Brumm! - Helmut Barz - E-Book

Brumm! E-Book

Helmut Barz

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Beschreibung

Jedem Menschen wohnt ein Krafttier inne so lehren uns die Schamanen: Man müsse es nur finden, erwecken und befreien. Doch was, wenn dieses Krafttier ein verspielter, verschlafener, verleckerter, territorialer, dickschädeliger Panda ist, der dein Leben ins Chaos stürzt und sich beharrlich weigert wieder zu gehen?Dr. Urs A. Podini hat seine Lebensträume längst eingetauscht gegen bescheidenen Wohlstand, Eigentumswohnung, Kreativität in homöopathischen Dosen und eine Lebensgefährtin, die ihn eher duldet als liebt. Doch dann geht ihm eines Tages diese Silbe nicht mehr aus dem Kopf: Brumm! Laut, leise, sanft, schroff, zärtlich, verletzend, wütend, erfreut. Gerufen, gehaucht, geflüstert, gespien, gesäuselt und gebrummt: "Brumm."Als er sich dann auch noch in das Kostüm eines Pandas verliebt, das er im Schaufenster der Boutique "Transitions!" entdeckt, beginnt für ihn eine Achterbahnfahrt durch unsere Zeit: Urs beißt unter anderem einen Finger ab und löst eine Straßenschlacht aus. Er wird angeklagt, freigesprochen und zum ersten offiziell anerkannten menschlichen Panda. Das macht ihn zum Internet-Star und Talkshow-Gast sowie nolens volens zum chinesischen Staatsbürger. Er trifft auf Politikerinnen mit Flausch-Fetisch, neugierige Pinguine, musikalische Mufflons, rassistische Seelöwen, verschmuste Kängurus, Franz Schubert verehrende Artgenossen und sogar auf seine große Liebe.Aber all das hat seinen Preis: Wenn man etwas nur lang genug behauptet, wird es zum Fakt das bekommt Urs am eigenen Leibe zu spüren.

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Seitenzahl: 643

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für mein heiß geliebtes Beuteltier

Ein Panda kommt zum Fotografen, um Passbilder machen zu lassen.

Der Fotograf so: »Schwarz-weiß oder Farbe?«

Und der Panda so: »Auf die Fresse, oder was?«

(Internet-Fundstück)

Brumm (m/f/n) 1 onomatopoetische, zoologisch inkorrekte Beschreibung des Bärenlauts 2 zentrales Seins-Prinzip (siehe auch ↑Bambus)

Erster Teil:

Brumm!

Kein Drama

Brumm-Fummel(m) 1 Oberbekleidung eines verdrossenen Crossdressers 2 anthropomorphisiertes Kostüm aus der Familie der Ursidae

Brumm

Ein Höllensturz

»Brumm!«

Hat er das wirklich gerade laut gesagt?

Urs schmeckt der Silbe nach. Ja, er spürt noch das Rollen des R in seinem Rachen, das Vibrieren des M auf den Lippen.

Er hat es tatsächlich gesagt: »Brumm!«

Hoffentlich erst, als die Tür schon hinter ihm ins Schloss gefallen ist.

Hoffentlich hat er da schon auf dem Bürgersteig gestanden.

Hoffentlich hat er Urs nicht gehört, der Herr Doktor mit seinen grau melierten Haaren und seinem weißen Kittel.

Andererseits: und wenn schon! Der Herr Doktor hält ihn ohnehin für einen Idioten.

Und einen Doktortitel hat er schließlich selber.

Urs – Dr. Urs A. Podini!, so ermahnt er sich streng – macht einen Schritt vorwärts. Sorgsam setzt er den Fuß, um nicht auf die Kanten der Gehwegplatten zu treten. So hat er es auch schon in seiner Kindheit gemacht. »Brumm!«

Noch ein Schritt. »Brumm?«

Noch ein Schritt. »Brumm.«

Noch ein Schritt. »Brumm?!« – Ein empörtes Bärchen, rücksichtslos aus dem Winterschlaf gerissen.

Noch ein Schritt. »Brrrrummmmmmm.« – Das »R« in der Kehle rollend, das »M« auf den Lippen kitzelnd: ein Kind, das Auto spielt.

Noch ein Schritt.

»Brummmmm …« – Mit einem Hauch der Verzweiflung leise verklingend: ein letzter Protest gegen das Unvermeidliche.

Noch ein Schritt.

»BRUMM!« – Machtvoll in die Luft gemeißelt.

Laut, leise, sanft, schroff, zärtlich, verletzend, wütend, erfreut.

Gerufen, gehaucht, geflüstert, gespien, gesäuselt und – gebrummt: »Brumm.«

Da steht Urs nun, die Füße genau auf zwei Gehwegplatten, Zehen und Hacken gleich weit von den Kanten entfernt, und erfreut sich am Klang der fünf zur Lautmalerei gereihten Buchstaben.

Warum geht ihm diese Silbe nicht aus dem Kopf?

Seit diesem Morgen schon.

»Bärchen«, hat Karolin ihn genannt. Aus dem Mund seiner Lebensgefährtin ist das allerdings kein Kosename, sondern ein subtiler Hinweis darauf, dass er abnehmen und daher nicht so viel naschen sollte.

»Hör mal, Bärchen«, hat Karolin an diesem Morgen gesagt und damit ihre übliche Kaskade von Geboten und Anweisungen eingeleitet: den Karolingischen Tagesbefehl.

»Alles verstanden, Bärchen?«, hat sie zum Abschluss gefragt.

Da ist es ihm rausgerutscht, das bestätigende »Brumm«.

Karolin hat das nicht komisch gefunden. Verständlich. Wo doch an diesem Tag das große Symposium beginnt: Ich kann sein, wer ich schon immer war: Körperbilder im 21. Jahrhundert – vom Ideal der Simulation zur hüllenlosen Authentizität. Ihre erste, praktisch im Alleingang organisierte Großtat als frischberufene Juniorprofessorin der Theaterwissenschaft.

Da ist kein Platz für ein vorlautes »Brumm«.

Urs hat sich also sofort bei ihr entschuldigt.

Karolin hat ihm großmütig verziehen und ist dann davongeeilt. Zum Bahnhof. Professorin Doktorin Mariele Juncker-Stockmann abholen – die Star-Referentin des Symposiums.

Seither ist Urs diese Silbe nicht mehr aus dem Kopf gegangen: »Brumm!«

Auch während der Konferenz mit dem Herrn Doktor nicht.

Ja, Konferenz! Als promovierter Germanist weigert sich Urs, das Wort Meeting auch nur zu denken – eines dieser brausepulvrig rosafarbenen Wörter, die auf der Zunge kribbeln, als würde man an den Polen einer Batterie lecken.

Die Konferenz hat ihn also dazu gebracht, es laut auszurufen: »Brumm!«

Kaum, dass die Tür des Marktforschungsinstituts ins Schloss gefallen ist.

Die Konferenz ist …

Ja, wie ist sie denn jetzt eigentlich verlaufen?

Gut, weil sie die von Urs erwarteten Ergebnisse erbracht hat?

Schlecht, weil er seinem Kunden jetzt auseinandersetzen muss, dass die kreativen Ideen dessen sechzehnjährigen Sohnes …

Wie hat es der Herr Doktor zusammengefasst?

»Dieses Konzept ist nicht zielgruppentauglich und daher wenig erfolgversprechend!«

Urs sehnt sich nach einer Dusche. Die mitleidig angewiderten Blicke des Herrn Doktors abspülen. Der bei der Arbeit einen weißen, frisch gestärkten Kittel trägt, obwohl er doch Soziologe und Marktforscher ist.

Im Glauben, das Konzept stamme von Urs selbst, hat ihm der Herr Doktor die Leviten gelesen. Er hat Urs minutiös auseinandergesetzt, warum jede einzelne Idee »nicht zielgruppentauglich und daher wenig erfolgversprechend« ist. Bei jedem »nicht zielgruppentauglich« hat der Herr Doktor die Lippen geschürzt und bei jedem »wenig erfolgversprechend« die Nase gerümpft, als röche er Darmgase.

Urs hätte diese Belehrung nicht nötig gehabt.

Er weiß auch so, dass es keine gute Idee ist, einen führenden Anbieter von essenzieller Fahrzeugtechnik als »Bremsen-Babo« zu vermarkten – im Pimp My Ride-Stil, untermalt von den Versen des vom Filius eigenhändig gedroppten Bremsta-Raps:

»Isch brems disch aus, Alter.

Dann ist aus die Maus, Alter.«

 

Der Herr Doktor hat Urs also wenig Neues zu sagen gehabt. Das allerdings in einem mehrere Zentimeter dicken Bericht. Die ringgebundene Mappe ruht schwer in Urs’ Rucksack: Diese Last muss er jetzt tragen.

Nach Hause. In die Agentur. Zum Kunden.

Wenigstens hat Urs recht behalten.

Kein Grund für Triumph und knallende Sektkorken. Urs behält oft recht. Er ist ja nicht erst seit gestern Kreativdirektor und Co-Geschäftsführer der SummerPod Kommunikations-GmbH Offenbach.

Deshalb weiß er auch bereits, wie die Geschichte ausgehen wird: Der Kunde wird dennoch auf der Umsetzung des Konzepts seines Sohnes beharren. Er wird viel Geld versenken. Sein Traditionsunternehmen wird im Shitstorm der Häme ins Schlingern geraten. Schließlich wird er im Zorn die Agentur wechseln.

Den Kunden werden sie also in jedem Fall verlieren. Dann lieber vorher noch abkassieren. Das zumindest wird Urs’ beste Freundin und Geschäftspartnerin Alexa sagen.

Also: das Gutachten in die Agentur tragen.

Dem Drang widerstehen, Herrn Dr.-Ing. Herzog samt schöpferischem Filius den ringgebundenen Bericht auf die Hinterköpfe zu hämmern. Auch wenn der Herr Dr.-Ing. Herzog, Geschäftsführer von Herzog Raubach – »dem führenden Unternehmen für Verzögerungstechnik!« – alle Argumente vom Tisch fegen wird.

An den Umsatz denken.

Freundlich nicken und lächeln.

Warum fällt diese Art der Krisendiplomatie eigentlich immer ihm zu?

Eine rhetorische Frage. Urs weiß genau warum.

