Damenopfer - Helmut Barz - E-Book

Damenopfer E-Book

Helmut Barz

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Beschreibung

"Ich bin wirklich stolz darauf, die Sonderermittlungseinheit sowie das Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin offiziell eröffnen zu dürfen. Aus diesem Anlass möchte ich ihnen gleich den ersten Fall übergeben." Mit diesen Worten erschießt sich Jan-Ole Vogel, Justizminister des Landes Hessen und der Rockstar seiner Partei. In aller Öffentlichkeit. Vor den Kameras der versammelten Medien. Doch warum? Katharina Klein und Andreas Amendt ermitteln – und geraten selbst ins Kreuzfeuer von Politik und Medien. Denn sie kommen einem medizinischen Skandal auf die Spur – und einer Verschwörung, die bis in die höchsten Kreise der Regierung reicht … Frankfurts chaotischste Kriminalpolizistin ist zurück: Katharina Klein liebt Oldtimer, Schusswaffen – und noch immer den völlig falschen Mann. Auch als Kriminaldirektor und Leiterin einer neuen Sonderermittlungseinheit verbeißt sie sich in ihre Ermittlungen, bis sie die Täter zur Strecke gebracht hat – selbst, wenn sie damit eine solide Staatskrise auslöst.

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Impressum

edition coeurart

Helmut Barz

Blumenstraße 52

63069 Offenbach am Main

www.helmut-barz.de

Lektorat, Korrektorat dieser Ausgabe:

Vanessa Heinisch, Christiane Barz

Satz, Gestaltung, Cover:

Helmut Barz,basierend auf einem Design von Markus Drapatz/Suttonverlag

Veröffentlichung über:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Veröffentlichung (auch auszugsweise), öffentlicher Vortrag, Übertragung in andere Medien nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors.

Dieses Buch wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Für etwaige Fehler oder gesundheitliche Folgen (etwa durch geraubten Nachtschlaf) übernimmt der Autor keine Haftung.

Copyright © Helmut Barz 2015, 2019

Inhaltsverzeichnis
Die Katharina-Klein-Krimis von Helmut Barz
Weitere Titel von Helmut Barz
Impressum
»Zehntausend unerkannte Morde!«
Kapitel 01: Eröffnungszug
Sonntag, 6. April 2008
Kapitel 02: Damengambit
Weiterhin Sonntag, 6. April 2008. Fühlt sich aber eher nach Montag an
Kapitel 03: Beratungspartie
Der Uhrzeit nach Montag, aber gefühlt noch immer Sonntag, 6. April 2008
Kapitel 04: Rochade
Montag, 7. April 2008 Montag. Natürlich Montag
Kapitel 05: Früher Tempoverlust
Montag, 7. April 2008 Soweit ein echter Montag.
Kapitel 06: Mantrin
Montag, 7. April 2008. Weiterhin.
Kapitel 07: Hineinziehung
Noch immer Montag, 7. April 2008. Nimmt dieser Tag denn nie ein Ende?
»Aus diesem Anlass möchte ich ihnen gleich den ersten Fall übergeben.«
Kapitel 08: En Passant
Dienstag, 8. April 2008. Hoffentlich besser als der Montag.
Kapitel 09: Positionsspiel
Weiterhin Dienstag, 8. April 2008. Dienstage sind übrigens dem nordischen Gott des Kampfs und Siegs gewidmet.
»Exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei ist nicht hinnehmbar und durch nichts zu entschuldigen.«
Kapitel 10: Entwicklung
Mittwoch, 9. April 2008. Der Mittwoch gilt in manchem Volksglauben als Unglückstag.
»Lionshare BioPharm – Erfolgsunternehmen oder politische Kaderschmiede?«
Kapitel 11: Zugzwang
Donnerstag, 10. April 2008.
»Absalom Schmitz: Weltenretter oder Schwerverbrecher?«
Kapitel 12: Gardez!
Freitag, 11. April 2008. Wenigstens nicht der Dreizehnte.
Kapitel 13: Überraschendes Fluchtfeld
Samstag, 12. April 2008. Tag des Saturns.
Kapitel 14: Immergrüne Partie
Sonntag, 12. April 2008. Sonntag – Ruhetag.
Die Liebe hat gesiegt
Kapitel 15: Familienschach
Montag, 14. April 2008. Sonntag – Ruhetag.
»Jan-Ole Vogel war mein Sohn!«
Kapitel 16: Endspiel
Dienstag, 15. April 2008. Also eigentlich schon Mittwoch, 16. April. Langer Tag. So oder so.
Kapitel 17: Damenopfer
Nun aber wirklich Mittwoch, 16. April 2008.
»Nach reiflicher Überlegung und langer Beratung mit meiner Frau und meinen Kollegen …«
Kapitel 18: Schachmatt
Freitag, 18. April 2008. Freitag. Tag der Buße.
Was nun, Herr Ministerpräsident?
Kapitel 19: J'adoube
Noch immer Freitag, 18. April 2008. Aber eigentlich ist das jetzt unerheblich.
Remis? Revanche?
Ein Nachwort

»Goodbye to you all on the count of three. Please make sure that the sacrifice of my life is not in vain.«

Bud Dwyer

»There is no happiness in Chess.«

»Zehntausend unerkannte Morde!«

Das entrüstet-dräuende Tremolo der Moderatorin bringt die Lautsprechermembrane zum Erbeben. »Diese Schlagzeile schockierte Deutschland vor einigen Monaten. Schuld sind, darin sind sich die Experten einig, mangelhaft ausgebildete, schlampig arbeitende Ärzte, unerfahrene Ermittler und an den Rand der Arbeitsunfähigkeit zusammengesparte rechtsmedizinische Institute. – Willkommen bei ›Hessen live‹, dem Morgenmagazin auf Radio Hessen mit Mona …«

»… und Lisa!«, piepst eine jüngere Stimme unangemessen fröhlich. »Es ist jetzt sieben Uhr und sechs Minuten. – Der Volksmund sagt: Wenn auf dem Grab jedes Ermordeten eine Kerze brennen würde, wären unsere Friedhöfe nachts taghell erleuchtet. Ist das wirklich so? Und wie will das Land Hessen diesem Missstand begegnen?«

»Über diese Fragen wollen wir mit unseren ersten Gästen heute Morgen sprechen«, übernimmt wieder die erste Moderatorin das Wort, ihr Tremolo so drohend, als wolle sie besagten Gästen Daumenschrauben anlegen. »Telefonisch zugeschaltet ist dazu die kriminalistische Leiterin der neu gegründeten Sonderermittlungseinheit eins Frankfurt am Main, Kriminaldirektorin Katharina Klein. – Frau Klein, guten Morgen.«

»Guten Morgen.«

»Und auf der anderen Leitung begrüße ich Doktor Andreas Amendt«, piepst die jüngere Moderatorin. »Chefarzt des Institutes für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin.«

»Guten Morgen. – Wenn ich Sie gleich einmal korrigieren darf –«

»Herr Doktor Amendt, verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche«, aus dem Piepsen wird ein begeistertes Tschilpen, »Aber ›okkulte Pathologie‹: Das bedeutet doch nicht, dass Sie sich mit Teufelsaustreibungen befassen, oder?«

»Nur in Ausnahmefällen«, nimmt der Angesprochene souverän den Ball auf. »Okkult heißt verborgen, und eine Aufgabe des Institutes wird es sein –«

Die erste Moderatorin stoppt ihn robust: »Herr Doktor Amendt, zehntausend Morde: Ist diese Zahl überhaupt realistisch? Und wenn ja, wie werden Sie in Ihrem Institut in Zukunft dieses Thema adressieren?«

»Nun, wie ich gerade schon ausführen wollte …« Der Interviewte zögert, als erwarte er eine erneute Unterbrechung. »Diese Zahl ist natürlich viel zu hoch gegriffen. Wir sprechen von zehntausend Todesfällen, bei denen eine eigentlich indizierte Obduktion nicht vorgenommen wurde. Darunter finden sich schätzungsweise tausendzweihundert bis tausendfünfhundert Tötungsdelikte. Bei etwa zweitausenddreihundert erkannten vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten im Jahr 2007 also eine Dunkelziffer von sechzig Prozent. Was sicher immer noch zu hoch ist.«

»Aber –«, beginnt das Moderatorentremolo, doch die jüngere Stimme ist schneller: »Und die restlichen neuntausend?«

»Bei diesen Fällen geht es vor allem darum, die eventuell unter etwas oberflächlichen Bedingungen festgestellte Todesursache zu verifizieren, also nicht nur Tötungsdelikte auszuschließen, sondern auch ansteckende Erkrankungen oder Vergiftungen, etwa durch Umwelteinflüsse.«

Mit Macht reißt das Tremolo das Wort wieder an sich: »Gerade im Rahmen der eingangs zitierten Schlagzeile las man ja immer wieder von Fällen, bei denen der Hausarzt auf Herzanfall erkannte und erst der Bestatter das Messer im Rücken des Toten entdeckte. Herr Doktor Amendt, gibt es solche Fälle wirklich? Und wenn ja: Wie wird Ihr Institut sie in Zukunft verhindern?«

»Ja, solche Fälle kommen vor, leider. Allerdings auch nicht allzu häufig, das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die Qualität der sogenannten äußeren Leichenschau, die bei jedem Verstorbenen vorgenommen wird, sehr stark schwankt. Das liegt zum einen an einer nicht immer gewissenhaften Ausführung: So wird zum Beispiel aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen oder weil man es mit einer sogenannten Ekelleiche zu tun hat, die bereits stark verwest ist, auf das vollständige Entkleiden verzichtet. Aber ebenso problematisch ist die mangelnde Ausbildung von Ärzten. Fortbildungen in der Leichenschau werden sicher einen Schwerpunkt unserer Tätigkeit bilden.«

»Herzlichen Dank, Herr Doktor Amendt.« Die Enttäuschung des Tremolos über diese so souveräne wie nichtssagende Antwort ist deutlich zu hören. »Frau Klein! Die deutsche Kriminalpolizei rühmt sich einer Mordaufklärungsquote von über fünfundneunzig Prozent. Ist das angesichts der von Doktor Amendt erwähnten großen Dunkelziffer gerechtfertigt?«

Kurzes Zögern, dann: »Wir können nur ermitteln, wenn wir zumindest einen Anfangsverdacht haben. Jeden Todesfall unter die Lupe zu nehmen, dazu fehlen uns die Kapazitäten, und das wäre auch sicher nicht im Sinne der Bevölkerung.«

»Aber hat nicht gerade die Bevölkerung ein Recht –?«

»Dingdong«, fällt ihr die Interviewpartnerin sarkastisch ins Wort. »Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei, haben Sie zufällig Ihren Großvater umgebracht?«

»Ich verstehe«, erwidert das Tremolo säuerlich.

