African Boogie - Helmut Barz - E-Book

African Boogie E-Book

Helmut Barz

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Beschreibung

"Mafia Island! Absoluter Geheimtipp. Ein richtiges Tropenparadies!" – Katharina Klein muss untertauchen. Warum also nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und endlich mal in den Urlaub fahren? Das Fünf-Sterne-Resort Golden Rock vor der afrikanischen Küste bietet Sonne, Palmen, Pool, geheimnisumwobene Schmugglerhöhlen, leckeres Essen – und einen Serienmörder, der es auf die Gäste abgesehen hat. Von der Außenwelt abgeschnitten nimmt Katharina Klein die Spur auf – und erhält dabei unerwartete Hilfe – von einem Gespenst aus ihrer Vergangenheit. Katharina liebt Oldtimer, Schusswaffen – und den völlig falschen Mann. Im fernen Afrika stolpert sie in einen Kriminalfall, den nur sie stoppen kann. Schließlich ist sie die chaotischste, beste (und einzige) Kriminalpolizistin auf Mafia Island. "African Boogie ist seit langem wieder einmal ein Krimi aus deutschen Landen, der nicht in die Kategorie Regio-Krimi fällt und trotz humoristischem Einschlag dennoch genügend Spannung und Action bietet, um auch international bestehen zu können." (krimi-couch.de)

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Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Die Katharina-Klein-Krimis von Helmut Barz

Westend Blues – Katharina Klein in Schwierigkeiten (Jazz-Trilogie, Teil 1)

African Boogie – Katharina Klein im Urlaub (Jazz-Trilogie, Teil 2)

Dolphin Dance – Katharina Klein im falschen Film (Jazz-Trilogie, Teil 3)

Damenopfer – Katharina Klein in den Schlagzeilen

Die Jazz-Trilogie (Westend Blues, African Boogie und Dolphin Dance in einem Band)

Weitere Titel von Helmut Barz

Die Herrin – eine schaurige Novelle aus böser alter Zeit

Ein dreckiger Job (Seelenakte Frankfurt am Main) – ein übernatürlicher Roman Noir

Impressum

edition coeurart

Helmut Barz

Blumenstraße 52

63069 Offenbach am Main

www.helmut-barz.de

Lektorat, Korrektorat dieser Ausgabe: Vanessa Heinisch, Christiane Barz

Satz, Gestaltung, Cover: Helmut Barz basierend auf einem Design von Markus Drapatz/Suttonverlag

Veröffentlichung über: 

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Veröffentlichung (auch auszugsweise), öffentlicher Vortrag, Übertragung in andere Medien nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors.

Dieses Buch wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Für etwaige Fehler oder gesundheitliche Folgen (etwa durch geraubten Nachtschlaf) übernimmt der Autor keine Haftung.

Inhaltsverzeichnis
Die Katharina-Klein-Krimis von Helmut Barz
Weitere Titel von Helmut Barz
Impressum
Gewidmet
Dramatis Personae
Erster Teil: Passengers from Frankfurt
Hell on Earth
In the Shadow
Suitcase Blues
Blues on the Dark Side
Night Ride
Tell Me More
African Grovin’
The Dirty Dozens
Trouble Everywhere I Roam
Zweiter Teil: Five Red Herrings (or less)
Just Before the Break of Dawn
Rocks & Mountains
Sunset Special
Nobody Knows You, When You’re Down and Out
How Long Will It Be?
Slow Storm
Flip, Flop and Fly
Dritter Teil: And then there were none?
Bedroom Blues
Ballade Pour Adrenalin
Blues, Indeed
Underworld Blues
Hide and Seek Boogie
Vierter Teil: Appointment with Death
Just a Closer Walk with Thee
The Chicken and the Hawk Boogie
Trouble in Mind
Black Snake Blues
Told My Story
Fünfter Teil: Death comes as the End (or maybe not)
Midnight Hour Blues
Wake Up
Blues on the Burying Ground
Farewell Smile

»Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.«

Napoleon Bonaparte

Gewidmet

Justice Lawrence Wargrave

… weil er die Gerechtigkeit gefunden hat,

die er suchte und verdiente.

Sir Julian Freke

… weil er wusste,

wann eine Schachpartie verloren ist.

sowie

zwei hoch geschätzten Damen

… die mit ihren Morden mehr Geld verdient haben

als Lucrezia Borgia.

Dramatis Personae

Katharina Klein, Kriminalpolizistin auf der Flucht vor einem Killer

Andreas Amendt, Rechtsmediziner auf der Flucht vor sich selbst

Harry Markert, Polizeibeamter auf der Flucht vor dem Alltagstrott

Sandra Herbst, Ärztin auf der Flucht vor schlechtem Wetter

Alexander von Weillher, Umweltschützer auf der Flucht vor den Behörden

Stefan Döring, Club-Direktor auf der Flucht vor der Erfolglosigkeit

Augustin, Majordomus, auf der Flucht vor gar nichts

Javier, katholischer Priester, zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Kristina Bergthaler, Krimiexpertin

Dirk-Marjan Jakutzki, Architekt, vernarrt in Brücken aller Art

Sabrina Jacheau, Manuela Striese, Sylvia Schubert, Claudia Weisz, blondgelockte Schönheiten

Darissa von Heuth, Regisseurin

Daniel und Susannah Breugher, TV-Stars

Joachim und Dr. Gabriele Bronski vom Architekturbüro Bronski und Partner, Frankfurt am Main

Pfarrer Hans Giesler nebst Gattin Tamara

Jens Mandeibel und Jean-Luc Meier, zwei Rüpel

Christian Kurt, Connaisseur holder Weiblichkeit

Charlie Buchmann, Unternehmer

Dr. Thorsten Urban, Unternehmensberater in den besten Jahren

Luisa Rheinsberger, reiche Witwe

Frank Heidlich, Chauffeur mit Rechtsanwaltszulassung

Roswitha Heidlich, seine Gattin

Dr. Albert Norrisch, Internist auf der Suche nach dem großen Abenteuer

Chittaswarup Kumar, indischer Geschäftsmann mit künstlerischen Ambitionen

Anton, selbstloses Warzenschwein

Erster Teil: Passengers from Frankfurt

Eigentlich hat alles ganz harmlos angefangen: Ich habe Lotto gespielt. Das erste und einzige Mal in meinem Leben.

Ich war gerade aus meinem Job gefeuert worden und pleite. Gerade noch genug Geld auf dem Konto, um die Monatsmiete zu bezahlen und mir jeden Tag ein Brötchen zu kaufen. Auf der Straße hatte ich ein Zweieurostück gefunden – direkt vor einer Lotto-Annahmestelle. Über dem Eingang des Ladens hing eine Fahne, die den aktuellen Jackpot verkündete: Dreiundzwanzig Millionen Euro.

Ich weiß nicht, was mich in die Annahme-Stelle gezogen hat.

»Pech in der Liebe – Glück im Spiel«?

Vielleicht wollte ich mir auch nur endgültig beweisen, was für ein Voll-Loser ich war.

Ich habe also einen Schein ausgefüllt. Drei Tipps, irgendwelche Zahlen, ich habe nicht drauf geachtet. Nur eine Auslosung. Am Samstag. Am Sonntag war ich dann doch neugierig und hab’ ins Internet geschaut. Ein Richtiger, zwei Richtige, drei Richtige und so weiter.

Sechs Richtige plus Superzahl. Jackpot.

Hell on Earth

Frankfurt am Main, 5. Dezember 2007

»Andreas Amendt ist … war der Verlobte Ihrer Schwester. Und für den Mord an Ihrer Familie war er … ist er … mein Hauptverdächtiger.«

Das hatte ihr Chef doch gerade nicht wirklich gesagt, oder? Das konnte doch einfach nicht sein. Wenn nicht …

Wenn nicht alles so perfekt zusammenpassen würde.

Das Blut rauschte in Katharinas Ohren. Sie klammerte sich an Polanskis Schreibtisch fest. Etwas berührte ihre Kniekehlen. Ein Stuhl. Ihre Beinmuskeln gaben nach. Sie sackte zusammen und ließ den Kopf in die Hände sinken. »Oh, Scheiße.«

Sie hatte Andreas Amendt … Sie hatte ihn geküsst! Das konnte auch nur ihr passieren: sich ausgerechnet in den Mörder ihrer Familie zu verlieben.

»Katharina?«

Warum hatte ihr niemand etwas gesagt? Andreas Amendt nicht. Polanski nicht. Thomas nicht. Ihr Partner. Ihr toter Partner.

»Frau Klein!«

Es war ausgerechnet Thomas’ Tod gewesen, der sie zu Dr. Andreas Amendt geführt hatte. Sie und Thomas waren in eine Schießerei geraten. Sie hatte überlebt, ihr bester Freund hatte weniger Glück gehabt. Sie hatte seine Leiche identifizieren müssen und war prompt in den Rechtsmediziner hineingelaufen. Zufällig. Nicht mal direkt in der Rechtsmedizin. Irgendwo auf dem Gelände der Uni-Klinik.

Plötzlich hatte sie sich mitten in den Ermittlungen zu zwei Mordfällen wiedergefunden. Dr. Amendt war nicht von ihrer Seite gewichen. Wiedergutmachung? Oder wollte er nur herausfinden, was sie wusste? Rechtzeitig zur Stelle sein, wenn sie von seiner Tat Wind bekam? Um sie gleichfalls –?

»Kriminaldirektorin Katharina Klein!«

Polanskis Stimme riss sie aus dem Strudel ihrer Gedanken. Richtig! Das war sie: Katharina Yong Klein. Tochter einer koreanischen Mutter und eines deutschen Vaters. Kriminalpolizistin. Kriminaldirektorin! Sie war ja befördert worden. Weggelobt.

Katharina wurde endlich wieder bewusst, wo sie war: im Büro von Kriminaldirektor Polanski. Ihr Chef lehnte an der Kante seines Schreibtischs und hielt ihr einen Cognac-Schwenker hin.

»Trinken Sie das!«

Sie gehorchte und stürzte den Weinbrand hinunter. Verschluckte sich. Hustete.

»Wohltuende Wärme im Abgang!« Der Erfinder dieser Phrase musste Feuerschlucker im Zirkus gewesen sein.