Seine wenig furchteinflößenden hundertsiebzig Zentimeter Körpergröße – okay, hundertvierundsechzig Zentimeter, aber keinen Millimeter weniger.

Seine Stimme. Warm. Weich. Gerne spricht er die von ihm ersonnenen Werbespots und Filmtexte selbst ein – zumindest in der Entwurfsphase.

Der respektheischende Doktortitel. Ob er sich auch einen weißen Kittel zulegen soll?

Und dann ist da natürlich sein Sprachfehler: Urs kann nicht »Nein« sagen.

Eigentlich wäre das Überbringen schlechter Nachrichten ja Aufgabe des Account Managers – ein Ausdruck, den Urs nicht anders als kloakenbraun denken kann, mit einem Nachgeschmack von Großkantinen-Bratensoße.

Der Account Manager besteht jedoch auf diesem Titel – und ebenso darauf, »Hörb« genannt zu werden. Mit amerikanisch gerolltem »R«. Er hat mal ein Gastsemester in New York studiert.

Hörb wäre zwar eigentlich für die Kommunikation mit Dr.-Ing. Herzog zuständig, hat sich aber schon seit einiger Zeit »strategisch retreatet«, um »One-on-One Communications zwischen Kreativen und Kunden zu enablen«.

Übersetzt: Hörb ist das, was man in der Branche ein Trüffelschwein nennt. Mit seiner empfindlichen Nase wittert er Geschäftschancen ebenso gut wie – in diesem Fall – heraufziehende Krisen. Also hat er den Kopf eingezogen.

Urs schnallt die Riemen seines Rucksacks fester. Dann setzt er erneut seinen Fuß vor. Wieder genau auf eine Gehwegplatte.

Und noch einmal.

Und noch einmal.

Über die Ungerechtigkeiten dieser Welt kann er auch später noch lamentieren. Morgen zum Beispiel. Genau, Morgen!

Er blickt auf die Uhr seines Handys: halb eins. Mittag. Nachmittag. Praktisch schon Feierabend. Also erst mal heimfahren. Duschen. Home-Office bei einem Glas Rotwein.

Auf zur S-Bahn. Zur Konstabler Wache. Vorbei an Transitions!.

 

Er hätte doch den Weg über die Zeil nehmen sollen. Sich mitziehen lassen vom Getümmel auf Frankfurts Einkaufsmeile.

Er hätte nicht auf dem Tanngraben bleiben sollen.

Die parallel zur Zeil verlaufende Gasse ist bisher von Sanierungswahn und Gentrifizierung verschont geblieben. Zumindest fast: Das Marktforschungsinstitut mit seiner Fassade aus dunklem Stein und verspiegelten Fenstern ragt zwischen den alten Häusern auf wie ein nagelneuer Stiftzahn aus dem kariösen Gebiss eines Kettenrauchers.

Hier, im Tanngraben, gibt es sie noch: die Resterampen und Waffengeschäfte. Die Gebrauchtwarenläden, in denen man sein Smartphone zurückerwerben kann. Die Kneipen, aus denen man das abgestandene Bier bis auf die Straße riecht, und deren Wirte auf die Frage nach einem Latte macchiato antworten: »Latte? Die Puffs sind in der Taunusstraße.«

Und hier – auf der Straßenseite, auf der Urs geht, aber Wechseln hätte auch nicht viel genützt, der Tanngraben ist nur eine schmale Gasse: Hier also hat auch Transitions! seine Heimat gefunden.

Schnell daran vorbei!

Diese Scham ist doch albern, ermahnt sich Urs. Transitions! ist doch kein Sexshop.

Find Your Identity!, steht auf dem an zwei Ketten aufgehängten Schild über dem Eingang der kleinen Modeboutique.

Im Schaufenster stehen Pumps – Bis Größe 47 lieferbar.

Männliche Schaufensterpuppen tragen Abendkleider mit tiefem Ausschnitt und ohne Abnäher; maskuline Torsi präsentieren Bustiers mit integrierter Oberweitenpolsterung.

In den Schaufenstern der Zeil kann man Aufreizenderes bewundern – wenn auch in kleineren Größen und gefertigt für die stolzen Besitzerinnen doppelter X-Chromosomen. Mit Abnähern. Die Dessous haben keine integrierte Oberweitenpolsterung – zumindest nicht die in der Auslage. Zwar benötigen auch doppelte X-Chromosomen manchmal ergänzende Fülle, doch diese wird schamhaft erst im Geschäft selbst offeriert.

Zum Beispiel bei Beautiful Curves, einem Fachgeschäft für Damenunterkleidung auf der im Frankfurter Volksmund »Fressgass« genannten Verlängerung der Zeil. Beim Gedanken an Beautiful Curves reibt sich Urs unwillkürlich den Hinterkopf. Karolin hat ihm mal eine Kopfnuss gegeben – mitten auf der Fressgass –, weil er zu lange in das Schaufenster dieser Boutique geschaut hat.

Das Echo des Schlages hat von den Hauswänden widergehallt – zumindest in Urs’ Erinnerung. Passanten sind mit peinlich gesenktem Haupt an ihm und Karolin vorbeigeeilt. Andere haben gelacht. Die Frauenrunde am Stehtisch des benachbarten Coffeeshops hat geklatscht: Ein geschlagener Mann wird es schon verdient haben.

Auf dem Heimweg hat Karolin ihm dann einen Vortrag gehalten. Über indoktrinierte Körperbilder, heteronormativ-ästhetische Zwänge im Allgemeinen und in der Unterkleidungsbranche im Besonderen sowie über das »männlich-objektivierende Starren« in seinem Gegensatz zum »weiblich-kommunizierenden Sehen«.

Ihre Argumente sind nicht völlig von der Hand zu weisen: Sein Blick in dieses Schaufenster – das muss er sich eingestehen – ist durchaus »männlich-objektivierend« gewesen. Er hat sich vorgestellt, wie es wäre, die ausgestellten Dessous in einem Paarungsritual von realen weiblichen Kurven zu blättern.

Es sind nicht Karolins Kurven gewesen.

Nicht ihr hat er in seiner Fantasie gehuldigt, sondern … Ayla!

Wenn die Auszubildende auf den Wellen ihres Hüftschwungs durch das liebevoll Erdmännchen-Kolonie genannte Großraumbüro von SummerPod segelt, die dunklen Augen glänzend, die Wangen unter dem Karamell ihres Teints gerötet, das Lächeln ihrer Lippen geschwungen wie eine stolze Fahne im Wind, den doppelten Bug ihrer vom Rollkragenpullover keusch verhüllten Brüste vorgereckt, die schwarzen Haare bauschend wie die Segel eines Dreimasters, dann sinkt in ihrer Bugwelle die Produktivität auf null.

Also ist Karolins Kopfnuss wirklich nicht ganz unverdient gewesen, auch wenn sie gleich darauf selbst Beautiful Curves betreten hat. Natürlich ohne ihn. Urs solle in der Zwischenzeit Kaffee holen: Mit dieser Anweisung hat sie ihn in den Coffeeshop geschickt – ein Spießrutenlauf an der Frauenrunde vorbei.

Karolin hat bei Beautiful Curves übrigens eine schwarzseidene BH-/Slip-Kombination erworben. Für ihre Feiertagsgarderobe. Einmal, nach einer gelungenen Theaterpremiere, hat Urs beides von ihrem tanzgestählten Körper streifen dürfen. Er hat das als Trostpreis empfunden – natürlich mit schlechtem Gewissen.

 

Transitions!: Was Karolin wohl zu der magischen Anziehungskraft sagen würde, die die Auslage der Boutique auf Urs hat?

Sein »Cis-Gender-männlich-objektivierendes Starren«, so hört er Karolin in seinem Kopf dozieren, »ist eine Penetration des Schutzraums für die geschlechtlich nicht-binäre Klientel dieses Ge­schäfts.«

Das stimmt sicher. Urs ist am Tragen von Damenpumps nicht interessiert. Schon gar nicht in Größe 47.

Das wäre auch gar nicht seine Schuhgröße. Der Schöpfer hat ihm kleine Füße gegeben. Schlanke 39. Tatsächlich tragen Karolin und er beide exakt das gleiche Sportschuhmodell, wenn sie ins Fitnessstudio gehen. Karolin findet das witzig; Urs hat das Geschenk eigentlich romantisch gemeint.

Wie dem auch sei: Bloß keinen Seitenblick in das Schaufenster von Transitions!, auch keinen schnell erhaschten!

Er spürt Karolins Finger hart auf seinem Hinterkopf. In innerer Verbeugung vor dem Großmeister der Psychoanalyse muss er zugeben, dass sie seine bereits verstorbenen Eltern erfolgreich als Über-Ich abgelöst hat.

Vorwärts marsch! Augen geradeaus!

Einfach vorbei. Keinen Blick riskieren.

Aber …

Schwarz wie Obsidian.

Weiß wie Schnee.

Die feinen Haare strahlen im Licht der Halogenlampen wie eine Gloriole.

Dieses Objekt, das dort – gehalten von einem Mannequin – im Schaufenster von Transitions! steht, verdreht Urs den Kopf.

Doch es bremst leider nicht seinen Schritt.

Er hebt lediglich seinen rechten Fuß nicht so hoch an, wie er es hätte tun sollen.

Eine Platte des Bürgersteigs ist gekippt – unterspült von jenem Dauerregen, der erst vor Kurzem einem warmen Frühling gewichen ist. Die Kante der Platte ragt über den Gehweg empor. Einen Zentimeter vielleicht.

Hoch genug, dass sich Urs’ Schuhspitze daran verfängt.

Sein Fuß wird abrupt gestoppt.

Die restlichen neunundsiebzig Kilo seines Körpers jedoch sind träge Masse: Kopf, Torso, Arme, linkes Bein bewegen sich weiter vorwärts, während der Rückprall seiner Zehen von der Steinplattenkante das rechte Bein nach hinten katapultiert.

»Dort im Schaufenster steht ein Panda und ich werde stürzen.« Ein Moment der Klarheit.

Da schrammen seine Hände auch schon über das Pflaster; der Reibungswiderstand stoppt seine Vorwärtsbewegung.

