Affairs - Gefährliche Liebe - Florine Roth - E-Book

Affairs - Gefährliche Liebe E-Book

Florine Roth

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Beschreibung

England, 1854 Vicky Millhouse und Julian St. John verbindet nur eines: Sie beide hüten ein Geheimnis. Bei einem Feuer in einem der besseren Etablissements der Stadt treffen sie aufeinander. Er, der zynische Edelmann, der trotz einer schweren Verletzung den Mord an seinem Freund aufklären will. Sie, die Hure, die ein ganz unstandesgemäßes Verhältnis mit William, Earl of Blackstone, Julians älterem Bruder, hat. Und durch Zufall entdeckt Vicky, welch pikantes Geheimnis Julian verbirgt: Er liebt Männer. Mixed Couples - Gay & Straight Love

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Florine Roth &

Simon Rhys Beck

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen

© the authors

http://www.deadsoft.de

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com/

Bildrechte

© drubig-photo – fotolia.com

© Knut Wiarda – fotolia.com

© Thomas Brugger – fotolia.com

2. Auflage 2015

ISBN 978-3-934442-55-9

Dieser Roman ist Fiktion. Orte und Personen sind frei erfunden.

PROLOG

Er schlich durch die engen, düsteren Gänge. Erwartungsvolle Vorfreude ließ ihn schneller atmen, die Geräusche, die gedämpft an sein Ohr drangen, taten ihr Übriges. Hier, im Dunklen, fühlte er sich wohl. Die Enge machte ihm nichts aus. Er arbeitete gern im Verborgenen, und dies war ein lukratives Geschäft. Auch wenn Madame Tentation ihm Sorgen machte. Die alte Schnepfe schien zu zweifeln, dabei hatte er immer sein Bestes gegeben, um sie zufriedenzustellen. In jeglicher Hinsicht. Er brauchte das Geld, um seinen hohen Lebensstandard und seine Forschungen zu finanzieren. Niemand durfte ihm da in die Quere kommen. Er kannte keine Skrupel. Endlich war er an der richtigen Stelle angekommen. Er blieb stehen und wischte sich mit einem feinen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Dann öffnete er mit dem Zeigefinger eine winzige Luke in der Wand, es war nur ein Blech, das vor einem kleinen Loch montiert war. Aber wenn man es zur Seite schob, konnte man hervorragend auf die Dinge schauen, die sich im Zimmer dahinter abspielten. Und was er sah, ließ ihn vor Erregung erschaudern. Der feiste Mann, der sich bereits entkleidet hatte, legte sich mit einem Schnaufen auf die zierliche Frau, die ihr Gesicht abgewandt hielt. Oh, sie hasste diesen Kerl! Das entnahm er ihrer Körpersprache. Aber sie hatte keine Wahl. Als er die fleischigen Finger des Mannes an den wundervollen Brüsten sah, musste er ein Stöhnen unterdrücken. Er hatte sie vollkommen in seiner Gewalt, obwohl sie das nicht einmal ahnte. Er hatte ihr all ihren Stolz und ihre Würde genommen, weil er ihre Existenz zerstört hatte. Das Machtgefühl, das ihn durchfloss, war noch heftiger als die Erregung. Er hatte ihr Schicksal in seinen Händen gehalten, und sie hatte es allein ihm zu verdanken, dass sie noch lebte. Davon wusste sie natürlich nichts. Aber eines Tages würde er sich ihr offenbaren, und bis dahin ergötzte er sich an diesen Augenblicken. Sie war zur Hure geworden, weil er es eingefädelt hatte. Und sie machte das wirklich gut, dachte er höhnisch, seine Vicky. Er liebte es, mit Menschen und Schicksalen zu spielen, denn seine Macht war faktisch. Er bildete sie sich nicht nur ein. Er hatte das Leben von so vielen Menschen in der Hand, und wenn es ihm gefiel, dann löschte er die winzigen Lichter einfach aus. Er hatte auch im Krieg versucht, seine Spiele zu spielen, doch die Gefahr war ungleich höher gewesen als im normalen Leben. Fast wären sie ihm auf die Schliche gekommen. Er war noch einmal entkommen. Dieser eine Fehlschlag hatte ihn entstellt, und jede Erinnerung daran machte ihn wütend. Am liebsten hätte er diese Wut an Vicky abreagiert, den dicken Kerl von ihr heruntergerissen und sich an ihr vergangen, bis sie sich nicht mehr bewegte. Aber die Abscheu, die sie empfand, war ihm Entspannung genug. Er rieb seinen Unterleib an der Wand. Beim nächsten Mal würde er sich eines der billigen Mädchen vom Hafen mitnehmen. Mit verbundenen Augen sollte sie dann hier bei ihm sein und sich um seine körperliche Erregung kümmern, während er seiner großen Liebe

1. Kapitel

Das warme Licht der Kerze warf einen Schatten seines angenehm geformten Körpers an die Wand. Vicky unterdrückte einen Seufzer, als sie sich ihm näherte. Sie sah das Glitzern in seinen Augen. Sein rotblondes Haar glänzte im Kerzenschein, ein einzelner Schweißtropfen bahnte sich einen Weg an seiner Schläfe entlang. Sie sah ihn, weil ihre Beobachtungsgabe geschult war. Sie achtete auf Kleinigkeiten. Oft fielen ihr Dinge auf, die andere Menschen einfach übersahen.

Kurz ließ sie den bisherigen Tag Revue passieren, diesen Luxus konnte sie sich erlauben, außerdem erhöhte sie damit die Spannung. Etwas, das ihr Kunde durchaus zu schätzen wusste. Sie hatte Glück gehabt heute. Alle Gentlemen, die sie bedient hatte, waren es wert gewesen, als Gentlemen bezeichnet zu werden. Denn das hatte sie schmerzhaft erfahren müssen: Auch ein gehobenes Etablissement wie dieses, schützte nicht vor Übergriffen. Natürlich war es angenehmer in dieser Atmosphäre zu arbeiten, als in einem heruntergekommenen Hafenbordell. Abermals unterdrückte sie ein Seufzen. War dieses Leben wirklich das für sie vorherbestimmte? Wenn ihr Vater dies alles sehen könnte, er würde sich sicher im Grabe umdrehen.

Ihr Vater – Gott hab ihn selig. Nur, verdammt, warum hatte er sie nicht besser abgesichert? Wie hatte er so leichtgläubig sein können? Wie hatte es dazu kommen können, dass Gordon … Sie unterbrach ihre Gedankengänge. Das führte zu weit. Ihr gegenüber saß immerhin ein Kunde, der sie erwartungsvoll anstarrte. Und er sollte etwas für sein Geld bekommen.

„Dreh dich um! Und auf die Knie mit dir! Dann sollst du deine Strafe kriegen!“

Sie klatschte mit der Reitgerte einmal in ihre geöffnete Handfläche, und der Mann gehorchte sofort. Schade eigentlich, dass sie sein hübsches Gesicht nie ansehen konnte in den ekstatischen Momenten. Nun, musste sie sich eben mit seinem durchaus ansehnlichen Hinterteil begnügen. Ein Jammer, dass er nur so seine Erfüllung finden konnte. Sie richtete sich auf und zupfte ihr enges Mieder zurecht, das ihre hübschen, nicht allzu großen Brüste vorteilhaft zur Geltung brachte.

„Waren wir heute wieder nicht brav?“

„Nein, Ma’am“, hauchte der junge Mann in erwartungsvoller Anspannung. Seine Haltung drückte absolute Unterwerfung aus, und Vicky fragte sich, wie er wohl in seinem richtigen, seinem gesellschaftlichen Leben auftrat. Sie unterdrückte ein Kichern. Dort würde ihn sicher keiner kennen, mit entblößtem, nach oben gestreckten Hinterteil.

„Böse Jungs kriegen hier eine Tracht Prügel. Das weißt du doch, oder?“

„Ja!“ Er stöhnte bereits in banger Vorfreude.