»Katharina? Alles in Ordnung?«

Diese Frage brachte das Fass endgültig zum Überlaufen.

»Alles in Ordnung?«, stieß Katharina unter hysterischem Lachen hervor. »Mein Partner ist tot. Ich habe zehn Tage mit dem Mörder meiner Familie zusammengearbeitet, ohne dass irgendjemand den Anstand hatte, mir zu sagen, wer er ist. Und ich bin frisch ernannte Chefin einer Kamikazeeinheit.«

»Hören Sie, es tut mir leid. Aber mir waren die Hände gebunden. Sie wissen doch, Sie als Angehörige … Und ich dachte … Sie hätten etwas gefunden, was ihn entlastet. Nachdem Sie die Akte jetzt kennen … Aber die haben Sie noch gar nicht gelesen, oder?«

Richtig. Die Akte zur Ermordung ihrer Familie. Die sie nicht haben durfte. Die sie aber doch von ihrem toten Partner geerbt hatte, dem sie unter mysteriösen Umständen zugespielt worden war. Die in ihrem Safe in ihrem Wohnzimmer lag. Ungelesen.

»Ich war beschäftigt.«

»Es tut mir wirklich leid. – Aber …«, Polanski hielt inne, »Sie haben jetzt wichtigere Probleme. Sie wissen doch …«

Sie wusste … was?

Katharina wusste, dass sie auf dem Weg nach draußen gewesen war. Weg aus dem Polizeipräsidium. Doch sie war noch einmal umgekehrt, um Polanski zu fragen, woher er eigentlich Andreas Amendt kannte.

Und davor?

Sie hatte hier in diesem Büro gesessen. Zusammen mit Polanski und dem seltsamen Mann, der permanent Eukalyptuspastillen lutschte.

Worüber hatten sie noch mal gesprochen? Verdammt, das musste doch erst …

Wie lange war das jetzt her? Zehn Minuten? Eine Viertelstunde?

Ein Wort tauchte in ihrem Bewusstsein auf. »Ministro.« Spanisch für Minister. Oder für Pfarrer. Sie erinnerte sich, dass sie das komisch gefunden hatte. Warum?

»Katharina, Sie müssen sich jetzt wirklich zusammenreißen. Ihr Leben hängt davon ab«, drängte sich Polanski in ihre Gedanken. »Sie müssen untertauchen!«

Untertauchen! Richtig! Das war es!

Sie hatte Miguel de Vega erschossen. Den Sohn von Felipe de Vega. Dem südamerikanischen Drogenboss. Er hatte Rache geschworen und ihr einen der besten Killer der Welt auf den Hals gehetzt. Codename Ministro.

Wie war das noch genau gewesen?

Der Innenminister hatte sie zur Kriminaldirektorin befördert.

Sie hatten Champagner getrunken.

Katharina hatte Andreas Amendt geküsst. Von einem Moment auf den anderen hatte er die Umarmung gelöst und war weggerannt.

Sie hatte folgen wollen. Doch ihre Kräfte hatten versagt.

Und dann hatte sie eine Durchsage in das Büro von Polanski beordert.

Dort hatte sie falsche Papiere erhalten. Etwas Geld. Und die strikte Anweisung unterzutauchen, bis dieser Mann mit den Eukalyptuspastillen die Situation geklärt hatte.

Katharina stand auf, auch wenn sich ihre Beine noch immer wacklig anfühlten.

Sie schmeckte Metall. Als hätte sie an einer Batterie geleckt: Adrenalin, die Wunderdroge des menschlichen Körpers.

Sie atmete einmal tief durch und zwang sich zu einem Pokerface: »Okay, ich gehe dann mal untertauchen, Chef!«

Polanski lächelte tatsächlich. »Nicht mehr Chef, Katharina. Sie haben jetzt den gleichen Rang wie ich.«

»Einmal Chef. Immer Chef.« Sie wollte sich umdrehen, doch Polanski tat in diesem Moment etwas für ihn vollkommen Ungewöhnliches: Er umarmte sie so fest, dass es fast wehtat. »Passen Sie auf sich auf, Katharina. Keine Abenteuer. Und keine Aktionen auf eigene Faust. Versprochen?«

»Versprochen!«

Katharina hob ihr Gepäck auf – die Tasche mit den Habseligkeiten aus ihrem alten Büro und den Kosmetikkoffer, den sie vom Mann mit den Eukalyptuspastillen erhalten hatte – und öffnete die Tür des Büros.

Jetzt war sie auf sich allein gestellt. Aber alleine war sie sicherer als bewacht von den notorisch informationsdurchlässigen Sicherheitsbehörden. Unter deren Schutz waren Killer bereits dreimal gefährlich nahe an sie herangekommen. Also dann lieber alleine. Für niemanden verantwortlich außer für sich selbst.

***

Zu früh gefreut. Vor Polanskis Bürotür erwarteten sie vier Beamte: Maschinenpistolen, Kevlarwesten, Helme, Gesichtsmasken. Auf ein unausgesprochenes Kommando hin bildeten die Männer ein Karree um sie. Polanski steckte noch einmal seinen Kopf aus der Tür: »Ach ja, so lange Sie noch in Frankfurt sind, hat das BKA seinen Personenschutz intensiviert.«

Auch das noch. Die Männer begleiteten sie im Gleichschritt zu den Aufzügen – so musste sich ein Delinquent auf dem Weg zum Erschießungskommando fühlen –, fuhren mit ihr ins Erdgeschoss, marschierten mit ihr durch die Gänge zum Ausgang des Präsidiums. Als sie versuchten, das Drehkreuz der Personenschleuse im Foyer des Präsidiums gleichfalls in Formation zu passieren, verhedderten sich die Männer. Der Personenschutz der Bundesrepublik Deutschland lag wirklich in guten Händen. Sie musste diese Ehrengarde so schnell wie möglich loswerden.

Direkt vor der Tür des Präsidiums stand ein gepanzerter Maybach: das Auto ihres Patenonkels Antonio Kurtz. Was würde Polanski jetzt sagen? »Es lohnt sich also doch, einen Patenonkel bei der Mafia zu haben.«

Die Beamten bildeten ein Spalier, während Katharina durch die offene Tür in den Fond des Wagens kletterte. Hoffentlich verzichteten sie auf den Ehrensalut. Endlich fiel die schwere Tür des Maybach hinter ihr ins Schloss.

Durch das Rückfenster sah sie, wie die SEK-Beamten in einen betont unauffälligen schwarzen SUV stiegen, der hinter dem Maybach geparkt war. Na wunderbar. Warum hissten sie nicht gleich eine Fahne mit einer Zielscheibe? Gepanzerte Fahrzeuge waren zwar sicher vor Kugeln. Aber vor Sprengstoff? Katharina hatte keine Lust auf eine Alfred-Herrhausen-Gedächtnisrallye. Schon gar nicht in der Frankfurter Innenstadt. Sie drehte sich wieder nach vorne um.

Hans und Lutz, ihre beiden treuen Leibwächter – ebenfalls eine Leihgabe ihres Patenonkels –, saßen auf den Vordersitzen. Hans, der kleinere der Beiden, hatte das Steuer übernommen. Gut. Hans war zwar nicht der Hellste und seine Aufmerksamkeitsspanne auch nicht die Längste, aber er war der beste Autofahrer, den sie kannte.

Lutz drehte sich zu ihr um. »Wohin?« Wortkarg und präzise wie stets.

Ja, wohin? Das war die richtige Frage. Sie brauchte Kleidung. Ausrüstung. Aber vor allem brauchte sie Informationen. »Zu Kurtz!«

»Okay!«

»Ach, und Hans?«

»Ja?« Der Kleinere schaute über seine Schulter zu ihr.

»Sieh zu, dass du dabei die fahrende Zielscheibe hinter uns loswirst.«

»Nichts lieber als das.«

Hans kuppelte ein und ließ den Wagen sanft anrollen.

»Festhalten!« Dann trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen raste die Rampe vor dem Polizeipräsidium hinunter, pflügte drecksprühend über die kurze Rasenfläche, sprang auf den Bürgersteig, verfehlte ein paar Passanten nur knapp, fuhr quer über die Kreuzung, vermied dabei geschickt mehrere Kollisionen und tauchte ein in den Frankfurter Nachmittagsverkehr.

***

Der Maybach passte gerade eben durch die enge Einfahrt. Ein uneingeweihter Betrachter würde vermuten, dass sie zu einem kleinen Hof führte. Tatsächlich aber endete sie in einer überdachten Halle – ein entkerntes Wohnhaus, das Kurtz für seine Zwecke umgebaut hatte: zum Parkplatz und zum Lager für Dinge, die besser vertraulich blieben.

Hans ließ den Wagen ausrollen und stellte den Motor ab. Katharina entspannte sich. Sie waren im Zickzack durch die Stadt gefahren, um auch andere Verfolger abzuschütteln. Aber jetzt waren sie erst einmal in Sicherheit.

Aus der Lagerhalle führte eine große Stahltür in den hinteren Teil des »Puccini«, eines auf den ersten Blick unauffälligen italienischen Restaurants, seinem Namen angemessen gegenüber der Hochschule für Musik und darstellende Kunst gelegen. Ein Betrieb ihres Patenonkels. Gleichzeitig die Schaltzentrale seines Reichs. Und das Refugium, in dem der Pate von Frankfurt sich seinem liebsten Hobby hingab: Kochen.

***

Kurtz stand an einer Arbeitsplatte in seiner altmodischen Küche und schnitt Gemüse. Er sah auf, als sie hereinkamen, und legte das Messer weg. Dann kam er um den kleinen Tresen herum, um seine Patentochter zu umarmen.

»Katharina-Kind! Gott sei Dank! Wir müssen dringend reden! De Vega hat –!«

»Er hat einen weiteren Profi auf mich angesetzt. Einen Spitzenmann mit Codenamen Ministro.«

»Woher weißt du das?«

»Von Polanski. Und von einem seltsamen Typen, der ständig Eukalyptusbonbons lutscht.«

Kurtz wich das Blut aus dem Gesicht. »So ein unscheinbarer, grauer Typ, bei dem jede Phantomzeichnung ein weißes Blatt ergeben würde?«

»Genau. Kennst du ihn?«

»Halt dich fern von dem! Der Typ bedeutet Ärger. – Hat er dir irgendwas gegeben?«

»Falsche Papiere. Fünftausend Euro. Und diesen Koffer hier!« Katharina hob den kleinen, weinroten Kosmetikkoffer hoch.