»Gut, dass meine Unterlagen und mein Notebook im Rucksack und daher geschützt sind.« Noch so eine luzide Hundertstelsekunde, bevor ihm, dem Gesetz der Trägheit folgend, mehrere hundert ringgebundene Seiten gegen den Hinterkopf schlagen – ein letzter garstiger Kommentar des Herrn Doktors und die züchtigende Hand Karolins zugleich.

Brumm

Eine Begegnung

»Heavens, Darling! Hast du dir wehgetan?«

Eine Hand taucht in Urs’ Gesichtsfeld auf: lange, schlanke Finger, die sorgsam manikürten Nägel lackiert in der Farbe edlen Rotweins.

Urs versucht sich aufzurichten. Sein Blick streift über ein Paar netzbestrumpfter, muskulöser Beine, die irgendwo in der Stratosphäre unter einem weißen Stretch-Kleid verschwinden. Das Kleid schmiegt sich an einen flachen Bauch, um dann mit Schwung den großzügigen Balkon des Dekolletés zu umschließen. Das Weiß des Stoffes betont den warmen Cappuccino-Ton der Haut, die sich von der Brust unter dem um den Hals geschlungenen, gleichfalls weißen Samtband hindurch elegant hinauf über ein ebenmäßiges Gesicht schwingt. Die Nase dieses Gesichts ragt vielleicht einen Millimeter zu weit vor, die dunklen Augen sind eine Nuance zu groß. Die wilde, schwarze Lockenmähne ergießt sich – vom Wind gebauscht – über breite Schultern.

Endlich greift Urs nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand – nur um gleich wieder loszulassen und scharf die Luft zwischen den Zähnen einzuziehen. Die Berührung seiner aufgeschürften Haut brennt wie Säure.

Seine unbekannte Wohltäterin nimmt behutsam Urs’ Handgelenk und dreht die Innenseite seiner Hand nach oben.

»Das sieht ja böse aus, Sweetie. You better come in. Da kann ich dich verarzten.« Das R rollt weich über die Zunge, die Betonungen des Satzes wollen sich nach oben wölben, nicht nach unten in die Girlanden deutscher Lautung: ein amerikanischer Akzent.

Die Wohltäterin geht in die Hocke und legt Urs den Arm um den Oberkörper. Dann stemmt sie ihn in die Höhe. Mit Leichtigkeit. Sie wäre vermutlich kräftig genug, Urs aufzuheben, auch wenn er nicht mit seinem unverletzten Bein nachhelfen würde.

Das Knie seines anderen Beines schmerzt noch zu sehr, um es zu belasten, also stützt ihn seine Wohltäterin, während er zur Tür von Transitions! humpelt.

Unwillkürlich blickt Urs ins Schaufenster.

Nein, er hat sich nicht getäuscht.

Dort steht, von einer Schaufensterpuppe getragen, die für menschliche Maße gefertigte Hülle eines Pandas. Das langhaarige Kunstfell erstrahlt unter den Halogenlampen der Schaufensterbeleuchtung. Das Kostüm lässt das Gesicht frei, doch die weiße Fellkapuze endet in zwei schwarzen Ohren, die sich in plüschiger Neugier in die Welt recken.

Urs’ Samariterin hat unterdessen die Tür des Ladens aufgestemmt und beendet seine versonnene Betrachtung, indem sie ihn über die Schwelle hebt. Sie setzt ihn vorsichtig auf einen Stuhl vor einer kleinen Verkaufstheke mit eingelassener Vitrine, in der allerlei metallene Ringe feilgeboten werden – viele von ihnen zu groß für einen Finger. Armreifen vielleicht? Für besonders schlanke Handgelenke?

»Ich habe einen Verbandskasten und Disinfectant somewhere. Stay where you are, Darling. Be right back.« Die Wohltäterin verschwindet durch einen mit Holzperlenschnüren verhangenen Durchgang hinter dem Tresen. Die Perlenschnüre rasseln und klappern wie ein Heer von Kastagnetten.

Rumoren. Auf- und energisch wieder zugeschobene Schubladen. Derbe Flüche. »Fuck« und »Shit« sind noch die harmlosesten.

Was jetzt?

Urs hat die Schwelle von Transitions! tatsächlich übertreten. Wegschauen ist unmöglich. Oder soll er die Augen schließen?

Nein, das wäre albern. Er wird einfach seinen Blick schweifen lassen. Mit höflicher Neugierde. Wie es Menschen eben machen, die es an einen fremden Ort verschlägt.

Die helle, freundliche Einrichtung des Ladens ist auch gar nicht dazu angetan, schwülstige Fantasien zu inspirieren. Sie beschwört nicht einmal Bilder jener Travestierevuen herauf, die Spießbürger gerne in ihren Stadthallen besuchen, um sich verrucht vorzukommen.

Transitions! ist eine liebevoll eingerichtete, wenn auch arg vollgestopfte Modeboutique: deckenhohe Regale, gefüllt mit sorgfältig gefalteten Kleidungsstücken sowie Kästen und Schachteln aller Art. Kleine, mit akkurater Handschrift bemalte Schilder an den üppig bestückten Kleiderständern: XX. XY. Und X?.

Lange Abendkleider. Schlichte Hosenanzüge. Dessous und Korsagen. Seidene Morgenmäntel. Schuhe in den Größen 39 bis 47 – von eleganten High Heels bis zum puschelbesetzten Hausschuh. Das Schild über einem großen Drahtkorb preist Strumpfhosen in Überlänge an.

Urs läuft ein Schauer des Grusels über den Rücken.

Aber nicht wegen der dargebotenen Waren. Frauenkleider sind zwar noch nie sein Ding gewesen, sieht man von einer kurzlebigen Prinzessinnenphase im Alter von vier Jahren ab. Doch Honi soit qui mal y pense. Verflucht, wer Schlechtes darüber denkt.

Urs gruselt sich, weil er sich an das einzige Mal in seinem erwachsenen Leben erinnert, an dem er Frauenkleider getragen hat.

The Gender Experience: So hat das Motto des Kostümfests an Karolins Fakultät gelautet. Seine Lebensgefährtin hatte daher angeordnet, an jenem Abend die Geschlechter zu tauschen.

Sie hat einen seiner Anzüge getragen und ihn dafür in eine nach Lavendel und Mottenkugeln riechende Bluse ihrer verstorbenen Tante gesteckt. In einen Faltenrock, Kniestrümpfe und Gesundheitsschuhe. Karolin hat zudem darauf bestanden, dass er ein Mieder der Tante trägt. Und einen ausgeleierten Damenslip. Er solle doch mal das heteronormative Machtkonstrukt der Geschlechter am eigenen Leibe erfahren.

Urs hat sich den ganzen Abend nichts sehnlicher gewünscht, als die Klamotten wieder loszuwerden und sich unter die Dusche zu stellen.

Nicht, weil er Frauenkleider getragen hat. Im Gegenteil, eigentlich ist das Kostüm recht gelungen gewesen. Im Spiegel hat er ausgesehen wie Tante Anneliese: So hat er damals, als Kleinkind, die matronenhafte Kindergärtnerin rufen müssen, der auf Spaziergängen gerne mal die lederbehandschuhte Hand ausgerutscht ist.

Die Dusche hat er sich gewünscht, weil er auf das Mottenpulver allergisch reagiert hat. Der brennend juckende Ausschlag hat ihn noch tagelang geplagt.

Allein schon der Gedanke an das Kostümfest lässt dieses Jucken wieder seinen Rücken hochkrabbeln. Urs will die Erinnerung des Ekzems wegkratzen, doch er zwingt sich, es nicht zu tun. Das Jucken würde nur noch schlimmer werden.

Auf der Suche nach einem Rettungsring der Ablenkung lässt er den Blick weiter durch den Laden schweifen, bis er an der Schaufensterauslage hängenbleibt.

Urs kann nicht anders. Er humpelt zum Panda hinüber. Am liebsten möchte er mit beiden Händen durch das Fell streifen, um zu sehen, ob es wirklich so flauschig ist, wie der Anblick verspricht. Doch seine Handflächen sind noch immer aufgeschürft und dreckig. Also bewundert er die genau gesetzte Musterung aus weißem und schwarzem Fell, die plüschig keck abstehenden Ohren aus respektvoller Distanz.

Wie man wohl in das Kostüm hineinschlüpft? Einen Reißverschluss kann er weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick ausmachen. Vielleicht ist der Panda Schaufensterdekoration?

Doch dann entdeckt er das handgeschriebene Preisschild, das mit einer Nadel in den Arm der Schaufensterpuppe gepinnt ist, und muss scharf die Luft einziehen: Für den darauf notierten Betrag bekommt man ja einen Anzug. Bei einem Herrenausstatter. Mit Hemd, Krawatte und Gürtel.

 

»Beautiful, nicht wahr?« Urs hat seine Wohltäterin gar nicht kommen hören. »Der Fursuit ist handgenäht. Auf Maß. – But please, sit down. Damit ich dich verarzten kann.«

Urs humpelt hinter ihr her und setzt sich wieder auf seinen Stuhl.

Seine Samariterin schraubt eine medizinisch-braunglasige Flasche ohne Etikett auf und befeuchtet einen Wattebausch mit einer grünbraunen, öligen Flüssigkeit. »Don’t worry. Sieht eklig aus, but I know what I am doing. Ich war … wie sagt man? EMT? Sanitäter bei der Army.«

»Sanitäterin.« Einmal Germanist, immer Germanist: Die Grammatik seiner Mitmenschen zu korrigieren, ist Urs zum Reflex geworden.

»Nein. Sanitäter«, korrigiert ihn seine Wohltäterin … nein, sein Wohltäter … also sie … also er … ist ein Mann? Aber er hat doch … Sie hat doch …

»Ja, ich habe einen dicken Schwanz zwischen die Beine.« Er … sie … schiebt mit den Händen seine … ihre … Brüste in die Höhe. »Aber die hier sind auch echt. Mit just a little bit of Silicone dabei. – Show me deine Pfoten.«

Verdattert streckt Urs seine Hände vor.

»Ach ja, ich bin übrigens Evelyn. Die Besitzer von Transitions!.« Mit diesen Worten geht Evelyn vor Urs auf die Knie, damit sie … er … seine Verletzungen besser sehen und verarzten kann.

»Der Besitzer.« Schon wieder kann Urs sich nicht zügeln.