Und endlich tat Vicky ihm den Gefallen und ließ die Gerte auf sein strammes Hinterteil niedersausen. Doch dieses Mal währte die Freude nur kurz, denn bereits nach ein paar Schlägen, wollüstigem Zucken, und noch lange bevor er seine Erfüllung fand, schallte ein Schrei durch die Gänge des Blue Velvet.

„Feuer!“

Vicky brauchte nur einen Wimpernschlag, um zu reagieren. Sie riss die Tür auf und sah auf den Gang. Es war ein heilloses Durcheinander, Leute rannten aus den Zimmern, dichter Rauch füllte den nur schummrig beleuchteten Flur.

„Was ist denn los?“

„Los, kommt schon! Hoch mit Euch! Es brennt! Und zieht Eure Hose an!“

Vicky achtete nicht darauf, ob der Mann hinter ihr der Aufforderung nachkam. Sie warf sich selbst einen dicken, alten Wollumhang über die Schultern. Zu mehr blieb wohl keine Zeit. Sie drehte sich noch einmal um.

„Jetzt schwingt Euren adeligen Hintern aus dem Bett – oder wollt Ihr Euch nackt vor allen präsentieren?“

Das half.

In Windeseile hatte der Mann seine Hosen wieder an. Das Hemd locker über die Schultern geworfen folgte er Vicky hinaus ins rauchgeschwängerte Chaos.

„Verfluchte Hölle!“ Julian St. John kämpfte sich in seine Kleidung. Er wusste nicht, was ihn wütender machte: die Tatsache, dass ihr sehr angenehmes Liebesspiel durch die Schreie unterbrochen worden war oder der Umstand, dass er sich ohne Hilfe in dieser Geschwindigkeit nicht ankleiden konnte. Schweiß brannte in seinen Augen, als er den Kampf mit den Knöpfen aufgab.

„Wartet, ich helfe Euch.“

Bevor er es hätte verhindern können, hatte Benjamin sich seiner Hosenknöpfe angenommen und diese geschlossen. Jeden anderen hätte Julian in Grund und Boden geschrien. Er hasste es, bevormundet zu werden, genauso sehr hasste er seine Unbeholfenheit, auch wenn sein Arm besser verheilte als zunächst angenommen werden konnte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, nach England zurückzukommen.

Er warf Benjamin einen frustriert dankbaren Blick zu. Der junge Mann mit den sanften, mädchenhaften Gesichtszügen lächelte kurz zurück.

„Kommt! Wir müssen raus hier, Sir!“

Julian folgte Benjamin auf den Flur und wurde prompt angerempelt. Er stolperte und musste sich mit dem verletzten Bein abfangen. Ein dumpfes Stöhnen entfloh seinen Lippen, und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Benjamin packte seinen Arm, und sein Blick klärte sich. Er war kurz verwundert über Benjamins festen Griff, dann wurde er nach vorn gezogen.

„Wenn Ihr nicht mitkommt, werde ich mich allein in Sicherheit bringen!“

Julian biss die Zähne zusammen. So hatte er sich diesen Abend wahrlich nicht vorgestellt. Zusammen mit einigen anderen Herrschaften, Strichjungen und Huren, alle in unterschiedlichen Bekleidungszuständen, gelangte er schließlich keuchend ins Freie. Er hörte noch immer Schreie, der dichte Qualm reizte seine Atemorgane. Seine Augen begannen zu tränen, aber er sah Gentlemen, die sich eilig aus dem Staub machten. Und im Grunde wäre das auch das Beste für ihn gewesen. Doch, verdammt, seine Neugier siegte. Vielleicht hatte dieses Feuer etwas mit seinen eigenen Ermittlungen zu tun? War er jemandem bereits zu nahe gekommen? Brannten dort, im Blue Velvet, nun wichtige Beweismittel?

Ein heftiger Hustenreiz schüttelte ihn, und er spürte erneut eine Hand auf seinem Arm. Es war Benjamin. Der junge Mann sah ihn aus seinen braunen Rehaugen besorgt an. „Alles in Ordnung mit Euch?“

Julian hätte fast laut losgelacht. Er war noch immer Offizier, Major um genau zu sein, und kein Pflegefall!

„Bestens“, schnaubte er und schüttelte Benjamins Hand ab. „Wenn es dir nichts ausmacht, komm ich morgen vorbei, um deine Dienste zu bezahlen.“

Benjamin sah pikiert zu Boden. „Kein Problem“, murmelte er und wandte sich ab.

Kopfschüttelnd betrachtete Julian noch einmal das große Stadthaus, aus dessen Fenstern nun der dichte Qualm drang. Ob das Blue Velvet jetzt vollkommen zerstört wurde? Wäre schade drum, dachte Julian, als ihn erneut jemand ansprach.

„William?“

Er drehte sich überrascht um und sah in das außergewöhnlich hübsche, rußverschmierte Gesicht einer jungen Frau.

„Nein, tut mir leid“, antwortete er.

In diesem Augenblick erkannte Vicky ihren Fehler. Zugegeben, der junge Mann hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit William, doch er war sicher zehn Jahre jünger. Erst jetzt wurde Vicky ihr Fauxpas in voller Tragweite bewusst. Bei dieser großen Ähnlichkeit gab es vielleicht Familienbande zwischen diesem Fremden und William.

„Oh, Entschuldigung“, stotterte sie. „Ich habe Euch verwechselt.“

„Das passiert mir öfter.“ Das Lächeln des Fremden war seltsam ironisch.

Abrupt drehte Vicky sich um und war in kürzester Zeit in der Dunkelheit verschwunden.

Julian kniff die Augen zusammen. Ihm war sofort klar, dass die junge Frau ihn mit seinem älteren Bruder William, dem Earl of Blackstone, verwechselt hatte. War sein Bruder vielleicht häufiger Gast im Blue Velvet? Die junge Frau war eindeutig eine Hure gewesen. Unter ihrem dichten Umhang, der oben auseinanderklaffte, hatte sie ein sehr freizügiges Korsett getragen. Und, was für Julian viel interessanter war – sie hatte ihn mit einem vertrauten „William“ angesprochen. Das war ungewöhnlich und ließ tief blicken. Er drehte sich um, und tatsächlich, Benjamin stand noch immer in einiger Entfernung, doch noch immer so nah, dass er Julian beobachten konnte. Julian hatte damit gerechnet.

Seufzend winkte er den Jungen zu sich heran.

„Weißt du, wer die Frau war, die mich gerade angesprochen hat?“

Benjamin rang kurz mit sich, dann antwortete er: „Vicky. Vicky Millhouse.“

„Sie arbeitet hier?“

Benjamin nickte kurz, fühlte sich offenbar nicht recht wohl, Informationen über eine Kollegin auszuplaudern.

Aber mehr wollte Julian nicht wissen. Eigentlich wollte er nur noch nach Hause, den Geruch des Feuers und den Ruß in einem warmen Bad abspülen.

Er nickte Benjamin zu. „Wir sehen uns.“

Dann humpelte er schwerfällig Richtung Straße; es war noch nicht allzu spät. Eine gute Chance, eine Kutsche mit einem halbwegs nüchternen Kutscher zu finden. Er musste William unbedingt um eine eigene Kutsche bitten. Bisher hatte er das nicht getan, weil es für seine Ermittlungen nicht von Vorteil gewesen wäre, bereits an der Kutsche erkannt zu werden. Und nun erkannte schon eine Hure, aus welcher Familie er entstammte, dachte Julian mit einem ironischen Lächeln. Wenn das keine gelungene Tarnung war ...

Er hatte Glück. Er musste nur ein kleines Stückchen die Straße hinuntergehen, da stand eine kleine schwarze Mietdroschke. Mühsam zog er sich in das enge, stickige Kabuff, nachdem er dem Kutscher erklärt hatte, wohin er wollte.