»Frau Klein ist übrigens eine sehr verdiente Kriminalbeamtin mit einer Aufklärungsquote von hundert Prozent.« Die jüngere Moderatorin platzt fast vor Stolz ob ihres Fachwissens.

Dankbar, über eines ihrer Lieblingsthemen sprechen zu können, greift das Tremolo das Stichwort auf: »Mit dreiunddreißig ist Katharina Klein die jüngste Kriminaldirektorin in Hessen und zudem eine der wenigen Frauen im höheren Polizeidienst. – Frau Klein, wie beurteilen Sie die Situation von Frauen bei der Polizei? Wären Sie für die konsequente Durchsetzung einer Frauenquote? Und was werden Sie zur Förderung von Frauen in Ihrer Sonderermittlungseinheit tun?«

Kurzes Papiergeraschel, dann die abgelesene Antwort: »Wir werden natürlich auch in der Sonderermittlungseinheit die Richtlinien der hessischen Landesregierung zur Förderung und Gleichstellung der Frau umsetzen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen ja, dass diese Maßnahmen greifen.«

»Mehr nicht?« Das Tremolo vergisst vor lauter Enttäuschung sogar das Betroffenheitsbeben.

»Natürlich bin ich für eine Quote«, kommt die knurrende Antwort. »Ich werde mich bemühen, zu einhundert Prozent qualifizierte Mitarbeiter einzustellen. Das Geschlecht sollte dabei zweitrangig sein.«

»Natürlich.« Im bittersüßen Tonfall des Tremolos kann man den Ball geradezu ins Aus rollen hören. »Aber da wir gerade davon sprechen: Sie sind als Halbjapanerin jemand, den das Innenministerium ein ›gelungenes Beispiel für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund‹ nennt –«

»Meine Mutter war Koreanerin«, wird sie schroff zurechtgewiesen, »und außerdem Professorin an der Frankfurter Universität. Ich bin in Frankfurt geboren und aufgewachsen. Ich glaube nicht, dass ich besonders integriert werden musste.«

»Natürlich. Verzeihung. Aber stimmen Sie nicht trotzdem der Politik von Innenminister Hanfried de la Buquet zu, der hinsichtlich der hohen Kriminalitätsrate von Menschen mit Migrationshintergrund gerade im Bereich Gewalt gegen Frauen mehr Beamte mit Migrationshintergrund einstellen will?«

»Das ist sicher eine sinnvolle Maßnahme. Allerdings ist meine Erfahrung auch, dass Gewalttäter aus allen Bevölkerungsschichten stammen. Alles andere ist Panikmache und billige Hetze.«

»Das ist schon fast ein schönes Schlusswort«, übernimmt die jüngere Moderatorin. »Jetzt fehlt nur noch der Hinweis, dass das ›Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin‹ sowie die Sonderermittlungseinheit heute mit einem Festakt eröffnet werden – und zwar um dreizehn Uhr in der Karl-Kreutzer-Villa am Schaumainkai 71. Danach sind die Räumlichkeiten im Rahmen eines Tags der offenen Tür für die Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem wird es ein umfangreiches themenbezogenes Rahmenprogramm geben. – Herr Doktor Amendt, das bedeutet aber nicht, dass Sie nachher noch eine Leiche aufschneiden, oder?« In der Stimme der Moderatorin mischen sich Abscheu und morbide Neugier.

»Nein, natürlich nicht. Wir werden eher allgemeine Einblicke in unsere Arbeit geben. Und die Einheit von Frau Klein … – Aber das erzählt sie am besten selbst.«

»Was? – Ach ja, wir werden an einem kleinen Beispiel zeigen, wie die Kriminaltechnik einen Tatort absichert und untersucht, welche Fragen wir uns stellen und so weiter.«

»Gut, dann sehen wir uns heute um dreizehn Uhr am Schaumainkai 71«, verkündet die jüngere Moderatorin vergnügt. »Herzlichen Dank an unsere telefonischen Gäste: Kriminaldirektorin Katharina Klein und Doktor Andreas Amendt. – Und jetzt U2 mit ›Sunday, Bloody Sunday‹.«

***

Eröffnungszug

Sonntag, 6. April 2008

»No Chess Grandmaster is normal; they only differ in the extent of their madness.«

Viktor Korchnoi

Mittagszeit. Strahlender Sonnenschein. Auf dem Gelände einer altehrwürdigen Mainufer-Villa.

Keine falsche Bewegung!

Keinen Schritt weiter!

»Das Gesamtbild im Blick, mit Fokus auf das Detail, das ist, wie ich auch Kriminaldirektorin Klein für ihre neue Aufgabe mitgeben möchte …«

Katharina blickte artig auf, als sie ihren Namen aus dem Mund des Polizeipräsidenten Karl Ernst Drechsel hörte.

Ein Fehler! Als hätte die wacklige Stufe aus unbehauenem Stein, auf der Katharina stand, nur auf diesen Moment der Unaufmerksamkeit gelauert, gab sie ein wenig nach und Katharina wäre fast gestürzt.

»… der Kern erfolgreicher kriminalistischer Arbeit. Es wäre mir nie gelungen …« Der Polizeipräsident hatte in seinem Redefluss nicht mal innegehalten. Gut. Er hatte Katharinas Malheur nicht bemerkt.

Sie spannte ihre Muskeln an und bewegte sich ganz langsam ein kleines Stück zur Seite. Etwas besser. Aber der Boden unter ihr schwankte noch immer.

Anderthalb Stunden schon.

In der prallen Sonne.

Balancierend am Rande des Abgrunds.

Und kein Ende in Sicht.

Reden. Grußworte. Danksagungen.

Nun also der Polizeipräsident mit seiner »Keynote«, wie das Programm großsprecherisch verkündete. Gespickt mit kriminalistischen Glückskeksweisheiten, wie zum Beispiel diese: »Wir dürfen niemals nachlassen, niemals aufgeben. Und unsere Ressourcen stets im Sinne der Sicherheit des Steuerzahlers einsetzen.«

Katharina bekam von der verdrehten Grammatik Kopfschmerzen. Doch viele ihrer Kollegen notierten Drechsels Weisheiten auf Zetteln, die sie über ihren Schreibtischen an die Wand pinnten – für den Fall, dass sich seine Hoheit doch einmal in ihre Büros verirrte.

Katharina hatte es auch ohne solche Mätzchen geschafft: Kriminaldirektorin mit gerade mal dreiunddreißig Jahren. Leiterin einer eigenen Einheit.

So stand es zumindest auf dem Papier. Die Realität sah anders aus: weggelobt. Auf Gedeih und Verderb mit dem Mann zusammengeschweißt, der neben ihr auf dem Treppenabsatz stand und den sie sich nicht einmal anzusehen traute.

Sie würde sich an Andreas Amendt festhalten müssen, wenn die Stufe endgültig nachgab. Ihn mit in den Abgrund reißen. Wie symbolträchtig!

Zwei Schweißperlen rannen langsam Katharinas Rücken hinab und hinterließen eine juckende Spur.

Warum war sie an diesem Morgen nur auf die blöde Idee gekommen, ausgerechnet ihren Nadelstreifen-Anzug anzuziehen? Und dazu noch Schuhe mit Absätzen? Sie würde sich auf der lockeren Stufe den Hals brechen. Aber sie durfte den Platz nicht wechseln: Die Fernsehteams und die diversen Protokollchefs der anwesenden Politiker hatten in zähen Verhandlungen alle Anwesenden malerisch auf der alten – und baufälligen – Treppe positioniert, die zum Portal der Karl-Kreutzer-Villa emporführte.

Katharina war die subtile Machtdemonstration nicht entgangen. Die Politiker und die Vertreter der Sponsoren saßen natürlich auf bequemen Stühlen, im kühlen Schatten, während Katharina und ihr Team stehen mussten, in der für die Jahreszeit viel zu heißen, stechenden Sonne.

In der Mitte das Rednerpult. Dahinter Polizeipräsident Drechsel, der in seiner gut gefüllten Uniform und mit seinem Schnauzbart aussah, als hätte Super-Mario den Verlust seiner Prinzessin mit viel zu viel Pasta gefeiert und anschließend den Beruf gewechselt. Er schwadronierte mittlerweile vom »Bahnhofsviertel-Ripper«. Seinem großen Fall. Damals in den Achtzigern, als er für ungefähr fünf Sekunden Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen gewesen war – nur eine Zwischenstation auf seinem Weg die Karriereleiter empor.

Endlich hatte Katharina einen halbwegs stabilen und bequemen Stand gefunden und senkte den Blick zu Boden. Als Schutz gegen die Sonne und die neugierigen Augen der Kameras. Doch …

Die Haare in ihrem Nacken wollten sich aufstellen. Ihr Rücken kribbelte. Nein, das waren keine weiteren Schweißperlen, die sie in den Wahnsinn treiben wollten. Das war ihr Jagdinstinkt. Warum schlug er ausgerechnet jetzt an?

Gut, es hatte sich auch Politprominenz zur Eröffnung der Sonderermittlungseinheit verirrt. Aber das Anschlagsrisiko sollte der Personenschutz des BKA doch im Griff haben, oder?

Prüfend ließ Katharina den Blick über das Publikum schweifen, das sich auf dem Platz vor der Villa versammelt hatte. Mehrere Fernsehteams mit Kameras. Journalisten, die ihr Diktafon in die Höhe reckten. Fotografen, ihre Kameras schussbereit.

Und jede Menge Frauen. Wie immer, wenn er irgendwo sprach: Jan-Ole Vogel. Minister des Landes Hessen für Justiz, Integration und Europa. Rockstar der liberalen Partei. Schwarm aller Frauen jenseits der fünfunddreißig. Und für heute der letzte Redner. Der Höhepunkt.

Stopp, was wollte sie noch? Ach ja! Risiko-Assessment in einer heterogenen Menschenansammlung! So zumindest war der Fachartikel im »Kriminalist« überschrieben, der jahrzehntelange Polizeierfahrung in die Sprache der PowerPoint-Generation übersetzt hatte. Der Autor des Artikels hatte es sich nicht nehmen lassen, zur Illustration seiner Gedanken ein »Wo ist Walter?«-Wimmelbild abzudrucken.