»Richtig. Der Besitzer. Deutsche Artikel will drive me crazy one of these days. Obwohl … die Besitzer fits as well.« Evelyn kichert in sich hinein, während sie … er … Urs’ rechte Hand kräftig mit dem Wattebausch abreibt. Es brennt höllisch.

Doch dann lässt der Schmerz schlagartig nach, bevor Urs noch jammern kann.

»Aber du bist …?« Urs beißt sich auf die Zunge, bevor ihm die Frage ganz herausrutscht.

Evelyn sieht auf, ohne in den Wisch- und Tupfbewegungen innezuhalten. »Yes?«

Da kommt er jetzt wohl nicht raus. Und Urs ist wirklich neugierig auf die Antwort. Aber wie fragt er am besten?

»Du identifizierst dich als Mann?«

»Mal so, mal so.« Evelyn zuckt mit den Schultern.

»Also genderfluid?« Urs ist stolz, dass ihm dieses Wort eingefallen ist.

»Postmodern bullshit.« Evelyn betrachtet Urs’ Hand noch einmal kritisch, scheint zufrieden und tupft sie mit einem weiteren Wattebausch trocken. »Große Worte für so unwichtige Details wie das, was wir zwischen den Beinen haben oder gerne hätten. I am … wie sagt man auf Deutsch? Dazwischen. So what?«

»Dazwischen?«

»Yeah. Dazwischen. Schon immer gewesen. Mein Vater ist weiß, meine Mutter ist mixed-race, Black and Apache. Dann haben sie mich auch noch ›Evelyn‹ getauft und mir … How do you say that in German? Right! Sie haben mir diese Dazwischen in die Wiege gelegt.«

»Mit Absicht?«

»No. My father is Jewish und hat mich nach dem britischen General Evelyn Barker benannt. Dem Befreier von Bergen-Belsen. Da waren meine Großeltern eingesperrt.«

Evelyn hat sich Urs’ andere Hand vorgenommen und bearbeitet sie energisch mit einem weiteren flüssigkeitsgetränkten Wattebausch. Urs beißt sich auf die Unterlippe, um nicht zu quieken.

»Ich bin also ein Dazwischen«, fährt Evelyn fort. »Ethnically speaking … und, wenn es denn sein muss, auch … How do you say genderly? Right, geschlechtlich! Who cares? What I am, ist doch längst nicht so wichtig wie who I am.«

»Aber du warst bei der Army.«

»Als Sanitäter, ja. Da wollte ich noch Medizin studieren.«

»Und dann?«

»I got stuck in Germany. Hab mich verliebt. Psychologie studiert.«

»Psychologie?«

»Und Modedesign. Dann habe ich Transitions! eröffnet. – Mach mal die Hände auf und zu.«

Urs gehorcht. Es geht problemlos. Seine Handflächen brennen nicht mehr. Sie sind sauber, die Haut ist rosig – als wäre nichts passiert. »Wie neu. Danke.«

Evelyn nickt zur Flasche auf dem Tisch. »Altes Family Recipe. Mein Onkel ist ein Healer.«

»Ein Medizinmann?« Gleich will Urs sich auf die Zunge beißen: Darf er so etwas sagen?

»Medizinmann?« Evelyn lacht. »He would love that! – No, he is professor for natural medicine and pharmacology. Hab viel von ihm gelernt.«

Fast ist Urs enttäuscht. Der Onkel hat Bilder eines Karl-May-Apachen seiner Kindheit heraufbeschworen: einen weisen Medizinmann, den Oberkörper gehüllt in ein Bärenfell, der aus den zahlreichen Beuteln an seinem Gürtel Medizinen hervorzaubert, mit denen er den tapferen Kriegern Kraft gibt für die letzte Schlacht gegen die Übermacht der Weißen. Der sich über die Verletzten beugt, heilsame Worte spricht …

»Tut’s noch irgendwo weh?«, unterbricht Evelyn seinen Tagtraum.

»Das Knie.« Urs beugt es vorsichtig.

»Kannst du aufstehen?«

»Ich denke schon.«

»Dann mal runter mit die Pants.«

»Wozu das denn?«

»Ich muss mir das Knie doch ansehen. – Wenn’s schlimm ist: Schräg gegenüber ist ein Orthopedist. Jetzt zeig aber erst mal.«

Urs zögert.

»Ich … How do you Germans put it so accurately? Ich guck dir schon nichts weg.« Evelyn hilft ihm aufzustehen. »And don’t worry. So früh kommt selten Kundschaft. Anyway, they’ll think, ich nehme Maß für einen Rock oder so.«

Tapfer lässt Urs also die Hose über seine Beine gleiten. Noch immer von Evelyn gestützt, setzt er sich wieder.

Evelyn betrachtet sein rechtes Knie. »Hm, das kann auch etwas Tinktur vertragen. Wird blau werden.« Geschickt hebt er – oder sie? Vielleicht er/sie? Sicher kein »es«. Evelyn ist ja keine Sache.

»Xier.«

Fast hätte Urs Evelyn »Gesundheit« gewünscht. »Was?«

»Xier«, wiederholt Evelyn. »Xies, xiem, xien. Gender-neutral …«

»… geschlechtsneutrale Pronomina, ich weiß.« Urs schämt sich. An der Uni ist geschlechtergerechte Sprache eines seiner Steckenpferde gewesen. Und jetzt kann er sie nicht mal anwenden, wenn er sie braucht.

Natürlich, xier.

Doch woher weiß Evelyn, woran er gerade gedacht hat?

Er … Sie … Xier! Xier zuckt mit den Achseln, auch ohne dass Urs fragen muss. »Du hattest gerade diesen Blick. Außerdem fragen sich Männer meistens zwei Dinge, wenn sie mir begegnen: Wie der Sex mit mir ist. Oder wie sie mich anreden sollen. Und für Sex-Fantasies bist du zu schüchtern.«

Urs nickt. »Okay, xier.«

»Well, some say ›sier‹. Aber I like ›xier‹ better. Lets the X shine, nicht wahr? A rather vernachlässigter Konsonant.«

Auch ein Argument. Urs fühlt sich an einen seiner Sprachwissenschaftsdozenten erinnert, der einsam für die Förderung des Ypsilons gekämpft hat.

Evelyn hat Urs’ Unterschenkel angehoben und bewegt ihn vorsichtig im Kniegelenk auf und ab. »Tut das weh?«

»Nur ein wenig.«

»Good.« Evelyn betastet das Knie. »Und das?«

»Auch nur ein bisschen.«

»Excellent. – Würde sagen, nur geprellt. Ich mache dir einen Heilverband. Und wenn es morgen noch wehtut, gehst du zum Arzt, okay?«

Evelyn richtet sich auf, um aus einer abgenutzten, militärisch olivgrünen Tasche einen Stretch-Verband und einen Salbentopf zu nehmen. »Another one of my uncle’s recipes. Hat damit schon Pferde wieder auf die Beine gebracht, die die Besitzer erschießen wollten.«

»Pferde? Ist er Tierarzt?«

»Menschen. Tiere. Pflanzen. A healer cares for all living creatures, sagt er. Aber nein. Er ist … What do you call a specialist for internal medicine in German?«

»Internist?«

»Right. Internist. But when he’s home, schaut er auch mal nach den Tieren. Not such a big difference, he says. Wir alle tragen das Tier in uns.«

»Was für ein Tier?«

»Das kommt darauf an. Hunde. Kojoten. Eulen. Hast du vielleicht schon mal gehört: ›Entdecke das Tier in dir.‹«

Das klingt jetzt zwar nach Deo-Werbung, erinnert Urs jedoch zugleich an seine Doktorarbeit über das literarische Motiv der Metamorphose von Ovid bis Kafka. Bei seinen Recherchen hat er sich am Rande auch mit Schamanismus beschäftigt. »Gibt es nicht Rituale, die diese Tiere beschwören? Man legt sich ein Fell an und wird ein wenig zu diesem Tier?«

Evelyn lacht. »Ganz so einfach ist es nicht, but yes. Native American Folklore. Die Family meines Onkels hat daraus ein Business gemacht. Helfen burned-out city people, das Tier in sich zu entdecken.«

Unwillkürlich blickt Urs zu dem Panda im Schaufenster. Ist das vielleicht gar kein Kostüm im eigentlichen Sinne? Ist es ein … Wie nennt man das noch? Ein Totem? Ein ritueller Fetisch? Soll er fragen? Evelyn ist schließlich dier Experte … Expertin … Verdammt, wie war noch mal die geschlechtergerechte Form?

»Ist dafür das … der Panda? Für so ein Ritual?«

Evelyn lacht so sehr, dass xier aufhören muss, sein Knie mit Salbe einzureiben. »Heavens! No! Den Suit habe ich für einen Kunden machen lassen.«

»Für einen Kunden? Aber das hier ist doch ein Laden für …«

»Transenfummel?« Evelyns Augen blitzen amüsiert.