»Zeig mir die Papiere!«

Katharina zog den Reisepass, den Personalausweis und den Führerschein hervor und gab sie Kurtz.

»Gute Arbeit«, musste er widerwillig anerkennen, nachdem er die Papiere durchgeblättert hatte.

Dann nahm er den Kosmetikkoffer, stellte ihn auf den knorrigen Eichentisch und öffnete ihn. Mit spitzen Fingern hob er die Gegenstände heraus, die darin lagen: den schweren, metallenen Föhn; den wuchtigen Epilierapparat; den gurkengroßen Vibrator.

»Die Dinger enthalten Geheimfächer für Teile meiner Waffe.« Katharinas Wangen glühten.

»Humor hat er ja«, knurrte Kurtz. »Schau an, Seine Unscheinbarkeit gibt vor, hilfsbereit zu sein.«

»Seine Unschein… – Wer ist der Typ?« Konnte ihr nicht einmal jemand geradeheraus die Wahrheit sagen?

»Der Typ ist – nun, er selbst würde sich vermutlich als Problemlöser bezeichnen.«

»Geheimdienst?«

»Wie man’s nimmt. Er macht die Arbeit, die Geheimdiensten zu schmutzig ist. Er und seine Leute. Er ist extrem gut vernetzt. Weltweit.«

»Und welches Interesse hat er an mir?«

»Wenn ich das wüsste.«

»Hat es was mit der Ermordung meiner Familie zu tun?«

Kurtz war von der Frage nicht sonderlich überrascht: »Ich weiß es nicht. Aber damals habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. – Wieso? Hat er dir sonst noch irgendetwas gegeben?«

Katharina zögerte: »Nicht direkt. Er hat Thomas die Fall-Akte zugespielt. Jetzt hab’ ich sie.«

Kurtz zog verwundert eine Augenbraue hoch: »Hat er gesagt, warum?«

»Nur dass er an der Aufklärung des Falles interessiert ist.«

»Und sonst nichts?«

»Nein.«

»Gut. Hast du die Akte schon gelesen?«

»Nein. Bin ich noch nicht zu gekommen.«

»Hat er sonst noch was gesagt oder getan?«

»Er hat mich eindringlich gebeten unterzutauchen. Allein. Während er versucht, das Problem mit diesem Ministro zu lösen.«

Kurtz knetete seine Unterlippe: »Ich gebe es ja nur ungern zu, aber wenn einer dieses Problem lösen kann, dann er. – Ministro hat noch nie versagt.«

Das waren ja schöne Aussichten. »Was weißt du noch über diesen Ministro?«

»Der Typ ist ein Geist. Taucht auf, schlägt zu und verschwindet spurlos. Angeblich soll er Südländer sein. Spanier oder Südamerikaner. Mittelgroß. Das ist alles, was ich weiß.«

Ein mittelgroßer Südländer … In Frankfurt würde er überhaupt nicht auffallen, dachte Katharina. Es würde schwer werden, ihn auszumachen.

»Sonst noch etwas?«

Kurtz dachte nach: »Angeblich operiert er gerne aus der Nähe. Pistole. Messer. Klavierdraht. – Hat aber auch schon andere Methoden eingesetzt.«

Aus der Nähe … Immer noch besser, als ein Scharfschütze, der sie aus mehreren hundert Metern Entfernung abknallte. Das gab ihr wenigstens eine faire Chance.

Kurtz räusperte sich: »Auf jeden Fall ist die Idee mit dem Untertauchen richtig. Weißt du schon, wohin?«

»Nun, ich –«

»Zu niemandem ein Wort, Katharina«, unterbrach Kurtz sie streng. »Zu Polanski nicht. Zu mir nicht. Und auch sonst zu niemandem. – Also? Weißt du schon wohin?«

»Nein«, antwortete Katharina fest.

»Richtige Antwort. Und du kannst nirgendwo hin, wo dich jemand erkennen könnte. – Ist dir das klar?«

Katharina nickte gehorsam.

»Das Schwierigste wird sein, dich aus Frankfurt herauszubringen, ohne dass dir jemand folgt.«

Darüber hatte Katharina auf der Fahrt zu Kurtz auch schon nachgedacht. Sie brauchte ein Ablenkungsmanöver. »Sag mal, Antonio, du hast doch bestimmt ein paar asiatische Pferdchen in deinem Stall?«

Kurtz wollte streng sein, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen: »Zu den Mieterinnen in meinen Etablissements gehören auch Damen asiatischer Herkunft, ja.«

Es war das vermutlich am schlechtesten gehütete Geheimnis Frankfurts, das Kurtz ein Reich aus Bordellen und Glückspiel kontrollierte. Deshalb nannte Polanski ihn Katharinas »Patenonkel bei der Mafia«.

»Sind darunter zwei, die mir halbwegs ähnlich sehen?«

»So schön wie meine Katharina ist sicher keine, aber das wird sich machen lassen, ja.«

»Okay, lass sie zu meiner Wohnung bringen. Ich habe da eine Idee.«

»Gut. Aber erst mal essen wir.«

***

Essen. Kurtz’ Allheilmittel.

Doch Katharina bekam keinen Bissen herunter.

Die Gedanken rasten in ihrem Kopf – und nicht nur solche zur bevorstehenden Flucht. Kurtz war doch ihr Patenonkel und der beste Freund ihres Vaters. Er musste doch …

Verdammt! Warum war sie nicht gleich drauf gekommen?

»Sag mal, Antonio, kanntest du den Amendt eigentlich schon vorher?«, fragte sie betont harmlos.

Kurtz ließ sein Besteck sinken. »Hat er es dir endlich gesagt, ja?«

»Wer? Was?«

»Der Amendt! Hat er dir gesagt, wer er ist?«

»Nein, das habe ich von Polanski erfahren.«

»Madonna ragazzi!« Kurtz schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er hatte es mir doch felsenfest versprochen.«

»Wer hat was versprochen?«

»Na, der Amendt. Dass er es dir selbst sagt. Wer er ist. Wer er war.«

»Du hast ihn also gekannt?«

»Natürlich. Susanne und er haben ihre Verlobung hier gefeiert.«

»Im Puccini?«

»Hier in dieser Küche. Zusammen mit deinen Eltern. Professor Leydth und seine Frau waren auch da. Und diese Jazz-Sängerin. Marianne Aschhoff.«

Amendts Quasi-Adoptiv-Eltern und seine mütterliche Freundin. Katharina hatte schon ihre Bekanntschaft gemacht. Jetzt verstand sie auch, weshalb Marianne Aschhoff bei ihrem Anblick ein Tablett mit Gläsern hatte fallen lassen. Katharina hatte ihrer Schwester Susanne immer ziemlich ähnlich gesehen.

Tja, die Einzige, die nichts gewusst hatte, war sie. Katharina war damals als Austauschschülerin in Südafrika gewesen. Susanne hatte ihr zwar begeistert von der Verlobung geschrieben; leider hatte sie einen verflixten Hang zu Spitznamen gehabt. Der »Schatz«, das »Bärchen«, das »Hasenkind«: Das war also Andreas Amendt gewesen.

»Und warum hast du mir nichts gesagt?«, fragte Katharina vorwurfsvoll.

»Er hat mich darum gebeten. Und mir hoch und heilig versprochen, es dir selbst zu sagen.«

»Und darauf lässt du dich –?«

»Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils, du erinnerst dich?«

»Du glaubst also nicht, dass er es war?«

»Ich glaube zumindest nicht, dass es so passiert ist, wie Polanski behauptet. Dass der Amendt einfach durchgedreht ist und deine Familie abgeschlachtet hat.«

»Warum nicht?«

Kurtz dachte einen Moment nach. »Du bist die Kriminalistin von uns beiden. Lies die Akte. Wenn noch jemand Licht in die Angelegenheit bringen kann, dann du.«

***

Kurtz hatte gerade Espresso gemacht, als Hans mit der guten Nachricht kam, er habe zwei passende Mädchen gefunden. Es war Zeit aufzubrechen.

Als Katharina, Hans und Lutz wieder in den Maybach stiegen, fragte Kurtz: »Brauchst du sonst noch irgendetwas? Geld?«

Katharina schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr doch noch etwas ein: »Ein Auto. Einen alten Golf oder so. – Und, ach ja, du kennst den Hintereingang zu meinem Haus?«

Katharina hatte schon vor einiger Zeit entdeckt, dass man ihr Haus auch über die Parallelstraße erreichen konnte. Man ging in eine bestimmte Hofeinfahrt. Von dort kam man in Katharinas Nachbarhaus. Die Keller beider Häuser waren über eine Tür verbunden.

»Komm bitte mit den Mädchen dort rein. Und stell den Wagen auf dem Hof ab.«

***

Der schwere Wagen rollte wieder aus der unscheinbaren Einfahrt. Hans fädelte den Maybach in den Verkehr ein.

Katharina legte ihm die Hand auf die Schulter. Da war noch etwas, das sie gleich erledigen konnte.

»Hans, fahr doch bitte mal in die Fichardstraße. Zweite Querstraße rechts.«

***

»A. Amendt« stand neben der obersten Klingel. Katharina drückte auf den Knopf. Keine Reaktion. Sie trat einen Schritt zurück und schaute nach oben. Die obersten Stockwerke waren dunkel. Vermutlich saß Amendt Gitarre spielend im »Blauen Café«, dem Laden seiner mütterlichen Freundin. Sollte sie dorthin fahren? Ihn konfrontieren?

Nein! Sie hatte wirklich wichtigere Probleme.

***

In the Shadow

Andreas Amendt hatte das Licht nicht angeschaltet. Er saß im Dunkeln auf seinem Wohnzimmersofa. Auf seinen Lippen spürte er noch immer den verdammten Kuss. Er hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Er hätte es ihr schon längst sagen sollen. Aber wie?