Also: Medienvertreter, viele Frauen, mal mit, mal ohne IKEA-einkaufsgestählten, beziehungsoptimierten Begleiter. So weit, so gut. Wo war das Element, das nicht ins Bild passte? Wo war Walter?

Weiter hinten hielt ein vereinzelter Demonstrant stolz ein Schild hoch: »Gegen Polzeistatt und Überwachsungswann!«

Rechtschreibung hielt er vermutlich auch für einen faschistoiden Auswuchs. Rechts und links von ihm standen bereits Männer mit kurzgeschorenen Haaren und dunklen Anzügen: Beamte aus der Politiker-Leibgarde. Sollte der Demonstrant Grund für Katharinas inneren Alarm gewesen sein, war also alles in bester Ordnung.

Sie warf noch einen letzten prüfenden Blick in die Runde, ließ ihn auch über die Bäume und die Mauerkrone zum Nachbargrundstück schweifen. Nichts Auffälliges. Ihr Jagdinstinkt musste sich getäuscht haben. Sie wollte sich wieder dem Geduldsspiel widmen, auf ihrer Wackelstufe eine etwas bequemere Stellung zu finden, doch ihr Nacken kribbelte noch immer. Stärker als zuvor.

Jemand beobachtete sie.

Nein. Nicht irgendjemand.

Jan-Ole Vogel!

Kein Wunder, dass man ihn den Richard Gere der hessischen Landespolitik nannte: hochgewachsen, schlank, schmale Hüften, breite Schultern – eine Schwimmerfigur, die er selbst leger auf seinen Stuhl gegossen nicht verbergen konnte. Die sorgsam manikürten Hände, die hin und wieder nachdenklich über das graumelierte, volle Haar strichen. Das markante Kinn. Die hohen Wangenknochen. Die geschwungenen Lippen. Der graue Maßanzug mit farblich abgestimmtem Hemd, Krawatte, Einstecktuch.

Und dann natürlich dieser Blick aus seinen eisgrauen Augen, den die Kameras ebenso liebten wie die Frauen im Publikum: klar, manchmal stechend, doch immer umflort von einem leichten Hauch von Tragik; vieles gesehen, vieles vergeben, doch nichts vergessen.

Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dachte Katharina, dass er von allen anwesenden Frauen ausgerechnet mich ansieht. Aber das war kein Flirtblick. Das war der Blick des Schachgroßmeisters, bevor er den nächsten, den entscheidenden Zug machte.

Jan-Ole Vogel galt als brillanter Schachspieler. Seine ELO-Zahl bewegte sich angeblich in Meister-Nähe. Katharina hatte einmal gegen ihn gespielt. Auf einem dieser unsäglichen Charity-Events, die der Polizeipräsident in regelmäßigen Abständen aus dem Boden stampfen ließ.

Vogel war simultan gegen die zehn besten Schachspieler des Frankfurter Polizeipräsidiums angetreten. Michael Phelps gegen die zehn besten Schwimmer der Sahara. Katharina war stolz darauf gewesen, dass es ihr immerhin gelungen war, ein Remis herauszuspielen.

Hatte Vogel sie damals auch so gemustert – in der Endphase ihres Spiels? Und jetzt? Taxierte Vogel sie wirklich? Oder war das nur ihre berufsbedingte Paranoia? Vielleicht wusste Vogel ja einfach nur nicht mehr, wo er noch hinsehen sollte. Und zugegeben, sie war ein attraktiverer Anblick als der Polizeipräsident.

Nun denn, es gab eine ganz einfache Möglichkeit, herauszufinden, warum Vogel sie ansah. Sie richtete ihrerseits den Blick auf den Minister. »Spielst du auch Poker, Vogel? Ich habe gesehen, dass du mich ansiehst. Na, welches Blatt hast du, Vogel? Ich will sehen!«

Vogels Reaktion überraschte Katharina. Er nickte ihr freundlich zu.

»Sicherheit ist der Anspruch, den alle Bürgerinnen und Bürger haben, das Supergrundrecht, wenn Sie so wollen, gegenüber dem andere Rechte zurücktreten müssen, wenn es die Lage erfordert«, trompetete der Polizeipräsident in diesem Augenblick.

Zorn flammte in Vogels Augen auf. Als engagierter Liberaler war der Justizminister schon häufiger mit dem Polizeipräsidenten und seinem Lieblingsfeind, dem Innenminister, aneinandergeraten, wenn diese wieder einmal die bürgerlichen Freiheiten im Namen der Sicherheit mit Füßen traten.

Vogel fasste sich rasch wieder. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem spöttischen Grinsen, er deutete mit einem kleinen Kopfnicken zu dem gedrungenen Mann am Rednerpult und verdrehte die Augen. Katharina hielt rasch die Luft an, um den Lachanfall zu unterdrücken. Der kleine Ruck reichte aus, um die wackelige Stufe unter ihr erneut zum Schwanken zu bringen. Nur mit Mühen gelang es Katharina, sich zu fangen.

Selbst der Polizeipräsident hatte die Unruhe bemerkt und warf ihr einen tadelnden Blick zu. Katharina hob rechtfertigend die Schultern und deutete auf die Stufe. Sie glaubte nicht, dass der Polizeipräsident verstand, doch er war offenbar zufrieden, sich Respekt verschafft zu haben, und fuhr in seiner Rede fort.

Vogel formte mit seinen Lippen lautlos ein »Entschuldigung!«. Dann senkte er wieder den Blick auf den kleinen Aluminiumkoffer auf seinem Schoß.

Vielleicht hat er in dem Koffer sein Pausenbrot, dachte Katharina sehnsüchtig. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Der Polizeipräsident war inzwischen beim Höhepunkt der Ermittlungen gegen den »Bahnhofsviertel-Ripper« angekommen. Bei dem Tatzeugen, den man nur durch »umfänglichste kriminalistische Arbeit« hatte aufspüren können und dessen Identität durch »energischste Bemühungen meiner Person« hatte geheim gehalten werden können. »Bis zum heutigen Tag!«, wiederholte Drechsel gleich mehrfach. »Bis. Zum. Heutigen. Tag!«

Dann die dramatische Festnahme, bei der er, Drechsel, »von meiner Schusswaffe habe Gebrauch machen müssen. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben!«

Der Polizeipräsident schnaufte, als hätte er eben erst die noch rauchende Pistole zurück in das Holster gesteckt. Dann fuhr er fort: »Zusammenfassend möchte ich daher sagen …«

***

»Und das soll uns für die Zukunft Lehre und Leitsatz sein, auch und gerade in der Sonderermittlungseinheit, die wir heute eröffnen«, kam der Polizeipräsident nach weiteren endlosen Minuten zum Ende. »Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!«

Katharina hätte um ein Haar vor Erleichterung laut aufgeseufzt.

Während der Polizeipräsident wieder umständlich auf seinem Stuhl Platz nahm, erhob sich Jan-Ole Vogel. Er trat gemessenen Schrittes an das kleine Rednerpult, legte seinen Aktenkoffer vor sich und ließ die Schlösser aufschnappen, öffnete ihn aber nicht.

Als er anhob zu sprechen – seine Stimme natürlich ein sonorer Bariton –, verstummte die Menge andächtig.

»Sehr geehrte Damen und Herren!« Die so angesprochenen Damen reckten sich gleich und betonten vorteilhaft ihre Figuren, während die Herren in ihrer Begleitung den Stich von Eifersucht weglächelten.

»Sehr geehrter Herr Innenminister!« Vogel würdigte den Angesprochenen keines Blickes. Er und Hanfried de la Buquet waren Todfeinde, durch eine Koalition dazu verdammt zusammenzuarbeiten. In ihrem aktuellen Streit hatte Vogel den Innenminister als »faschistoiden Undemokraten, dessen Amtseid auf die Verfassung den Straftatbestand des Meineids erfüllt« bezeichnet. De la Buquet hatte sich revanchiert, indem er Vogel als »idealistischen Träumer, der auch den revolutionärsten Sozi links überholt« beschimpft hatte. Der Landtagspräsident hatte die beiden daraufhin als »Hessens Pat und Patachon« tituliert, was wiederum das Führungsduo der Landtagsfraktion der Alternativen aufbrachte, die diesen Spitznamen bereits für sich beanspruchten.

Der Vergleich mit Pat und Patachon war nicht ganz von der Hand zu weisen. Vogel war so groß und schlank wie der Innenminister klein und – höflich ausgedrückt – untersetzt war. Wo Vogel Eleganz, Finesse und Charme versprühte, setzte der Innenminister auf Pomp und »das direkte Wort, das man in Hessen pflegt«, das außerhalb der Landesgrenzen jedoch gerne als Kriegserklärung aufgefasst wurde. Jetzt wühlte er missmutig mit den Fingern in seinem langen, buschigen Bart, der ihm den Spitznamen »Máximo Líder« eingetragen hatte.

»Werte Frau Oberbürgermeisterin!« Vogel schenkte Walpurga Grüngoldt einen seiner Blicke, der die robust gebaute Mittfünfzigerin beschämt zu Boden blicken ließ wie ein Schulmädchen.

»Sehr geehrter Herr Polizeipräsident!« Vogels Stimme bekam etwas Schneidendes. Karl Ernst Drechsel war nicht gerade ein Freund des Ministers.

»Lieber Herr Professor Schnitzer!«, begrüßte Vogel nun den Direktor der Universitätskliniken Frankfurt am Main, einen untersetzten, kleinen Mann mit pathologisch guter Laune.

»Sehr geehrter Doktor Burgholzer!«, fuhr Vogel in seiner Begrüßungsarie fort, und das mit einer Freundlichkeit, die so gar nicht zu der menschgewordenen Bulldogge passen wollte, an die sich dieser Gruß richtete. Burgholzer war der Generalstaatsanwalt Hessens. Vogel hatte ihn auf diesen Posten befördert.

»Und natürlich verehrte Vertreter der Sponsoren, die unsere neue Institution so großzügig mit Tat und Technologie unterstützen!«

Katharina hatte auf dem »Rundgang für Mitarbeiter, Entscheider, Sponsoren und ausgewählte Presse« alle ihre Hände geschüttelt.

Dem schlanken, hochgewachsenen, weißhaarigen Mann mit liebevoll kultiviertem Schnauzbart, der den großen Magnetresonanztomografen und die Röntgeneinheit von Siemens Medical so stolz präsentiert hatte wie ein Großwildjäger das eben erlegte Nashorn.