»Das wollte ich nicht …«

»Ach, so wollte ich den Laden erst nennen. Transenfummel. Aber … Na ja, ich mache eben mehr als nur Kleider für Männer und manchmal Anzüge für Mädchen.«

»Nämlich?«

»I help people, ihre wahre Identität zu finden. Mann. Frau. Dazwischen.«

»Oder Panda?«

Darüber muss Evelyn einen Augenblick lang nachdenken. Xier sieht schließlich zum Kostüm im Schaufenster und schüttelt den Kopf: »Not really. Der Fursuit war eine Ausnahme.«

»Fursuit?«

»So nennt man so ein Ding. Ist übrigens eine Maßanfertigung für einen Kunden. Einen Furry.«

»Einen was?«

»Einen Furry. So nennen sie sich selbst. Furries schlüpfen in die Rolle von Tieren. Aber nur so halb. Wie nennt man diese Disney-Tiere noch mal, that act like humans?«

»Anthropomorph?«

»Genau. That’s the word.«

»Also ist so ein Fursuit doch wie dieses Ritual. Man zieht sich das Fell über und wird ein wenig zu diesem Tier.«

Evelyn zuckt mit den Achseln. »Maybe. In a comic book way.«

»Und dieser Furry wollte also ein Panda sein?«

»Zuerst. Ja. Überlegt sich dann plötzlich, dass er eigentlich ein Streifenhörnchen ist.«

Urs unterdrückt ein Lachen. »Wer will denn ein Streifenhörnchen sein?«

»That’s what I said. Anyway, er wollte den Fursuit dann doch nicht. Honestly? I think, der war ihm zu teuer. Hat sich bestimmt eines von diesen billigen Mascot Costumes gekauft, mit denen bei uns in den US of A die fetten Schüler im Football-Stadium rumhüpfen dürfen, so they don’t feel left out.«

Evelyn hat unterdessen Urs’ Knie fertig verbunden. Er ist aufgestanden und hat seine Hose wieder hochgezogen. Jetzt geht er, das verletzte Bein vorsichtig belastend, wieder zu dem Kostüm … Fur­suit und bewundert die Details. »Und das hast du geschneidert?«

»I wish. Das hat ein Costume Workshop in Los Angeles gemacht. Auf Maß. Und jetzt sitze ich auf dem Ding. – Nie wieder für Anwälte. Das Streifenhörnchen-Cheapskate ist ein Shyster … Wie sagt man? Rechtsverdreher.« Evelyn schnaubt ärgerlich. »Jetzt hoffe ich, dass ich einen Käufer finde. Nicht einfach. Der Kunde war nicht gerade ein Riese. – Wait a minute!« Xier mustert Urs von oben bis unten. »Du bist ungefähr lawyer-sized. Würdest du mal hineinschlüpfen?«

»Aber …«

»So I can see, wie der Suit angezogen aussieht? Please?« Evelyn hat bereits die Puppe aus dem Schaufenster gehoben. »Geht auch ganz schnell. – Keine Sorge, ich will dir nichts aufschwatzen.«

Urs hebt die Schultern, um zu widersprechen, doch da ist er wieder. Sein Sprachfehler. Das Nicht-Nein-Sagen-Können.

»Gib es zu, du bist neugierig«, hört er zudem die Stimme von Alexa in seinem Kopf. Seine beste Freundin hat die Rolle des Freud’schen Es übernommen und übertönt mit ihrem rauchigen Lachen seine empört protestierende innere Karolin.

 

Der Fursuit hat also tatsächlich einen Reißverschluss, gut im dichten Fell verborgen, genau am Übergang von Schwarz und Weiß entlanggeführt.

Evelyn zieht ihn ehrfurchtsvoll auf. »Das Fell ist eine Spezialfaser. Extra-fluffy und federleicht. Eigentlich Polstermaterial aus der Raumfahrt. – Heb mal die Puppe hoch.«

Urs gehorcht; das Panda-Kunstfell gleitet von den Schaufensterpuppenbeinen.

»The Lining … das Innenfutter ist breathable. Atmungsaktiv. Man kann es auch herausnehmen. – Komm, over there ist eine Umkleidekabine.«

Gehorsam trabt Urs hinter Evelyn her. Xier öffnet einen Vorhang und hängt den Panda-Suit auf einen Bügel. »Fühl dich wie zu Hause.«

 

Urs betritt die Umkleidekabine und zieht den Vorhang hinter sich zu.

Soll er wirklich? Mit den Fingerspitzen streicht er über das Fell. Flauschig. Weich. Er widersteht dem Drang, sein Gesicht hineinzutauchen. Entschlossen zieht er sein Jackett aus und knöpft das Hemd auf. Schließlich hat er es Evelyn versprochen. Er streift Schuhe und Hose ab und steht dann, nur in Slip, Unterhemd und Socken, wieder unschlüssig vor dem Kostüm.

»Kommst du klar, Darling?«

»Ja, ja.«

Das weiche Futter des Fursuits gleitet wie von selbst über seine Haut und schmiegt sich an Beine, Rücken und Schultern. Behutsam darauf bedacht, keine Fellhaare einzuklemmen, zieht Urs den Reißverschluss zu. Nur die gepolsterte Kapuze mit den beiden Puschel­ohren sitzt zu locker auf seinem Kopf. Der Anwalt muss wohl einen Dickschädel haben.

Fertig! Urs betrachtet sich im Spiegel der Umkleidekabine.

Ihm sieht kein Panda entgegen. Nicht mal ein »Bärchen«.

Nur ein untersetzter Mann, eingehüllt in flauschig schwarz-weißes Fell, durch die neugierig in die Welt ragenden Plüschohren um ein paar Zentimeter gewachsen.

Ein Mann »in den besten Jahren«.

Der weniger Tage vor als hinter sich hat.

In dessen Dreitagebart mehr als nur vereinzelte graue Haare sprießen.

Dessen Augenringe von seiner Schlaflosigkeit erzählen.

Urs wendet sich vom Anblick des Jammers ab. Stattdessen zupft er den Fursuit zurecht. Wirklich federleicht! Er fühlt sich beinahe nackt. Und doch geborgen. Das Innenfutter liebkost seine Haut, wenn er sich bewegt.

»Passt er, Sweetie?«, dringt Evelyns Stimme durch den Vorhang der Umkleidekabine.

Ach ja, richtig. Urs probiert den Suit ja nicht für sich an. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und zieht den Vorhang beiseite.

»Beautiful. Jetzt noch die Pfoten.« Evelyn hält ihm ein Bündel schwarzer Fellstücke hin.

Erst als Urs das Bündel nimmt, erkennt er, dass es sich um ein Paar Stiefel und um Handschuhe handelt. Auch das noch. Normalerweise empfindet er das Anprobieren von Schuhen als eine perfide Form der Folter. Urs setzt sich trotzdem auf den Stuhl vor dem Tresen, um die Stiefel anzuziehen. Sie sind mit dem gleichen geschmeidigen Material gefüttert wie der Suit, das Fußbett gleichzeitig stabil und anschmiegsam. Vorsichtig steht Urs auf, um ein paar Schritte zu gehen: äußerst angenehm.

»Sand- und Gelpolster in der Sohle. Very healthy. Wie barfuß und gute Schuhe zugleich. Und jetzt die Vorderpfoten.« Evelyn hält Urs ein Paar fellbesetzte Handschuhe hin.

Urs streift sie über und spürt …

Ja, was eigentlich? Er spürt die Handschuhe praktisch nicht. Zwar sieht er das schwarze Fell, das lederähnliche Material an der Innenseite, doch beides fühlt sich an, als sei es mit seiner Hand verwachsen. Als er die Finger bewegt, hindert ihn kein Zerren, kein Stau, keine Steife. Mit dem Daumen tippt er gegen die Fingerspitzen und spürte jede Nuance. Unwillkürlich formt seine linke Hand Akkorde.

»Du spielst Guitar?« , fragt Evelyn.

Urs nickt unsicher. Er spielt in letzter Zeit selten und nur, wenn er allein ist. Karolin mag nicht, wenn er in ihrer Gegenwart »Masturbation sublimiert«. Sie hat seine Gibson Explorer, »diesen Instrument gewordenen Phallus«, von der Wandhalterung im Wohnzimmer zurück in den Koffer verbannt.

Noch immer formt seine linke Hand Akkorde. Urs sieht ihr fasziniert dabei zu.

»Das Streifenhörnchen-Cheapskate wanted to work in that suit. Auf seinem Laptop tippen. Aber die Pfoten waren ihm angeblich zu groß und zu steif.«

»Aber die spürt man doch kaum.«

»Exactly. I guess he was just looking for a reason not to pay. Streifenhörnchen, you know. Irgendwann habe ich es aufgegeben. Nie wieder arbeite ich für Anwälte.«

Urs nickt wissend. In der Anfangsphase ihrer Agentur haben seine beste Freundin Alexa und er den Fehler gemacht, Start-ups und Rechtsanwaltskanzleien zu umwerben.

Die Start-ups sind meist bereits den Weg alles Irdischen gegangen, bevor Urs noch die Rechnung ausstellen konnte. Die Anwaltskanzleien haben sie wegen jedes einzelnen Rechnungspostens mit Beschwerden und Schriftsätzen überzogen. Es kostete sie ja nur das Porto.

»Steh mal auf und lass dich ansehen«, reißt Evelyn Urs aus seinen Gedanken.

Er gehorcht. Evelyn tritt einen Schritt zurück, um ihn zu begutachten. »Perfect. Bis auf die Kapuze, die … Oder, Moment, heb mal den Kopf.«

Urs schaut gehorsam zur Decke. Er spürt Evelyns Finger an seinem Hals, fühlt, wie sich die Kapuze enger an seinen Kopf schmiegt. Dann hört er ein Klacken.

»There is a button … ein Druckknopf.« Evelyn lässt xiere Hände am Saum der Kapuze entlanggleiten. »Fits perfectly. Wie für dich geschneidert. Nur eines noch.« Xier richtet die Ohren an der Kapuze auf und krault dann das weiche Fell dazwischen: »Sorry, that’s just irresistable.«

Urs bemerkt erst zeitverzögert, dass er den Kopf gehoben hat, um sich in die Liebkosung zu schmiegen. Er wünscht sich, Evelyn würde ihn weiterkraulen. Seinen Nacken. Das weiche Fell auf seinem Bauch …

Moment! Fühlt er sich etwa zu Evelyn hingezogen? Zu einer … zu einem …

Gleich in doppelter Scham spürt Urs seine Wangen aufglühen. Nicht nur, dass ihm die zärtliche Berührung eines fremden Menschen so angenehm ist. Sondern auch, weil er sich zugleich … nein, nicht abgestoßen, das wäre zu viel gesagt … aber, dass er … Was eigentlich? Dass er solche Vorurteile gegen Evelyn hegt?

Urs schüttelt den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Hoffentlich fasst Evelyn das jetzt nicht als Zurückweisung auf.

Doch xier hat schon längst aufgehört ihn zu kraulen. »Let’s take some pictures. Da freuen sich die im Costume Workshop. Just a second.«

Evelyn verschwindet erneut durch den Perlenvorhang und kommt gleich darauf mit einer Spiegelreflexkamera zurück.

»Stell dich mal da vor den Spiegel. Da ist besseres Licht.«

Fotos von ihm? Als Panda verkleidet? Wirklich?

»Breite mal die Arme aus.«

»Brumm.« Das ist Urs so rausgerutscht. Aber hier passt das Wort wenigstens. Oder? Was für Laute geben Pandas eigentlich von sich? Er kann sich nur an das lautstarke Niesen des Panda-Babys aus diesem Video erinnern, das vor einigen Jahren im Internet kursiert ist.

»Streck mal die Hände vor. Beweg die Finger.« Evelyn knipst ein Foto nach dem anderen.