»Ach übrigens, Frau Klein: Ich war der Verlobte Ihrer Schwester. Der Vater ihres ungeborenen Kindes. Und ich habe wahrscheinlich in einem Wahnanfall Ihre Familie abgeschlachtet.«

Alles wäre sehr viel einfacher, wenn er wirklich wüsste, was damals passiert war. Doch er hatte nur ein paar unscharfe Erinnerungen. Susannes letzter Kuss. Der letzte Kuss, den er überhaupt von einer Frau bekommen hatte, bis ihn Katharina geküsst hatte. Vorhin. Auf dem Flur des Präsidiums.

Sie küsste genauso wie ihre Schwester. Der sie so zum Verwechseln ähnlich sah. Und mit der sie doch so wenig gemeinsam hatte: Sie war tough, wo Susanne sanft war. Aggressiv und streitlustig, wo Susanne ausgleichend war. Mit dem Kopf durch die Wand, wo Susanne behutsam und zurückhaltend gewesen war. Nur eines hatten sie gemeinsam: Wenn sie jemanden in Not sahen, mussten sie helfen. Und natürlich ihre Art zu küssen.

Andreas Amendt schloss die Augen. Wieder sah er die Bilder vor sich, die ihn bis in seine Träume hinein verfolgten: Bilder von 3. Dezember 1991.

Er war an diesem Tag direkt aus dem Krankenhaus zu seiner Verlobten gefahren. Nach einer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht. Einer seiner Patienten hatte einen Krampfanfall erlitten. Einen Grand Mal. Seinen letzten. Er hatte sich die Zunge abgebissen und war daran erstickt. Sie hatten ihn nicht mehr retten können.

Susanne hatte sofort gesehen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er fertig war. Sterbensmüde. Sie hatte ihm angeboten, sich hinzulegen. Sie war mit ihm nach oben gegangen. In ihr Zimmer, in dem immer ein unbeschreibliches, aber irgendwie sehr sympathisches Chaos herrschte – auch etwas, das sie von ihrer Schwester unterschied, die sogar ihre Bücher nach Farben sortierte.

Er hatte die Schuhe abgestreift und sich auf das Bett fallen lassen, noch immer in seinen Krankenhausklamotten. Susanne hatte ihn zugedeckt. Versprochen, ihn eine Stunde später zu wecken. Und dann hatte sie ihn geküsst. Das war das Letzte, woran er sich erinnerte, bis …

… bis ihn die beiden Polizisten aus der Dusche gezerrt hatten.

Er war nackt gewesen. Das heiße Wasser war wuchtig aus der Massage-Brause auf ihn herabgeprasselt. Dennoch hatte er gefroren. Das Badezimmer war neblig vom Wasserdampf. Seine Kleidung lag unordentlich auf den Fliesen vor der Wanne. Blutverschmiert. Deshalb hatten sie ihn in einen weißen Einweg-Overall aus Plastik gesteckt. Dann hatten sie ihm Handschellen angelegt und ihn auf dem Rücksitz eines Streifenwagens sich selbst überlassen.

Bis Polanski kam.

Dann erst hatte er erfahren, was passiert war.

Was er getan hatte.

Natürlich war er es gewesen. Wer denn sonst? Die Schizophrenie seiner Mutter hatte ihn endlich eingeholt. Auch sie war eines Tages durchgedreht. Hatte mit einem Messer auf seinen Vater eingestochen – und auch auf ihn: Die drei Narben auf seinem Brustkorb legten davon Zeugnis ab. Doch die Stiche hatten das Herz verfehlt.

Sein Vater hatte weniger Glück gehabt. Er war innerlich verblutet. Dann war seine Mutter ins Badezimmer gegangen und hatte sich selbst die Kehle durchgeschnitten.

***

Die Türklingel riss Andreas Amendt aus seinen Gedanken. Wer konnte das …? Wer wohl? Das konnte nur sie sein. Sie war gekommen, um ihn zur Rede zu stellen. Er hätte nach dem Kuss nicht einfach davonlaufen sollen. Er hätte bleiben sollen. Ihr die Wahrheit sagen.

Zu spät.

Er wollte aufstehen und zur Tür gehen. Doch er hatte einfach nicht die Kraft. Nicht heute. Nicht jetzt.

Er ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken.

Lauschte in die Dunkelheit.

Doch es klingelte kein zweites Mal.

***

Suitcase Blues

»Bereit, jeden Tag im Kampf zu sterben, traten junge wie alte Samurai gepflegt auf, weil sonst ihr toter Körper auf dem Schlachtfeld vom Feind als schmierig erachtet worden wäre.«

So hieß es im Hagakure, dem Lehrbuch der Samurai.

Dieses Zitat raste in Katharinas Kopf herum, während sie zwischen ihrer Wäschekommode und der Reisetasche auf ihrem Bett hin und her hetzte, immer mehr Unterwäsche in die Tasche stapelnd. Endlich zwang sie sich innezuhalten.

Sie sah auf den seidenen Body in ihren Händen: Bereit im Kampf zu sterben? Ja. Aber nicht hinterrücks abgeknallt von einem Profikiller.

Sie hatte noch immer keinen Plan. Nur eine Reisetasche voller Unterwäsche. Und einen mit einem repräsentativen Querschnitt ihres Badezimmers gefüllten Kosmetikkoffer. Die drei Geräte mit den Geheimfächern für die Teile ihrer Waffe lagen obenauf. Doch ihre Pistole würde sie erst im letzten Moment verstauen.

Wo sollte sie hin? Was brauchte sie dazu?

***

In ihrer Wohnung angekommen, hatte sie als Erstes ihre große Keksdose genommen, in der sie ihre Pokergewinne aufbewahrte, und Kassensturz gemacht: etwas mehr als fünfzigtausend Euro.

Sie hatte das Geld – lauter gebrauchte Scheine – sortiert und in das Innenfach ihrer Handtasche gestopft. Ihr Notebook wanderte gleichfalls in ihre Handtasche: Sie würde es brauchen, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben.

Dann hatte sie die Akte aus ihrem Wohnzimmer-Safe geholt: die Fallakte zum Mord an ihrer Familie.

Sie hatte Lutz gebeten, ihre Reisetasche vom Schlafzimmerschrank zu fischen. Der große Leibwächter hatte ihr gerne den Gefallen getan. Dann war er zurück in die Küche gegangen, wo sein Partner Hans saß. Und vier missgelaunte BKA-Beamte, die Polanski zu Katharinas Schutz geschickt hatte, bis sie die Stadt verlassen konnte.

***

Die Reisetasche war zwar schon älter, aber wirklich benutzt worden war sie bisher nur zweimal: Katharina hatte ein halbes Jahr in den USA auf der FBI-Akademie in Quantico verbracht. Und dann damals, als sie als Austauschschülerin nach Südafrika geflogen und so dem Mörder ihrer Familie entgangen war. Aber vielleicht …

Vielleicht hätte sie damals das Schlimmste verhindern können. Ihrer Schwester den Mann ausreden. Die Verlobung. Die Schwangerschaft. Wenn Susanne etwas machte, dann richtig: verliebt, verlobt und schwanger in weniger als drei Monaten. Oder sie hätte sogar …

Unsinn! Was hätte ein sechzehnjähriges Mädchen gegen einen Wahnsinnigen mit einer Pistole schon ausrichten können?

Nicht grübeln! Nicht jetzt!

Katharina zwang sich, zu ihrer Wäschekommode zu gehen, um sie zu schließen. Doch dann entdeckte sie etwas: In der obersten Schublade, bisher gut unter ihrer Wäsche verborgen, lag ein Badeanzug, noch immer sauber mit Geschenkband verschnürt.

Sie nahm das Päckchen heraus und zog die Karte hervor, die unter dem Band steckte.

»Liebe Kaja! Viel Erfolg in Frankfurt. Mach auch irgendwann mal Urlaub! Und lern endlich schwimmen! Alles Liebe, Harry«

Harry. Harald Markert. Polizeihauptwachtmeister. Er war ihr Ausbilder gewesen. Mit ihm war sie in Kassel Streife gefahren. Obwohl erst in der zweiten Dreißiger-Hälfte, war er schon damals der nette Schutzmann von nebenan gewesen. Graue Strähnen in den Haaren. Vollbart. Bauchansatz. Stets gelassen: ein Fels in der Brandung.

Sie hatten sich angefreundet. Wohl auch, weil Harrys kleine Tochter Annika Katharina ins Herz geschlossen hatte. Das Mädchen hatte sie Kaja genannt. Harry hatte diesen Spitznamen übernommen.

Wie lange war das jetzt her? Mehr als zehn Jahre! Annika musste bald erwachsen sein.

Harry hatte Katharina immer mit ihrer großen Schwäche aufgezogen: Tiefes Wasser machte ihr Angst. Sie war sich sicher, dass irgendetwas sie packen, in die Tiefe ziehen und jämmerlich ertrinken lassen würde. Deshalb konnte sie nicht schwimmen.

Sie drehte den Badeanzug zwischen den Händen. Und vor ihrem inneren Auge formte sich der perfekte Plan: Sie wühlte ihre Sommergarderobe aus dem Schrank hervor und begann, sie in ihre Reisetasche zu stapeln. Auch den Badeanzug legte sie dazu. Man wusste ja nie.

***

Sie hatte gerade den großen Reißverschluss der Reisetasche zugezogen und mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert, als es klingelte:

Kurtz – zwei hübsche junge Asiatinnen im Schlepptau. Hundertprozentig ähnlich sahen sie Katharina nicht. Aber die Figuren und die Größen passten. In der winterlichen Dunkelheit würde es gehen.

Als die beiden Mädchen Katharina entdeckten, schnatterten sie erbost auf Kurtz ein.

Endlich sprach Kurtz ein Machtwort: »Nix Kollegin. Nix Konkurrenz.«

Die beiden Mädchen hielten überrascht inne.

»Ihr sollt … ihr mit was helfen«, versuchte Kurtz sich verständlich zu machen.

Nach einer kurzen Denkpause zwitscherte die eine, den Blick auf Katharina geheftet: »Ahhhh, Mädchen mit Mädchen!«

»Kostet extra!«, ergänzte die andere im gleichen Ton.

Das konnte ja heiter werden!