Dem knubbeligen Menschen, der eine fatale Ähnlichkeit mit Dr. Bunsenbrenner aus der Muppetshow hatte. Im Labortrakt der Sonderermittlungseinheit hatte er begeistert den »OMA 2015« enthüllt – ohne jedoch zu erläutern, wozu der große grünweiße Kasten dienen sollte.

Dem breitschultrigen Herrn von JCN Technologies: gemeißelte Gesichtszüge, eisgraue Haare, in seinem schwarzen Anzug so aussehend, als sei er in der gleichen Fabrik gefertigt worden wie die von seinem Unternehmen zur Verfügung gestellten Serverschränke im Rechenzentrum der Sonderermittlungseinheit. Leider hatte er einen schweren S-Fehler und mit Wörtern wie »Schupercomputerfähischkeiten« und »Poschteingangschverarbeitungschschtrasche« unvermutete Heiterkeit ausgelöst.

Neben ihm saß Morticia Addams. Zumindest hatte Katharina sie so getauft. Figurbetonter, schwarzer Businessanzug, schwarze Haare, kajalumflorte Augen, blutrot lackierte Fingernägel. Amelita Thalbein, die Seniorchefin der »Thalbein Thanato- und Pathologietechnik GmbH«, hatte auf dem Rundgang die von ihrer Firma ausgestatteten Autopsieräume im Souterrain präsentiert und schließlich aus einem der Leichenkühlfächer ein Huhn hervorgezaubert, dass dort ihren Worten zufolge bereits seit drei Wochen lag und »dank der präzisen und zuverlässigen Kühl- und Entkeimungstechnologie so verzehrfrisch war wie direkt nach der Schlachtung«.

Und zuletzt hatten sich auch Ulf und Monica Marbert eingefunden, Geschäftsführer von Marbert Communications, einer der angesehensten PR- und Political-Consulting-Firmen des Landes.

Er: Frettchengesicht, Teflonlächeln, Samtpfotenhändedruck.

Sie: Schraubstock und die Eiseskälte einer Scharfschützin.

Die beiden saßen auf zwei Stühlen hinter den anderen Sponsoren und wechselten sich damit ab, ein mokkabraunes Kind zu halten. Eigentlich hatten die Marberts ein genetisch optimiertes Wunderkind haben wollen, zur Welt gebracht von einer Leihmutter. Doch Katharina und Andreas Amendt hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Also hatten sie adoptiert. Natürlich ein Kind aus einem afrikanischen Land. »Besser fürs Image«, hatte Ulf Marbert Katharina auf dem Rundgang erklärt.

Auch sonst schienen die Marberts beängstigend wenig nachtragend: Sie hatten der Sonderermittlungseinheit nicht nur eine gut sortierte rechtsmedizinische Bibliothek spendiert, sondern auch die anderen Sponsoren zusammengetrommelt. Doch mit welchem Hintergedanken?

Vogel räusperte sich, blickte kurz auf den in der Sonne silbrig glänzenden Aktenkoffer vor ihm, als läge dort ein Redemanuskript. Dann endlich sprach er weiter: »Wir haben heute schon viel gehört über Joint Ventures und Public Private Partnerships, über transparente Verwaltung und Prozessoptimierung, über neueste Ermittlungsmethoden und Paradigmenwechsel, über Bürgernähe und soziale Netzwerke, über Kommunikation, Kooperation, kommunikative Kooperation sowie über kooperative Kommunikation. Und ich glaube, wenn Sie noch einmal das Wort ›Synergieeffekt‹ hören, laufen Sie schreiend davon.«

Die Lacher im Publikum gaben Vogel recht.

»Doch worüber wir noch gar nicht gesprochen haben«, fuhr er fort, sein Ton deutlich ernster, »ist das, womit sich die neue Sonderermittlungseinheit und das Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin beschäftigen werden: mit dem Tod!«

Vogel nahm einen Schluck aus dem bereitstehenden Wasserglas, um den Satz einsinken zu lassen. Doch das Publikum hing längst an seinen Lippen.

»Ja, mit dem Tod. Der letzten Grenze. Dem ultimativen Feind. Wir haben ihn aus unserem Leben ausgesperrt. Wir ziehen hohe Mauern um unsere Friedhöfe, verbannen sie hinaus aufs Land. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber Tatsache ist und bleibt: Wir alle werden sterben. Der Tod gewinnt immer, das müssen wir machtlos anerkennen. – Viel zu viele Menschen sterben jedoch vor ihrer Zeit. Durch heil- oder vermeidbare Krankheiten, durch Unfälle. Und, ja, auch durch die Hand Dritter. Wissentlich oder unwissentlich.«

Vogel senkte erneut den Blick auf den Aktenkoffer, bevor er fortfuhr: »Die Sonderermittlungseinheit sowie das Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin, die wir heute eröffnen, werden diesen Menschen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, eine Stimme geben. – Und letztlich, das erhoffe ich mir zumindest, wird die Arbeit dieser Institution dazu beitragen, dass weniger Menschen zu früh – vor ihrer von Gott, von der Natur bestimmten Zeit – dem schwarzen Schwarm des Todes zum Opfer fallen.«

Schwarzer Schwarm des Todes? Das hatte Katharina an diesem Tag schon einmal gehört. Auf dem Rundgang. Richtig. Vogel selbst hatte Andreas Amendt danach gefragt. Ob er wisse, was der Begriff bedeute. Leider hatte Katharina die Antwort nicht mitbekommen, denn in diesem Augenblick hatte sich Walpurga Grüngoldt ihrer bemächtigt. Die Oberbürgermeisterin hatte sie in mythischer Heldenverehrung in ihr Herz geschlossen, seit Katharina ihrem Sohn das Leben gerettet hatte.

»Und nun möchte ich Ihnen gerne die Menschen vorstellen, die diese schwere Aufgabe für uns schultern«, fuhr der Justizminister fort. »Denn über sie haben wir heute noch gar nicht gesprochen. – Leider heute nicht anwesend sind der Geschäftsführer Doktor Manès Müller …«

Natürlich. Das hatte Katharina beinahe verdrängt. Ihr war ja ein Geschäftsführer vor die Nase gesetzt worden.

»… sowie Kriminaloberkommissar Arndt Betsinger …«

Katharina war froh gewesen, seinen Namen auf der Bewerberliste zu lesen. Betsinger war ein alter Freund von ihr aus Polizeihochschulzeiten. Er saß aber gerade noch im Flieger aus Rom.

»Und nun, der Einfachheit halber, von innen nach außen:« Vogels Geste hatte die Eleganz und Verve eines Großzauberkünstlers. »Zunächst Doktor Alfons Horn und Doktor Bertram Horn, die Experten für Spurenkunde …«

Die Hörnchen. Gleichfalls Freunde von Katharina. Und die Besten ihres Fachs. Die eineiigen Zwillinge waren an diesem Morgen in den gleichen schwarzen Anzug und das gleiche weiße Hemd gekleidet. Damit man sie unterscheiden konnte, trug das eine Hörnchen eine rote Fliege mit blauen Punkten, das andere eine blaue Fliege mit roten Punkten.

»Daneben Kriminalhauptkommissar Doktor Arnulf Sturmer …«

Niemand würde vermuten, dass der Mann mit der Statur eines Preisboxers aus der unteren Liga und dem Gesicht einer missgelaunten Bulldogge Psychologie studiert hatte.

»Die uniformierten Beamten sind Polizeihauptwachtmeister Harald Markert …«, fuhr Vogel fort.

Harry. Katharinas erster Partner. Ihr Ausbilder. Ein großer, gutmütiger, grauhaariger Bär, ein »Schutzmann von nebenan«, der aber auch sehr ungemütlich werden konnte.

»… Kommissarsanwärter Darian Kadkani …«

Jung, drahtig, schneidig, olivfarbener Teint, militärischer Haarschnitt und gepflegter Schnauzbart: ein stolzer »Mitbürger mit Migrationshintergrund in Uniform«.

»Daneben wiederum Polizeioberkommissar Oswald Kramer …«

Oswald schaffte es auch an diesem Morgen, seine Uniform wie ein Fashion-Statement aussehen zu lassen. Er musste sich die Kleidungsstücke maßfertigen lassen. Gegönnt war es ihm, denn er war der beste Einsatzkoordinator, den Katharina kannte.

»Diana Söhnlein …«

Jeannie, wie sie allgemein nur genannt wurde – nach der bezaubernden Jeannie aus der beliebten Fernsehserie der Sechziger und Siebziger. Blond, zierlich, gutgelaunt. Ihr enger Rock gerade noch diesseits der Ziemlichkeitsgrenze. Sie war Amendts Sekretärin, doch eigentlich träumte sie davon, Schauspielerin zu werden.

»Frank Grüngoldt, der ab dem Sommer seinen Zivildienst in der IT der Sonderermittlungseinheit ableisten wird …«

Der schlaksige Junge mit den zu groß geratenen Ohren war der Sohn von Oberbürgermeisterin Walpurga Grüngoldt. Katharina hatte ihm das Leben gerettet. Seither hatte er sich in den Kopf gesetzt, Polizist zu werden.

»Und natürlich die beiden Leiter der Institution: Professor Doktor Andreas Zölestin Amendt …«

Amendts zweiter Vorname war Zölestin? Das hatte Katharina nicht gewusst. Sie musste sich eingestehen, dass sie ohnehin nicht viel über ihn wusste. Endlich traute sie sich, ihm einen Blick zuzuwerfen. Gut sah er aus. Erholt. Die Haut gebräunt. Der graue Anzug saß wie angegossen. Sein schwarzes Haar war frisch geschnitten. Und er hatte endlich den Kampf mit dem Rasierer aufgegeben und sich einen gepflegten Dreitagebart stehen lassen. Souverän stand er da, die linke Hand lässig in die Hosentasche gesteckt, als absolviere er solche Pressetermine jeden Tag.

»Zu guter Letzt die kriminalistische Leiterin: Kriminaldirektorin Katharina Klein!«

Nachdem er nun endlich alle Anwesenden vorgestellt und begrüßt hatte, stellte sich Vogel etwas aufrechter hin. »Ich bin wirklich stolz darauf, die Sonderermittlungseinheit sowie das Institut für okkulte Pathologie und kryptoforensische Medizin offiziell eröffnen zu dürfen. Aus diesem Anlass möchte ich ihnen gleich den ersten Fall übergeben.«

Während Vogel mit der einen Hand den Aluminiumkoffer vor sich aufklappte, ergriff er mit der anderen das Wasserglas, das für ihn bereitgestellt worden war. Er nahm einen großen Schluck …

doch …

er …

schluckte …

nicht!