Sein Bein schmerzte wie die Hölle, und sein Arm war quasi taub. Er war ein Krüppel, das jedenfalls hatte er mittlerweile akzeptiert. Er würde nicht mehr in den Militärdienst zurückkehren können. Mit 26 Jahren ein Kriegsveteran, so hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt. Zu seinem Glück hatte er eine reichliche Abfindung erhalten – und sein Bruder William, der das große Familienvermögen verwaltete, war nicht knauserig ihm gegenüber. Aber jetzt, in diesem Augenblick, wollte er sich keine Gedanken über die Zukunft machen. Jetzt sehnte er sich nur nach einem heißen Bad, das seine Glieder ein wenig entspannte.

Die Kutsche holperte über die gepflasterten Straßen, es war noch recht viel Verkehr zu dieser Nachtzeit. Er lehnte sich nach vorn und sah aus dem winzigen Kutschfenster. Nebel wallte durch Londons Straßen, doch das war so selbstverständlich, dass ihn eher das Fehlen des Nebels erstaunt hätte. In seinem Bein pochte es heiß und unangenehm, daher ließ er sich zurück auf den abgewetzten Sitz sinken.

Der Weg zur Stadtvilla seines Bruders war objektiv betrachtet nicht besonders lang, doch Julian kam der Marsch von der Kutsche bis zur Treppe endlos vor. Es kostete ihn einige Überwindung, sich nicht auf den edlen Marmorstufen niederzulassen. Aber er wusste, dass er, würde er einmal sitzen, ohne fremde Hilfe nicht mehr hochkäme. Diese Blöße wollte er sich nicht geben.

Unter Schmerzen zog er sich am schmiedeeisernen Geländer hoch und klopfte. Um diese Uhrzeit würde Williams Butler Logan und auch sein eigener Leibdiener Dan noch auf sein.

Und tatsächlich, kurze Zeit später öffnete Logan die Tür.

Er war ein hagerer Mann mit wachsamen Augen, schwer einschätzbar, was sein Alter betraf, und schon seit Jahren im Dienste der Familie St. John. Julian hatte ihn stets als unnahbar, aber loyal empfunden.

„Mr St. John, Sir!“ Ohne zu zögern fasste Logan seinen Arm mit festem Griff und stützte ihn auf dem Weg zu seinem Zimmer. Leider waren alle Schlafräume im zweiten Geschoss, und so blieb Julian nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Und das tat er, bis sie knirschten.

Oben angekommen keuchte Julian wie nach einem Wettlauf. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Logan, sagen Sie Dan, dass er mir ein heißes Bad vorbereiten soll.“

Logan sah ihn skeptisch an, offenbar unsicher, ob Julian sich allein auf den Beinen halten konnte. Doch Julian wollte nicht bemitleidet werden. Von niemandem!

„Nun gehen Sie schon!“

Allein kämpfte er sich den mit wertvollen Teppichen ausgelegten Flur entlang. Er hatte keine Augen für den Luxus, der ihn umgab – aber das hatte er schon früher nicht gehabt.

Die Tür zu seinen Schlafräumen flog auf, und sein besorgter Leibdiener stürmte auf den Gang.

„Sir! Oh mein Gott! Was ist passiert? Warum seid Ihr so schwarz im Gesicht?“

Daran hatte Julian gar nicht mehr gedacht: Die Flucht durch den Rauch hatte sein Gesicht und seine Kleidung rußgeschwärzt.

„Bitte, Dan“, wehrte Julian ab, schaffte es aber nicht, sich seinen Leibdiener vom Hals zu halten. Der griff ebenso beherzt nach seinem Arm wie Logan und schleppte ihn in seine Räumlichkeiten.

Julian hätte ihm am liebsten eine schallende Ohrfeige verpasst. Aber er vermutete, dass ihm dafür die Energie fehlte. Wie kam dieser junge Bursche dazu, ihn wie einen Krüppel zu behandeln? Er seufzte. Gut, ja …

Widerstandslos ließ er sich die verschmutzte Jacke abnehmen, und auch als Dan ihm half, sich auszuziehen, wehrte er sich nicht.

„Kommt, ich helfe Euch ins Bad.“

Das Wasser war angenehm heiß, und Dan hatte ein wohlriechendes Öl beigemischt. Mit einem leisen Aufstöhnen ließ Julian sich ins Wasser gleiten. Die Bäder in Williams Stadthaus waren der wahre Luxus, den Julian immer geschätzt hatte.

„Ihr habt Euch vollkommen überanstrengt“, stellte Dan vorwurfsvoll fest. Seine großen, immer ein wenig erstaunt dreinblickenden, braunen Augen schienen noch größer als sonst. Er würde vermutlich immer wie ein kleiner, neugieriger Junge wirken. Auch wenn er mittlerweile fast so groß wie sein Herr war.

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, knurrte Julian ein wenig ungehalten.

Dan zuckte sichtlich zusammen. „Verzeihung, Sir.“

Während Julian St. John sich langsam im Badewasser entspannte, stand Vicky Millhouse noch immer zitternd vor dem Blue Velvet. Sie hatte den alten Wollumhang ganz eng um sich geschlungen und sah zu den mittlerweile geöffneten Fenstern, aus denen es noch immer qualmte, empor. Das Feuer schien komplett gelöscht, aber ihr war nicht klar, welches Ausmaß der Schaden im Blue Velvet hatte.

Vicky dankte dem Himmel, dass sie ihr weniges Hab und Gut bei ihrer Freundin Mila untergebracht hatte, bei der sie seit Kurzem auch wohnte. Mila hatte eine gute Partie gemacht, zumindest für eine Hure. Einer ihrer Freier hatte Gefallen an der zierlichen, glutäugigen Mila gefunden, und mit seinem Geld hatte Mila sich das winzige Apartment gemietet. Vicky war froh gewesen, als ihre Freundin das Angebot machte, sie könne in das Apartment mit einziehen. Die beiden Frauen verstanden sich bestens, und zu zweit fühlten sie sich weitaus sicherer.

Mila war auch die Einzige, der Vicky ihre wahre Geschichte erzählt hatte. Hätte sie niemanden gefunden, dem sie sich hätte anvertrauen können, sie wäre vermutlich verrückt geworden. Es war schrecklich, mit Geheimnissen leben zu müssen. Vor allem, wenn sie so weitreichend waren wie die ihren.

Jemand sprach sie von der Seite an, und sie zuckte zusammen. „He, Vicky.“

Sie drehte sich ein wenig. Es war nur Benjamin, einer ihrer männlichen Kollegen.

„Auch noch hier?“, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken Richtung Blue Velvet.

„Ich wohne da drin“, erklärte Benjamin mit betrübter Miene. „Hoffentlich ist nicht alles hin.“

Der Arme, dachte Vicky mitfühlend. Vielleicht hatte er alles verloren. In einiger Entfernung sah sie Madame Tentation mit einigen Leuten stehen. Auch ein paar ihrer Kollegen waren noch vor Ort. Für die meisten war das Blue Velvet nicht nur Arbeits-, sondern auch Wohnplatz. Madame Tentation sorgte recht gut für ihre Mädchen – und Jungen. Auch wenn Letzteres natürlich streng geheim war. Sie wandte sich wieder Benjamin zu, der jetzt fragte: „Kennst du Mr St. John?“

Richtig, bevor sie den fremden Mann angesprochen hatte, hatte sie ihn in Benjamins Nähe gesehen.

„Nein, ich hatte den Mann verwechselt“, gab sie freimütig zu, aber in ihrem Kopf arbeitete es. War der Mann vielleicht Williams Bruder? „Aber wenn er dein Kunde ist, bin ich doch keine Konkurrenz, mein Lieber.“

Sie tätschelte seinen Arm. Benjamin runzelte die Stirn, widersprach aber nicht.