Doch Kurtz hatte sich schon an seinen großen Leibwächter gewandt: »Lutz, erklär es ihnen!«

Lutz neigte sich zu den beiden Mädchen und begann leise mit ihnen in ihrer Sprache zu reden. Sie hörten mit offenen Mündern zu.

Katharina war wider besseres Wissen erstaunt. »Lutz spricht … was eigentlich?«

»Mandarin.«

»Lutz spricht Mandarin?« Kaum zu glauben. Der bullige Mann war sehr einsilbig – wenn er überhaupt sprach.

»Lutz schweigt in acht Sprachen fließend. Englisch, Russisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und … hab’ ich vergessen. Auf jeden Fall auch Mandarin.«

***

Was war das nur mit Frauen und Kleidern? Und mit Schuhen? Vor allem mit Schuhen?

Die beiden Mädchen hatten sich begeistert auf Katharinas Kleiderschrank gestürzt. Nur mit Mühe hatte Katharina ihnen ein schwarzes Samtkleid und ihr Leder-Outfit entreißen können. Auch um ihre hohen Stiefel hatte es ein kurzes Tauziehen gegeben. Jetzt standen die beiden vor ihr – tief enttäuscht, aber passend gekleidet: Jeans, Sweatshirt mit Kapuze, schwarze Halbschuhe.

Auch Katharina hatte sich umgezogen. Sie trug einen Anzug, Anthrazit mit Nadelstreifen, zu dem sie ihr Partner Thomas einmal überredet hatte, eine schlichte weiße Bluse, ein schmales Halstuch. Ihr Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Außerdem trug sie eine Brille mit eckigem, schwarzem Gestell. Nicht, dass sie eine Sehhilfe brauchte. Die Fassung enthielt nur Fensterglas. Doch die Brille leistete ihr gute Dienste, wenn sie besonders seriös auftreten musste. Wie zum Beispiel diesmal. Schließlich war sie laut ihren neuen Papieren »Zoë Yamamoto, Halbjapanerin, Geschäftsfrau«.

Katharina betrachte sich im großen Spiegel an der Tür ihres Schlafzimmerschrankes: Ja, so konnte sie gehen.

Die Flucht konnte beginnen.

***

Gemeinsam löschten sie alle Lichter. Dann setzte sich der erste Trupp in Bewegung. Die BKA-Beamten hatten sofort bessere Laune bekommen, als sie erfahren hatten, was sie tun sollten: Betont militärisch und auffällig stiegen die Beamten und eines der Mädchen in den vor dem Haus bereitstehenden SUV – schweifende Blicke, Hände an den Waffen, kryptische Handzeichen. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ein am Straßenrand geparktes Auto startete und fuhr ihnen nach.

Fünfzehn Minuten später verließen Kurtz, Hans und Lutz mit dem zweiten Mädchen die Wohnung. Leise huschten sie die Treppe hinunter, schlichen verstohlen zu Kurtz’ Maybach, stiegen unauffällig hinein und fuhren ebenfalls ab. Diesmal war es ein Motorrad, das aus einer Hauseinfahrt bog und ihnen folgte.

Katharina wartete noch eine halbe Stunde, die Straße von ihrem Schlafzimmer-Fenster aus im Blick. Ein Mann, der im Halbschatten zwischen zwei Straßenlaternen an einer Hauswand gelehnt und geraucht hatte, trat seine Zigarette aus und ging. Dann passierte nichts mehr.

Zeit zum Aufbruch.

Hans hatte bereits ihre Reisetasche und den Kosmetikkoffer zum auf dem Nachbarhof wartenden Fluchtauto gebracht. Katharina hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. Ihre Pistole nahm sie in die Hand.

Sie schlich die Treppe hinunter, ohne das Licht anzuschalten, und glitt durch die Verbindungstür zum Keller des Nachbarhauses. Bevor sie auf den Hof trat, sah sie sich noch einmal um. Keine Menschenseele zu sehen.

***

Die Türen des alten, roten Golfs waren offen, der Schlüssel steckte in der Zündung. Katharina stieg ein und legte die Pistole griffbereit auf den Beifahrersitz. Langsam ließ sie den Wagen aus der Einfahrt auf die Straße rollen, als von links ein Auto kam. Der Fahrer bremste ab und blinkte höflich mit der Lichthupe: Sie möge doch fahren.

Der Wagen blieb eine ganze Weile hinter ihr. Ein Verfolger? Als sie auf die Friedrich-Ebert-Anlage einbog, verschwand der Wagen im Verkehr.

Dennoch: Sicher war sicher. Sie würde das Verkehrsmittel noch einmal wechseln. Anstatt in Richtung Stadtautobahn abzubiegen, fuhr sie weiter geradeaus zum Hauptbahnhof.

***

Katharina steuerte den Wagen in die Tiefgarage an der Nordseite des Bahnhofs. Sie entschied sich, endlich einmal die Frauen-Bonuskarte auszuspielen – etwas, das ihr ansonsten zuwider war – und auf dem Frauenparkplatz in der Nähe des Ausgangs zu parken. Dort fand sich tatsächlich auch noch eine freie Parklücke: Sie zwängte den Golf zwischen zwei BMW X3, auf deren Rückscheiben Aufkleber verkündeten, sie hätten Xander-Olivier beziehungsweise Clarrisa-Franzi an Bord.

Sie nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum, ließ ihre Pistole in der Manteltasche verschwinden und legte den Autoschlüssel unter den Fahrersitz. Kurtz würde den Wagen schon finden.

Als aus dem Halbdunkel der Tiefgarage ein Mann auftauchte, ließ Katharina ängstlich die Hand in die Manteltasche gleiten. Doch der Mann ging an ihr vorüber. Offenbar wollte er nur zum Ausgang. Als er fast schon an ihr vorbei war, dreht er sich doch zu ihr um: ein Südländer. Mittelgroß. Verdammt!

Katharina wollte schon ihre Pistole ziehen, als der Mann freundlich fragte: »Brauchst du konkret Hilfe oder was?«

Er zeigte auf ihre Reisetasche.

Katharina zwang sich zu einem höflichen Lächeln, während sie den Griff ihrer Pistole fest umklammert hielt. Sie verneinte und deutete mit einem Kopfnicken auf die Tasche: »Hat Räder!«

»Sorry ey, hab’ ich dich erschreckt oder was?«

Katharina schüttelte den Kopf. Der Mann brummte etwas Unverständliches, drehte sich um und ging durch die Stahltür des Ausgangs.

***

Auf den Bahnsteigen herrschte Trubel wie immer. Katharina tauchte in die Menge ein: eine Reisende unter vielen. Und unter lauter mittelgroßen Südländern. Wie sagte man doch? Es ist keine Paranoia, wenn wirklich jemand hinter dir her ist.

Scheinbar ziellos wanderte sie an den Geschäften vorbei, um etwaige Verfolger zu verwirren. An einem Stand kaufte sie einen Kaffee. Dann schlenderte sie langsam zum Eingang des Tiefbahnhofs. Sie fuhr die Rolltreppen hinab zu den S-Bahngleisen. Eine S8 fuhr eben ein. Katharina stieg ein, blieb aber mit ihrem Gepäck neben der Tür stehen. Ihr fiel ein, dass sie gar keinen gültigen Fahrschein hatte: Mit ihrem Polizeiausweis hatte sie sonst freie Fahrt. Doch der lag in ihrem Tresor – ebenso wie all ihre anderen echten Papiere. Hoffentlich kam keine Kontrolle.

***

Im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens herrschte Hochbetrieb. Menschen mit Koffern eilten an Katharina vorbei, vor den Check-in-Schaltern warteten Reisende in langen Schlangen auf ihre Abfertigung. Das hieß, dass sie eine gute Chance hatte, an diesem Abend noch einen Flug zu ergattern. Wenigstens etwas.

Der Mann auf dem etwas erhöhten Infostand schaute genervt auf, als Katharina auf ihn zumarschierte. Deshalb setzte sie ihr freundlichstes Lächeln auf: »Sagen Sie, hier gibt es doch irgendwo ein Last-Minute-Reisebüro, oder?«

Erstaunlicherweise lächelte der Mann zurück. Vermutlich war er froh, sich nicht mit Beschwerden, verlorenen Kindern oder gestohlenem Gepäck rumärgern zu müssen.

»Da hammwa sogar zwei von. Das da ist ganz neu.« Er deutete zu einer Seite der Halle. Dort leuchtete ein rotes Neonschild: Last-Minute Tours. »Aber wennse ’nen Tipp wollen?«

Katharina nickte höflich.

»Dann gehnse am besten zum andern. Da machense wirklich ein Schnäppchen.« Er zog einen Plan des Terminals hervor und kreuzte mit seinem Kugelschreiber an, wo das Reisebüro lag. Katharina nahm den Plan und bedankte sich.

***

»Buchen bis zur letzten Minute. Und dann ganz schnell raus aus der Stadt!«, stand auf dem Schaufenster. Katharina betrat das kleine Ladengeschäft. In den Regalen stapelten sich die Reiseprospekte bis zur Decke.

Hinter einem verkramten Schreibtisch saß ein blondes Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig. Sie strahlte, als sie Katharina hereinkommen sah, und deutete auf den Besucherstuhl.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich, ich … brauche eine Reise.«

Das Mädchen war wohl an solch vage Angaben gewöhnt: »Hm, ich verstehe. Ganz schnell raus aus der Stadt, wie? Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Kopf?«

Was sollte sie darauf antworten? Irgendwohin, wo mich kein Profikiller findet? »Vielleicht … irgendwohin, wo schönes Wetter ist? Sonne? Und Meer?«

Das Mädchen nickte verständig: »Das lässt sich machen. Und wann?« Dann entdeckte sie Katharinas Gepäck. »Möglichst bald, oder? – Na, dann wollen wir mal schauen!« Sie tippte auf der Tastatur ihres Computers. »Hm, Kenia. Aber erst in drei Tagen. Seychellen übermorgen. Kolumbien ginge heute noch.«

In die Höhle des Löwen? Direkt in das Land des Menschen, der ihr Rache geschworen hatte? Keine gute Idee. »Nein, nicht Südamerika.«

»Gut. Also nicht Südamerika … was haben wir denn noch?« Das Mädchen schaute wieder auf den Schirm. Plötzlich rief sie begeistert: »Mafia!«

Katharinas Gesicht wurde eiskalt. Zitternd tastete sie nach der Pistole in ihrer Manteltasche.

