Liebe ist ein Haus mit vielen Zimmern - Katrin Burseg - E-Book
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Liebe ist ein Haus mit vielen Zimmern E-Book

Katrin Burseg

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Beschreibung

Ein Liebesroman, der eine lange vergessene Künstlerin der Hamburger Sezession wiederentdeckt Carla bereitet eine Ausstellung über den Hamburger Jugendstil vor. Eine willkommene Ablenkung für sie, denn ihr wesentlich älterer, sehr geliebter Mann Willem ist schwer erkrankt. Ihr Leben gerät in Aufruhr, als sie eine besondere Entdeckung macht: Ein Gemälde von Alma Reed, die während der NS-Zeit verfolgt wurde. Von der Künstlerin und ihren Bildern fehlt jede Spur. Willem scheint sich in seinen lichten Momenten an etwas zu erinnern … Eine Roman über die Liebe und über die dramatische Geschichte der Hamburger Malerin Anita Rée. "Ein hervorragend recherchierter Roman, der aktuelle Themen wie Alzheimer und Raubkunst beinhaltet und am Ende zu einem kleinen Thriller verwebt." Angela Wittmann, Brigitte Bücher Spezial, Die besten Bücher des Jahres "Dieser Roman hat es verdient, ganz viele Leser zu bekommen." G. Pütz, Büchereule "Ein schöner, unterhaltsamer Roman, der federleicht zu lesen ist, sich aber durchaus mit einem ernsthaften Thema befasst." Gabrielle Scheller, Scheller Boyens Buchhandlungen "Ein gut geflochtener, gut konstruierter Roman" Rainer Moritz, Das gemischte Doppel: Die besten Bücher für den Frühling, NDR Kultur Ausgezeichnet mit dem DELIA-Literaturpreis 2016 "Ein Stück relativ unbekannte Hamburger Kunstgeschichte, die dem Leser auf spannende Weise näher gebracht wird. Ein vielschichtiges Buch, das man gelesen haben muss." Jury-Begründung, Delia Literaturpreis 2016

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Das Buch

Carla heiratet den charismatischen Willem. Da er älter ist als sie, geben sie sich ein Liebesversprechen: Nie soll Carlas Liebe in Pflichterfüllung erstarren. Nach fünfzehn guten Jahren erkrankt Willem an Alzheimer. Doch Carla denkt nicht daran, ihr Versprechen einzuhalten, sie liebt ihren Mann. Kraft schöpft sie in ihrem Beruf. Die Ausstellung über eine Hamburger Künstlergruppe, die sie gerade organisiert, beflügelt sie. Erst als ein unerwartet auftauchendes Gemälde aus der Nazizeit die Grundfesten ihrer Ehe erschüttert, beginnt sie zu zweifeln. Denn da ist auch noch der Besitzer des Bildes, der Carla gegen ihren Willen fasziniert. Jasper ist ganz dem Leben zugewandt, ein Landschaftsgärtner, der Bäume liebt und in Carla längst vergessene Sehnsüchte weckt. Sie steht vor der Wahl: Bleibt sie bei Willem, oder beginnt sie mit Jasper ein neues Leben?

Die Autorin

Katrin Burseg, geboren 1971 in Hamburg, wuchs auf einem mehr als hundert Jahre alten Bauernhof in Schleswig-Holstein auf. Ihr Faible für Geschichte und Geschichten ließ sie Kunstgeschichte und Literatur in Kiel und Rom studieren, bevor sie als Journalistin arbeitete. Sie hat mehrere historische Romane veröffentlicht, darunter »Der Sternengarten«. Die Autorin mag alte Bäume und Spaziergänge am Wasser, sie hört gerne klassische Musik und liebt die überraschenden Abenteuer beim Schreiben. Hamburg ist ihr Sehnsuchtsort, sie lebt mit ihrer Familie im Herzen der Stadt.

Katrin Burseg

LIEBE ISTEIN HAUSMIT VIELENZIMMERN

Roman

Marion von Schröder

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ISBN: 978-3-8437-1162-3

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München © The Gallery Collection/Cobis

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Give sorrow words. The grief that does not speakwhispers the o’erfraught heart and bids it break.«

William Shakespeare – Macbeth

Da ist etwas.Ich kann es nicht sehen.Aber ich kann es hören.Vater sagt, es gibt keine Gespenster.Nicht in unserem Haus.

EINS

Die Gänse waren im Morgengrauen zurückgekehrt. Als Carla die Vorhänge zurückzog, entdeckte sie die vertrauten Silhouetten, dunkle Körper, die sich gegen das Licht der schräg einfallenden Morgensonne abzeichneten. Sie zählte sieben Vögel, die auf der taufeuchten Rasenfläche am Fleet weideten. Es waren Graugänse. »Anser anser«,so hatte der große Carl von Linné sie 1758 in seiner Systema Naturae bezeichnet. Das Werk des Schweden hatte den Beginn der modernen Zoologie markiert.

Schon in der Nacht hatte Carla von den Gänsen geträumt. Von ihren Gänsen. Nein, vielmehr hatte sie beim Aufwachen gedacht zu träumen. Im Schlaf hatte sie den Flügelschlag der Vögel gehört, jenes charakteristische Surren und Pfeifen, ihr Kreisen über den kupferfarbenen Dächern der Stadt. Und dann das Schnattern und Rufen der Graugänse, ihr rauer, rostiger Gesang. Sie war mit einem Lächeln aufgewacht. Ungeduldig war sie aus dem Bett gesprungen.

Die Vögel dann tatsächlich zu sehen war ein Geschenk gewesen. Die Freude trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Carla übersprang die morgendliche Routine des Sonnengrußes und griff nach dem Fernglas. Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus. Wie ein stürmischer Liebhaber umfing sie die kalte, klare Morgenluft. Sie atmete tief ein und aus, die Kälte biss in ihre Zehenspitzen und tastete sich die nackten Beine empor. Und doch war dieser Moment ein Augenblick puren Glücks.

Woher waren die Gänse so plötzlich gekommen?

Zitternd hielt sie sich das Fernglas vor die Augen. Ausgehungert nach ihrem langen Flug von der afrikanischen Nordküste über das Mittelmeer und die Alpen widmeten sich die Vögel dem ersten zarten Grün der Alsterwiesen. Einige Tiere waren beringt, Carla sah die farbigen Aluminiumstreifen.

Hatte sie ihrem geselligen Geplauder bereits im vergangenen Sommer gelauscht? Jahr für Jahr kehrten die Gänse in die Gärten am Fleet zurück, beharrlich hielten sie an ihren angestammten Weideflächen fest. Sie waren ausdauernd und treu – sowohl untereinander als auch in der Wahl ihrer Rast- und Brutplätze. Carla hatte es immer als Auszeichnung empfunden, dass die Vögel sich auch ihren Garten erwählt hatten. Sie versuchte, die einzelnen Stimmen voneinander zu unterscheiden. Dann schüttelte sie den Kopf. Als sie wieder in ihr Schlafzimmer trat, begegnete ihr das eigene Spiegelbild im Fenster.

War es nicht eigentlich andersherum?

Wahrscheinlich hatte es die Gänse schon immer an diesen Ort gezogen. Auf alten Aufnahmen und Stichen sah man Gänse und Schwäne auf der Alster dümpeln. Sie waren vor den beiden Kriegen und zu Kaisers Zeiten dort gewesen. Und sie hatten die Alsterwiesen bereits besiedelt, bevor man die weiß verputzte Stadtvilla anno 1872 in den feuchten Grund gesetzt hatte. Es war also Carla gewesen, die sich das Haus an der Fleetbrücke ausgewählt hatte.

Die Nächte getrennt, das Frühstück zu zweit – das dritte Jahr nun schon. Und trotzdem eine stille Freude, Willem jeden Morgen zu begegnen. Lächelnd gab Carla ihm einen Kuss auf die Wange und strich über sein dichtes Haar.