„St. John sagtest du? Aber er ist nicht zufällig verwandt mit William St. John, oder?“

Benjamin zuckte mit den Schultern. Das war etwas, was ihn nicht besonders interessierte. Für Vicky allerdings waren solche Dinge höchst interessant, denn wer wusste schon, wann solche Informationen einmal nützlich werden konnten. Falls dieser Mr St. John Williams Bruder war, und davon ging sie aus bei der unglaublichen Ähnlichkeit – wusste William dann, dass sein Bruder Männern im Bett den Vorzug gab? Sie beschloss, dieses Wissen erst einmal für sich zu behalten. In ihrer Situation war es oft hilfreich, über geheimes Wissen zu verfügen, manchmal allerdings auch gefährlich. Lebensgefährlich.

Sie betrachtete Benjamin, der noch immer vor ihr stand und mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit starrte. Er war ein hübscher, aber sehr femininer junger Mann, mit großen Augen und weichen Lippen. Obwohl deutlich größer als sie selbst, wirkte er wie ein Junge.

„Entschuldige“, sagte er plötzlich. „Dort hinten steht …“ Er brach ab, ein wenig verlegen. „Nun, vielleicht habe ich gerade eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden.“

Vicky sah ihm nach wie er in der Dunkelheit verschwand. Vielleicht sollte sie sich auch auf den Heimweg machen. Mila war sicher schon da, und sie hatte auch noch einen längeren Weg vor sich. Allerdings würde sie in diesem Aufzug eine Droschke mieten müssen. Nur halb bekleidet nachts durch Londons Straßen laufen – das war ihr eindeutig zu gefährlich. Wer wusste schon, welchen Schurken man unterwegs begegnete?

Zu gern hätte sie allerdings noch ein paar Dinge in Erfahrung gebracht. War dieser Brand ein Unfall gewesen? Oder gar Brandstiftung? Wie stark beschädigt war das Blue Velvet? Musste sie sich demnächst sogar einen neuen Arbeitsplatz suchen? Sich vielleicht auf der Straße prostituieren? Sie erschauderte.

„Mädchen, geh nach Hause! Hier gibt’s nichts mehr zu gucken!“ Ein großer Mann, eindeutig einer der Feuerwehrleute, schob sie ein wenig ungeduldig zur Seite.

„Wie stark ist das Haus beschädigt?“, fragte sie ihn.

„Einige Räume im Osttrakt sind völlig ausgebrannt. Aber das Feuer ist fast komplett gelöscht.“

„Wurde jemand verletzt oder …?“

„So, wie ich das gesehen habe, gab’s keine Toten, Mädchen.“ Nun schien er sie das erste Mal genauer zu betrachten. Der Ausdruck in seinem Gesicht änderte sich. Vicky wusste genau, welche Richtung seine Gedanken einschlugen, hatte es oft genug beobachtet. Er leckte sich die aufgesprungenen Lippen.

„Brauchst du eine Bleibe?“, fragte der Mann auch gleich.

Sie schüttelte eilig den Kopf. „Nein, aber danke für das Angebot.“ Rasch drehte sie sich um und floh vom Ort des Geschehens.

Am nächsten Morgen wurde Julian von Dan geweckt. Ein Umstand, den er mit einem ungehaltenen Knurren quittierte.

„Euer Bruder wünscht mit Euch zu frühstücken, Sir.“

„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, fauchte Julian, während er sich aus dem Bett stemmte. Sonst hatte William auch nie besonderen Wert auf seine Gesellschaft gelegt. Sein Bein schmerzte noch immer, doch glücklicherweise hatte er an diesem Morgen ein wenig mehr Gefühl in seinem Arm.

Dan ließ sich von Julians Ausbrüchen nicht besonders beeindrucken. Er kannte ihn schon seit Jahren und war immer an seiner Seite geblieben – selbst als Julian beschlossen hatte, eine militärische Laufbahn einzuschlagen.

Jetzt half er ihm beim Ankleiden, etwas, das für ihn selbstverständlich war, Julian hingegen aus unerfindlichen Gründen regelmäßig zur Weißglut brachte. Aber Dan hatte sich an die Launen seines Arbeitgebers gewöhnt. Das Einzige, was ihn maßlos ärgerte, war, wenn Julian nach ihm schlug. Denn der junge Mann hatte eine militärische Ausbildung genossen und gekämpft. Dementsprechend hart waren seine Schläge, auch wenn er Dan nie ernsthaft verletzen wollte. Manchmal ging einfach sein Temperament mit ihm durch. Ein Umstand, mit dem Dan sich arrangiert hatte.

Julian hangelte sich am Treppengeländer entlang nach unten, denn die Speisezimmer, das Kaminzimmer, die Bibliothek, Williams Arbeitszimmer und der geräumige Salon befanden sich in der ersten Etage. William war – natürlich – bereits da und hatte sich hinter einer Zeitung vergraben.

„Guten Morgen, William.“

William faltete die Zeitung, eine von der Sorte, in der man lediglich den neuesten Klatsch und Tratsch erfuhr, zusammen und musterte ihn durchdringend mit seinen eisgrauen Augen.

William St. John, Earl of Blackstone, und sein jüngerer Bruder Julian waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide trugen sie ihr dunkles, glattes Haar kurz, die eisgrauen Augen hatten sie von ihrer Mutter geerbt, wie auch die perfekt modellierte Nase. Einzig Julians spöttisches Lächeln, das so häufig seine schmalen Lippen verzog, fehlte William völlig.

Auch in der Statur ähnelten die beiden Brüder sich, daher war Julian am gestrigen Abend auch nicht verwundert gewesen, mit William verwechselt worden zu sein.

„Setz dich, Bruderherz“, William bedeutete ihm Platz zu nehmen. „Logan kann dir das Frühstück zum Tisch bringen.“

Wie auf ein Stichwort erschien der Butler, wie immer die Würde in Person, und reichte Julian Toast, Rührei und Würstchen vom aufgebauten Buffet. Der Tee stand auf dem Tisch und war so gut erreichbar, ohne dass Julian hätte aufstehen müssen. Als Logan den Raum wieder verlassen hatte, meinte William: „Ich lese in diesem Schundblatt gerade, dass es ein Feuer gab in einem der besseren Etablissements der Stadt. Mein Bruder kommt in der gleichen Nacht rußverschmiert nach Hause. Gehe ich recht in der Annahme, dass du dort warst?“

Julian nickte. „Wie du weißt, ermittle ich noch immer im Mordfall meines Freundes Ewan.“

„Ja, Ewan O’Connor, einer deiner Kameraden. Doch ich wusste nicht, dass es eine Verbindung zum Blue Velvet gibt …“

„Kennst du das Haus?“, fragte Julian wie nebenbei.

Nur einen winzigen Moment zögerte William, dann schüttelte er den Kopf. „Vom Hörensagen.“

Jeder andere hätte William diese Lüge abgekauft, aber Julian kannte seinen Bruder viel zu gut.

„Die Verbindung zum Blue Velvet konnte ich sofort herstellen. Für mich stellt sich jetzt allerdings die Frage, ob dieser Brand von letzter Nacht etwas mit dem Mord zu tun hat.“

William runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich meine, es hätte vor einigen Monaten schon einen Mordfall im Zusammenhang mit dem Blue Velvet gegeben. Aber ich kann mich leider nicht mehr genau erinnern. Vielleicht fragst du mal einen der Schmierenreporter“, er tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitung neben sich.

So viel Aufsehen wollte Julian allerdings nicht mit seinen Ermittlungen erregen. Ewan O’Connor war vor vier Wochen ermordet worden. Seine Leiche war in der Nähe des Blue Velvet gefunden worden, und Julians Spurensuche hatte ihn schnell dorthin geführt. Ewan war sein Kamerad und ein enger Freund gewesen, zeitweise ein sehr enger Freund, und sein plötzlicher Tod hatte Julian erschüttert. Er wusste, er war es Ewan schuldig, diesen Mord aufzuklären. Auch wenn seine noch längst nicht verheilten Verletzungen dagegen sprachen.