»Now move. Also, your ganzen Körper.«

Wie soll er sich denn bewegen? Urs blickt unsicher auf seine Hände.

»Na, geh doch mal. Auf der Stelle. Oder tanz. Oder …«

Unsicher beginnt Urs, seine Füße abwechselnd anzuheben.

Wieder und wieder. Er tapst auf der Stelle.

Nein. Nicht auf der Stelle. Seine Füße formen den »Paso Basico« – den Grundschritt des Tangos. Karolin hat ihn mal zu einem Kurs geschleppt, ihn dann aber an eine zierliche Kollegin von ihr delegiert und selbst mit dem Tanzlehrer getanzt, einem ebenso feurigen wie – zu Karolins Enttäuschung – schwulen Argentinier.

Musik? Wo kommt denn auf einmal die Musik her?

Aus seiner eigenen Kehle! Er summt tatsächlich einen Tango vor sich hin und tanzt dazu. Einhändig fotografierend schnipst Evelyn den Takt.

Warum eigentlich nicht? Urs macht größere, mutigere Schritte und tanzt bald durch den ganzen Laden. Aus einer Vase auf der Theke schnappt er sich eine Plastikrose und klemmt sie sich zwischen die Zähne. Über einer Puppe im Schaufenster hängt eine Federboa, die er sich um den Hals schlingt.

Er tanzt. Singt aus voller Kehle.

Vor dem Schaufenster sind Menschen stehen geblieben, aber das ist Urs egal. Das hier ist ein Laden für Transenfummel, da wird doch ein Panda Tango tanzen dürfen.

 

Endlich kann er nicht mehr. Zudem hat sich die Boa bei einem gewagteren Teil seiner improvisierten Choreografie in seinem Schritt verhakt.

Außer Atem lehnt er sich an die Theke und versucht, die Boa zu lösen, ohne sie zu beschädigen. Endlich spürt er, woran sie sich verhakt hat: »Ein Reißverschluss? Im Schritt? Das ist praktisch, wenn man mal pinkeln muss.«

Evelyn lässt schmunzelnd die Kamera sinken. »Okay, dafür auch.«

»Wofür denn noch?«

Xier sieht Urs nur mit hochgezogener Augenbraue an, bis er versteht.

»Ernsthaft? Diese … Wie heißen die doch gleich?«

»Furries?«

»Genau, Furries. Das ist ein Sex-Ding?«

Evelyn schüttelt lachend xiere langen, wilden Locken. »Of course, it’s about sex, darling. Survive. Eat. Procreate. Und so ein Fursuit dient weder der Tarnung noch der Nahrungsaufnahme.«

»Mach’s mir, Bärchen!«, dröhnt Karolins Stimme in Urs’ Kopf. Er stellt sich vor, wie sie ihn wieder einmal reitet – sie besteht auf dieser Stellung, das halte ihren Po und ihre Schenkel straff – und dabei die Hände in sein Brustfell krallt.

Beinahe hätte er laut losgelacht, doch …

Blinken! Glitzern!

Die Ringe in der Verkaufsvitrine funkeln einladend.

Kurzerhand klettert er auf die Theke. Neugierig zieht er die Schublade der Vitrine auf, fischt zwei besonders große Strass-besetzte Silberringe heraus und hält sie sich an die Plüschohren.

Evelyn fotografiert bereits wieder. »You do know those are cock rings, right?«

Ringe für … »Mit Strass?«

»Some balls deserve jewlery.«

Urs hält die Ringe vor sich und versucht, sich ein Strass-glitzerndes männliches Geschlecht vorzustellen. Vielleicht sollte man oben auf der Eichel noch ein rotes Signallicht anbringen. »Rudolph, the red-cocked reindeer!«

Er muss so sehr lachen, dass er von der Theke kullert. Mit einem dumpfen Plumps schlägt er auf dem Teppichboden auf, aber es tut nicht weh. Das Fell dämpft den Sturz. Vergnügt weiterlachend strampelt er mit den Beinen, während Evelyn sich über die Theke beugt und ein letztes Foto schießt.

Dann legt xier die Kamera beiseite, kommt um den Tresen herum, packt Urs bei der Hand, schlingt ihm den anderen Arm um den Oberkörper und zieht ihn hoch.

Als er wieder aufrecht steht, ordnet Evelyn ihm die Ohren und streicht das Fell auf Urs’ Kopf glatt. »This is so soft. Da möchte man den ganzen Tag puscheln.«

Unwillkürlich weicht Urs einen Schritt zurück. Ein anderer Mensch, so dicht, und dann eingeklemmt zwischen Theke und Regal, ohne Fluchtmöglichkeit? Er schluckt den Knurrlaut herunter, der in seiner Kehle aufsteigt.

Evelyn lässt die Hand sinken. Xier lächelt noch immer. »Sorry, wollte dir nicht zu nahetreten. – Hey, hast du etwa gedacht, das ist ein Come-on?«

Come-on? Hat er wirklich gedacht, Evelyn will ihn anmachen? »Nein, nein, ich …«

Evelyns Augen funkeln amüsiert. »Don’t worry about it. Meine Girlfriend würde mir die Augen auskratzen, wenn ich mit Kunden flirte.«

»Girlfriend?« Freundin?

Evelyns Lächeln verlischt schlagartig. »Nur, weil ich Fummel trage und Tits habe, muss ich auf Männer stehen?«

Oh Gott. Schon wieder so ein heteronormativer Fauxpas. Urs spürt Karolins Stahlfinger auf dem Hinterkopf.

Übergangslos prustet Evelyn los. »You should see your face. Oh, ihr deutschen Männer.« Xier holt tief Luft, um sich zu beruhigen. »Don’t worry about it. Bist nicht der erste Mann, der so denkt. Hier im Laden schon mal gar nicht.«

»Also, Girlfriend«, wiederholt Urs, nur um irgendetwas zu sagen.

»Oh yeah. Really nice gal. Loves cocks and tits. Steht auf Eier und Titten. So sagt sie das zumindest.«

»Okay, das ist ja dann …« Urs beißt sich auf die Zunge. Da hat man einmal im Leben rechtzeitig die Idee zu einer witzigen Bemerkung und …

»Praktisch, exactly«, nimmt Evelyn ihm das Wort aus dem Mund. »Let’s see, ob die Bilder was geworden sind.«

Xier hält Urs das Display der Kamera hin. Er zwingt sich zu einem Schritt nach vorne, denn er will ja nicht wieder schüchtern, verklemmt und vorurteilsbeladen erscheinen. Verspannt, wie er ist, gerät der kleine Schritt größer als gedacht: Er landet mit dem Gesicht auf Evelyns Dekolleté. »Sorry, tut mir …«

»Well, talk about come-ons.«

 

Die Fotos sind wirklich gut gelungen. Und Urs …

Er sieht darauf aus, als hätte er Spaß. Sein Mund füllt sich mit dem bitteren Geschmack der Melancholie. Wann hat ihm zuletzt etwas wirklich Spaß gemacht?

Das hat er sich in letzter Zeit oft gefragt. Dann hat er sich mit Süßigkeiten getröstet. Fruchtgummistangen. BambooStixx heißt die Marke.

Bambus. Essen Pandas nicht gerne Bambus?

Oh ja. Ein BambooStick wäre jetzt klasse. Oder zwei. Oder drei. Gut, dass er am Vortag welche gekauft hat. Sie warten zuhause auf ihn. In einem großen Glas auf der Anrichte im Flur seiner Wohnung. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen, als er sich die säuerliche Süße vorstellt.

»Everything alright? You look tired«, fragt Evelyn.

»Nur einen anstrengenden Tag gehabt.«

»Want some coffee?«

»Danke, nein. Ich muss allmählich heim.«

 

Urs zieht den Vorhang der Umkleidekabine hinter sich zu und lässt sich auf die schmale Bank fallen. Am liebsten möchte er sich zusammenrollen und einschlafen.

Schlafen. Das wäre schön. Mal wieder eine Nacht durchschlafen. Oder wenigstens ein paar Stunden. Er hat schon seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen. Seit Jahren. Die Arbeit. Der Stress. Außerdem schnarcht Karolin, dass das Bett bebt.

Ihm fallen tatsächlich die Augen zu. Also zwingt sich Urs, wieder aufzustehen. Er will den Druckknopf an seinem Kinn lösen, um die Kapuze abzusetzen, doch dann zögert er und blickt noch einmal in den großen Spiegel der Kabine: kein stolzer Urside.

Nur ein kleiner, untersetzter Mann im Pandakostüm.

Den seine Freundin »Bärchen« nennt.

Der seine Träume längst eingetauscht hat gegen die Sicherheit von Eigentumswohnung, moderatem Wohlstand und homöopathisch dosierter Kreativität.

Der niemals seinen Roman schreiben, niemals Professor für vergleichende Literaturwissenschaft werden würde.

Er muss eine Träne wegblinzeln.

Als er die Augen wieder öffnet, meint er für den Bruchteil einer Sekunde, aus dem Spiegel sähe ihm ein echter Panda entgegen. Voller Mitleid. »Ich verstehe dich, Kumpel. Bambus?«

Noch ein Blinzeln, dann ist das Trugbild wieder verschwunden.

Urs räkelt sich und genießt, wie ihn das Innenfutter des Fursuits liebkost. Am liebsten würde er den Suit gar nicht mehr ausziehen, sondern einfach so, wie er ist, nach Hause gehen. Heim zu seinen geliebten BambooStixx.

Und zu Karolin. Was würde sie wohl sagen, wenn er so nach Hause käme? Als Panda verkleidet? Vielleicht fände sie es ja niedlich.

Nein. Natürlich nicht.

Sie würde sich aufregen. So wie immer.

Behutsam streift Urs Handschuhe und Stiefel ab. Dann öffnet er den Druckknopf am Kinn und schiebt die Kapuze zurück.

Der Reißverschluss leistet Widerstand; ein paar Haare haben sich darin verfangen. Urs löst sie vorsichtig, dann gleitet der Schieber zwischen den Metallzähnen herab.

Der Suit rutscht von Urs’ Schultern. Er steigt hinaus und hängt ihn auf seinen Bügel.

Im Spiegel erblickt er sein in Unterwäsche gekleidetes Ebenbild und fühlt sich, als hätte sich die Schwerkraft verdoppelt. Mühsam steigt er in seine Hose. Sein Knie schmerzt wieder.