»Die Gänse sind zurück.«

Carla setzte sich zu ihm an den gedeckten Tisch im Gartenzimmer und wies durch das hohe Sprossenfenster hinaus. Inzwischen hatte sie geduscht und sich angezogen. Zu engen dunklen Jeans und halbhohen Stiefeln trug sie einen hellen Kaschmirrolli. Die schulterlangen blonden Haare hatte sie zurückgenommen und mit wenigen Nadeln am Hinterkopf aufgesteckt. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, die sie sich den Tag über wohl hundertmal hinter die Ohren strich. Den taillierten Blazer, ebenfalls dunkel, jedoch mit matten, silbernen Knöpfen besetzt, würde sie später überziehen, wenn sie das Haus verließ und ins Museum fuhr. Ein dezenter Look, klassisch und solider, als sie sich eigentlich fühlte. »Meine Uniform«, verteidigte sie sich immer, wenn ihre Mutter ihr bei einem ihrer seltenen Besuche einen Stapel Modemagazine in den Arm drückte. »Die Bilder sollen leuchten, nicht ich.«

Willem blickte auf, doch er antwortete nicht. Stumm sah er sie an, seine Augen suchten einen Punkt, an dem sie sich festhalten konnten. Schließlich griff er mit beiden Händen nach seiner Tasse und trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken den noch heißen Tee.

»Gänse«, wiederholte er stockend. Doch dann zog sich plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht und hellte seine Züge auf. Als er den Blick wieder hob, sah er sie wach und verständig an. »Anser anser …« Im nächsten Moment hielt er ihr strahlend seinen Teller entgegen, und Carla reichte ihm den Toast mit Honig. Sie hatte ihn mit dem Messer in vier Stücke zerteilt.

Wie oft hatte sie das schon getan? Das kleingeschnittene Stück Brot war inzwischen morgendliche Routine, ein Ritual, so wie das Kerzenlicht, die klassische Musik und die bedeutsam knisternden Zeitungen, die immer noch neben Willems Teller lagen. Ein Stapel Gegenwart, der doch Vergangenheit war.

Solange Carla Willem kannte, war sein Kopf am Morgen hinter der Zeitungswand verschwunden. Ab und an waren Nachrichten, Kommentare und Gedanken wie Rauchwölkchen dahinter aufgestiegen. Er hatte sie mit Zitaten und Anekdoten gefüttert, gemeinsam hatten sie über den Spott der Feuilletonisten gelacht, die filigrane Sprache eines Rezensenten bewundert. Doch irgendwann hatte er aufgehört, die Zeitungen aufzuschlagen. Sie hatten ihren unwiderstehlichen Reiz verloren, ihr Wissen von der Welt war nur noch monotones Rauschen. Nur die Musik, die hörte Willem immer noch gern. Mozart … Carla sah, wie Willems Finger den Takt der Klaviersonate auf das Tischtuch klopften. C-Dur für vier Hände.

Morbus Alzheimer. Die Krankheit hatte sich zunächst auf Zehenspitzen und dann mit immer deutlicheren Misstönen in ihr Leben geschlichen. Symptome, die sie aus der Presse, von Erzählungen und aus den abendlichen Talkshow-Runden im Fernsehen kannte, waren ihre Begleiter geworden. In der Neurologie des Universitätsklinikums hatte sich Carlas Verdacht bestätigt. Einige Tests und die verstörend direkten Kernspinaufnahmen von Willems Gehirn zeigten das Ausmaß der Verwüstung. Sieben bis zehn Jahre, so lautete die Prognose, die Carla sich von dem behandelnden Arzt erbetteln musste. Sieben bis zehn Jahre … Inzwischen wusste sie genug über den gnadenlosen Gast an ihrem Frühstückstisch, sie kannte seine Verbündeten: die Plaques und Neurofibrillen, die sich wie Wollknäuel um Willems graue Zellen legten und seinen einst so brillanten Geist in einen desolaten Flickenteppich verwandelten. Und die Zeit. Drei Jahre waren seit der Diagnose vergangen, inzwischen blieb Willem nicht mehr allein, wenn sie aus dem Haus ging. Willems Vermögen ließ ihm seine Würde und ermöglichte ihr einen Alltag im Museum für Stadtgeschichte.

»Ich bringe dir das Fernglas, wenn ich gehe.«

Carla zeigte noch einmal hinaus in den Garten, dann stand sie auf und gab Willem einen Abschiedskuss. Er roch frisch und vertraut, die Lavendel- und Rosmarinnoten seines Eau de Toilettes stiegen ihr in die Nase. Der Duft erinnerte sie an eine Fahrt durch die Provence. Damals hatte Willem ihr sein Frankreich gezeigt, Champagner in Reims, Fruits des Mer in Deauville, das Centre Pompidou in Paris. Malewitsch und Matisse, Léger und Gontscharowa: Die Namen der ausgestellten Künstler waren ihr wie ein verheißungsvolles Versprechen erschienen. Ein Versprechen auf etwas unverrückbar Schönes. Und auf eine wunderbare Zukunft.

Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf das Foto, das in einem schlichten Rahmen auf dem Sekretär stand. Ein Schnappschuss aus einer anderen Zeit. Wie jung war sie damals gewesen – und so glücklich! Auf dem Bild trug sie ein weißes Sommerkleid und silberne Sandalen, sie warf ihr Haar nach hinten, das Kinn himmelwärts gereckt. Willems Hemd war aufgeknöpft, im Knopfloch seines Jacketts blitzte eine Margerite. Sie lachten wie Kinder, ausgelassen und frei. Kurz nachdem das Foto entstanden war, hatten sie sich geküsst. Der Kuss hatte ihren Bund besiegelt.

Damals war Carla vierundzwanzig gewesen und er lässig und erfahren. Jetzt war der legendäre Willem van Velden dreiundsiebzig Jahre alt – und immer noch ihr Mann.

In der Küche schwelgte das Radio, irgendetwas aus den Sechzigern. Aufbruch und Fernweh, goldenes Licht und freie Liebe. Die Hymnen der Hippies waren inzwischen kaum mehr als sentimentale Erinnerungen, eine sorgenfreie Geräuschkulisse, Kochmusik. Carla steckte den Kopf durch die Tür.

»Ich komme gegen halb acht wieder, Frau Woldsen.«

Die Haushälterin drehte sich um und nickte. Das dichte igelgraue Haar, das ihr Gesicht rahmte, wippte dabei auf den Schultern. Über Rock und Bluse trug sie eine makellos weiße Schürze, die um die Hüften etwas spannte. Sie verkörperte das Idealbild einer Perle – war verlässlich, zupackend und Willem treu ergeben. Für einen Moment versuchte Carla, sie sich als Zwanzigjährige mit bauchfreiem Top und Schlaghose im Summer of Love vorzustellen. Als junges Mädchen musste sie sehr hübsch gewesen sein, eine Augenweide, wie Willem zu sagen pflegte. Sie hatte ein rastloses Leben an der Seite eines Schiffskochs geführt, war viel gereist – Shanghai, Rio, San Francisco. Ihre Küche kannte Düfte und Geschmäcker aus aller Welt: fruchtiges Curry, Dim Sum im Bambuskörbchen, Coq au Vin auf burgundische Art mit schwerem Rotwein. Doch ihr Mann war schon lange tot, und so hatte sie sich vor mehr als zwanzig Jahren des Junggesellenhaushalts am Fleet angenommen.

Als Carla in Willems Leben getreten war, hatte Agnes Woldsen kurz und heftig mit ihr um die häusliche Hoheit am Fleet gerangelt. Und Carla hatte versucht, den Spitzen und Scharmützeln der Älteren mit ihrer unverschämten Jugend und ihrem sorgenfreien Lachen Paroli zu bieten. Ein albernes Schauspiel, das Willem schließlich mit einem Machtwort beendet hatte.