„Du siehst total erschöpft aus“, stellte William dann auch gleich unbarmherzig fest. „Vielleicht hast du dich überanstrengt bei deinen … Ermittlungen.“

Julian warf seinem Bruder einen giftigen Blick zu und widmete sich dann seinem Frühstück. Sollte William glauben, was immer er wollte.

„Du weißt, dass heute der neue Arzt kommt?“

„Das hatte ich verdrängt“, knurrte Julian. Noch so ein Quacksalber, der ihn quälen wollte.

„Colebrooke wurde mir empfohlen.“

„Wieso wird dir überhaupt ein Arzt empfohlen? Es geht doch schließlich um mich!“, ärgerte sich Julian weiter.

„Du gehst ja nicht in den Club“, erklärte William geduldig. „Aber das solltest du mal tun, auch wegen deiner Ermittlungen. Manchmal erfährt man dort interessante Neuigkeiten.“

Julian angelte nach der Zeitung, die William eben zur Seite gelegt hatte. Was wohl über das Feuer geschrieben wurde?

Er überflog den Artikel schließlich nur, denn die Erkenntnisse hielten sich in Grenzen. Die Mutmaßungen und Spekulationen eines Reporters brachten ihn nicht weiter. Aber alles deutete auf Brandstiftung hin, das hatte Julian bereits vermutet. Zum Glück gab es keine Toten.

„Colebrooke wird in etwa einer Stunde hier sein, stell dich darauf ein.“

„Ja, Sir“, brummte Julian. Dieser Arzttermin passte ihm überhaupt nicht.

William zog sich nach dem Frühstück zurück, um seine Korrespondenz zu erledigen. Außerdem musste er sich langsam auf die Rückreise vorbereiten. Den Herbst und den Winter wollte er gern wieder auf dem Land verbringen. Aber sein Aufenthalt in der Stadt hatte einen ganz einfachen Grund – er war auf der Suche nach einer passenden Braut. Leider hatte sich seine Brautschau bisher nicht als besonders erfolgreich erwiesen. Anwärterinnen gab es reichlich, immerhin war William ein sehr gut aussehender und vor allem wohlhabender Mann mit einem Titel. Und sein Ruf war untadelig. – Aber seine Ansprüche an eine mögliche Gattin waren vielleicht einfach zu hoch. Und diese jungen Schnattergänse, die zum Teil ihre erste Saison in London hatten, mochten zwar nett anzuschauen sein, aber sie nervten ihn bereits nach kürzester Zeit. Er konnte sich nicht vorstellen, mit so einer Frau eine Familie zu gründen, geschweige denn sein Leben zu verbringen.

Julians neugierige Ermittlungen waren da auch nicht sehr hilfreich. Natürlich verstand er, dass sein Bruder dem Tod seines Kameraden auf den Grund gehen wollte. Aber musste das ausgerechnet an Orten geschehen, an denen er selbst zu Gast war? Wer wusste schon, was Julian alles herausbekam, in welchen Misthaufen er wühlte? Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass ein Mann wie er sich Befriedigung in einem Bordell verschaffte, aber er hatte nicht vorgehabt, dies ausgerechnet seinem Bruder auf die Nase zu binden. Immer war er ein Vorbild für Julian gewesen, hatte, nach dem Tod ihres Vaters, sogar erzieherische Aufgaben übernommen und war Julians Vormund geworden. Nun gut, Julian war erwachsen, und mittlerweile nahm er sich sicher all die Freiheiten, die er, William, sich auch gönnte. Aber die Vorstellung, seinem eigenen Bruder in einem Bordell zu begegnen, war nun mehr als unangenehm.

Trotzdem musste er zumindest herausfinden, wie es Vicky ging. In der Zeitung hatte gestanden, es sei bei dem Brand niemand ums Leben gekommen. Aber vielleicht war Vicky verletzt und brauchte Hilfe? Bei dem Gedanken an ihren zierlichen Körper, an ihre weiche Stimme und die dunklen Augen, seufzte er leise. Wenn er sie in seinen Armen hielt, schien die Zeit stehen zu bleiben. Sie war anders als die Huren, die er bis dahin gehabt hatte. Manchmal kam es ihm so vor, als sei sie seine Mätresse, nur dass sie keinerlei Ansprüche an ihn stellte. Er schüttelte leicht den Kopf, um seine Gedanken wieder zu ordnen. Erst einmal musste er nun herausfinden, wo sie sich aufhielt. Denn leider hatte er keine Ahnung, ob sie im Blue Velvet wohnte und ob nach dem Brand überhaupt noch jemand dort war.

Eine gute Möglichkeit würde sich bieten, sobald Colebrooke kam, dachte William. Dann war Julian wenigstens abgelenkt, und es bestand nicht die Gefahr, dass man sich in der Nähe des Blue Velvet über den Weg lief.

Pünktlich stand Dr. Anthony Colebrooke vor der Tür der St. Johns.

Logan begrüßte ihn freundlich und bat ihn herein. Da Julian es sich in der Bibliothek bequem gemacht hatte, wurde der Arzt dorthin geführt. Colebrooke bewunderte die geschmackvolle und deutlich exklusive Einrichtung der Villa. Er war durch seine Arbeit oft in den Häusern der Wohlhabenden, kam selbst aus gutem Hause, aber nicht immer bewiesen die Reichen durch ihre Einrichtung auch Geschmack.

Colebrooke war eine ganze Zeit lang nicht in England gewesen. Durch seine medizinischen Studien war er weit herumgekommen. Er entstammte einer angesehenen Familie und war mit seiner Entscheidung, Arzt zu werden, eher ein Exot. Aber er hielt daran fest, dass sein Beruf – zumindest in seinem Fall – eine Berufung war. Daher hatte er auch Sprechstunden für die Armen eingerichtet, was durchaus nicht selbstverständlich war. Aber es war ihm ein Bedürfnis, wenigstens etwas gegen das Elend der armen Bevölkerung zu tun.

„Hier entlang, Dr. Colebrooke“, sagte Logan, klopfte an eine schwere dunkle Holztür und öffnete, auf ein geknurrtes „herein“ hin.

Julian St. John saß mit finsterer Miene in einem kleinen dunkelroten Ledersessel und legte seine Lektüre beiseite. Als er Colebrooke musterte, erhellten sich seine Züge plötzlich. War das möglich?

„Tony? Tony Colebrooke?“

Der Arzt grinste. „Korrekt. Guten Morgen, Julian, lange nicht mehr gesehen.“

„Verdammt lange!“

Colebrooke trat näher, und die beiden Männer schüttelten sich herzlich die Hände. Dem Arzt war nicht entgangen, dass das Aufstehen Julian Schmerzen bereitete.

Julian seinerseits betrachtete Dr. Colebrooke, Anthony, mit unverhohlenem Interesse, musterte ihn geradezu vom Kopf bis zu den Füßen.

„Mit dir habe ich wirklich nicht gerechnet. Dass du zu den Quacksalbern gegangen bist …“

Anthony nickte lächelnd. „Besser als sich durchlöchern zu lassen, findest du nicht?“

„Von der Warte aus betrachtet …“

Julian und Anthony waren in etwa gleich alt. Da die Landsitze ihrer Familien nebeneinanderlagen, hatten sie in ihrer Kindheit viel Zeit miteinander verbracht. Sie waren zusammen ausgeritten, auf Bäume geklettert und hatten zusammen geangelt. Julian hatte Tony immer sehr gemocht, seine ruhige, überlegte Art, die völlig anders war als sein eigenes, manchmal aufbrausendes Temperament. Irgendwann hatten sich die Wege der zwei jungen Männer dann getrennt, was sie beide sehr bedauert hatten. Und nun, nach etwa 10 Jahren trafen sie sich durch Zufall wieder.