Doch das Mädchen fuhr fort: »Mafia Island! Absoluter Geheimtipp. Ein richtiges Tropenparadies!«

Katharina zwang sich zum Durchatmen. »Wo ist das denn?«

»Vor der Küste von Tansania. Eine knappe Flugstunde von Dar es Salam. Traumhaft schön. Und das Resort ist ganz neu. Hat erst im März aufgemacht. Fünf Sterne. Und dafür supergünstig.«

»Das klingt doch gut.«

»Und wie lange wollen Sie bleiben?«

Ja, wie lange? Wie lange würde der Mann mit den Eukalyptuspastillen brauchen, Felipe de Vega davon zu überzeugen, Ministro zurückzupfeifen? Sicher war sicher.

»Am liebsten sechs Wochen!«

»Sechs Wochen!« Dem Mädchen blieb der Mund offen stehen.

»Ja, ich habe schon seit einer Ewigkeit keinen Urlaub mehr gehabt«, erklärte Katharina schnell.

»Und Sie wollen eine Weile von der Bildfläche verschwinden, oder?« Das Mädchen musterte sie kritisch. »Beziehungsstress?«

»Wie kommen Sie da drauf?«

»Na ja, mir ist aufgefallen, dass Sie … da am Auge …«

Oh Hilfe, daran hatte Katharina gar nicht mehr gedacht: Sie hatte ja bei ihrem letzten Fall ein paar Blessuren davongetragen. Nachdenklich betrachtete sie ihre verbundene Hand: eine Schnittwunde. Selbst zugefügt, als sie eine große Scheibe eingeschlagen hatte.

Und das Veilchen hatte sie sich eingefangen, als der Mörder, gegen den sie ermittelte, sie überwältigt hatte. Beinahe hätten er und sein Partner sie umgebracht. Wenn Andreas Amendt nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen wäre. War das wirklich erst gestern gewesen?

»Na ja, es geht mich ja auch nichts an«, entschuldigte sich das Mädchen eilig.

Doch Katharina hatte eine Idee, für die sie sich gleich darauf schämte: Wie oft hatte sie schon in irgendwelchen Küchen, Schlafzimmern oder Wohnungsfluren gestanden – über eine Leiche gebeugt, der Mann oder der Freund der Toten in Handschellen im Streifenwagen, immer noch fassungslos von seiner eigenen Tat?

Dennoch war das der einzige Weg, das Mädchen zum Schweigen zu überreden. »Ja. Ich habe mich getrennt. Carlos hat das nicht so gut verkraftet und …« Sie deutete auf ihre Wange.

»Das kenne ich leider auch. Trennung ist da wirklich das Beste«, sagte das Mädchen mitleidig.

»Stimmt. Und deswegen will ich jetzt auch ein paar Wochen weg. Untertauchen, bis er sich beruhigt hat.«

Das Mädchen wandte sich dem Computer zu: »Dann wollen wir mal! – Doch, sechs Wochen sind kein Problem. Und Sie können auch vor Ort bequem verlängern, wenn Sie das wollen. Vollpension?«

Katharina bejahte.

»Also: Der Flug mit der Lufthansa geht morgen früh um sieben Uhr fünfunddreißig und –«

»Gibt es keinen früheren?«

»Oh je. Mal schauen.« Das Mädchen befragte wieder ihren Computer. »Also direkt nach Dar es Salam nicht … Oder, warten Sie, doch: Emirates Airlines mit einem Zwischenstopp in Dubai. Der Weiterflug ist aber die gleiche Maschine. Der geht um zehn nach neun, also in einer knappen Stunde. Das sollten Sie schaffen. Aber, Moment …«

»Ja?«

»Der Flieger ist fast ausgebucht. Da ist nur noch ein Platz in der ersten Klasse.«

»Was kostet das Ganze denn dann?«

Das Mädchen nannte ihr eine exorbitante Summe. Dennoch nicht mal ein Viertel dessen, was Katharina in ihrer Handtasche mit sich trug. Doch, das konnte sie sich leisten. »Den nehme ich!«

»Sehr schön.« Das Mädchen strahlte wieder. Kein Wunder, denn sie hatte vermutlich gerade eine fette Provision verdient. »Dann brauche ich Ihren Pass.«

Katharina gab ihn ihr und das Mädchen begann zu tippen.

»Gut, Frau Yamamoto …«

Frau Yama … Ach ja, richtig, ihr Tarnname. Katharina musste sich schnell daran gewöhnen, so genannt zu werden.

»Wie wollen Sie zahlen?«, fragte das Mädchen.

»Bar. Wenn Sie nichts dagegen haben.« Katharina öffnete ihre Handtasche, zog den Reißverschluss des Innenfachs auf und entnahm ein Bündel Geldscheine.

»Nein, nein. Das ist kein Problem«, das Mädchen wurde misstrauisch, »nur ungewöhnlich. Das ist doch kein …?«

Schnell, eine Ausrede! Katharina sagte das Erste, was ihr durch den Kopf schoss: »Nein, kein Falschgeld. Keine Sorge. Ich … nun ja, ich habe mich für das Veilchen gerächt und Carlos’ nagelneuen Porsche verkauft. Pech, wenn er ihn aus steuerlichen Gründen auf mich eintragen lässt.«

Das Mädchen stimmte mit einem verschwörerischen »Wir Frauen müssen zusammenhalten«-Grinsen zu: »Richtig. Pech.«

Katharina zählte den Betrag ab. Das Mädchen nahm das Geld und verschloss es in einer Kassette. Dann gab sie Katharina einen Umschlag mit ihren Reiseunterlagen. Katharina verstaute ihn in ihrer Handtasche und wollte aufstehen.

»Moment!« Das Mädchen durchsuchte die Regale, bis sie endlich drei Prospekte hervorzog, die sie Katharina reichte: »Damit Sie auch wissen, wohin Sie fliegen.« Tansania, Mafia Island … und ein Prospekt, der »Golden Rock. Das Paradies in der Brandung« betitelt war.

»Golden Rock ist das Resort. Sie werden einen echten Traumurlaub haben! Erholen Sie sich gut.«

Das Mädchen gab Katharina die Hand. Dann öffnete sie ihr die Tür. Katharina nahm ihr Gepäck und ging hinaus. Dann drehte sie sich noch einmal zu dem Mädchen um: »Ach ja, wenn jemand nach mir fragen sollte … vor allem ein mittelgroßer Südländer …«

»Jaja, die hitzigen Südländer. Ich kenne das. Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab.« Das Mädchen deutete an, wie sie einen Reißverschluss über ihrem Mund zuzog.

Grab. Dort konnte es für das Mädchen leicht enden. Ministro war bestimmt nicht besonders rücksichtsvoll bei der Informationsbeschaffung. Hoffentlich hatte er ihre Spur verloren.

***

Katharina ging mit zügigen Schritten los. Doch wohin musste sie eigentlich? Eine Anzeigetafel verriet es ihr: »Emirates Airlines Flug 2804. Dubai / Dar es Salam. Departure Time 21:10. Terminal 2. Gate 13.«

Terminal 2. Das bedeutete, das Gebäude zu wechseln. Frankfurt Airport, der Flughafen der kurzen Wege. Sie fuhr mit der Rolltreppe eine Etage nach oben zur Station der Skyline genannten Magnetbahn, die die beiden Terminals miteinander verband.

***

Am Bahnsteig stand bereits eine Bahn.

Ein Mann sah, wie Katharina ihre Schritte beschleunigte, und stellte den Fuß in die automatische Tür, damit sie noch einsteigen konnte. Er hob ihr auch die Reisetasche in die Kabine. Katharina bedankte sich. Der Mann winkte ab und wandte sich dann wieder seiner Begleitung zu, einer jungen Frau mit langen, blonden, gelockten Haaren. Hübsches, rundliches Gesicht. Auf der Nase das gleiche eckige Designer-Brillenmodell, das auch Katharina im Moment trug. Es passte eigentlich gar nicht zu dem Mädchen.

Das Blondlöckchen wuschelte ihrem Begleiter über die kurzen Haare: »Immer galant und hilfsbereit, Dirk-Marjan!«

Der Mann – schlank, Dreitagebart, dunkelblondes Haar, vielleicht ein bisschen zu bemüht, gut auszusehen – winkte ab: »Ach, du weißt ja, Kristina. Was du willst, dass man dir tut …«

Die Bahn setzte sich in Bewegung. Die Frau nutzte die Gelegenheit, die Balance zu verlieren und sich von ihrer Begleitung auffangen zu lassen.

»Hinein in deine starken Arme, mein Ritter!«, dachte Katharina und verkniff sich ein Lachen.

Der Mann stellte die Frau wieder aufrecht hin. Sie strahlte ihn an: »Danke. Und das mit dem Early Check-in ist eine prima Idee von dir. Dann brauchen wir uns morgen nicht so abzuhetzen und mit dem ganzen Gepäck abzuschleppen. Wusste gar nicht, dass das geht.«

»Na ja, ich mache das immer so, wenn es möglich ist.«

»Und du hättest wirklich keine zwei Einzelzimmer nehmen müssen. Wir sind doch gut genug befreundet.«

Wie? Die beiden waren kein Paar?

»Wir hätten uns wirklich ein Zimmer teilen können. Wo das Sheraton hier am Flughafen doch so teuer ist«, fuhr die Frau fort. Sie war einen kleinen Schritt an ihren Begleiter herangetreten, doch der reagierte nicht. Vielleicht schwul, dachte Katharina. Vom Aussehen her kam es hin.

»Ach, erstens kann ich mir das leisten. Und zweitens ist die Reise umsonst, wie du weißt«, antwortete er gönnerhaft.

»Und du hast wirklich noch immer keine Ahnung, wer dir die Tickets geschickt hat?«, fragte die Frau mit großen, staunenden, blauen Augen.