Katharina wusste, was er vorhatte, noch bevor sie die monströse Pistole sah, die Vogel nur Sekunden später in der Hand hielt.

Sie sprang vor. Die Steinstufe unter ihr gab endgültig nach.

Katharina stürzte, versuchte sich abzufangen. Ihr Fuß stieß hart auf die nächsttiefere Stufe, glühender Schmerz schoss durch ihren Knöchel. Sie kippte nach vorne, schaffte es gerade noch, den Arm vor das Gesicht zu legen, dann schlug sie auf dem harten Stein der Treppe auf.

Sie wollte sich sofort wieder aufrappeln, doch ihr Arm hatte keine Kraft, auch nicht ihr Bein, das jetzt bis zur Hüfte vor Schmerzen loderte. Hilflos ließ sie sich zurücksinken …

… und musste mit ansehen, wie Vogel sich die Pistole unter das Kinn setzte …

Bitte, bitte, bitte lass das einfach einen schlechten Scherz sein!

… und abdrückte.

***

Damengambit

Weiterhin Sonntag, 6. April 2008. Fühlt sich aber eher nach Montag an

»The attack and defence emanating from this classical opening produce some of the most beautiful chess it is possible to obtain. The Queen’s Gambit possesses the merit of being the soundest of all the openings.«

Frank Marshall

Gleicher Ort. Gleiche Zeit. Aber zu spät.

Kein schlechter Scherz. Und auch kein Zaubertrick.

Der Knall des Schusses peitschte über den Vorplatz der Villa.

Blut und Wasser schossen Vogel aus Mund und Nase. Dann kippte er rückwärts aus Katharinas Sichtfeld. Umstandslos. Als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.

Katharina versuchte erneut, aufzustehen, doch Schmerzen durchschossen ihre Schulter und ihren Knöchel, als hätte man weißglühende Brandeisen hineingerammt.

Schwere Schritte. Schwarze Hosenbeine wirbelten um sie herum. Die Personenschützer stürmten die improvisierte Bühne auf den Eingangsstufen der Villa.

»Ich habe einen Puls!« Laut. Kraftvoll. Souverän. Die Stimme von Andreas Amendt. »Ruft jetzt endlich jemand den verdammten Notarzt?«, setzte er im gleichen Ton hinterher.

Notarzt, Notarzt … Verdammt, wie sollte der Rettungswagen durch die ganzen Menschen durchkommen?

Katharina biss die Zähne zusammen; die Schmerzen in ihrer Schulter jagten erneut Blitze durch ihren Körper. Endlich gelang es ihr, sich aufzusetzen.

»Wir müssen ihn reinbringen!« Wieder Andreas Amendt. Das Gewirr der Beine um sie herum hatte sich gelichtet und Katharina konnte ihn endlich sehen, über Vogel gebeugt, die Hand auf die Wunde unter dem Kinn gepresst. Blut rann zwischen Amendts Fingern hindurch. Mit knappen Worten wies er sechs Personenschützer an, wie sie Vogel anheben mussten. Ein Siebter stemmte das schwere Eichenportal der Villa auf. In einer makabren Mischung aus einer Leichenprozession und einer Partie Twister bewegten sich die Männer, noch immer angeleitet von Andreas Amendt, durch die Tür, Vogels Körper zwischen sich tragend, ohne seine Haltung auch nur um einen Millimeter zu verändern.

Aber … Ach ja, der Notarzt. Katharina blickte sich um. Endlich entdeckte sie Harry. »Wir müssen die Zuschauer rauslotsen! Und den Weg für den Rettungswagen freimachen!«

Harry nickte beruhigend. Natürlich. Er wusste schon längst, was zu tun war. Zusammen mit Darian und Oswald ging er zielstrebig die Treppe hinab. Auf die Menschenmenge zu. Höflich, freundlich, hartnäckig drängten die drei die Besucher in Richtung Ausgang. Die Menge gehorchte, doch langsam, als würden sich die Menschen durch Treibsand kämpfen.

Totenbleiche Gesichter. Paare, die einander festhielten. Kinder, rasch auf den Arm genommen.

Katharina fischte ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Den Beamten, der antwortete, kannte sie nicht. Aber er sie: »Wir haben die Meldung gerade bekommen, Frau Kriminaldirektorin«, vermeldete er zackig.

Dennoch wiederholte Katharina stur die Forderung nach dem Notarzt, nach mehr Beamten. Und nach allen Psychologen und Seelsorgern, die sich an einem Sonntagnachmittag auftreiben ließen.

***

»Frau Klein! Sind Sie verletzt?«

Katharina wünschte sich, es wäre wirklich eine Walküre, die da zu ihr herangesegelt kam, um sie nach Walhalla zu bringen. Doch es war Oberbürgermeisterin Walpurga Grüngoldt, die jetzt neben ihr niederkniete.

»Gestolpert«, antwortete Katharina knapp.

Mit einem Schwung, den man der matronenhaften Gestalt gar nicht zugetraut hätte, sprang Walpurga Grüngoldt wieder auf. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Nicht, dass was gebrochen ist! Ich hole Hilfe!«

Mit schweren Schritten eilte sie zur großen Eichentür, wuchtete sie auf, wollte hineingehen. In diesem Augenblick machte Arnulf Sturmer den Fehler, den Kopf hinauszustecken. Die Oberbürgermeisterin packte ihn am Ärmel und zog ihn ins Freie. »Sie! Tun Sie was! Bringen Sie Ihre Kollegin nach drinnen! Sie ist verletzt!«

Verdattert gehorchte Sturmer. Katharina konnte ihm gerade noch zurufen »Vorsicht! Schulter und Bein!«, da hatte er sie schon hochgehoben und sich über die Schulter gelegt. Walpurga Grüngoldt hielt ihnen die Tür auf.

***

Im Foyer der Karl-Kreutzer-Villa rannten Personenschützer und verstörte Politprominenz durcheinander, ohne sie zu beachten.

»Sie warten hier!«, befahl Walpurga Grüngoldt Arnulf Sturmer und verschwand in der Menge.

Katharina wollte ihren Kollegen gerade bitten, sie abzusetzen, da kehrte die Oberbürgermeisterin auch schon zurück, Jeannie am Arm hinter sich her schleifend: »Sehen Sie doch! Tun Sie was!«

***

Jeannie hatte Arnulf Sturmer und seine unfreiwillige Passagierin in ein geräumiges Behandlungszimmer im medizinischen Flügel der Villa geführt und erklärt, sie würde Andreas Amendt so schnell wie möglich schicken. Doch der sei noch beschäftigt. Mit dem Justizminister.

Das allerdings hätte sie Katharina gar nicht zu sagen brauchen. Der Operationsraum lag direkt nebenan; Amendts Stimme war trotz der dicken Wände klar und deutlich zu vernehmen: »Ich brauche Klemmen! – Halten Sie die Infusion höher! – Wo bleibt der verdammte Notarzt? – Verfluchte Scheiße!«

Sturmer legte Katharina auf die Behandlungsliege und schloss die Tür. Gemeinsam schafften sie es nach einigen Bemühungen, Katharina das Jackett auszuziehen. Dann wandte sich Sturmer ihren Stiefeletten zu.

»Sie … Sie brauchen nicht –«, wollte Katharina widersprechen.

Sturmer hob nicht einmal den Kopf: »Doch! Wenn der Fuß weiter anschwillt, kriegen wir die Dinger später nur noch mit einem Schwingschleifer runter. Und das wäre doch schade um die guten Stücke.« Endlich war es ihm gelungen, den Reißverschluss der Stiefelette an Katharinas linkem Fuß zu öffnen. Jetzt streifte er behutsam den Schuh ab. Katharina biss die Zähne zusammen, als ihr Knöchel wieder Schmerzensflammen durch ihren Körper jagte, das Bein hoch bis hinter ihre Schläfen. Endlich war es geschafft. Welch eine Wohltat!

Und in letzter Sekunde: Katharina hatte vorsichtig den Kopf gehoben, bis ihre Schulter rebellierte. Aber es gelang ihr trotzdem, einen Blick auf ihren Fuß zu erhaschen. Der Knöchel war bereits mächtig angeschwollen.

Sturmer durchsuchte die Schränke, bis er fand, was er suchte. Es knackste laut, als er die kleinen, blauen Päckchen zurechtbog.

»Achtung! Kalt!« Dann presste er die Eiskompressen auf Katharinas Knöchel und fixierte sie mit einer Binde. Augenblicklich ließ der Schmerz nach.

»So, das sollte reichen, bis der Arzt kommt.« Sturmer zog sich einen fahrbaren Hocker heran und setzte sich neben Katharinas Kopf.

»Wir sind ja verdammt gut ausgestattet.« Er deutete auf die zahlreichen Geräte, die an einer Wand in Reih und Glied auf ihren Einsatz warteten. »Ultraschall. EKG. Und … – Aber«, wechselte er plötzlich das Thema. »Sollen wir uns hier nicht um Tote kümmern? Das hier … Der Raum ist doch nur für lebende Patienten.«

Die schlichte Wahrheit war, dass Katharina und Andreas Amendt die Begeisterung von öffentlichen Stellen kannten, Anforderungen von Material und Räumlichkeiten gnadenlos zusammenzustreichen. Als ihnen daher aufgetragen worden war, doch bitte Listen mit dem gewünschten Inventar einzureichen, hatten sie einfach alles aufgeschrieben, was nur im Entferntesten in ihre jeweiligen Fachgebiete fallen könnte. Doch dann hatten sich die ganzen Sponsoren gefunden. Geld und Materialspenden im Überfluss. So gab es nicht nur diesen Behandlungsraum, sondern auch einen voll ausgestatteten Operationssaal nebenan und daneben ein intensivmedizinisches sowie ein normales Krankenzimmer.

Katharina erinnerte sich, wie sie und Amendt an einem Tisch im Freien gesessen hatten. Unter afrikanischer Sonne. Lachend und feixend, einander in immer utopischer klingenden Anforderungen für die Sonderermittlungseinheit überbietend. Damals hatten sie sich noch gut verstanden. Beziehungsweise überhaupt miteinander gesprochen. War das wirklich erst drei Monate her?

»Hey, alles im Lack?« Sturmer hatte sich über Katharina gebeugt. Im Strudel ihrer Gedanken hatte sie völlig vergessen, ihm zu antworten.