Colebrooke hatte sich verändert: Aus dem dünnen, schlaksigen Jungen war ein ansehnlicher Mann geworden. Nicht ganz so muskulös wie Julian, aber mit festen Schultern und kräftigen, gepflegten Händen. Sein rotblondes Haar war nahezu gebändigt, seine grünen Augen blitzten Julian fröhlich an.

„Himmel, sogar deine Sommersprossen hast du noch!“, entfuhr es ihm.

Beide Männer sahen sich kurz erstaunt an, dann lachten sie.

„Worauf du achtest …“

Julian spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, und er war froh, dass seine Haut noch immer gebräunt war.

„Entschuldige. Mir fielen nur gerade einige Dinge von damals ein.“

„Ist eine schöne, unbeschwerte Zeit gewesen“, bestätigte Anthony lächelnd. „Aber aus diesem Grund bin ich nicht hier, nicht wahr?“

Julian schüttelte den Kopf. „Nein, meinem Bruder William ist dein guter Ruf offenbar zu Ohren gekommen. Aber er hätte ja mal erwähnen können, dass du es bist. Dann hätte ich mich nicht so aufregen müssen.“

Anthony verkniff sich ein Lachen. „Wollen wir vielleicht mal deine Verletzungen anschauen?“, schlug er vor.

Julian lächelte ironisch. „Wir? Ich glaube, ich habe sie schon oft genug gesehen.“

Darauf ging Anthony gar nicht ein. „Lass uns in deine Schlafräume gehen. Dann kannst du dich hinlegen.“

Julian nickte, aber er war zu stolz, sich von Anthony helfen zu lassen. Auch die Treppe erklomm er ohne Hilfe.

Colebrooke ließ ihn. Julian St. John war nicht der erste Kriegsversehrte, den er behandelte. Er wusste, was eine schwere Verletzung mit dem Verletzten, mit seiner Persönlichkeit machte. Außerdem hatte er keinerlei Informationen darüber, wie Julian verletzt worden war.

Geduldig wartete er, bis sein alter Freund sich halb entkleidet und auf sein Bett gelegt hatte. Selbst Dan, seinen Kammerdiener, hatte Julian aus dem Zimmer gejagt.

Julian war angespannt. Er beobachtete Anthonys Reaktion auf den Anblick des groben Narbengewebes. Und das erste Mal war er verblüfft von der Reaktion eines anderen Menschen. Denn Anthony war nicht abgestoßen, auch nicht erschrocken – er war einfach nur interessiert. Auf eine merkwürdige Art schockierte Julian das mehr als alles andere.

Colebrooke pfiff durch die Zähne. „Das war knapp. Mich wundert, dass es nicht amputiert wurde.“

Julian starrte Anthony an. „Ja, ziemlich knapp. Sie überlegten bereits kurz nach der Operation ob sie das Bein nicht doch amputieren sollten. Ein guter Freund hat es verhindert.“

„Du kannst ihm heute noch dafür danken.“

„Leider nicht, er ist tot. Er wurde ermordet.“

Anthony sah ihn an, eine Augenbraue hochgezogen. „Das tut mir leid.“

„Mir auch“, sagte Julian emotionslos.

„Wurde der Mörder gefunden?“ Anthonys Fingerkuppen strichen über seinen Oberschenkel.

„Nein, noch nicht.“ Julian hielt den Atem an, als Colebrooke mit beiden Händen seinen dünnen Oberschenkel umschloss, seine Finger in die abgeheilte Verletzung bohrte.

„Die Muskeln sind fast gar nicht mehr vorhanden. Das ganze Gewebe ist kreuz und quer zusammengewachsen.“

Anthony fuhr konzentriert mit den Händen an Julians Oberschenkel nach oben und dann wieder nach unten. Julian stöhnte leise, obwohl er es hatte unterdrücken wollen.

„Tut das gut oder ist das schmerzhaft?“

„Das ist angenehm“, brummte Julian und schenkte Anthony einen ironischen Blick.

Anthony grinste, er hatte verstanden. „Mach dir darüber keine Gedanken. Das ist wirklich menschlich.“

„Männlich, meinst du wohl.“

Julians körperliche Reaktion hielt Colebrooke nicht davon ab, den Druck zu verstärken. „Gut?“

Julian knurrte nur zur Bestätigung. Anthonys Berührungen taten wirklich gut, der Schmerz war zwar noch immer da, aber die wohlige Wärme, die sich in dem völlig zerstörten Muskel ausbreitete, war äußerst entspannend.

„Ich glaube, es täte dir gut, wenn wir das öfter machten“, erklärte Anthony und trug eine Salbe auf.

Julian schwieg dazu.

„Aber ich muss dir leider sagen, dass diese Verletzung dich dein Leben lang begleiten wird.“ „Was genau tust du da?“

„Ich massiere den Muskel, damit mache ich ihn weich, und die Durchblutung wird angeregt.“

„Nicht nur die“, murmelte Julian.

Anthony lachte leise. „Kein Problem. Ich bin schließlich Arzt.“

Er wurde wieder ernst. „Du hast wirklich Glück gehabt, Julian. Diese Verwundung hätte auch tödlich sein können. Wie ist das passiert?“

„Eine Explosion. Mein ganzes Bein war voller Splitter.“ Er erinnerte sich ungern an den Vorfall, an die Schmerzen, die Operation. An die Angst.

Colebrooke nickte nachdenklich. „Zeig mir jetzt deinen Arm.“

Julian hätte fast protestiert, als Colebrooke die Massage seines Beins beendete.

Bei der Begutachtung von Julians linkem Arm zeigte sich Anthony deutlich optimistischer. Aber auch hier schloss er eine komplette Heilung aus. „Du wirst deinen Arm in ein paar Monaten sicher wieder gut nutzen können. Vielleicht kommt sogar das Gefühl in deinen Fingern wieder, aber das dauert eben.“

Julian zog sich langsam wieder an, während Anthony ihm ein paar einfache Übungen zeigte, mit denen er seinen Arm stärken konnte. Colebrookes Gesicht glühte dabei fast vor Eifer, und Julian wurde klar, wie sehr er in seiner Aufgabe als Arzt aufging. Ihn selbst beschäftigte allerdings vielmehr seine Reaktion auf Anthonys Berührungen. Würde er es ertragen können, diese Massagen auszuhalten? Sich nichts anmerken zu lassen? Oder war das Risiko viel zu groß?

„Bist du eigentlich auch öfter im Rogers’?“, fragte er nebenbei.

Colebrooke schloss seine große schwarze Arzttasche. „Wenn es meine Zeit erlaubt, ja. Dort erfährt man ja immer so einiges. Außerdem mag ich das Ambiente.“ Er lächelte. „Warum fragst du?“

„Mein Bruder meinte, ich solle mich hier nicht so vergraben und wenigstens mal in den Club gehen. Aber bisher hatte ich noch keinen Grund dazu. Wenn du allerdings dort bist ...“

„Dann werden wir uns dort vielleicht mal treffen. Ich komme morgen wieder hierher, Julian. Gleiche Zeit?“

„Meinetwegen gern.“

Vicky Millhouse hatte am Vormittag das Apartment verlassen, um ein wenig zu Essen aufzutreiben und noch einmal am Blue Velvet vorbeizugehen. Mila war noch im Bett, sie hatte von dem Brand nichts mitbekommen, da sie den gestrigen Abend im Hause ihres Gönners verbracht hatte. Manchmal wünschte sich Vicky, auch so ein Glück zu haben. Auf der anderen Seite wusste sie, dass dieses Verhältnis auch ebenso rasch vorbei sein konnte. Sie kannte den Mann, mit dem sich ihre Freundin traf, nur vom Sehen. Er war ein Mitglied der adeligen Gesellschaft, vielleicht war er sogar verheiratet und hatte Kinder. Auch für ihn war es ein Wagnis, eine Hure zu unterhalten, ihr Geld für eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.