Langsam streift er sein Hemd über. Die Knöpfe zwicken ihn in die Fingerspitzen, als er sie schließt.

Fehlt nur noch das Jackett und dann ist er wieder ganz er selbst: Dr. Urs A. Podini. Gescheiterter Literaturwissenschaftler. Verkrachter Schriftsteller. Erfolgreicher Werber. So ist das eben.

 

Er lässt den Panda-Suit in der Kabine hängen. Nur nicht in Versuchung kommen. Jedes Risiko vermeiden. Niemals – wirklich niemals – »Nein« sagen.

Evelyn lehnt an der Theke. »Und? Alles klar?«

Urs nickt.

»Keine Schmerzen mehr? Your Knie?«

»Na ja, ein wenig.«

Evelyn muss mit der Antwort gerechnet haben, denn xier reicht ihm eine Visitenkarte. »Hier, der Orthopedist. Falls es morgen noch nicht besser ist. Tell him, Evelyn schickt dich. Er weiß dann schon.«

»Ein Kunde?«, will Urs fragen, verkneift es sich aber. Evelyn ist bestimmt nicht so indiskret, ihm wahrheitsgemäß zu antworten.

»Der ist wirklich gut.« Evelyn zögert, dann hält xier ihm noch eine weitere Visitenkarte hin. Schwarz. Transitions! ist darauf in silbernen Lettern eingeprägt. Eine URL, eine E-Mail-Adresse, eine Telefonnummer. Auf der Rückseite eine skizzierte Umgebungskarte.

»Falls du noch mal herkommen möchtest. Der Panda ist sicher noch eine Weile da.«

Urs nimmt die Karte und steckt sie in die Brusttasche seines Hemdes. »Danke, aber …«

»I understand. Anyway, I owe you a coffee. Für die Pictures. So, don’t be a stranger.«

Evelyn geht ihm voran und öffnet die Tür. Dort reicht xier ihm noch einmal die Hand. Xien Händedruck ist fest, trocken – männlich. Urs schämt sich für diesen Gedanken.

Dann schließt sich die Tür. Ein Windspiel weht ihm zum Abschied ein paar melancholische Klänge hinterher.

Brumm

Eine Entscheidung

Urs ist zügig losgegangen. Doch der Morast der Gedanken lässt seine Schritte schon bald langsamer werden. Er schmeckt dem Spaß beim Posieren für die Fotos nach. Spürt das Echo des weichen Fursuit-Futters auf seiner Haut. Es fällt ihm zunehmend schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und er gibt vor, sich für die Auslagen der Schaufenster zu interessieren, die er passiert.

Ein Schild an der Tür eines kleinen Teppichgeschäfts lässt ihn ganz stehen bleiben. Es offeriert handaufgeknüpfte Perser im Schlussverkauf. Gerne hätte Urs den Besitzer auf seinen makabren Fehler aufmerksam gemacht. Doch das Geschäft ist wegen Todesfall geschlossen, wie ein zweites Schild neben dem ersten besagt.

Urs will sein Handy zücken, um beide Schilder mit einem Foto zu dokumentieren: genau das Richtige für den schwarzen Humor seiner besten Freundin Alexa.

Doch …

Beinahe wäre Urs das Telefon aus der Hand gerutscht.

Nein. Das ist keine Illusion.

Dort – im Schaufenster nebenan – sitzt tatsächlich ein Panda. Das schwarz-weiße Fellknäuel sieht nach draußen auf das Treiben der Straße, bedächtig an einem Stück Bambus kauend, die Ohren neugierig in die Welt gereckt.

Kein echter Panda natürlich, wie Urs erkennt, als er sich von seinem Schreck erholt hat. Ein lebensgroßes Plüschtier.

Eine Tafel neben dem Panda offeriert in kreidener Kaligraphie: Mittagstisch – Ente mit frischem Bambus.

Er steht vor einem chinesischen Restaurant?

Urs macht einen Schritt rückwärts, um das Schild über der Tür zu lesen: Xiongmao steht dort. Von diesem Restaurant hat er noch nie gehört.

Ente mit frischem Bambus – das klingt verlockend. Das Display seines Handys zeigt auch schon kurz nach halb zwei, längst Zeit für ein Mittagessen.

 

Im ersten Augenblick fürchtet Urs, das Lokal sei geschlossen; im dämmrigen Gastraum sitzen keine Gäste.

Doch durch den Mittelgang schwebt ein zierlicher Chinese auf ihn zu: fein geschnittene Gesichtszüge, weißer Bart, dunkel-melancholische Augen. Seine weiße Kochjacke ist blitzsauber, die silbernen Knöpfe blinken. In der Hand hält er eine Speisekarte.

»Herzlich willkommen bei Xiongmao.« Seine singend tiefe Stimme lässt den Chinesen klingen, als sei er der Abt eines lang vergessenen Tempels und begrüße einen Forscher mit der Verheißung kulinarischer Weisheit. »Wo selbst Xiongmao sich gern zu einem Mahl niederlässt. Möchten Sie speisen?«

Urs nickt unsicher.

In erhabener Prozession schreitet dieser Weise der Kulinarik ihm voran zu einem Tisch in einer Nische. Er rückt einen Stuhl zurecht, wartet, bis Urs Platz genommen hat, und legt dann die Speisekarte aufgeschlagen vor ihn hin. Mit einem großen Streichholz zündet er die Kerze auf dem Tisch an wie eine Opfergabe.

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Einen Jasmin-Tee bitte. Grün.«

Der Mann notiert sich die Bestellung auf seinem Block. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen auch etwas Wasser bringe? Tee treibt die Säfte aus dem Körper, doch Ihre Augen verraten mir, dass Sie heute zu wenig getrunken haben.«

Das ist aber mal ein besorgter und bemühter Kellner. Der warme, freundliche Singsang mit dem chinesisch gerollten R – es ist eine Legende, dass Chinesen kein R sprechen können, sie rollen den Buchstaben nur in ihrer ganz eigenen Art; dieser Ton jedenfalls ist eine dankenswerte Abwechslung von der missmutigen Ruppigkeit, die in Hessen als höflich gilt – und in jedem anderen Bundesland als Kriegserklärung.

»Das wäre sehr freundlich, danke.«

»Keine Ursache.« Zufrieden macht sich der Mann eine weitere Notiz und schreitet dann davon.

 

Achtlos blättert Urs in der Speisekarte. Er weiß eigentlich schon, was er will. Also schlägt er die Karte zu und reibt sich die Augen.

Als er sie wieder öffnet, steht der Kellner neben ihm. Von einem Tablett nimmt er eine Kanne und eine winzige Tasse aus feinwandigem, weißem Porzellan und stellt sie vor Urs auf den Tisch, ebenso eine schlank-geschwungene Karaffe und ein passendes Glas. Er schenkt Urs Wasser ein.

»Den Tee sollten Sie noch zwei Minuten ruhen lassen, damit er seine Kraft entfaltet.« Aus dem Munde des Chinesen klingt das wie ein Lehrsatz des Konfuzius. »Womit kann ich Ihren Gaumen erfreuen?«

Urs braucht eine Sekunde, bis er verstanden hat, dass ihn der Mann um seine Essensbestellung bittet. »Also … Ich hätte gerne die Ente mit Bambus.«

Der Kellner nickt wohlwollend, während er auf seinem Block schreibt wie ein Kalligrafie-Künstler. »Eine gute Wahl.«

»Und hätten Sie vorweg diese Krabbenchips? Krupuk?«

»Leider nicht. Zu viel Aufwand, sie frisch zuzubereiten. Und die fertigen Chips … Nun, die kann ich den Gaumen und Lebern meiner Patienten kaum zumuten.«

»Lebern?«, will Urs fragen, doch dann stolpern seine Gedanken über ein anderes Wort. »Patienten?«

»Gäste. Das wollte ich sagen. Verzeihung. Ich war einmal Arzt. In einem anderen Leben. – Darf ich Ihnen als Vorspeise die Gemüse-Nudelsuppe empfehlen? Der Ingwer wird Ihre Lebensgeister wecken.«

»Arzt waren Sie einmal?« Im nächsten Augenblick geniert sich Urs für seinen Anfall von Neugier. Wer weiß, welches Drama sich hinter diesem Berufswechsel verbirgt.

Der Chinese nickt gelassen. »Bis zu meiner Pensionierung. Aber das Kochen war schon immer meine Leidenschaft. Wer rastet, der rostet. Also habe ich dieses Restaurant eröffnet.«

»Das ist ein großer Sprung.«

»Nicht so groß, wie man meinen könnte. Im Grunde sorge ich noch immer für das Wohl der Menschen. Nur kommen sie jetzt freiwillig und gerne zu mir. Das ist nach vierzig Jahren Krankenhaus eine wahre Wonne.«

»Ich … Ich koche auch gerne.« Und gut, wie Urs’ Freunde nicht müde werden, zu bestätigen.

»Eine weise Beschäftigung. Ich mache mich sogleich an die Zubereitung Ihrer Speisen. Allerdings bitte ich um Geduld. Denn wie hat es ein kluger Mann einmal gesagt? Gut Ding will Weile haben.«

Die Redewendung klingt im Singsang des Mannes so fremd, dass Urs zunächst der Überzeugung ist, er habe Mandarin gesprochen.

 

Das Warten macht Urs nichts aus. Er checkt die Mails auf seinem Smartphone: nichts, was sich nicht aufschieben ließe. Dann gießt er sich Tee ein.

Der Tee ist heiß, also lässt Urs sich nur einen kleinen Schluck auf der Zunge zergehen, während er seinen Blick durch das Halbdunkel des Restaurants schweifen lässt.

Keine chinesischen Laternen mit roten Fransen.

Keine goldenen Buddha-Statuen, von denen es früher immer geheißen hatte, sie kennzeichneten Lokale, die von den Triaden, der chinesischen Mafia, kontrolliert werden.

Nicht einmal ein großes Aquarium, in dem Koi-Karpfen träge ihrem Schicksal entgegenpaddeln.

Stattdessen: Pandas.

Bilder, Fotos, Statuen, Stoffbären. Selbst die Salz- und Pfefferstreuer sind nach dem Ebenbild der schwarz-weißen Tiere geformt.