»Nein. War nicht mal ein Begleitschreiben dabei.«

»Das ist bestimmt ein Trick. Die sind bestimmt von einer schönen Frau, die dich auf eine einsame Insel locken will –«

»Kristina, du liest zu viele Krimis. – Ich wette mit dir: Da sucht ein Projekt Investoren. Vermutlich so eine neue Ferienanlage. Oder eines von diesen Timesharing-Modellen.«

Davon hatte auch Katharina schon gehört: Man investierte in eine Immobilie und konnte sie dafür einen Teil des Jahres nutzen.

Die junge Frau lachte eine Nuance zu laut: »Bist du denn so wohlhabend? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Nicht direkt, aber ich habe einige gute Aufträge in der Pipeline. Seitdem ist auch meine Bank ständig mit Investment-Plänen hinter mir her. – Aber ich habe bisher nur etwas Gold gekauft.«

Die junge Frau sah unwillkürlich auf den leeren Ringfinger an ihrer rechten Hand.

»Ach, können wir noch an einem Buchladen vorbei, wenn wir das Gepäck losgeworden sind?«, fragte sie viel zu fröhlich.

»Lass mich raten, Krimis kaufen?« Jetzt war es der Mann, der der Frau über die Haare strich. Es sah ein wenig grob aus, doch die Frau schloss die Augen und schmiegte sich in die Hand.

Dann ließ der Mann los. Gleichzeitig öffnete die Frau die Augen wieder: »Klar. Was denn sonst?«

***

Auf dem Skyline-Bahnsteig im Terminal 2 trennten sich ihre Wege. Der Mann hob Katharina noch die Tasche aus der Kabine, was die Frau mit einem verschwörerischen »Mein Ritter!« in Katharinas Richtung quittierte.

Katharina sah den beiden nach. Früher hatte sie Frauen immer belächelt, die unwillige Männer umschwärmten. Doch jetzt? Schließlich hatte sie sich ebenfalls in den falschen Mann verliebt. So was von falsch. Mörderisch falsch. Seufzend machte sie sich auf den Weg ins Terminal.

***

Am Fuß der Rolltreppe passierte sie eine Toilette: Genau, was sie jetzt brauchte. Rasch ging sie hinein. Der Raum war leer, keine Kabine besetzt. Sie sah sich um. Keine Videoüberwachung. Sehr gut.

Katharina schloss sich mit dem Kosmetikkoffer in einer Kabine ein und zog ihre Pistole aus der Manteltasche: Eine handgefertigte Stockert&Rohrbacher Modell 1, die ihr Antonio Kurtz zum Geburtstag geschenkt hatte. Auf dem Schlitten war das Wort »Killer Queen« eingraviert. Und auf dem Griff prangten zwei goldene Kerben für die beiden Drogendealer, die sie in Notwehr erschossen hatte. Und um ihren Partner Thomas zu rächen, der in der gleichen Schießerei ums Leben gekommen war. Dummerweise war einer der beiden Drogendealer Miguel de Vega gewesen. Sohn von Felipe de Vega. Und deshalb war sie jetzt auf der Flucht.

Rasch zerlegte Katharina die Waffe. Dann verstaute sie die Einzelteile sorgfältig in den dafür vorgesehenen Geheimfächern. Sie drapierte den Gurken-Vibrator so, dass er gut sichtbar obenauf lag. Das sollte lästige Nachfragen beim Zoll ganz schnell unterbinden. Dann schloss sie den Kosmetikkoffer sorgfältig ab und verließ die Kabine wieder.

Sie wusch sich vorsichtig die Hände, um den Verband nicht zu beschädigen und sah in den Spiegel. Im Neonlicht trat ihr Veilchen wirklich deutlich hervor. Komisch, das war ihr zu Hause gar nicht aufgefallen. Kein Wunder, dass die Blondmaus im Reisebüro seltsame Schlüsse zog. Rasch nahm sie ihre Puderdose aus der Handtasche und versuchte, die Schäden abzudecken. Besser als gar nichts.

Die Tür zur Toilette wurde aufgerissen. Katharina griff in ihre Manteltasche. Wo war …? Verdammt, ihre Waffe hatte sie eben zerlegt. Katharina stellte einen Fuß vor. Kampfposition. Ministro würde auch so sein blaues Wunder erleben.

Doch es kam nur eine Frau in die Toilette gestürmt. Sie rannte schnurstracks in eine Kabine, schlug die Tür zu, ließ den Riegel einschnappen.

»Nie wieder Fisch im Flugzeug!« Würgen. Erbrochenes, das in eine Kloschüssel platschte. Oh Gott, so fangen Katastrophenfilme an.

Katharina konnte nicht anders. Sie klopfte an die Kabinentür. »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?«

Einmal freundlich helfende Staatsmacht, immer freundlich helfende Staatsmacht. Polanski, der ihr immer vorwarf, sie sei zwar eine ausgezeichnete Ermittlerin, aber keine gute Polizeibeamtin, wäre stolz auf sie.

»Nein«, kam es zurück. »Jetzt ist alles draußen.«

»Wirklich nicht? Ich kann den ärztlichen Dienst rufen.«

»Wirklich nicht. Ist nur … morgendliche Übelkeit. Sie wissen schon. Verdammte Zeitverschiebung.«

Aha, die Frau war schwanger. »Ganz sicher?«

»Ganz sicher. Geht gleich wieder. Ich mache das schon eine Weile.« Wieder Würgen und Platschen. »Und das war das Abendessen. Das müsste es jetzt aber wirklich gewesen sein. Gehen Sie ruhig.«

»Okay.« Wenn die Frau es so wollte. Katharina nahm ihr Gepäck und verließ die Toilette. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Beine zitterten. Es ist keine Paranoia, wenn wirklich jemand hinter dir her ist …

***

Am Emirates-Schalter stand eine endlose Schlange. Verdammt. Hoffentlich schaffte sie das rechtzeitig. Aber …

Einer der Schalter war leer. Über dem Schalter stand »First Class«.

Doch! Damit war sie gemeint. Vergnügt spazierte sie an den neidischen Blicken der Wartenden vorbei, während sie den Umschlag mit den Reiseunterlagen hervorzog. Die Schönheit aus Tausendundeinernacht, die hinter dem Schalter stand, nahm Ticket und Reisepass entgegen, tippte auf ihrem Computer, sah Katharina wieder an und sagte etwas. Das Einzige, was Katharina verstand, war das Wort Yamamoto.

»Ich … äh … könnten Sie noch einmal …«

Der Blick der Schönheit kühlte ab. »Ich habe Sie gefragt, wo Sie sitzen möchten. Am Fenster oder am Gang?«

»Verzeihung, aber ich spreche kein Arabisch.«

»Ich hatte Sie auf Japanisch gefragt«, sagte die Schönheit hochnäsig.

»Oh!« Was jetzt? Okay, die ungefähr hundertste Notlüge an diesem Tag. »Ich spreche auch kein Japanisch. Ich … ich bin in Deutschland aufgewachsen.«

»Aha!«, sagte die Schönheit herablassend. »Also? Wo möchten Sie sitzen? Gang oder Fenster?«

»Fenster bitte.«

»Aber gerne«, kam es frostig zurück. »Stellen Sie bitte Ihr Gepäck auf das Band.«

Katharina gehorchte. Endlich gab die Schönheit ihr den Boarding-Pass, während ihre Reisetasche und der Kosmetikkoffer auf dem Laufband davonfuhren. Hoffentlich war beides jetzt nicht auf dem Weg nach Wladiwostok.

***

Passkontrolle, Sicherheitsschleuse, Gate, Boarding, Abflug – noch fünf Stationen bis zur Sicherheit!

Katharinas Herz schlug bis zum Hals, ihr Mund war trocken und ihre Hände feucht. Sie ging zielstrebig und schnell, ohne nach rechts und links zu schauen und –

Sie prallte gegen etwas, stolperte, fiel hin. Der Inhalt ihrer Handtasche ergoss sich über den Fußboden. Ein starker Arm packte sie.

Verdammt! Sie hatte nicht aufgepasst. Jetzt würde sie die Quittung bekommen: die Schärfe eines Messerstichs, den harten Schlag eines schallgedämpften Schusses, den Stich einer Spritze.

Doch eine sanfte Stimme neben ihr sagte nur: »Um Himmels willen, das tut mir leid.«

Der Mann, mit dem sie zusammengeprallt war, kniete neben ihr und fasste sie an der Schulter.

»Haben Sie sich wehgetan?« Er blickte sie besorgt an. Fein geschnittenes Gesicht. Graue Haare, gepflegter Vollbart. Freundliche graue Augen. Einen kurzen Augenblick stutzte Katharina, von einem Déjà-vu gepackt. Sie meinte, die Augen zu kennen. Doch woher? Sie musste sich täuschen.

Der Mann reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen: »Es tut mir wirklich entsetzlich leid. Wo habe ich heute nur meine Augen?«

»Kein Problem. Ich war ja auch abgelenkt.« Katharina bückte sich nach ihrer Handtasche. Die Prospekte und der Umschlag mit ihren Reiseunterlagen waren herausgerutscht. Und sonst noch ein paar Kleinigkeiten. Sie wollte alles wieder in die Tasche stopfen.

»Erlauben Sie?« Der Mann sammelte die Reiseprospekte auf, während Katharina hektisch die Kosmetikartikel und das Reserveset Unterwäsche verschwinden ließ. Beim Aufrichten stießen sie beinahe wieder gegeneinander. Katharina stolperte zurück, doch der Mann packte sie noch einmal am Arm und fing sie auf. Dafür, dass er nicht besonders groß war, war er ziemlich kräftig.

Der Mann reichte ihr die Prospekte und den Umschlag: »Sie fliegen nach Tansania? Mafia Island? – Eine Trauminsel! Ich bin übrigens auch –«

»Ja, ja, danke«, schnitt Katharina ihm das Wort ab. Sie nahm die Unterlagen und schob sie zurück in ihre Handtasche. Sie wollte endlich weitergehen.

»Guten Flug. Und Gott sei mit Ihnen.«

Erstaunt über diesen frommen Wunsch drehte sich Katharina noch einmal zu dem Mann um. Erst jetzt bemerkte sie, dass er unter seinem Jackett ein schwarzes Hemd mit Priesterkragen trug.