Carla hatte gelernt, die gewohnten Rechte und Freiheiten der Haushälterin zu respektieren, so wie diese sich an die Anwesenheit der Jüngeren gewöhnt hatte. Doch es war ihr nicht leichtgefallen, Carlas plötzliches Auftauchen in ihrem Reich zu akzeptieren. Trotz der täglichen Nähe war ihr Verhältnis seltsam distanziert geblieben. Und seitdem Willems Krankheit nicht mehr zu leugnen war, meinte Carla, ein Funkeln in ihrem Blick wahrzunehmen: »Wie gut, dass du mich hast«, schien es ihr entgegenzublitzen. »Was würdest du nur ohne mich tun?«

Und Agnes Woldsen hatte recht. Natürlich hatte sie recht, dachte Carla. Denn Willem war sie inzwischen eine unverzichtbare Stütze im Wirrwarr der sich ihm immer mehr verschließenden Welt. Ihr vertrautes Wesen, der selbstlose Einsatz, ihr scheinbar unbegrenztes Zeitbudget – keine Kinder, keine Enkel, keine weiteren Leidenschaften neben dem Kochen – könnte ihnen noch für ein oder zwei Jahre die Unannehmlichkeiten eines Pflegedienstes und fremder Personen im Haus ersparen.

»Fisch?« Carla zeigte auf die Anrichte, wo die Zutaten für das Mittagessen lagen. Frau Woldsen musste bereits auf dem Markt gewesen sein. Ihre Wangen waren noch leicht gerötet.

»Kutterscholle.« Die Haushälterin strich fast zärtlich über die Flundern, dann wies sie auf den Speck und die Krabben. »Und Bratkartoffeln – isst er doch so gerne. Ich bereite alles vor, dann können wir vor dem Essen noch einen Spaziergang machen. Vielleicht gehen wir ein Stück um die Alster oder trinken irgendwo einen Kaffee. Wenn er den ganzen Tag im Haus sitzt, sieht er zu viele Gespenster.«

»Aber nicht so viel Butter …« Carla biss sich auf die Zunge und verkniff sich eine Bemerkung über giftige Stoffwechselprodukte, oxidativen Stress und ihre fatalen Auswirkungen auf Gehirnmasse und geistige Beweglichkeit.

Für einen Moment sahen sie sich schweigend an, und in diesem Schweigen prallten ihre Gedanken aufeinander. Dann mussten sie über das Unausgesprochene lächeln.

Mit einer resoluten Handbewegung wischte die Haushälterin alle Einwände zur Seite.

»Halb acht, also«, wiederholte Carla und zog sich Blazer und Mantel über.

»Ist noch kalt«, nickte Frau Woldsen. Sie zeigte durch das Küchenfenster auf die Straße, wo der glückliche Teil der Nach-neun-Uhr-Werktätigen sich gemächlich auf den Weg zur Arbeit machte. Erben, Studenten und Kreative – sie alle hatten sich mit einer dicken Schicht aus Daunenjacken, fellgesäumten Kapuzen, Mützen und Handschuhen gegen die letzten Gefechte des Winters gewappnet. Das Thermometer, ein Relikt aus Nachkriegszeiten, das vor dem Fenster hing, zeigte nicht mehr als vier Grad.

Carlas Fahrrad lehnte an der Hauswand. Sie war zu müde gewesen, es am Vorabend die Kellertreppe hinunterzutragen. Eine dünne Eisschicht hatte sich auf dem Sattel gebildet, mit dem Handschuh wischte sie darüber. Dann stopfte sie ihre Tasche in den Lenkerkorb und setzte sich die Kopfhörer auf die Ohren. Nach dem Mozart zum Frühstück hörte sie nun Jazz: Jamie Cullum. Ein Wirbelwind am Klavier, seine Musik, mal atemlos, mal zärtlich und lockend, passte zur Liebe genauso wie zum Fahrradfahren. Mit den einsetzenden Klängen des ersten Stücks schob sie das Rad durch den Vorgarten und das schmiedeeiserne Tor auf die Straße und stieg auf.

Durchatmen. Ein und aus. Die Schönheit des frühen Morgens war noch zu erahnen. Die Kälte ließ ihren Atem zu einem feinen Nebel gefrieren, der sie begleitete. Hatten die Gänse sich geirrt? Ließ der Frühling doch noch auf sich warten?

In die Hecken links und rechts von ihr war das Leben noch nicht zurückgekehrt. Nur vereinzelt zitterten trockene Blätter aus dem Vorjahr im Wind, die kahlen Winteräste ließen den Blick widerstandslos passieren. Ein Stück weiter entdeckte Carla Nester, die sich verfroren in die Verästelungen der Zweige schmiegten. Wenn sich in wenigen Wochen der Blättervorhang schloss, würden nur noch die ein- und ausfliegenden Amseln, Finken und Zaunkönige etwas von dem verborgenen Leben verraten.

Carla trat gegen die leichte Steigung an, oben angekommen, schwenkte sie auf die Fahrradspur der viel befahrenen Straße. Zwanzig Minuten würde sie bis zum Museum benötigen, die Straße hinauf, um den kleinen Park, über die Fleetbrücke, die Alster entlang bis zur Alsterhöhe nahe der Innenstadt. Eine Distanz, die immer ausgereicht hatte, um die häuslichen Malaisen hinter sich zu lassen und sich auf den Arbeitstag einzustimmen.

Doch heute blieben ihre Gedanken bei Willem hängen. Sie spürte, dass sie die guten Tage behüten musste. Würde er sich im nächsten Jahr noch über die Ankunft der Gänse freuen können? Oder wären sie ihm dann gleichgültig, ein diffuser Reiz auf seiner Netzhaut, für den er keinen Begriff mehr haben würde? Sie wusste, dass er auf der Schwelle zwischen Erinnern und Vergessen balancierte. Trat er eine Reise in die Dunkelheit an?

Ausgerechnet Willem van Velden … Als die ersten Gerüchte über seinen Zustand die Runde machten, hatte man noch ungläubig den Kopf geschüttelt. Der umschwärmte Grandseigneur der Kunst, dieser brillante Geist und Wegbereiter der Moderne, Direktor des Museums für Moderne Kunst, fand nicht mehr die rechten Worte. Verlor sich im Dickicht seiner Gedanken. Die ersten Anzeichen der Krankheit hatte man noch als Schrullen abgetan, alles Merkwürdige schien die Folge der Veränderungen in seinem Leben zu sein. Nach über dreißig Jahren hatte er sich mit fünfundsechzig ins Privatleben zurückgezogen. Schreiben wollte er, reisen, einen Lehrauftrag annehmen. Noch einmal eine Weile im Ausland leben, Frankreich, vielleicht sogar Boston oder New York. Und das Leben umarmen – mit ihr.

Das Leben umarmen. Für einen Moment wich die Musik in ihren Ohren einem fernen Stimmengewirr. Erinnerungen stürmten auf sie ein, der Summton ihrer Gedanken. Sie hatten sich auf einer Vernissage kennengelernt, vor einem Bild von Picasso. El abrazo – natürlich, die Umarmung. Ein Liebespaar, abstrakte, kubistische Formen, der dargestellte Kuss, die Intimität nur zu erahnen. Picassos Obsession, ein Lebensthema, durch alle Phasen seines Schaffens hindurch vertreten.

»Sie ähneln ihr, wissen Sie das?«, hörte sie plötzlich seine Stimme an ihrem Ohr. Sie hatte den Kopf geschüttelt. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte sie sich umgedreht, bereit, den aufdringlichen Gockel mit einem Blick in die Flucht zu schlagen. Doch seine Augen, eindringlich, aufmerksam, magnetisch, hatten sie sofort fasziniert. Seine Lippen kräuselten sich zu einem wissenden Lächeln. Ein intensiver Moment, sie hatte den Blick nicht von ihm lösen können.

»Sie ist schon lange tot«, hatte sie nur zu erwidern gewusst, denn die Dargestellte war eine von Picassos zahlreichen Liebschaften.

»Die Linie, schauen Sie.« Er hatte sie sanft am Arm berührt und noch näher an das Bild herangezogen. Mit der anderen Hand zeichnete er das Profil der Schönen nach.

Carla hatte die Luft angehalten. Unter seiner Berührung, so leicht sie auch war, brannte ihre Haut. Sie standen nun so nah vor dem Bild, dass es sich in einzelne Farbpunkte aufzulösen begann. In der nächsten Sekunde würde der schrille Signalton der Alarmanlage aufheulen und sie zurückscheuchen.

»Keine Angst …« Er hatte geflüstert, sein Mund ganz nah an ihrem Ohr. Und sie hatte sich gefragt, ob er den Moment meinte oder das Leben, von dem sie augenblicklich wusste, dass es vor ihnen lag.