»Ja, ja«, antwortete Katharina zögernd. »Wir müssen in der Sonderermittlungseinheit auch darauf vorbereitet sein, mit lebenden Patienten umzugehen.« Schlimmer hätte es auch die Pressestelle nicht formulieren können. »Deswegen sind wir auf alle Eventualitäten vorbereitet.«

Sturmer verzog sein Bulldoggengesicht zu einem freudlosen Grinsen: »Und die Sponsoren haben ja auch nur so mit Geld um sich geworfen. Hab sogar den ganzen psychologischen Testkram bekommen, den ich angefordert habe.« Mit der Eleganz eines Formel-1-Fahrers in einer zu engen Kurve wechselte Sturmer das Thema: »Stimmt das eigentlich, was man im Präsidium so flüstert? Dass du und dieser Amendt ein Paar seid?«

»Die sagen was?«

»Dass ihr ein Paar seid. Und so, wie ihr euch eben bei der Feier ostentativ ignoriert habt … Sah aus, als hättet ihr gerade eine heiße Nacht miteinander verbracht. Und keiner darf’s wissen.«

»Nein, Doktor Amendt und ich sind nur Kollegen«, sagte Katharina hastig.

»Gut.« Sturmer schien erleichtert. »Don’t be intim in the team, sag ich immer. Gibt nur Scherereien. Und dann landen die jedes Mal bei mir. Zur psychologischen Beratung. Oder jetzt bei meinem Nachfolger. Wer auch immer das arme Schwein ist. Ich bin so froh, dass ich das nicht mehr machen muss. Ich meine, ich bin genauso Bulle wie ihr. Spezialisiert auf forensische Psychologie. Und was kriege ich den ganzen Tag zu tun? Liebeskummer. Mobbing. Dienstunfähigkeitsgutachten. Zum Kotzen. – Apropos: Was denkst du, warum er es getan hat?«

»Warum wer was getan hat?«

»Na, warum dieser Minister sich umbringen wollte.«

Endlich verstand Katharina. Und schämte sich im nächsten Augenblick. Jan-Ole Vogel hatte sich vor ihren Augen in den Kopf geschossen. In aller Öffentlichkeit. Sie hatte es nicht verhindern können. Wegen dieser verdammten wackligen Stufe.

Nein, wegen ihrer Unachtsamkeit. Sie hätte nicht stolpern dürfen!

Dann wäre sie rechtzeitig am Rednerpult gewesen, um Vogel die Waffe aus der Hand schlagen.

»Also?«, fragte Sturmer erneut. »Irgendeine Idee?«

Katharina wollte mit den Schultern zucken, doch schon der Ansatz der Bewegung tat so weh, dass sie Luft durch die Zähne einziehen musste. »Nein. Keine Ahnung. Ist das nicht eher dein Metier?«

»Man steckt halt nicht drin. Suizide sind meistens ziemlich vertrackt. Schulden. Eheprobleme. Oder einfach nur gekränkter Narzissmus. Das zeigt ja auch das Wie.«

»Wieso das Wie?«

»Na ja, sich in aller Öffentlichkeit die Knarre an den Kopf zu setzen. ›Jetzt seht her, was ihr davon habt.‹ Spricht nicht gerade für besondere emotionale Reife.«

***

Eine Stunde später.

Endlich wurde die Tür des Behandlungszimmers aufgestoßen. Hereingestürmt kam Andreas Amendt. Er würdigte Katharina keines Blickes. Stattdessen riss er zornig Schubladen auf und schob sie mit einem Knall wieder zu: »Natürlich. Auch hier. Es ist zum Kotzen.«

»Was?«, fragte Katharina mürrisch.

»Keine Kleininstrumente. Keine Skalpelle, Klammern, Scheren … Supertoller OP, aber kein Besteck! Tolles Omen, wenn einem gleich der erste Patient auf dem Tisch verreckt, weil man kein Material zum Arbeiten hat.«

»Ist Vogel tot?«

Amendt blieb stehen und holte tief Luft. »Ja. Ist er. Der Notarzt hat es gerade bestätigt und ist sofort wieder abgerauscht. Die Leiche haben sie uns natürlich dagelassen. Klasse. Jetzt darf ich mich auch noch um den Abtransport bemühen.«

»Das hier ist doch ein rechtsmedizinisches Institut?«, mischte sich Sturmer ein. »Dann liegt er hier doch genau richtig.«

»Ja, ist aber …« Amendt stockte. Dann endlich schien er Katharina wahrzunehmen. Er stöhnte theatralisch auf. »Katharina, na klar! Du musst natürlich wieder in Schwierigkeiten geraten. Kannst du dir das nicht endlich mal abgewöhnen?«

Seine Worte waren die Funken, die Katharinas angestaute Wut zur Explosion brachten. Ruckartig setzte sie sich auf: »Sie duzen mich nicht! Sie nennen mich nicht Katharina! Am besten reden Sie nur mit mir, wenn Sie gefragt werden! – Und ziehen Sie sich erst mal was anderes an, bevor Sie an mir herumdoktern. Ich will nicht auch noch Blut auf meinen Anzug kriegen.«

Erschrocken sah Andreas Amendt an sich herab. Offenbar fiel ihm erst jetzt auf, dass Brust und Ärmel seines Hemdes blutgetränkt waren. Dann eilte er aus dem Raum.

Katharina ließ sich zurücksinken. Das hatte verdammt gutgetan.

Sturmer hob die Mundwinkel zu einem Grinsen. »Ist wohl doch was dran am Präsidiums-Flurfunk. Ex-Freund?«

»So was Ähnliches, ja.« Katharina war nicht in der Stimmung, jemandem ihre komplizierte Beziehung zu Andreas Amendt zu erklären.

***

Zehn Minuten später kehrte Amendt zurück ins Behandlungszimmer. Er trug jetzt blaue OP-Kleidung. Auch seine Hände hatte er geschrubbt. Er trat an die Untersuchungsliege. »Ich weiß, ich soll nicht reden, aber trotzdem muss ich fragen, wo es weh tut.«

»Knöchel und rechte Schulter«, antwortete Katharina kurzangebunden.

Amendt nahm sich zunächst den Knöchel vor. Behutsam betastete er ihn, drehte den Fuß vorsichtig hin und her. »Tut das weh?«

Katharina bejahte, die Zähne zusammengebissen. Amendt legte den Fuß langsam wieder zurück und wandte sich der Schulter zu, die er gleichfalls vorsichtig untersuchte.

Dann richtete er sich auf. »Wir müssen sie runterbringen«, wandte er sich an Sturmer.

»Runter?« Katharina lief ein Schauer über den Rücken. Unten waren die Obduktionsräume.

»Zum Röntgen. Kann sein, dass da was gebrochen ist. Unsere Geräte sind besser als alles, was die Uniklinik so zu bieten hat. Außerdem nehme ich mal an, dass Sie die nächsten Stunden nicht unbedingt in der Notaufnahme verbringen wollen, oder?«

***

Amendt betrachtete Katharinas Röntgenbilder auf dem großen Plasmaschirm im Behandlungszimmer. »Gebrochen ist nichts. Auch keine Sehne gerissen. Der Fuß ist nur verstaucht. PECH!«

»Pech?«, fragte Katharina verärgert.

»Er meint Pause – Eis – Compression – Hochlegen«, erklärte Sturmer, bevor Amendt antworten konnte. »Das solltest du eigentlich wissen. Ist Bestandteil unserer Ersthelferausbildung.«

Amendt rief das nächste Bild auf. »Und die Schulter … Setzen Sie sich mal auf.«

Gemeinsam richteten er und Sturmer Katharina auf.

Amendt legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid.«

»Jetzt wollen Sie darüber reden? Ausgerechnet jetzt?«

»Nein. Das meine ich nicht.«

»Sondern?«

»Das!«

Beherztes Zupacken.

Knacken.

Der weißglühende Schmerz trieb Katharina die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

Dann war es vorbei.

Amendt lehnte sich an die Liege, seine Hand wieder locker in den Kittel geschoben, als hätten sie nur gemütlich geplaudert. »Ich hätte Sie ja vorgewarnt, aber dann hätte es richtig wehgetan.«

Richtig wehgetan? Katharina rieb sich die Schulter.

»Das Schultergelenk war disloziert – verrenkt«, dozierte Amendt. »Nichts Dramatisches. Aber trotzdem bitte ein paar Tage nur behutsam belasten. Kein Sport und nicht schießen.«

»Ich kann auch mit links schießen.«

»Das überrascht mich nicht. – Ich gebe Ihnen gleich noch zwei Spritzen gegen die Schwellung. Das heißt, wenn …« Gespannt zog er eine weitere Schublade auf. »Na, Spritzen und Kanülen haben wir zumindest in ausreichender Menge.«

Er öffnete einen Medikamentenschrank, nahm zwei Ampullen heraus und füllte zwei Spritzen, die er dann in ihre Schulter und ihren Knöchel injizierte. Zufrieden warf er Spritzen und Tupfer in einen Behälter für medizinischen Abfall. »So, das war’s.«

Er ging noch einmal zum Medikamentenschrank und nahm zwei Packungen heraus. Die eine öffnete er, riss zwei Tabletten vom Blisterpack ab und stellte die Packung zurück in den Schrank. »Die Pillen in der Packung heute und morgen zu den Mahlzeiten nehmen. Sind gegen die Schwellung und reduzieren die Reizung. Die hier«, er deutete auf die beiden einzelnen Tabletten, »die sind gegen Schmerzen. Also nur nach Bedarf. Achtung, die machen ziemlich müde.«

Katharina schob beides in ihre Handtasche. »Und jetzt?«

Wie zur Antwort wurde die Tür des Behandlungszimmers aufgerissen.

Máximo Líder Hanfried de la Buquet stapfte herein. Er fixierte Amendt und Katharina. »Wir erwarten Ihren Bericht über diesen Vorfall bis morgen früh«, bellte er im Pluralis Majestatis. Dann machte der Innenminister auf dem Absatz kehrt. Seine Bodyguards hatten wenigstens den Anstand, die Tür hinter sich zu schließen.

Katharina gewann als Erste die Fassung wieder und schwang die Beine über die Kante des Behandlungstisches. »Na, dann wollen wir mal.«

Sie wollte vom Tisch klettern, doch Amendt verstellte ihr den Weg: »Sie gehen besser nach Hause. Um den Bericht kann ich mich kümmern.«

»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte Katharina giftig.

Amendt hob entwaffnend die Hände: »Schon gut, schon gut.« Dann wandte er sich an Sturmer: »Sie! Sie sind doch Polizeipsychologe, oder?«

»Richtig.«

»Falsch. Heute sind Sie Krankenpfleger.«

***

Zum ersten Mal im Rittersaal.

