosen Kuss. Der Torbogen spannte sich wie ein schützender Schirm über sie, und für einen Moment lauschten sie dem tobenden Wind, der an den Dachziegeln rüttelte und nur darauf zu warten schien, sein wildes Spiel fortzusetzen und sie vor sich herzutreiben.

»Scheint doch nicht so viel los zu sein bei euch«, sagte Niki und deutete durch das wirbelnde Weiß in die Dunkelheit. Ein paar Autos verloren sich auf dem Vorplatz, Carolin erkannte den protzigen Benz ihres Onkels und atmete erleichtert auf, weil Isa offenbar heil angekommen war.

»Lass uns hintenrum durch die Küche gehen«, sagte sie und holte tief Luft, dann rannte sie los, auf das Herrenhaus zu, das doch immer ein Frauenhaus gewesen war.

Isa öffnete ihnen die Tür. »Dein Vater sucht dich schon«, sagte sie, bevor Carolin überhaupt zu Atem gekommen war. Wieder einer dieser Sätze, hinter denen sie die eigene Unruhe verbarg. »Sind alle oben und stoßen auf Luise an.«

Carolin zuckte die Achseln. Da stand noch ein Rest Kuchen auf dem Tisch, sie nahm sich zwei Stücke und hielt Niki eines davon hin. Von oben drang durch die geöffneten Türen des Speiseaufzugs fernes Stimmengewirr zu ihnen herab.

»Niki schläft hier«, sagte sie. Aber nicht weil sie musste, sondern weil sie es wollte. Weil sie klare Verhältnisse mochte.

Isa schwieg, sie sah erschöpft aus, traurig, müde, verloren. Das schwarze Seidenkleid und der Schmuck, all das Zeugs von Luise, an das Isa sich klammerte wie an einen Rettungsring, ließen sie noch verlorener wirken. Sie erinnerte an eine Schiffbrüchige.

»Gib wenigstens deinem Vater Bescheid, dass du da bist«, sagte Isa nach einer Weile, als hätte sie plötzlich nicht mehr die Kraft, die Verantwortung für ihren Zögling zu schultern. »Und zum Abendessen könnt ihr euch nachher was holen. Es gibt Roastbeef und Bratkartoffeln.«

Überrascht sah Carolin sie an, mit so wenig Widerstand hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich hatte sie … Ach, egal. Luises Tod nahm alle mit, stärker, als die Familie es wahrhaben wollte, und das vorhin in der Kirche schien alle Naturgesetze außer Kraft gesetzt zu haben.

Schnell griff sie nach Nikis Hand und zog ihn mit sich die Treppen hinauf bis unters Dach. Dort ließ man sie in Ruhe.

Vor ein paar Jahren hatte sie sich diese Kammer ertrotzt, die früher ein Dienstmädchen beherbergt hatte. Das kleine Mansardenzimmer war ihr Heiligtum. Carolin hatte die Wände grün gestrichen und eine große Matratze hinaufgeschleppt, ihre Kleider hingen an Haken, die sie in die Balken geschlagen hatte. Dazwischen Zettel mit Zitaten, Gedichten und Songtexten, wie Blätter an einem Baum. Hier oben fühlte sie sich frei, unbeobachtet, ohne Zwang, und im Sommer nisteten die Schwalben vor ihrem Fenster und weckten sie mit ihrem sonnenhellen Geplauder. Bisweilen kam es ihr so vor, als lebte sie in der Krone eines mächtigen Baumriesen.

»Da sind wir.«

Stolz stieß sie die Tür zu ihrem Zimmer auf.

»Abgefahren.« Niki grinste anerkennend, sein Blick wanderte über Plattenspieler, Gitarre und Bücherstapel und blieb schließlich an ihrem Matratzenlager hängen. »Bisschen kalt vielleicht.«

»Viel wärmer wird’s hier oben nicht.«

Bedauernd hob Carolin die Arme, dann trat sie energisch gegen die glucksende Heizung unter dem Fenster. Als sie sich wieder umwandte und ihn vor der Matratze stehen sah, erwartungsvoll und mit Kuchenkrümeln auf den weichen Lippen, fühlte sie sich plötzlich beklommen. Das fransige, vom Wind zerzauste Haar, die wasserblauen Augen, die milchige Haut, der nervöse, ungelenke Körper, der noch nicht seine endgültige Form gefunden zu haben schien – auf einmal war Niki ihr viel näher als bei jedem ihrer Ausflüge über die Dörfer. Vielleicht, weil die Welt um sie herum fehlte?

Die Möglichkeit, aufzustehen und davonzustürmen.

Eine lange Sekunde schwiegen sie beide, auch der Sturm schien für einen Augenblick Atem zu holen, bevor er erneut Anlauf nahm und wie ein Rammbock gegen die Fassade des Herrenhauses prallte. Die alten Mauern ächzten und stöhnten, Mörtelstückchen prasselten auf die Dielen.

Niki zog die Augenbrauen hoch, er schlüpfte aus dem nassen Parka, ließ ihn auf den Boden fallen und streckte fröstelnd die Arme nach ihr aus. »Kommst du?«

Carolin holte tief Luft und trat einen Schritt auf ihn zu. Sie versuchte, dieses überschäumende Etwas zu fassen zu bekommen, das sie gerade noch im Schnee für ihn empfunden hatte, aber dann huschte sie schnell an ihm vorbei zur Tür hinaus. »Warte mal, ich hol dir eben was Trockenes von Jo.«

Auf der Treppe hielt sie kurz inne: Was war das für ein merkwürdiges Gefühl, das sich da in ihr breitmachte? Erleichterung, weil sie ihm für einen Moment entkommen war?

Verwirrt drehte sie sich das feuchte Haar im Nacken zu einer lockeren Kordel.