Erst später hatte sie begriffen, wer er war. Dass es seine Ausstellung war, seine Vernissage. Willem van Velden – der Willem van Velden.

Sein Wirken hatte Deutschland mit der Kunst der Moderne versöhnt, und seine Begeisterung für den radikalen Bruch mit alten Maltraditionen hatte jeden angesteckt, der eine seiner Ausstellungen besucht hatte. Verehrt und umschwärmt, war er ein begnadet erfolgreicher Ausstellungsmacher, immer rastlos und voller Ideen.

Und eine Erscheinung. Alles an ihm war groß, die Statur, der Charakterkopf mit dem welligen, nach hinten gekämmten Haar, die Hände. Eine weltmännische Aura umgab ihn, der maßgeschneiderte Anzug, die italienischen Schuhe, das Geld seiner Familie, nicht aufdringlich, aber spürbar. Durch das Gedränge der Ausstellungseröffnung bewegte er sich wie ein Fürst, selbstsicher und gewandt, so als könnte er sogar das Meer teilen.

Die Ausstellung war einer der gefeierten Höhepunkte seiner Karriere gewesen. Ein Fest der Moderne: Einhundertzwanzig Bilder hatte er in die Stadt geholt, darunter Werke, die eigentlich nicht mehr auf Reisen gingen. Zu aufwendig waren der Transport, zu hoch die Versicherungssummen. Doch sein Wort und sein Enthusiasmus hatten Unmögliches geschafft und die Picassos, Mondrians und Kandinskys um die halbe Welt bewegt. Zweimal war die Ausstellung verlängert worden, bevor sie nach Amsterdam und Wien weiterzog. Fast eine halbe Million Besucher hatten sich an den Farben, Formen und Tabubrüchen berauscht. Und vom Feuilleton war Willem ein »Magier« und »Bilderpapst« genannt worden. Wenig später hatte man ihm in Berlin im Beisein der kulturellen und politischen Prominenz das Bundesverdienstkreuz angeheftet. Für sein Lebenswerk.

Die Fahrt nach Berlin war ihre erste gemeinsame Reise gewesen. Es fühlte sich seltsam an, an Willems Seite aufzutreten. So viele Eindrücke auf einmal.

Für die Presse war sie nur eine Randnotiz, ein weiterer Farbtupfer im Reigen der Schauspielerinnen und Künstlerinnen, die bislang durch sein Leben gezogen waren. Nicht mehr als eine Bildunterschrift. Für ihre Mutter war sie das Opfer eines unerklärlichen Vaterkomplexes. Und für Kai, den sie von heute auf morgen verlassen hatte, berechnend und kalt. Eine Hochschläferin.

Doch Carla, die gerade erst ihr Volontariat am Museum für Stadtgeschichte begonnen hatte, war dem Versprechen gefolgt, das sein erster Blick ihr geschenkt hatte. Keine Vernunft, nur Gefühle. Sie hatte sich nicht gegen den Sog dieses Mannes wehren können. Willem van Velden wurde zu ihrem Komplizen, Lehrmeister, Liebhaber.

Und es war gut gewesen. Viele Jahre lang. Jeden Tag hatten sie ihre Liebe zelebriert und das Leben umarmt. An seiner Seite hatte sie zu sich selbst gefunden.

ZWEI

Jamie Cullum ließ sein Piano explodieren. Ein Feuerwerk an Tönen und heiser hervorgestoßenen Versen. Carla fuhr schneller, ihre Beine bewegten die Pedale im Rhythmus der Musik, ihr Atem beschleunigte sich, ihr Herz pochte. Ein wärmender Strom begann durch ihren Körper zu fließen.

Von der Fleetbrücke aus konnte sie noch einmal einen Blick über das Wasser auf die alte Villa werfen. Das Haus strahlte Selbstsicherheit und Würde aus, drei Stockwerke hinter weißem Putz und ein riesiges Dachgeschoss. Die Fassade war mit Säulen und Reliefbändern geschmückt und täuschte die Heiterkeit italienischer Verhältnisse vor. Die hohen Fenster wirkten wie Augen, sie schienen ihr nachzublicken. Stand Willem mit dem Fernglas am Fenster, oder hielt er es verständnislos in der Hand?

Hinter der Brücke schwenkte Carla auf den Weg an der Alster ein. Die Sonne war ein Stück höher gestiegen, ihr Glanz brach sich auf dem dampfenden Wasser. Die ersten Segelboote waren bereits unterwegs, Ruderer beendeten ihr Morgentraining und kehrten in die Bootshäuser zurück, ein Alsterdampfer steuerte auf den nächsten Anleger zu. Jogger kamen ihr entgegengetrabt, ihr Atem zu Wolkenbildern gefroren. Die Runde um die Außenalster war eine der beliebtesten Laufstrecken der Stadt, am Wasser zeigte Hamburg sich ungeniert von seiner prächtigsten Seite. Und auch für die Läufer hieß es »Sehen und gesehen werden«, schon am frühen Morgen präsentierten sich die meisten in der neuesten Laufbekleidung. Ein kunterbuntes Durcheinander, schrilles Neon und Pink. Carla schloss für einen Moment die Augen und blendete die aufdringlichen Farben aus.

Die Fahrradreifen knirschten auf dem Sandweg, alter Baumbestand, Eichen, Buchen, Kastanien und auch einige Exoten, rahmte die Grünflächen. An heißen Tagen nutzten die Hamburger die Liegewiesen bis spät in den Abend. Allein die Schwäne, herrische Vögel, die ihr Revier mit Fauchen und Schnappen verteidigten, konnten dieses Vergnügen trüben. Die Tiere wussten um ihre besondere Rolle in der Stadt. In den Archiven des Stadtmuseums verwahrte man eine Abrechnung aus dem Jahr 1591, die belegte, dass die stolzen Vögel bereits seit mehr als vierhundert Jahren auf öffentliche Kosten mit Futter versorgt wurden. Hamburg ließ sich seine Wahrzeichen etwas kosten, und 1664 hatte der Senat die Schwäne sogar unter besonderen Schutz gestellt. Es war noch immer bei Strafe verboten, sie zu beleidigen, zu verletzen oder gar zu töten. Den Winter verbrachten die Tiere auf dem eisfreien Mühlenteich.

Frühling, so hieß es, war in Hamburg, wenn die Schwäne wieder die Alster und ihre Kanäle und Fleete bevölkerten. Carla schüttelte unwillkürlich den Kopf. Für sie waren die Graugänse die wahren Frühlingsboten – und nicht die Schwäne. Auch an der Außenalster entdeckte sie nun Gänse, die in der Nacht zurückgekehrt waren und sich zwischen den schützenden Armen der Trauerweiden ausruhten. Lächelnd versuchte sie, die Tiere zu zählen. Wenn sie auf mehr als fünfzig Vögel käme, so hatte sie mit den Jahren herausgefunden, würden die Temperaturen in den kommenden Tagen merklich steigen.

»Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig …« Carla spähte angestrengt in Richtung Wasser. Der Frühling war auf einem guten Weg.

Plötzlich gab es einen Ruck, der Vorderreifen ihres Fahrrades stellte sich quer. Bevor sie begriff, was geschehen war, lag sie schon unter ihrem Rad. Im nächsten Moment durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Sie rang nach Luft. Ihre Beine – und irgendetwas war auch mit ihrem Arm passiert. Stöhnend versuchte sie sich aufzusetzen, ihr Kopf dröhnte, die Musik in ihren Kopfhörern war verstummt.

»Sind Sie wahnsinnig?«

Eine empörte Stimme, irgendwo über ihr. Mühsam versuchte sie, den Kopf zu heben.

»Können Sie nicht lesen?«

Da waren ein Paar Arbeitsschuhe, Cargohosen, lange Beine, ein Mann mit der Statur eines Zehnkämpfers.

»Der Ast hätte Sie fast erwischt.«

Die Stimme klang nun etwas weicher, fast besorgt. Hände erschienen neben ihrem Kopf, dann ein Helm und eine Sicherheitsbrille, Ohrenschützer. Und irgendwo dahinter ein Gesicht.