Sturmer hatte Katharina auf einem hochbeinigen Rollhocker durch die nun fast völlig verwaiste Karl-Kreutzer-Villa geschoben. In den Raum, der Rittersaal genannt wurde. Großer Eichentisch, hochlehnige Stühle, an den Wänden mehrere große Plasmabildschirme anstelle der eigentlich angemesseneren Ahnengalerie.

Der Tisch bot Platz für 25 Personen, daher wirkte die kleine Runde etwas verloren: Katharina, Amendt, Sturmer, die Hörnchen, Jeannie, Oswald, Harry und Darian, der Nachwuchspolizist.

»Der Innenminister …«, begannen Katharina und Amendt gleichzeitig, nur um dann innezuhalten und dem anderen den Vortritt zu lassen. Nach mehrmaligem Hin und Her nölte Oswald schließlich genervt: »Was ist jetzt mit dem Innenminister?«

»Er erwartet unseren Bericht über den Vorfall bis morgen früh«, erklärte Katharina.

»Schon klar«, sagte Oswald. »Wer macht was?«

Bevor Katharina Aufgaben verteilen konnte, meldete sich Harry zu Wort: »Ich schlage vor, Darian und ich befragen die Zeugen, soweit sie vernehmungsfähig sind. Die Seelsorger sind draußen noch am Beruhigen.«

»Jeannie und ich«, übernahm Oswald, »sprechen am besten mal mit den ganzen Medienfritzen, ob die uns Kopien ihrer Bilder und Filme überlassen.«

»Dazu brauchen wir einen Gerichtsbeschluss«, widersprach Katharina.

»Lass uns das mal machen.« Oswald hob beruhigend die Hände. »Wenn Jeannie und ich unseren gemeinsamen Charme spielen lassen und die sich außerdem eine gute Story davon versprechen …«

»Gut. Und ihr …«, wollte Katharina sich an die Hörnchen wenden.

»Wir sichern den Tatort …« – »… und die Spuren.« Die Hörnchen hatten die Eigenart, alles, was sie sagten, unter sich aufzuteilen.

»Aber übertreibt es nicht mit euren Spielzeugen.« Katharina wusste, dass die Hörnchen dank der Sponsoren über ein gewaltiges Arsenal an Hilfsmitteln verfügten und nur darauf brannten, alles auszuprobieren. »Das ist nur ein Bericht. Keine kriminaltechnische Leistungsschau.«

»Nicht mal …« – »… einen 3D-Scan?«

»Na gut. Aber nur einen.«

***

Leichenschau exakt nach Vorschrift.

Die Leiche von Justizminister Vogel lag noch immer auf dem Tisch im OP. Das Jackett war beiseitegeschoben, das Hemd aufgerissen. Rund um den Tisch verstreut lagen blutige Bandagen, aufgerissene Packungen, Spritzen, Infusionsflaschen … Die Spuren einer fehlgeschlagenen Notfallrettung.

Amendt drückte Sturmer einen großen Fotoapparat in die Hand. »Können Sie damit umgehen?«

Sturmer drehte die Kamera in den Händen: »Eine Canon Mark V. Klar. Gutes Teil. Was soll ich damit tun?«

»Wir müssen das hier fotografisch dokumentieren. Ich sage Ihnen, was und wie.«

»Warum machen Sie das nicht selbst?«, fragte Katharina.

Sie war bloß neugierig gewesen, doch Amendt wirbelte zu ihr herum und streckte ihr seine linke Hand hin, die er bis dahin in seiner Kitteltasche verborgen hatte. »Deshalb!«

Die Raubtierklaue eines Filmmonsters! Im permanenten Krampf gekrümmte Finger. Der Daumen unnatürlich zur Handfläche gebogen.

»Ein kleines Andenken an meinen Trip ins Jenseits.«

»Aber –«

»Tja, so was passiert, wenn das Hirn zu lange ohne Sauerstoff ist.«

»Sie geben mir die Schuld –?«

»Schwamm drüber. Wir haben Wichtigeres zu tun!« Abrupt drehte Amendt sich zu Sturmer um. »Dann wollen wir mal.« Seine Stimme war wieder ganz ruhig, sachlich.

Katharina vollkommen ignorierend, sie nur ein paar Mal beiseiteschiebend, wenn sie auf ihrem Rollhocker im Weg war, scheuchte er Sturmer um den Tisch und wies ihn an, was er fotografieren sollte. Jedes Mal ließ er sich das Bild auf dem Display der Digitalkamera zeigen.

Endlich war er zufrieden. »Na, dann bringen wir ihn mal runter in die Autopsie.«

Sturmer half ihm, Handschuhe überzustreifen. Dann luden sie den Körper von Vogel auf eine Rollbahre und schoben ihn aus dem OP. Die Schwingtür pendelte zwei Mal hin und her, dann kam sie mit einem leisen Quietschen zur Ruhe. Sie hatten Katharina allein zurückgelassen.

Schuld? Natürlich war es ihre Schuld gewesen, dass Amendt versucht hatte, sich umzubringen.

Sie hätte die Andeutungen verstehen müssen. Seinen Suizidversuch von Anfang an verhindern. Doch sie war zu spät gekommen. Amendt wäre um ein Haar gestorben. Und jetzt war seine Hand verkrüppelt.

Egal, sie musste runter in die Autopsie. Vorsichtig ließ sie sich von ihrem Hocker herab. Ihr Fuß schmerzte noch immer, wenn sie ihn aufsetzte, und ihr Arm, den Amendt in eine Schlinge verbannt hatte, war auch keine große Hilfe. Auf den Rollhocker gestützt, gelang es ihr, sich Schritt für Schritt zur Tür vorzuarbeiten.

Doch gerade, als sie nach dem großen Metallgriff fassen wollte, um die Tür aufzuschieben, wurde sie fast umgestoßen. Sturmer kam hereingestürmt. Tadelnd musterte er sie. »Aber, aber! Zurück auf deinen Hocker. Ich bring dich runter.«

***

Es war ein Gerücht, dass Tote immer friedlich aussahen. Vogels Kopf war zur Seite gerollt, seine Augen standen offen, ebenso sein Mund. Wangen und Kinn waren mit getrocknetem Blut verschmiert. Eine Breughel’sche Höllenfratze wie die, die Katharinas Vater ihr einmal in einem Buch mit Detailvergrößerungen aus den Höllenvisionen des Malers gezeigt hatte.

Hölle? In der Hölle ist Vogel schon gewesen, dachte Katharina. Warum sonst dieser drastische Schritt? Vielleicht würden sie mehr erfahren bei der Untersuchung der Leiche und von Vogels Habseligkeiten. Vielleicht gab es einen Abschiedsbrief. Das würde die Sache leichter machen. Für die Angehörigen. Hatte Vogel Kinder? Katharina wusste nur, dass er verheiratet war.

Und jetzt? Wenn Amendt nach Protokoll vorging, würde er zunächst einmal die Taschen des Toten ausleeren und ihn dann entkleiden. Moment! Wo steckte …?

»Wo ist denn der Amendt?«

»Keine Ahnung.« Sturmer zuckte missmutig mit den Schultern und schob die Hände tiefer in die Hosentaschen. »Wir haben die Leiche auf den Tisch gelegt, dann hat er ein paar Schubladen aufgezogen, gemurmelt ›Natürlich! Auch hier!‹ und ist abgerauscht, ohne ein Wort zu sagen. Kleine Diva, der Gute, oder? – Und die Sache mit der Hand vorhin? Darf ich fragen, was –?«

»Lange Geschichte«, schnitt ihm Katharina das Wort ab.

»Okay, okay.« Nachdenklich wandte sich Sturmer dem Toten zu. »In meiner Streifenzeit habe ich ja einige Tote gesehen, auch Selbstmörder, aber so … gewöhnungsbedürftig. – Was war deine erste Leiche? Meine war ein Verkehrsunfall.«

Sturmer wollte wohl zu einem Monolog über seine erste berufliche Begegnung mit dem Tod ansetzen, als die Tür zum Autopsiesaal aufgestoßen wurde. Andreas Amendt kam hereinmarschiert, auf dem Arm eine rosafarbene, viereckige Plastikschüssel, auf der er wiederum einen antik aussehenden Holzkasten balancierte.

»Man höre und staune, die Küche ist vollständig ausgestattet.« Er stellte Schüssel und Kasten auf einen kleinen, rollbaren Stahltisch.

Mit einer Hand begann er, die Schüssel auszupacken und seine Fundstücke säuberlich auf den Tisch zu legen: eine Geflügelschere, Küchenmesser in unterschiedlichen Größen, ein paar normale Scheren, einen Kuchengreifer und zuletzt eine Packung Strohhalme.

Dann klappte er den Holzkasten auf. Blitzende Klingen, Instrumente mit Perlmuttgriffen. »Karl Kreutzers Pathologie-Besteck. Autopsie wie in der guten alten Zeit. Das Ding stand in einer Vitrine in der Bibliothek. – Dann wollen wir mal.«

Amendt drückte Sturmer zwei Paar Handschuhe in die Hand und bedeutete ihm wortlos, erst selbst welche überzustreifen und ihm dann zu helfen.

Er rieb die Hände gegeneinander, damit die Handschuhe an die richtige Stelle rutschten, und massierte mit dem Daumen die Innenfläche seiner linken Hand. Dann trat er an den großen Plasmabildschirm und schaltete ihn an. Mit ein paar Berührungen rief er das Formular für eine »äußere Leichenschau« auf. Er streifte sich ein Headset über, dessen Sender er unter seinem Kittel an den Hosenbund klippte.

»Diktatsystem«, erklärte er. »Funktioniert ziemlich gut.«

»Na ja«, murrte Sturmer. »Wollten die im Präsidium auch mal einführen. Bei mir hat es immer ›Dienstunfähigkeit‹ als ›Dienstuntätigkeit‹ verstanden. Oder das System war einfach sehr ironiebegabt.«

Amendt ignorierte ihn. Er diktierte die Eckdaten zu Vogel. Alter. Geschlecht. Größe. Ort, Datum und Uhrzeit des Todes. Dann tippte er in das Feld »Bericht«. Gleichzeitig poppte daneben der Umriss eines Körpers auf. »Das System fertigt sogar automatisch Skizzen an und fügt die Bilder von der Kamera ein.« Er deutete auf einen großen Fotoapparat, der an einem Schwenkarm über dem Autopsietisch befestigt war.