Das Blue Velvet sah bei Tageslicht geradezu trist aus. Noch immer qualmte es aus mehreren Fenstern, Teile der Außenfassade waren geschwärzt. Es sah nicht so aus, als würde es in naher Zukunft wieder öffnen. Aber um Gewissheit zu erlangen, musste sie mit Madame Tentation sprechen. Ein Zufall hatte ihr die private Adresse von Madame Tentation zugespielt, und sie hoffte, dort auch eingelassen zu werden.

Aber mit ihrem schlichten dunkelgrünen Kleid sah sie recht passabel aus. Auch ihr Haar hatte sie heute Morgen ordentlich frisiert, nachdem sie den Ruß und den Geruch ihrer Arbeit, von dem sie immer meinte, dass er an ihr haftete, von ihrem Körper gewaschen hatte. Jetzt fühlte sie sich wieder frisch, auch wenn sie sich sorgte, wie es in der nächsten Zeit weitergehen sollte. Sie hatte keinerlei Ersparnisse und wusste nicht, woher sie das Geld nehmen sollte, um sich zu versorgen. Wenn sie daran dachte, wie gut es ihr früher ergangen war, kam sofort der Groll in ihr hoch. Alles hatte sie verloren – wegen eines Mannes, der ihr die schlimmsten Dinge angetan hatte. Wegen eines Mannes, dem sie vertraut und dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Sie verfluchte Gordon Neville von ganzem Herzen. Nie wieder würde sie einem Mann so vertrauen.

Zu Fuß machte sie sich auf den Weg zum Stadthaus von Madame Tentation. Ein wenig verunsicherte sie, dass sie den richtigen Namen ihrer Chefin nicht kannte. Aber warum sollte man ihr den Einlass verwehren?

Ein langer, gepflasterter Weg führte von der Straße zur Eingangstür. Vicky straffte sich und klopfte energisch an. Aber ihr Herz schlug deutlich schneller. Hoffentlich wurde sie nicht rausgeschmissen.

Die Tür öffnete sich und ein junger, pausbäckiger Mann sah sie mit unbewegter Miene an. „Sie wünschen?“

„Könnten Sie mich bitte der Herrin des Hauses melden?“ Vicky versuchte sich an ihr früheres Auftreten zu erinnern. Sie hatte noch vor ein paar Jahren selbst in den gehobenen Kreisen verkehrt.

„Wie ist denn Ihr Name?“

„Victoria Millhouse“, sagte Vicky mit fester Stimme.

„Kommen Sie rein. Ich werde sehen, ob Misses Oldfield Sie empfängt.“

Er ließ sie im Flur zurück und stakste unnatürlich steif von dannen. Was für ein aufgeplusterter Gockel, dachte Vicky. Von dieser Sorte kannte sie einige, plusterten sich auf, um das Fehlen wirklicher Männlichkeit zu verbergen. Dieser Typ war einfach ein großes Baby, aber auch bei solchen Menschen musste man auf der Hut sein.

Erstaunlicherweise dauerte es gar nicht lange, bis sie zu Misses Oldfield, Madame Tentation, vorgelassen wurde. Das überraschte sie.

Misses Oldfield saß hinter einem großen Schreibtisch und schaute kurz auf, als Vicky eintrat. Erkennen huschte über ihr einstmals sicher sehr apartes Gesicht. Doch ihr Lebenswandel hatte Spuren hinterlassen. Das brünette Haar war von grauen Strähnen durchzogen und perfekt frisiert, die eher kleinen Augen blitzten kühl und intelligent.

„Vicky, ich bin überrascht, dass du mich hier gefunden hast.“

Vicky hörte keine Ablehnung in ihrer Stimme. Daher sagte sie gleich eilig: „Es tut mir wirklich leid, dass ich Euch hier in Eurem Privathaus störe, aber ich musste einfach wissen, wie es mit dem Blue Velvet weitergeht.“

„Oh, ich fürchte, das Haus wird eine Zeit lang geschlossen bleiben. Bis alle Schäden beseitigt sind, besteht für euch die Möglichkeit im Mood House zu arbeiten. Der Besitzer ist bereits informiert, du musst dich nur bei ihm melden.“

Vicky hatte Mühe, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Das Mood House war um Klassen schlechter als das Blue Velvet. Sie hatte schon einige unschöne Gerüchte über dieses Bordell gehört.

„Sobald das Blue Velvet wieder eröffnet, kannst du gern wieder dort arbeiten. War das alles?“

Vicky nickte enttäuscht. „Ja, danke, Madam.“

Sie war wirklich enttäuscht. Die Arbeit im Blue Velvet war ihre einzige Einnahmequelle. Nach dem Skandal war es ihr nicht einmal mehr möglich gewesen, als Gouvernante oder beim Dienstpersonal zu arbeiten. Zu groß war ihre Angst gewesen, erkannt zu werden. Immerhin stand damals das Wort „Mord“ als ungeschriebene Anklage im Raum. Sie hatte furchtbare Angst gehabt.

Madame Tentation hatte offenbar noch ein anderes, ein bürgerliches Leben. Auf höchstem Standard und wahrscheinlich auch mit gesellschaftlicher Anerkennung, wie Vicky beim Hinausgehen noch einmal dachte. Zwei Leben, die sie leben durfte und konnte. Amanda Oldfield hatte zwei, und was hatte sie?

Vicky war nicht neidisch, dieses Gefühl kannte sie nicht. Sie hatte immer versucht, aus ihrer Situation das Beste zu machen. Aber manchmal brannten heiße, ungeweinte Tränen in ihren Augen, weil das Leben ihr wieder mal ein Schnippchen geschlagen hatte. So wie jetzt gerade.

Bereits seit heute Morgen hingen dichte, dunkle Wolken über der Stadt, nun setzte ein leichter Nieselregen ein. Vicky schlug die Kapuze ihres Umhangs hoch. Gedankenverloren ging sie die Straßen entlang, den Blick auf die Häuser der vornehmen Leute verbat sie sich. Es ging ihr ohnehin nicht gut, warum sollte sie sich selbst noch quälen? Pferdekutschen fuhren an ihr vorbei, Menschen hasteten mit langen Schritten über den Bürgersteig. Offenbar hatten alle eine Aufgabe oder ein warmes Zuhause, was sie erwartete.

Plötzlich hielt eine schwarze, edle Droschke direkt neben ihr. Als die Tür aufschwang, sprang sie erschrocken zurück. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie nicht aufgepasst hatte. Alarmiert wich sie noch ein Stück zurück. Drohte ihr Gefahr? Sie wäre nicht die erste Frau, die spurlos in London verschwand. Und es gäbe sicher niemanden, der nach ihr suchen würde.

„Miss?“, tönte eine dunkle Stimme aus dem Innern der Kutsche.

Sie blickte auf.

„Vicky.“

William hatte sie endlich gefunden, aber natürlich war dies ein glücklicher Zufall gewesen. Er hatte sie lediglich an ihrer Art zu gehen erkannt.

Über Vickys Gesicht huschte ein feines Lächeln, als sie William erkannte. Trotzdem blieb sie stehen, wartete ab, ob er sie in seine Kutsche einlud. Sie war noch nie mit ihm zusammen in der Kutsche gefahren. Bisher hatte er sie immer nur im Blue Velvet aufgesucht. Aber in ihren Träumen hatte er sie mit ins Theater genommen, mit ihr das Museum besucht, mit ihr getanzt ... Sie verbat sich energisch jegliches Gefühl ihm gegenüber, aber er war ein wundervoller Mann. Eben der Mann ihrer Träume, und die ließen sich nicht kontrollieren.