»Können Sie aufstehen?«

»Wenn Sie das Fahrrad …«

Der Schmerz in ihren Beinen ließ nach, als er das Rad anhob und gegen eine Bank lehnte. Sanft schob er seine Hände unter ihre Achseln und setzte sie auf, als wäre sie eine Puppe.

Der Schreck war ihr in alle Glieder gefahren. Er musste ihr den Schock ansehen.

»Bleiben Sie einen Moment sitzen, Sie sind ja ganz bleich.«

»Hm …«

Carla rieb sich die Stirn, versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Dann hielt sie sich den schmerzenden Arm, bewegte ihn vorsichtig.

»Darf ich?«

Behutsam, als würde er etwas davon verstehen, drehte er den Arm in alle Richtungen. Carla stöhnte auf.

»Da ist nichts gebrochen, vielleicht eine Prellung.«

Seine Selbstsicherheit ärgerte sie. Wut wallte in ihr auf, sie schüttelte den Kopf.

»Was wissen Sie denn?«, schnappte sie, weil sie spürte, dass sich zornige Mädchentränen in ihren Augen sammelten.

Nur nicht weinen.

»Was machen Sie hier überhaupt?«

»Baumpflege.« Ungerührt wies er auf die Schilder und rot-weißen Absperrbänder, die im Wind flatterten. »Die Schilder stehen hier seit einer Woche.«

Richtig. Sie kniff die Lider zusammen, blinzelte. Die Freude über die Graugänse hatte sie blind werden lassen für alles andere. Sie war mitten durch die abgesperrte Zone gefahren, während die Jogger einen Bogen darum herum geschlagen hatten. Sie ärgerte sich – auch über ihre Hilflosigkeit.

»Sie sind also ein Baumdoktor?« Carla zog das Wort spöttisch in die Länge. Sie wollte ihn verletzen, von ihren Tränen ablenken.

Touché. Für einen Moment sah er sie irritiert an, dann nickte er. Ihr Stich hatte gesessen, sie sah es ihm an. Er stand nun wieder auf und machte sich an ihrem Fahrrad zu schaffen, richtete den Lenker provisorisch gerade. Dann sammelte er ihre Tasche und alles, was herausgefallen war, auf und stopfte sie zurück in den Korb.

»Können Sie so weiterfahren?«

»Ich denke schon.«

Carla nickte. Sie biss die Zähne zusammen, stand mühsam auf und klopfte sich den Staub von den Ärmeln. Ihr Mantel hatte am Ellenbogen ein Loch, anklagend hielt sie es ihm entgegen.

»Sie haben wirklich Glück gehabt.« Er wies auf den armdicken Ast, der neben ihrem Fahrrad lag. Aus der Eichenkrone vor ihnen seilte sich kopfschüttelnd ein Kollege ab. »Hätte schlimmer kommen können.«

Dann schüttelte er gleichfalls den Kopf, hinter der dicken Schutzbrille konnte sie seine Augen nicht sehen. Der betäubende Geruch nach frisch geschlagenem Holz überlagerte plötzlich alles. Sie sog ihn ein.

Carla zog die Schultern hoch, sie hatte keine Lust zu antworten. Demonstrativ schob sie sich die Kopfhörer über die Ohren. Jamie Cullum war wieder da. Dann nahm sie ihm schweigend das Fahrrad aus der Hand, schob es ein Stück, stieg auf und fuhr mit zitternden Knien und klapperndem Vorderrad davon.

»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee vertragen.«

August Engel sah sie schmunzelnd an, wie immer steckten seine krummen Beine in gemütlichen Cordhosen. Freundlich kläffend kam ihr seine Dackeldame Brigitte entgegen.

»Sehr, sehr gern.«

Carla ging vorsichtig in die Hocke und kraulte Brigitte die seidigen Ohren. Ihr Arm schmerzte noch immer, sie unterdrückte ein Stöhnen.

»Das ist doch nix, immer nur Tee.«

Kopfschüttelnd verschwand der alte Engel mit seinem schwankenden Seemannsgang im hinteren Teil des Blumenladens, nach wenigen Augenblicken hielt er ihr einen dampfenden Becher entgegen.

»Riecht himmlisch.«

»Handgebrüht«, freute sich Engel. »Porzellankanne, nicht so widerliches Kapselzeugs. Mit dem Clooney können Sie mich jagen.«

Carla lachte und probierte einen Schluck.

»Genau richtig.«

»Ein Schuss Milch, mehr nicht. Muss ja nach Kaffee schmecken.«

Aus der Hosentasche zauberte Engel ein frisch gebügeltes Stofftaschentuch hervor und hielt es ihr entgegen.

»Sie haben da was im Gesicht …«

Carla wischte sich über die Wange, das Tuch roch ganz leicht nach Kölnischwasser, Anis und Pfeifenrauch.

Gute alte Zeit.

»Sie sind wirklich …«

Engel hob abwehrend die Hände und machte sich an einem Bündel Grün zu schaffen, das auf seinem Arbeitstisch lag. Die Blumen waren so frisch, dass sie quietschten. Liebevoll sortierte er die leuchtende Frühlingspracht in altmodische Vasen, Milchkannen und Zinkeimer.

»Tulpen?«

»Hm …«

Carla nickte in seinem Rücken, doch er wusste eh, was sie wollte. August Engel war eine Institution, seit mehr als sechzig Jahren betrieb er seinen kleinen Blumenpavillon am Hauptbahnhof. Seinen Kunden konnte er die Wünsche von der Nasenspitze ablesen, und für jedes Wehwehchen, jeden Anlass, jeden Geldbeutel hatte er den passenden Strauß parat. Ranunkeln, Funkien und Levkojen gegen die norddeutsche Melancholie, Löwenmäulchen für Verliebte und Tulpen für die Einsamen, weil die Blumen gesellig waren. Langstielige Rosen waren etwas für die Unseriösen, und ihre duftenden, dornigen Freilandschwestern halfen gegen Fernweh und Trennungsschmerz. Kleine Kinder bekamen eine Blüte nach Wahl geschenkt. »Blume zu Blume«, pflegte August Engel dann zu sagen.

»Jogger?«

Engel spuckte das Wort aus, als habe er etwas Ungenießbares im Mund. Er wies auf das Loch an ihrem Ellenbogen. Jede Art von sportlicher Betätigung war ihm zutiefst suspekt. Er lebte von Kaffee, Anisbonbons und Blumenduft.

Carla schüttelte den Kopf. »Eiche«, antwortete sie. »Na ja, fast …«

»Dafür sehen Sie aber reichlich mitgenommen aus.«

Engel beugte sich über die roten Tulpen und zählte fünfundzwanzig Stück ab. Dann begann er, ihren Strauß zu binden.

»Jemand hat mich vom Fahrrad gerissen, bevor mich die Eiche erwischt hat.«

»Die Baumarbeiten unten an der Alster?«

Carla nickte. Fasziniert beobachtete sie, wie sich die Blumen in Engels runzeligen Händen zu etwas noch Schönerem zusammenfügten. Seine Sträuße waren kleine Kunstwerke.

»Ich war abgelenkt, die Graugänse sind zurück.«

»Ich hab sie heute Morgen schon gehört, als ich zum Großmarkt gefahren bin. So gegen halb fünf.«

Halb fünf.Für einen Moment fragte sich Carla, wie der Alte seine Arbeit immer noch schaffte. Mitten in der Nacht aufzustehen, die schweren Blumenbündel ein- und auszuladen, zwölf Stunden im Laden zu stehen. Er war älter als Willem, musste über achtzig sein, doch ans Aufhören hatte er wohl noch nie gedacht. Die Blumen waren seine Kinder, und der Klönschnack mit den Kunden hielt ihn bei Laune. Er hatte nie etwas anderes gewollt, selbst für eine Frau war keine Zeit gewesen.

»Dann haben Sie ja heute schon Ihren Schutzengel strapaziert.«

Der Strauß war fertig, Engel hielt ihr die Pracht entgegen. Carla nickte zustimmend, und er schlug die Tulpen in Papier ein.