Er nickte ihr noch einmal zu: »Adeus!«

Dann ging er in Richtung der Rolltreppen davon.

Gute Figur, dachte Katharina unwillkürlich. Sie musste hysterisch kichern: Südländer. Mittelgroß. Und war »Ministro« nicht auch das spanische Wort für Priester? Katharina war sich sicher, dass der Mann nicht einmal Hölle, Feuer und Schwefel predigen konnte. Geschweige denn regnen lassen.

***

Die Schlange vor der Passkontrolle war kurz. Gott sei Dank. Die Uniform des Beamten hinter dem Schalter ließ Katharinas Herz wieder bis zum Hals schlagen. Bundespolizei! Wenn er sie nun erkannte? Doch er blickte nicht mal auf. Er nahm ihren Pass, blätterte, ohne darin zu lesen und reichte ihn zurück. »Guten Flug.«

Katharina dankte knapp und ging weiter.

Sie legte ihre Handtasche und den Mantel auf das Laufband der Sicherheitsschleuse. Dann ging sie durch den Metalldetektor, der nicht anschlug. Entsprechend behutsam wedelte sie der Mann hinter dem Detektor mit seinem Handprüfgerät ab und winkte sie weiter.

Sie trat an das Laufband hinter dem Röntgengerät. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine rote Lampe neben dem Schirm blinkte. Was war denn?

Eine Beamtin stoppte Katharinas Gepäck. »Tut mir leid, ich muss einen Blick in Ihre Handtasche werfen.«

Katharina wusste, dass jede Widerrede die Prozedur nur verlängern würde. Außerdem hatte sie nichts Kompromittierendes dabei. Oder doch?

Die Beamtin zog das Notebook hervor: »Würden Sie den Computer bitte kurz anschalten?«

Ach ja, richtig: Notebooks galten als gute Verstecke für Sprengstoff. Also nahm Katharina das Gerät aus seiner Hülle, klappte es auf und drückte eine Taste. Der Rechner erwachte zum Leben. »Auch einloggen?«

»Nicht nötig.«

Während Katharina den Computer abschaltete und zuklappte, warf die Beamtin noch einen kritischen Blick auf das Röntgenbild. Katharina beugte sich vor, um selbst zu sehen, was die Beamtin betrachtete: einen hellen Fleck am Boden der Handtasche. Hilfe, das hatte sie ja völlig vergessen.

»Warten Sie, ich kann das erklären.« Katharina griff in die Handtasche und öffnete zwei Sicherheitsnadeln; dann zog sie den eingelegten Boden der Handtasche hervor: zwei dünne Stoffbahnen, in die mehrere Reihen Bleigewichte eingenäht waren. Sie reichte den Boden der Beamtin, die ihn misstrauisch zwischen den Fingern drehte: »Was ist das denn?«

Ja, was? Am besten die Wahrheit. Na ja, die halbe Wahrheit. »Ein Bleiboden. – Wissen Sie, äh …?«

Mit einer kalkulierten Geste, die hoffentlich trotzdem zufällig aussah, wischte sich Katharina über das Gesicht. Sie hoffte, den eben aufgetragenen Puder abzuwischen und ihre Blessuren wieder zum Vorschein kommen zu lassen.

»Das ist so. Ich … mein Ex-Freund …«

Die Beamtin hob wissend die Hand: »Verstehe. – Ich hoffe, Sie haben dem Kerl mit der Handtasche ordentlich eins übergezogen.«

»Nein, ich –«

»Häusliche Gewalt ist kein Kavaliersdelikt, wissen Sie? Haben Sie Anzeige erstattet?«, fragte die Beamtin fürsorglich-streng.

»Nein, ich …« Katharina schämte sich. Genau diese Frage würde sie auch stellen.

»Das sollten Sie aber. – Warten Sie.« Die Beamtin zog ihre Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. »Die hier können Ihnen weiterhelfen.«

Eine Karte vom »Weißen Ring«. Katharina hatte solche Karten selbst schon oft verteilt.

»Aber Sie verstehen, dass Sie das hier nicht mit ins Flugzeug nehmen dürfen?« Die Beamtin hielt den Boden in die Höhe.

»Klar. Ich habe auch nur vergessen, ihn herauszunehmen. Könnten Sie …?«

»Natürlich.« Die Polizistin warf den Boden in einen bereitstehenden Container und wandte sich dem nächsten Fluggast zu.

***

»Meine Damen und Herren, eine Durchsage für den Flug Emirates Airlines 2804 nach Dubai und Dar es Salam: Leider verzögert sich das Boarding um etwa zwanzig Minuten. Wir bitten Sie um etwas Geduld und danken für Ihr Verständnis. – Ladies and Gentlemen, the boarding of flight Emirates Airlines 2804 …«

Verdammt! Noch eine Verzögerung!

Katharina zwang sich zur Ruhe. Sie war im Sicherheitsbereich des Flughafens. Die Dichte von mittelgroßen Südländern um sie herum hatte deutlich abgenommen. Sie nahm die unbequeme Brille ab und verbannte sie in die Handtasche. Vor einem spiegelnden Schaufenster zog sie die beiden Essstäbchen heraus, die ihren Haarknoten zusammenhielten. Sie schüttelte ihre Haare aus, dann band sie sich einen Pferdeschwanz. Das war doch gleich sehr viel bequemer.

Sie stutzte: War es leichtsinnig, jetzt schon so viel von ihrer Verkleidung abzulegen? Andererseits: Wer sollte sie hier noch erkennen?

***

»Guck mal, das ist ja Katharina!«

Katharinas Herz tat einen mächtigen Satz. Doch die Stimme war jung … und klang vertraut. Das war …

Laura! Tatsächlich! Das kleine Mädchen, das sie zehn Tage beherbergt hatte, nachdem ihre Mutter getötet worden war, kam freudestrahlend auf sie zugesprungen, ihren Vater, Tom Wahrig, an der Hand hinter sich her schleifend. Was machten die denn hier?

Katharina konnte trotzdem nicht anders. Sie ging in die Hocke und ließ zu, dass das Mädchen ihr um den Hals fiel. Schließlich hatten sie eine Menge miteinander erlebt. Und …

Wann hatten sie sich verabschiedet? Das war erst am Vormittag dieses Tages gewesen. Es kam Katharina wie eine Ewigkeit vor.

»Kommst du doch mit nach Brasilien?«, fragte Laura begeistert.

»Ach nein, Laura. Ich fliege wo anders hin.«

»Echt? Schade!« Laura schob traurig die Unterlippe vor. Katharina konnte es ihr nachfühlen. Sie würde das kleine Mädchen vermissen. Ihr Vater würde mit Laura nach Brasilien gehen, weg aus Frankfurt. Weg von den Erinnerungen an ihre ermordete Mutter. Es war sicher besser so. Aber Katharina hätte nie gedacht, dass sie sich so an ein Kind gewöhnen konnte.

»Wo fliegst du denn hin?«, wollte Laura wissen.

Fast hätte es Katharina verraten. Aber sicher war sicher: »Das kann ich dir nicht sagen. Das ist geheim. Du weißt doch, ich bin …«

»Polizistin!«, rief Laura, bevor Katharina ihr den Finger auf den Mund legen konnte. Sie sah sich besorgt um, aber niemand nahm Notiz von ihnen.

»Und da muss man manchmal Dinge machen, die niemand wissen darf«, erklärte sie dem Mädchen.

»Schon klar«, sagte Laura mit der endlosen Weisheit einer fast Fünfjährigen. »Kommst du uns besuchen?«

»Das habe ich dir doch versprochen. Sobald ich Zeit habe.«

Tom Wahrig räusperte sich: »Laura, unser Flug …«

Katharina nahm Laura fest in den Arm. Das Mädchen erwiderte die Umarmung. Endlich ließen sie einander los.

Laura nahm ihren Vater wieder an die Hand und winkte noch einmal über die Schulter.

Katharina winkte zurück. Sie sah ihnen nach, bis sie in der Menge verschwunden waren. Sie würde Laura besuchen. Doch, ganz bestimmt.

***

Wie es der Zufall wollte, befand sich die Emirates-Lounge direkt gegenüber von Katharinas Gate, bewacht von einer ganzen Armada von bulligen Sicherheitskräften.

Katharina ließ sich in einen Sessel fallen: ihre erste echte Ruhepause an diesem Tag. Vielleicht sogar seit zwei Wochen. Seit ihr Leben langsam, aber sicher aus dem Ruder gelaufen war.

Sie sah auf die Uhr: kurz vor neun. Vor vierzehn Tagen um diese Uhrzeit hatte sie verzweifelt zu Hause auf ihrem Sofa gesessen. Polanski, ihr Chef, hatte sie eben nach Hause gebracht. Gegen ihren Willen. Thomas, ihr langjähriger Partner und bester Freund, war keine vier Stunden zuvor getötet worden. Und sie selbst hatte zwei Menschen erschossen. Drogenhändler, die einen Kollegen und vier Jugendliche als Geiseln genommen hatten.

So hatte es begonnen. Und dann war das Schicksal auf den Geschmack gekommen. Hatte mit dem Hammer auf ihr Leben eingeschlagen. Immer und immer wieder. Bis nichts als ein Scherbenhaufen übriggeblieben war: Vor vierzehn Tagen war sie Kriminalhauptkommissarin im KK 11 gewesen, dem Frankfurter Kommissariat für Kapitalverbrechen. Vielleicht nicht die beliebteste Kollegin, aber die erfolgreichste. Und dann hatten sie und ihr Partner ausgerechnet an diesem Nachmittag den Entschluss gefasst, Karten für die Oper zu kaufen. Dabei mochte Katharina die Oper eigentlich gar nicht. Aber Thomas hatte sie gebeten mitzukommen. Damit seine Frau sie besser kennenlernen konnte; sie war immer eifersüchtig auf Katharina gewesen.

Ausgerechnet im Parkhaus an der Oper, diesem Palast der Spießbürgerlichkeit, mussten sie in eine Geiselnahme geraten. Miguel de Vega hatte Thomas erschossen. Katharina dafür ihn. Und so hatte es begonnen: Ein Kollege hatte Katharina angeschwärzt, sie hatte sich einer Mordanklage gegenübergesehen und war vom Dienst suspendiert worden.