„Wohin gehst du? Kann ich dich mitnehmen?“

Nirgendwohin, dachte sie kurz bitter, sagte aber laut: „Ja, gern.“ Vielleicht konnte sie ihm auch ihre prekäre Lage offenbaren, allerdings wollte sie auf keinen Fall irgendein Almosen von ihm. Das würde schwierig werden, denn sie wusste, William war ein Gentleman durch und durch.

Er stieg aus der Kutsche, und wie immer hielt sie den Atem an, als sie in sein gut geschnittenes, männliches Gesicht sah. Wie gern hätte sie dem Bedürfnis nachgegeben, ihre Finger in seinem vollen, dunklen Haar zu vergraben. Er überragte sie um ein ganzes Stück, und wie einer Lady half er ihr in seine Kutsche. Nur William St. John behandelte sie derart zuvorkommend. Dabei war sie sich ganz sicher, dass er irgendeinen Adelstitel innehatte, oder zumindest in gesellschaftlich höheren Kreisen verkehrte. Das zeigte schon die edle Ausstattung seiner Kutsche. Und war da nicht ein Wappen außen an der Tür gewesen?

Ein kurzes, unangenehmes Schweigen entstand, während Vicky krampfhaft darüber nachdachte, was sie sagen sollte. Immerhin hatte sie gar kein Ziel vor Augen gehabt. Wo also sollte er sie hinbringen?

Aber William unterbrach das Schweigen. „Ich habe gelesen, dass es letzte Nacht ein Feuer im Blue Velvet gab. Aber wie ich sehe, bist du nicht verletzt.“ Zum Glück.

„Ich war da“, sagte Vicky. „Aber mir ist nichts passiert. Es war ein ziemliches Durcheinander, und das Haus wird einige Zeit geschlossen bleiben.“ Sie biss sich auf die Zunge. Hatte sie schon zu viel durchklingen lassen?

„Darf ich fragen, wo du jetzt wohnst?“

„Ich wohne bei einer guten Freundin, sie hat ein Apartment.“ Mehr wollte Vicky nicht preisgeben. Was um alles in der Welt wollte sie überhaupt von William St. John? Was konnte dieser Mann ihr geben? Außer seinen zärtlichen Küssen und den Berührungen seiner erfahrenen Hände. Ja, Ekstase konnte er ihr geben, und vielleicht musste das reichen.

Als hätte er in ihren Gedanken gelesen, zog er sie vorsichtig zu sich heran. „Sag mir, wenn du nicht möchtest“, raunte er an ihrem Ohr.

Oh, und wie sie wollte. Sein Atem an ihrem Ohr, in ihrem Nacken verursachte eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper. Leise seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und schmiegte sich an seinen starken Körper. Nie hatte er Wert darauf gelegt, dass sie stark war, dass sie die Führung übernahm. Bei ihm konnte sie sich ganz fallen lassen und nur genießen.

Ihre Lippen fanden sich, bereitwillig öffnete sie ihren Mund, um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Seine forschenden Hände glitten unter ihren Umhang, öffneten ein paar Knöpfe. Und nur ganz leicht wanderten sie über ihr sittsam hochgeschlossenes Kleid, berührten ihre Brüste durch den Stoff hindurch. Sie fühlte sich wieder wie ein junges Mädchen und seufzte leise, als sie spürte, wie ihre Brustwarzen sich aufstellten. William küsste sie nun fordernder und hob sie, als wäre sie federleicht, auf seinen Schoß. Sofort spürte sie seine Erregung. Hart und unnachgiebig drängte sich sein Geschlecht gegen ihren Körper. Und auch das war unglaublich erregend für sie. Vicky rieb sich leicht an ihm, das Kleid bis über die Knie hochgerutscht. Seine Hände glitten darunter, umfassten ihr kleines, festes Gesäß und drückten sie noch ein wenig fester gegen seinen harten Schaft.

„Zum Glück ist dir nichts passiert“, murmelte er an ihrem Hals.

Sie erschauderte wohlig. Würde dieser Mann sie wohl immer erregen? Sie zu so verruchten Dingen verleiten, wie am helllichten Tag in einer Kutsche …

„Warte, sollen wir nicht die Vorhänge schließen?“, fragte sie atemlos.

William lachte leise. „Du hast recht. Du bist so wunderschön, dass ich mich tatsächlich kaum beherrschen kann.“

Er schob sie ein wenig von sich und schloss mit einer Hand die Vorhänge auf beiden Seiten. Jetzt umgab sie gedämpftes Tageslicht, und Vicky bog sich ihm entgegen, als er wieder begann, ihre Brüste zu liebkosen. Mit einer Hand wollte sie seine Hose öffnen, doch er kam ihr zuvor. Seine Finger glitten zwischen sie, verschwanden dann aber unter ihren Röcken, ertasteten ihren weichen, feuchten Eingang. Sie war schon lange bereit für ihn, drängte sich leise aufstöhnend seinen Fingern entgegen. Sich ihm in einer fahrenden Kutsche hinzugeben, erhöhte den Reiz für Vicky noch. Sie wollte ihn ganz tief in sich spüren.

„William, bitte“, hauchte sie. Nur in diesen Momenten wagte sie, ihn so mit seinem Vornamen anzusprechen.

„Was möchtest du denn?“, fragte er mit heiserer Stimme. Dabei konnte er sich selbst kaum noch zügeln.

„Ich brauche dich, ich will dich spüren.“

Er schob zwei Finger in sie hinein und genoss ihr Aufstöhnen.

„Nein, ich will deine ganze Männlichkeit“, forderte sie.

Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht. Schnell hatte er die Knöpfe an seiner Hose geöffnet. Er war mittlerweile so erregt, dass seine Lanze aus ihrem Gefängnis schnellte. Ohne sich länger aufzuhalten, drang er in ihre heiße Enge ein.

Sie vergrub die Finger in seinem Haar und biss sich auf die Unterlippe, um einen Aufschrei zu unterdrücken. William fühlte sich so gut an. Himmel, sie hatte ja Erfahrung, aber dieser Mann war etwas ganz Besonderes.

Beide Hände an ihren Hinterbacken, hob er sie leicht hoch und ließ sie auf seiner Härte reiten, während die Kutsche über das holprige Pflaster schaukelte. Vicky war für diesen Moment im siebten Himmel, konzentrierte sich nur auf ihn, seinen erregenden Körper und ihren gemeinsamen Rhythmus.

Frustriert musste William auf ihre köstlichen Brüste verzichten, aber er wollte sie in der Kutsche nicht noch weiter entblättern. Es machte ihn schon fast wahnsinnig, dass sie sich ihm in dieser Situation ohne Weiteres hingegeben hatte. Sie reagierte sofort auf ihn, mit einer Leidenschaft, die ihn immer wieder erstaunte. Überhaupt war diese Frau ein einziges Ereignis. Er war sich immer bewusst, dass sie eine Hure war, dennoch konnte er nicht von ihr lassen. Er liebte jeden Zentimeter ihres wunderbaren Körpers und konnte sich nicht vorstellen, irgendwann einmal genug von ihr zu haben. Das erschwerte die Suche nach einer passenden Braut ungemein, wie er sich eingestand. Denn es war klar, sollte er erst einmal verheiratet sein, kam ein Verhältnis mit einer Hure nicht mehr infrage. Vielleicht war das der Grund, warum er sich mit der Auswahl einer Heiratskandidatin so schwer tat? Das würde allerdings bedeuten, dass er aufhören musste, mit Vicky zu verkehren, wenn er seine Chancen erhöhen wollte.

William vertrieb die düsteren Gedanken und trieb seinen Schaft tief in sie hinein, bis sie vor Verlangen zitterte. Gern hätte er sie umgedreht, wie ein Tier von hinten genommen, die Spitzen ihrer festen Brüste gereizt, aber diese wilden Spiele wollte er sich für das Bett vorbehalten. Der Gedanke, dass sie dies alles mit einer Leidenschaft auskostete, seine Experimentierfreude teilte, ließ ihn schließlich seine Erfüllung finden.