»Der Baumdoktor … Er ist mir ins Rad gesprungen.«

Wieder schwang Spott in ihrer Stimme, doch plötzlich bemerkte Carla, dass August Engel recht hatte. Sie war von dem Unbekannten tatsächlich vor Schlimmerem bewahrt worden. Und hatte sich dafür nicht einmal bei ihm bedankt. Im Gegenteil.

Gedankenverloren und ein wenig beschämt bezahlte sie und nahm ihren Strauß entgegen.

»Sie sind wohl noch bei den Gänsen?«

Engel zwinkerte ihr zu. Umständlich verstaute er das Geld in seiner alten Registrierkasse. Sie musste noch aus Vorkriegszeiten stammen; wenn Engel ihre Hebel und Kurbeln bewegte, klang es, als hustete das eiserne Ungetüm.

»Hm …« Nachdenklich strich Carla Brigitte noch einmal über das seidige Fell. Brigitte – ein merkwürdiger Hundename. Sie hatte sich nie getraut, danach zu fragen.

»Wieso eigentlich Brigitte, Herr Engel?«

»Na, wegen der Bardot …«

Er sprach den Namen hamburgisch aus, mit einem gerollten R und stimmhaften T am Ende.

Brigitte Bardot – die Brigitte Bardot?

»Die Schauspielerin?«

»Ich hab ihr mal Blumen verkauft.«

Über Engels altes Gesicht zog ein Leuchten. Für einen Augenblick wirkte er wie ein aufgeregter Junge, der in einem Bonbonglas fischte.

»Sie haben Brigitte Bardot Blumen verkauft? Hier?«

Carla lachte auf.

»Maiglöckchen, einen ganzen Eimer voll. Sie meinte, Rosen würden sie langweilen.«

»Maiglöckchen für ein Sexsymbol?«

Carla lachte noch immer, sie schüttelte den Kopf. In der Kunst gehörten die weißen Blüten zu den sogenannten Marienblumen, sie waren ein Symbol für Demut und Keuschheit.

»Ist ja ein Spargelgewächs …«

Jetzt grinste auch Engel spitzbübisch, die Erinnerung ließ seine Augen blitzen.

»Sie stand genau da, wo Sie jetzt stehen. Es war früher Morgen, sie war für Fotoaufnahmen in der Stadt. Sie trug ein weites, buntes Kleid, durch das die Sonne schien. Mit ihrem blonden Haar sah sie aus wie eine Göttin. Eine Blumengöttin. Na ja …«, Engel schwieg für einen Moment. Carla sah, wie die Bilder ihn bestürmten. »Sie hat dann den Sachs geheiratet. Der Ochse hat sich in einen Hubschrauber gesetzt und rote Rosen auf sie regnen lassen. Hat dann ja auch nicht lange gehalten, die Ehe. Als sie wieder frei war, hab ich ihr Maiglöckchen nach Paris geschickt.«

»Und?«

Die Geschichte wurde immer verrückter. Carla staunte. Wieder einmal dachte sie über ihre Idee nach, in einer Ausstellung Hamburgs Alte zu Wort kommen zu lassen. Nach einer wahren Geschichte …Sie hatte schon die erstaunlichsten Dinge auf ihren Seniorenführungen durchs Museum zu hören bekommen. Richtige Schätze traten da bisweilen zutage, schillernde Erinnerungen, die wie Seifenblasen aus der Vergangenheit aufstiegen.

»Wochen später kam eine Karte mit einem Merci – und ein roter Kussmund. Lippenstift, Sie wissen schon. Sie schrieb, dass sie mich besuchen würde, wenn sie nach Hamburg käme.«

»Und?«

Carla hielt den Atem an, doch Engel zuckte mit den Schultern.

»Ich bin jeden Tag im Laden. Die Karte hab ich auch noch irgendwo. Und meine kleine Brigitte hier, die macht mir genauso schöne Augen. Außerdem habe ich neulich irgendwo gelesen, dass sie inzwischen wohl ein bisschen wunderlich geworden ist, die Bardot.«

»Ach Herr Engel …«

Carla wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch der Alte lachte schon wieder.

»Was soll ich auch mit einer Blumengöttin? Ich hab doch alles, was ich brauche.«

Er breitete die Arme aus, als wollte er seine gut gefüllten Kübel und Vasen ans Herz drücken.

»Sie müssen mir die Karte mal zeigen, Herr Engel. Machen Sie das?« Carla schaute auf die Uhr, es war schon fast halb zehn. »Ich muss los. Vielen Dank für den Kaffee – und für alles andere.«

»Das bleibt aber unter uns …«

Der Alte legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

»Versprochen.«

»Hier …«

August Engel zupfte eine Margerite aus einer Vase.

»Die mag Ihr Mann doch so gerne. Grüßen Sie ihn von mir.«

»Das mache ich, Herr Engel. Willem wird sich freuen.«

Als sie den Laden verließ und wieder auf ihr Rad stieg, lächelte Carla noch immer. Ihr Herz hüpfte in kleinen, gut gelaunten Sprüngen in der Brust, als ob es tanzte. Mit Jamie Cullum um die Wette pfeifend, rollte sie die letzten Meter auf das Museum für Stadtgeschichte zu.

DREI

Carlas Museum lag nur einen Steinwurf entfernt vom Museum für Moderne Kunst. Mit seiner leicht angegrauten Fassade und der steifen Fensterfront wirkte es wie dessen ältere Tante – bildungsbeflissen und gouvernantenhaft. Wer das Haus besuchte, wurde jedoch von seiner Sammlung überrascht. Das Museum umspannte mehr als zwölfhundert Jahre Stadtgeschichte: Malerei und Graphik, Kunsthandwerk und Kulturgeschichte, Maritimes und mehr. Störtebekers bleicher Schädel war hier ebenso zu sehen wie barock-verspielte Gartenskulpturen oder Visionen einer modernen Stadt.

Carla schloss ihr Rad auf dem Mitarbeiterparkplatz ab, klemmte sich Tasche und Blumen unter den Arm und hastete auf den Eingang zu. Sie hatte nur noch wenige Minuten, bis die wöchentliche Sitzung begann, in der sich Kuratoren und wissenschaftliche Mitarbeiter über die Termine der vor ihnen liegenden Woche austauschten.

An einer Gruppe laut debattierender Touristen vorbei, die soeben festgestellt hatte, dass das Haus montags geschlossen war, gelangte sie in die fast menschenleere Eingangshalle.

»Morgen, Frau Doktor …«

Klaus Grote grüßte sie. Meister Grote – Hausmeister, Pförtner und gute Seele in einer Person. Sein tiefer Bass hallte unter den hohen, gewölbten Decken. Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn an die lange Reihe verwaister Garderobenhaken.

»Die Schnibben ist schon oben«, raunte er ihr verschwörerisch zu.

»Wie viel hab ich noch?«

»Zwei, drei Minuten …«

»Passt.«

»Na dann, gutes Gelingen!«

Grote nickte ihr zu, bevor er sich wieder auf seinen Schemel fallen ließ und hinter seiner Zeitung abtauchte.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, bezwang Carla die weit geschwungene Treppe hinauf ins erste Geschoss, in ihrem Nacken spürte sie die vorwurfsvollen Blicke der an der Wand hängenden porträtierten Stifter. Durch das montagsstille Mittelalter und die sich anschließenden Räume zu Hanse und Hafen gelangte sie auf die Rückseite des Gebäudes in einen Bereich, der den meisten Besuchern verschlossen blieb. Hier befanden sich Büros und Werkstätten, einige Archive und Depots, das Rückgrat des Museums.

»Prof. Dr. Elke Schnibben, Leitung« stand auf dem Schild neben der hohen Tür, durch die sie nach kurzem Klopfen eintrat.

»Carla, wie schön, dich zu sehen.«

Die Generalin.

Elke Schnibben wandte sich nicht um, sie wusste auch so, wer in der Runde fehlte. Ebenso zierlich wie willensstark, leitete sie das Museum seit ewigen Zeiten. Sie hatte alle Launen der Hamburger Kulturpolitik erlebt und gehörte fast schon zum Inventar des Hauses. Mit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte sie Carla auf ihren Platz.