Schließlich trat er an den Stahltisch. »Ergebnisse der Taschenuntersuchung«, diktierte er. Dann fasste er der Reihe nach in die Jackett- und Hemdtaschen Vogels, zum Schluss in die Hosentaschen. »Nichts. Kein Tascheninhalt.«

»Was? Jeder hat doch irgendetwas in den Taschen. Brieftaschen, Schlüssel, Taschentuch, Kleingeld …«, sagte Katharina.

»Und diese undefinierbaren grauweißen Knäuel«, ergänzte Sturmer, »die vielleicht mal ein Papiertaschentuch, ein Notizzettel oder ein Geldschein gewesen sind.«

Auch Amendt trat einen Schritt zurück und überlegte. Dann atmete er durch. »Protokoll der Entkleidung der Leiche«, setzte er sein Diktat fort.

Er wies Sturmer an, Vogel behutsam auszuziehen und die einzelnen Kleidungsstücke in Plastikbeutel zu verpacken. »Krawatte, grau. Jackett, grau. Hemd, hellgrau«, diktierte er der Reihe nach. »Stiefelette, schwarz, rechts. Stiefelette, schwarz, links …«

Katharina massierte sich das Gesicht. Sie hatte fast vergessen, wie langweilig Leichenschauen im Grunde waren. Endlos viele bürokratische Schritte mit wenig Erkenntnisgewinn. Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.

»Strümpfe, schwarz, Gürtel, schwarz, Hose, hellgrau, Unterwäsche … – Holla, was ist das denn?«

Während Sturmer noch damit beschäftigt war, die Hose vorsichtig von Vogels Beinen zu streifen, hatte Amendt innegehalten. Er deutete auf den Schritt des Leichnams. Katharina stieß sich mit dem gesunden Bein ab, um sich an den Tisch zu rollen.

Der Anblick war tatsächlich … unerwartet. Vogel trug einen schwarzen, spitzenbesetzten, bestickten Seidentanga. Einen Damenslip?

Bis auf … Das kleine Stoffdreieck im Schritt des Slips war weit genug, um Vogels Penis aufzunehmen.

Amendt zog die Kamera zu sich heran und schoss ein paar Fotos.

»Fürs Poesiealbum der Perversionen?« Sturmer hatte inzwischen die Hose verpackt und war gleichfalls an den Tisch getreten.

»Nein«, erklärte Katharina, während Amendt noch fotografierte. »Die erste Abweichung vom Erwarteten.«

Unwillens, die Belehrung einfach so stehen zu lassen, knurrte Sturmer: »Wenn man mal davon absieht, dass er sich vor Publikum eine Kugel in den Kopf geschossen hat. – Soso, unser Justizminister war also eine Transe.«

»Oder das war ein sexuelles Rollenspiel. Den Partner Unterwäsche des anderen Geschlechts tragen zu lassen«, dozierte Amendt. Dann bemerkte er, dass ihn Katharina und Sturmer verwundert anstarrten. Seine Wangen bekamen rote Flecken. »Hab ich mal in einer Pathologie der Sexualität gelesen«, ergänzte er viel zu hastig.

Wer’s glaubt, wird selig, schoss es Katharina durch den Kopf. Dann erinnerte sie sich, dass Amendt in seinem Leben nur mit einer Frau geschlafen hatte. Ihrer Schwester Susanne. Seiner Verlobten. Hatten sie solche Spielchen gespielt? Katharina sah Susannes verschmitztes Lächeln vor sich. Zuzutrauen war es ihr.

Amendt und Sturmer zögerten, Vogel den Slip abzustreifen. Als ob sie sich mit irgendetwas anstecken könnten. Also bat Katharina um eine Schere und durchschnitt die beiden Haltebändchen. Sorgfältig faltete sie den Slip, um ihn in einen Plastikbeutel zu stecken.

Doch dann zögerte sie. Durch die Ausbeulung durch den Penis war die Stickerei im Schritt zuerst nicht zu erkennen gewesen: eine Schachfigur. Die Dame, um exakt zu sein. Wer stickte sich denn so was in den Schritt?

Sturmer dachte offenbar das Gleiche: »Die mächtigste Figur auf dem Brett. Gleichzeitig weiblich. Freud hätte seine Freude daran. Ich sag ja, eine Transe.«

Das ist natürlich eine einfache Erklärung, dachte Katharina und wollte den Slip zu den anderen Kleidungsstücken legen. Eine kleine geheime sexuelle Vorliebe, vielleicht ein Erpressungsversuch, Angst vor dem drohenden Skandal. War das der Grund für Vogels Selbstmord?

Doch andererseits: kein Tascheninhalt, die Kleidung elegant, aber nichtssagend. Vogels Suizid war geplant und gut vorbereitet gewesen. Und dann trug er einen Slip, der ihn bloßstellte?

Sie betrachtete das Höschen noch einmal genauer. Wenigstens war ihr Fachwissen in Sachen weiblicher Unterwäsche einmal kriminalistisch nützlich. Sie erkannte die von Hand gesetzten Nähte, die leichten Unregelmäßigkeiten in der Stickerei, die gleichfalls auf Handarbeit schließen ließen. Hatte Vogel sich den Slip anfertigen lassen? Nur für diesen Anlass? Sicherheitshalber legte sie den Plastikbeutel mit dem Slip etwas abseits.

Amendt hatte unterdessen den Leichnam abgeduscht, Blut und Dreck weggespült. Dann hatte er Sturmer das Paket Strohhalme in die Hand gedrückt und ihn angewiesen, zwei davon möglichst gerade ineinanderzustecken.

Mit der Kamera am Schwenkarm fotografierte Amendt die Wunde an Vogels Hals, während er diktierte: »Augenscheinlich ist die Eintrittswunde am Hals, deren Durchmesser an der breitesten Stelle«, Amendt maß mit einem Lineal, »sieben Zentimeter beträgt. Die Wunde ist nach Form und Größe konsistent mit einer Schusseintrittswunde. Die sternförmigen Ausrisse sowie der klar abgegrenzte Schmauchring lassen auf einen aufgesetzten Schuss schließen. Der Einschusswinkel beträgt …«

Er nahm Sturmer die ineinandergeschobenen Strohhalme aus der Hand und schob sie vorsichtig in die Wunde. Dann zog er einen gleichfalls an einem Schwenkarm befestigten Winkelmesser herab und hielt ihn neben den Hals des Toten.

»… 47 Grad zur Körperachse«, fuhr er fort zu diktieren. Er zog den Strohhalmverbund vorsichtig aus der Wunde und maß die Wundtiefe: »Der Schusskanal ist einundzwanzig Zentimeter lang und nachverfolgbar bis zur Schädeldecke. Nach Lage des Einschusskanals hat das Geschoss das Stammhirn und den Okzipitallappen penetriert. Weitere Hirnschädigungen sind nicht auszuschließen, doch die beschriebenen Verletzungen sind bereits ausreichend todesursächlich.« Er warf die Strohhalme in einen Behälter für medizinischen Abfall. Dann betastete er Vogels Hinterkopf. »Eine punktuell begrenzte Schädelfraktur mit Ausstülpung nach außen ist leicht ertastbar. Eine Austrittswunde ist nicht festzustellen. Das Projektil befindet sich noch im Schädel.«

Amendt tastete den Rest des Schädels ab, zuletzt unter dem Kinn. Er hielt überrascht inne und sah zu Katharina auf: »Haben Sie zufällig eine Pinzette? Oder eine kleine Zange?«

Pinzette? Zange? Nein. Oder …? Doch. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem kleinen Leatherman, den sie dem Werkzeugset in ihrer Handtasche hinzugefügt hatte. Sie klappte die Zange auf und reichte sie Amendt. Er führte die Backen der Zange vorsichtig in die Wunde ein. Ein paar Sekunden später zog er sie wieder heraus und diktierte: »Das Projektil konnte aus dem Weichgewebe am Hals des Verstorbenen geborgen werden, ohne den Schädel zu öffnen.«

Glückstreffer, dachte Katharina. Das Geschoss musste im Schädel ein paar Mal abgeprallt sein und hatte zufällig durch die Einschussstelle wieder hinausgefunden. Amendt reichte ihr das Geschoss auf einer Untertasse.

Katharina rollte sich zu einem Waschbecken und wusch die Kugel vorsichtig ab. Das Geschoss war schwer deformiert, aber sie erkannte es sofort. Vollblei. Flachköpfig und ohne Spitze. Ein sogenanntes Wadcutter-Geschoss. Sportmunition.

Sie berichtete Amendt davon.

Er diktierte ihre Erkenntnisse direkt in den Bericht. Dann drückte er auf den Schalter am Kabel des Headsets: »Na, der hat’s aber wirklich gewollt.«

»Was gewollt?«

»Sterben. Die richtige Art zu schießen, der Schluck Wasser, maximal verformende Munition …«

»Wozu dient denn der Schluck Wasser?«, fragte Sturmer. »Ich meine, ich habe schon davon gehört, aber …«

»Zweierlei«, erklärte Andreas Amendt. »Zum einen muss das Geschoss so durch noch eine Schicht durch, die einen anderen Widerstand bietet als die übrige Umgebung. Das bremst das Geschoss und lässt es taumeln. Der Schaden wird dadurch größer. Gleichzeitig verteilt das Wasser die Druckwelle und führt zu einer weiteren Deformation des Gehirns und seiner Blutgefäße. Ein zusätzliches Hirntrauma, wenn Sie so wollen. – Vogel war vermutlich schon hirntot, bevor er auf dem Boden aufgeschlagen ist.«

Katharina hatte die Kugel verpackt, während Amendt die bei den Rettungsmaßnahmen zugefügten Verletzungen dokumentierte: gebrochene Rippen und Druckstellen von der Reanimation. Leichte Hautreizung von den Paddles des Defibrillators, zwei Einstichstellen im Brustkorb von den Epinephrin-Spritzen.

Dann suchte er Vogels Körper sorgfältig nach weiteren Spuren und Verletzungen ab. Bei den Oberschenkeln hielt er inne. »Sehen Sie das?«, fragte er Sturmer.

»Holla, ein Ritzer war er auch.«

Katharina rollte sich wieder an den Tisch. Ihre Augen mussten sich erst an das gleißende Licht der OP-Lampen gewöhnen, dann sah auch sie die feinen weißen Linien auf der gebräunten Haut. Sie kannte solche Narben. Hatte sie schon zu oft bei ihren Ermittlungen gesehen.

»SVV?«, fragte sie. Selbstverletzendes Verhalten?

»Sehe ich auch so.« Amendt schaltete das Headset wieder an.