»Dann können wir ja beginnen.«

Während Doktor Heinrich Jessen, auch Hafen-Heinrich genannt, die Kollegen kurz über das Wichtigste innerhalb seiner Abteilung informierte, entdeckte Carla ein ihr unbekanntes Gesicht in der Runde. Ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, studentisch, Hemd, Jeans, Sneakers, eine Brille mit dunkler Fassung aus Horn und Hipster-Bärtchen. Der neue Volontär, jetzt fiel es ihr wieder ein. Als sein Blick sie kurz streifte, lächelte sie ihm aufmunternd zu. Sie wusste, wie er sich fühlte. Jedenfalls erinnerte sie sein flackernder Blick hinter den Brillengläsern an die eigenen Gefühle, als sie zum ersten Mal in dieser Runde gesessen hatte und den forschenden Blicken standhalten musste. Damals hatte sie sich wie eine Schulanfängerin gefühlt, obwohl sie doch mitten in ihrer Promotion steckte. Als dann ihre Liaison mit Willem van Velden ruchbar wurde, befürchtete sie, dass man ihr mit Vorbehalten begegnen würde. Doch Elke Schnibben hatte sie nie besser oder schlechter als die Kollegen behandelt. Später erhielt sie die begehrte Stelle als Kuratorin der Gemäldesammlung, weil sie einen guten Job machte und frischen Wind in das angestaubte Sammelsurium gebracht hatte.

»Carla?«

Hafen-Heinrich, Doktor Jörg Frentzen aus der Architektur, Leonie Klimt, die junge Restauratorin, und die übrigen Kollegen hatten bereits über ihre Projekte informiert. Nun war sie an der Reihe. Knapp, so wie es die Schnibben schätzte, berichtete sie über ihre Arbeit.

»Vorbereitung der Herbstausstellung, Katalogredaktion, eine Führung mit den Freunden des Museums, Kunstsprechstunde am Donnerstag.«

»Was Neues wegen der Exponate?«, hakte Elke Schnibben nach, ihr dunkel gefärbter Pagenkopf schimmerte im Morgenlicht.

Carla schüttelte den Kopf. Achtzig Jahre nach der NS-Machtergreifung bereitete sie eine Ausstellung über die Hamburgische Sezessionvor. Die Künstlergruppe von 1919 hatte sich 1933 aufgelöst, nachdem sie zum Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder aufgefordert worden war. Auf ihrer letzten Zusammenkunft hatten die Maler und Literaten trotzig das Vereinsvermögen vertrunken. Doch der champagnerseligen Nacht waren bittere Jahre gefolgt. Berufsverbot und Verfemung, Emigration und Gefängnis – viele Künstler hatten unter der Nazi-Herrschaft alles verloren. Einige hatten sich verzweifelt das Leben genommen, andere starben in Lagern oder Gefängnissen. Erst lange nach dem Krieg waren die Künstler rehabilitiert worden. Auch Willem hatte viel für ihre Anerkennung getan. Doch den überlebenden Künstlern war es schwergefallen, nach dem Grauen wieder Fuß zu fassen. Viele waren verarmt und vergessen gestorben. Erst in den vergangenen Jahren hatte man ihr Werk wieder schätzen gelernt.

»Wir haben einiges in der Sammlung und im Depot, die Anfragen in München, Amsterdam und Washington laufen noch. Zugesagt haben Bremen, Köln und Paris. Aus Berlin bekommen wir ein Mosaik von Bargheer«, berichtete Carla. »Dann gibt es noch einige private Sammler, die ich kontaktiert habe. Ich denke, dass wir mit rund achtzig Exponaten rechnen können, die einen umfassenden Einblick in die Sezession geben.«

»Gut, dann kommen wir zu Ihnen, Herr Andersen. Stellen Sie sich kurz vor?«

Die Schnibben zeigte auf den Volontär, der rasch nickte und etwas über sich und die Stationen seiner Ausbildung erzählte: Hannes Andersen, siebenundzwanzig Jahre alt, ledig, begeisterter Neu-Hamburger, noch auf Wohnungssuche. Studium in Berlin, Auslandssemester in Amsterdam, Promotion über einen niederländischen Künstler. Seine Stimme war fest und angenehm. Seine Aufregung überspielte er mit einem Lächeln.

»Es ist bei uns Tradition, dass Sie sich die erste Abteilung, die Sie durchlaufen, aussuchen dürfen. Wo möchten Sie beginnen?«

»Oh, also …«

Für einen Moment zögerte er und schaute ratlos in die Runde. Sein Blick streifte Carla, das Licht der Deckenleuchte spiegelte sich in seinen Brillengläsern.

»Vielleicht in der Gemäldesammlung?«

»Ist dir das recht, Carla?«

Die Schnibben notierte etwas in ihrer schwarzen Kladde, an ihrer Schreibhand funkelte ein auffälliger Amethystring, den sie auf dem Mittelfinger trug.

»Wunderbar.«

Carla nickte und strich sich eine Strähne hinters Ohr. Tatsächlich hatte sie gehofft, dass der Volontär zunächst bei ihr Station machen würde. Die Herbstausstellung war der Höhepunkt des Museumsjahres und aufwendig zu organisieren. Die anfallende Arbeit war trotz studentischer Hilfen kaum zu schaffen. Es wäre gut, noch jemanden in die Planungen mit einbeziehen zu können.

»Gut, der Hausmeister wird Ihnen einen Arbeitsplatz in Frau van Veldens Büro einrichten.«

Elke Schnibben nickte noch einmal in die Runde, dann erhob sie sich und wechselte an ihren Schreibtisch, wo eine Tasse grüner Tee auf sie wartete. Die Sitzung war beendet.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«

Hannes Andersen hatte Carla die Blumen abgenommen und folgte ihr in das Büro im zweiten Stock.

»Wie kommen Sie darauf, ich bin sehr froh, dass Sie sich für die Gemäldesammlung entschieden haben. Das wird ein arbeitsreicher Sommer.«

»Ich hatte das Gefühl, Sie sind lieber allein.«

Carla blieb vor ihrer Tür stehen, sie sah ihn an. Seine Augen changierten zwischen grau und grün. Etwas Verletzliches, Verletztes lag darin. Sie begriff, dass die Brille eher eine Schutzfunktion innehatte als der Notwendigkeit geschuldet war.

»Sie sollten sich ein wenig mehr Selbstbewusstsein zulegen. Wenn Sie vorankommen wollen, werden Sie Durchsetzungskraft benötigen.«

»So wie Sie?«

Er zeigte auf ihren rechten Arm. Erst jetzt bemerkte Carla, dass ihr Pullover ein kleines Loch hatte.

»Oh … Eine kleine Karambolage heute Morgen. Mein Fahrrad sieht nicht viel besser aus.«

»Wenn Sie mögen, schaue ich’s mir nachher mal an.«

»Ein Kunsthistoriker, der Fahrräder reparieren kann?«

»Aushilfsjob im Fahrradladen, irgendwie musste ich mir das Studium ja finanzieren.«

»Kein DJ, keine Szenebar oder Galerie?«

Hannes Andersen schüttelte lächelnd den Kopf. Ein Wirbel über der Stirn ließ sein sandblondes Haar tanzen und verlieh ihm einen jungenhaften Ausdruck. Tim und Struppi, dachte Carla amüsiert.

»Berlin Bike. Hauptsächlich Fahrradschläuche. Ab und zu auch ein ramponiertes Kickboard oder ein platter Kinderwagenreifen.«

»Vielleicht komme ich darauf zurück.«

Carla schloss die Tür zu ihrem Büro auf, das aus zwei miteinander verbundenen Räumen bestand. Hohe Fenster, Parkett, zwei Schreibtische, ein Sofa, mit Bücherstapeln belegt, Staffeleien und Bilder an den Wänden. Abgestandene Wochenendluft schlug ihnen entgegen, sie öffnete ein Fenster, nahm Hannes die Blumen ab und legte sie auf die Papier- und Bücherstapel auf ihrem Schreibtisch.

»Also, noch einmal ein herzliches Willkommen.« Sie zeigte auf den kleineren Schreibtisch, der rechts von ihrem Arbeitsplatz stand. »Meister Grote wird sich gleich ums Telefon und den PC-Anschluss kümmern. In zwei Stunden sollten Sie spätestens loslegen können.«

»Wunderbar … Wo steht Ihr Fahrrad?«

»Nein, das geht nicht, Hannes. Darf ich du sagen?«

Er nickte erfreut, seine Hand machte eine flatternde Bewegung Richtung Kinn, strich über den Bart, so als wäre er ihm noch fremd.

»Warum nicht?«

»Amtsanmaßung«, lachte Carla. »Du darfst die Blumen ins Wasser stellen, das reicht für heute. Vasen findest du hinten im Schrank. Und dann gebe ich dir die Pläne für die Herbstausstellung. Arbeite dich ein, dann können wir uns heute Mittag darüber unterhalten. Und frag mich, wenn du etwas nicht verstehst. Löchere mich bitte mit deinen Fragen. Verbesserungsvorschläge sind ebenfalls willkommen. Du weißt doch, die bessere Idee gewinnt.«

»Na dann … Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, Frau Doktor van Velden.«

»Carla, das reicht.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er schlug ein. Sein Händedruck war angenehm, überraschend kräftig und entschlossen. Er war kein verkopfter Philosoph, sondern würde auch Rahmen richten, Stellwände verrücken oder eine Wand umstreichen können.

»Ich habe tatsächlich eine Frage: Was ist die Kunstsprechstunde?«

»Oh …« Carla lachte auf. »Großer Spaß, mehr verrate ich nicht. Warte ab, ich nehme dich am Donnerstag mit – versprochen.«

Hannes nickte, mit den Blumen im Arm machte er sich auf die Suche nach einer Vase.

Als Carla an ihrem Schreibtisch saß, klingelte das Telefon. Die Nummer auf dem Display ließ sie einen Moment zögern, schließlich nahm sie doch ab.

»Carla …«

Die Stimme ihrer Mutter brauste an ihr Ohr. Eva Haller, geschiedene Rothemund, pensionierte Oberstudienrätin für Latein und Geschichte, begeisterte Weltenbummlerin und junggebliebene sechsundsechzig. Eigentlich hatte Carla ihre Mutter noch auf einer Studienreise durch Andalusien vermutet.

»Du bist schon zurück?«

»Gestern Abend, war schon spät. Deshalb hab ich mich nicht mehr gemeldet.«

»Du musst dich doch nicht melden.«

Carla dachte amüsiert, dass ihre Mutter an sich dieselben Maßstäbe anlegte wie an ihre Tochter. Sich melden gehörte zu ihren Lebensmaximen, insbesondere dann, wenn man zu einer Reise aufbrach oder nach Hause zurückkehrte. Und zwar per Telefon. E-Mail oder andere Formen der Kommunikation schienen für sie nicht zu existieren.

»War’s schön?«

Carla konnte sich vorstellen, wie die Gruppe die mittelalterliche Festung der Alhambra erkundet und sich über die Nasridenpaläste und ihre Gärten entzückt hatte: der malerische Sommerpalast unter Zypressen, das Stalaktitengewölbe in der Sala de los Abencerrajes. Und über allem das Tremolo der spanischen Gitarren. Sie lehnte sich zurück und beobachtete für einen Moment Hannes, der Engels Strauß gelöst hatte und jede Tulpe einzeln zu Wasser ließ. Hannes tat so, als lauschte er ihrem Gespräch nicht.

»Na, du weißt ja … Alte Leute unterwegs. Dem einen schmeckt das Essen nicht, der Nächste braucht seine Siesta, der Rest meckert, weil er sich besser auskennt als die Reiseleitung. Und bei dir?«

»Alles soweit gut …«

Das »Soweit« war ein Fehler gewesen, schon als das Wort ihren Mund verließ, bemerkte Carla seinen falschen Klang. Sie hatte das sorgsam gezimmerte Bollwerk ihrer Abwehr sperrangelweit geöffnet.

»Willem?«

Auch nach fünfzehn Jahren war ihre Mutter noch nicht darüber hinweg, dass ihre einzige Tochter einen so viel älteren Mann geheiratet hatte. Nach Phasen des Unverständnisses und der Trauer darüber, nicht mehr mit Enkelkindern rechnen zu dürfen, war sie inzwischen bei Mitleid und mütterlicher Zuwendung angelangt. Willems Krankheit hatte ihre Vorwürfe verstummen lassen, und sie sorgte sich um Carlas Wohl.

»Bitte Mama, es ist, wie es ist. Und zurzeit geht es ihm ganz gut. Heute Morgen hat er auf die Gänse reagiert. Anser anser – er hat den alten Linné noch nicht vergessen.«

»Meinst du nicht, dass es Zeit ist …«

»Lass uns heute Abend telefonieren, ja?«

Carla ahnte, was nun kam. Bei ihrer Hochzeit hatte sie Willem versprechen müssen, dass es für sie nur gute Zeiten geben sollte. Nicht nur ihre Mutter, auch Willem hatte damit gerechnet, dass ihn das Alter oder eine Krankheit irgendwann von ihr entfernen würde. »Ich kann und ich will nicht von dir verlangen, dass du mich pflegst. Dass du dein Leben für mich aufgibst«, hatte er gesagt, bevor sie heirateten. »Für uns gibt es nur gute Zeiten. Wenn ich nicht mehr ich selbst bin, musst du gehen.«

Willem bestand sogar darauf, dieses Liebesversprechen vor einem befreundeten Notar zu unterzeichnen, obwohl es keine rechtlich bindende Wirkung besaß. Er hatte es niedergeschrieben, seine wilde Schrift auf einem weißen Briefbogen. Es war ihm wichtig gewesen, dass ihre Liebe zu ihm nie in Pflichterfüllung erstarren sollte.

»Du hast es ihm versprochen, Carla.«

Ihre Mutter ließ sich nicht auf den Abend vertrösten.

»Denkst du nicht, dass es an der Zeit ist zu gehen?«

»Mama … Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Es ist meine Entscheidung.«

»Nein, es ist Willems Entscheidung. Du musst ihm helfen und seinen Willen respektieren. Wenn er es noch könnte, hätte er dich längst fortgeschickt.«

»Ich rufe dich heute Abend an, die Kollegen warten auf mich.«

Sie hörte ein Seufzen, dann legte sie auf, bevor ihre Mutter protestieren konnte. Was sollte sie ihr auch antworten? Sie wusste ja selbst nicht, was sie tun sollte. Damals war ihr eine solche Situation unendlich fern erschienen. Geradezu absurd. Doch nun, wo es vielleicht an der Zeit wäre zu gehen, konnte sie sich nicht von ihm lösen. War Willem nicht immer noch der Mensch, den sie liebte? Und war ihre Liebe nicht viel mehr als nur ein unbeschwertes Glücksgefühl?

Sollte sie gehen oder bleiben?

Carla sah auf den Ring an ihrem Finger. Dann fuhr sie ihren Computer hoch und begann, ihre E-Mails zu checken, Anfragen zu beantworten und die Planungen zur Herbstausstellung weiter voranzutreiben. Später wollte sie die ersten Exponate sichten. Im Depot des Hauses lagerte so einiges, und auch in der ständigen Ausstellung befanden sich Stücke der Sezessionisten.

Die Herbstausstellung – sie würde Carlas letzte große Schau für das Museum sein. Danach wollte sie eine Auszeit nehmen, ihre geliebte Arbeit ruhen lassen, um mehr Zeit für Willem zu haben. Und um die endgültige Entscheidung über ihr gemeinsames Leben noch ein wenig hinauszuzögern.

Carla bemerkte eine Bewegung im Raum, sie sah auf. Hannes, sie hatte ihn ganz vergessen. Verlegen stellte er die Tulpen auf ihren Tisch. Die einzelne Margerite zwischen den roten Blüten leuchtete wie ein ferner Stern. Sie bemerkte seinen Blick, die Frage, die er nicht zu stellen wagte.

»Ja«, sagte sie und sah ihn fest an. »Es ist der Willem van Velden. Und ich bin seine Frau.«

Am Abend erzählte sie Willem von ihrem Volontär. »Er heißt Hannes. Hannes Andersen«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass Willem sich den Namen nicht mehr merken konnte. »Fast so wie der Märchendichter …«

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