Der an die Wand über seinem Tisch gemalte Panda hat grüßend die Pfote erhoben. »Entspann dich, Kumpel«, will er vielleicht sagen, »Bambus kommt gleich.«

Was mögen diese Tiere wohl für den alten Chinesen bedeuten?

Erinnerungen an die Heimat? Symbole? Wenn ja, wofür? Wofür stehen Pandas in China?

Urs muss sich eingestehen, dass er wenig über Pandas weiß – außer, dass sie schwarz-weiß und vom Aussterben bedroht sind. Sind sie überhaupt Bären? Essen sie wirklich Bambus?

 

Die Porzellanschale mit Suppe muss sich aus dem Nichts materialisiert haben. Völlig versunken in die Welt der Pandas, hat Urs den Weisen der Kulinarik weder kommen noch gehen sehen.

Feierlich nimmt er den gleichfalls aus weißem Porzellan geformten Löffel, taucht ihn in die Suppe und führt ihn zum Mund. Dann zögert er. Von solch einem Löffel muss man die Suppe schlürfen. In westlichen Ohren ein peinliches Geräusch. Urs meint jedoch, einmal gelesen zu haben, dass genau dieses Schlürfen in China als gutes Benehmen gilt.

Mit Genuss – und, zugegeben, Karolin innerlich eine Nase drehend: Ihr sind Körpergeräusche jeder Art zuwider; sie würde niemals zugeben, dass sie schnarcht oder manchmal lautstarke Blähungen hat. Er schlürft also genussvoll die Suppe vom Löffel und lässt sie im Mund kreisen, bis alle Geschmacksknospen versorgt und der Schluck kühl genug ist, um ihn die Speiseröhre passieren zu lassen. Das Gemüse und die Nudeln zerreibt er sorgsam mit Zähnen und Zunge.

Dann nimmt er den nächsten Löffel voll Suppe. Und noch einen. Und noch einen.

Endlich stößt der Löffel mit einem Klacken auf den Boden der Porzellanschale. Urs sieht sich verstohlen um, hebt die Schale an die Lippen und lässt sich die restliche Suppe in den Mund rinnen. Mit dem Löffel schiebt er die verbliebenen Nudeln und Gemüsestücke hinterher.

Dann stellt er die Schale auf den Tisch, legt den Löffel hinein und tupft sich die Lippen mit der Serviette ab, um alle Spuren seiner Gier zu tilgen.

Im gleichen Moment schwingt die Tür der Küche auf. Hindurch schreitet der alte Chinese mit einem beladenen Tablett, das er zu Urs’ Tisch trägt.

Er entzündet die Teelichter in den beiden Stövchen ähnlich zeremoniell wie zuvor schon die Kerze. Auf die Stövchen stellt er zwei Tonschalen mit Deckel.

Eine gleichfalls tönerne Schüssel platziert er vor Urs. Auf eine Serviette legt er zwei Essstäbchen.

Essstäbchen und Schüssel? Ohne dass Urs darum bitten muss? Karolin schimpft immer, wenn er in einem asiatischen Restaurant um Stäbchen bittet. Kulturelle Appropriation nennt sie das. Doch asiatische Küche schmeckt nun mal am besten mit Stäbchen.

Der alte Chinese muss seinen Gedankengang und die damit einhergehende Frage ahnen. »Da Sie wissen, wie man unsere Suppe isst, dachte ich, Sie wüssten vielleicht auch beim Hauptgang traditionelleres Essgerät zu schätzen. Aber ich bringe gerne Messer und Gabel.«

»Danke, das ist nicht nötig.« Karolin ist ja fern.

»Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit. Oder ›Essen Sie langsam und mit Genuss‹, wie wir Chinesen – und auch Xiongmao – es sagen würden.«

»Wer ist eigentlich dieser Xiongmao?« Urs hofft, mit seiner Frage keine allzu peinliche Bildungslücke zu offenbaren.

Der alte Chinese deutet höflich auf den an die Wand gemalten Panda. »Er dort. Xiongmao ist unser Wort für den Panda. Für den schwarz-weißen großen Panda, genauer gesagt. Der rote, kleine Panda heißt Xiaoxiongmao. Also folgen Sie dem Beispiel von Xiongmao und essen Sie langsam und mit Genuss.« Mit diesen Worten hebt der Chinese die Deckel von den Tonschalen.

 

Ein besonders schönes Stück Bambus hat Urs sich für den Schluss aufgespart. Er nimmt es mit den Stäbchen, schiebt es sich in den Mund und erfreut sich am Knacken zwischen seinen Zähnen, am Fluss von Saft und Sauce auf seiner Zunge. Dreimal kann er schlucken, erst dann ist auch dieser Bissen bewältigt – und die beiden Tonschüsseln ratzeputz leer.

Urs legt die Stäbchen auf seine Schüssel, lässt den Geschmack des Essens noch ein paar Minuten nachklingen; trinkt dann von seinem Wasser, merkt, wie durstig er ist, schenkt nach und stürzt auch das zweite Glas hinunter. Dann ist das Wasser leer und Urs gießt sich den Rest des Tees in seine Tasse.

Er kann nicht widerstehen und grüßt mit der Tasse zu seinem wandgemalten Tischgenossen. »Das war guter Bambus, Kumpel. Brumm!«

»Ich spreche auch manchmal mit ihnen, wenn ich allein bin.« Der alte Chinese steht schon wieder neben seinem Tisch, ohne dass Urs sein Kommen bemerkt hätte. »Allerdings brummen Pandas nicht. Es ist eher ein Bellen, wie von einem aufgeregten jungen Hund.«

»Sie lieben Pandas, oder?« Urs sieht sich dabei zu, wie seine Hand in den Raum deutet.

»Nun, ich finde sie … Wie ist dieses schöne Wort deutscher Sprache? Ach ja: Ich finde sie drollig. Ein freundlicheres Nationaltier als ein Drache, nicht wahr? Und mit ihrem ständigen Appetit ein gutes Aushängeschild für ein Restaurant. Mal was anderes als dieser Plunder mit den roten Troddeln, den Pagoden-Lampen, dem Tierquäler-Aquarium und der goldenen Buddha-Statue. Aber ein Großteil der Sammlung gehört meiner Tochter. Ich dachte, hier in meinem Restaurant wäre ein würdiger Platz dafür, bis sie wiederkommt.«

»Bis Ihre Tochter wiederkommt?«

»Oh, Lynn ist in China«, verkündet der Chinese, erfüllt von väterlichem Stolz. »Sie arbeitet als Panda-Kuschlerin.«

»Als Panda … was?«

»Nun, der offizielle Titel ist …« Der stolze Vater sagt ein Wort auf Mandarin, das sich Urs nicht einmal geschrieben vorstellen, geschweige denn klanglich nachvollziehen oder merken kann. »Aber Panda-Kuschlerin ist eine halbwegs angemessene Übersetzung. – Sie ist Tierärztin.« Der Chinese kichert in sich hinein. »Und außerdem seit Neuestem stramme Kommunistin.«

»Kommunistin?«

»Ja, sie musste nicht nur ihren chinesischen Pass akzeptieren, sondern auch in die Partei eintreten, um überhaupt in die Nähe der Pandas zu dürfen. Die chinesische Regierung ist mit unserem Nationaltier äußerst eigen, wissen Sie? Alle Pandas sind offizielles Staatseigentum der Volksrepublik.«

»Sie meinen, die Pandas in China?«

»Nein, alle Pandas. Auf der ganzen Welt. Die Tiere in den Zoos außerhalb Chinas sind nur Leihgaben. Entweder zur höheren Ehre und Freundschaft mit dem jeweiligen Staat. Oder gegen eine saftige Gebühr. Oder beides. – Jedenfalls: Lynn musste in die Partei eintreten, um in Chengdu arbeiten zu dürfen. Dort ist die größte Panda-Forschungsstation der Welt. Sie ist jetzt eine der leitenden Wissenschaftlerinnen dort. Das Spielen und Schmusen mit den Tieren gehört zu ihren Aufgaben. Daher Panda-Kuschlerin.« Jetzt scheint der Chinese vor Stolz zu leuchten. »Lynn war sogar in der Zeitung. Gerade gestern. – Aber wo habe ich nur meinen Kopf?« Er gießt Urs Wasser aus einer frischen Karaffe ein. »Das wird Ihre Verdauung fördern: Gebirgswasser.«

Urs trinkt das Glas in einem Zug aus, bevor er fragt: »Auch aus China?«

Der alte Chinese lacht wie nach einem gelungenen Schabernack. »Nein, aus dem Taunus. Besonders rein und mineralhaltig. – Trinken Sie ausreichend. Dann schlafen Sie auch besser.«

»Woher wissen Sie …?«

»Einmal Arzt, immer Arzt. Und bei Ihnen muss man kein brillanter Diagnostiker sein. Sie haben ja schon Ringe unter den Augen, als wollten Sie es Xiongmao gleichtun.«

Urs kann nicht anders, als zu lächeln. »Komisch …«

»Ja?« Neugierig hat der alte Chinese sich vorgelehnt.

»Es ist … Nun, es ist so, dass ich gerade überall Pandas sehe …« Hoffentlich ist der Chinese kein Psychiater im Ruhestand. »Also vorhin …« Nein, von den Ereignissen bei Transitions! spricht er besser nicht. »Und jetzt hier bei Ihnen.«

»Oh, das ist gut. Einen Panda zu treffen, verheißt dir Glück, sagt man.«

»Aha.« Das ist doch ein guter Einstieg. »Was sagt man denn noch so? Über Pandas, meine ich.«

»Ach, das Übliche. Yin und Yang, Sie wissen schon, wegen dem Schwarz-Weiß. Aber das könnte man über Stinktiere auch sagen.« Der alte Chinese schmunzelt verschmitzt in sich hinein. »Viele sagen auch, Pandas stünden für Frieden und Seelenruhe.« Er wiederholt das Wort ehrfürchtig, als handele es sich um ein buddhistisches Mantra: »Seelenruhe. Ein schönes deutsches Wort, das viel zu selten benutzt wird.«

Urs lässt sich das Wort stumm auf der Zunge zergehen. Es schmeckt wirklich angenehm nach frühsommerlicher Waldluft.

»Pandas leben in den Tag hinein«, fährt der Chinese fort. »Die eine Hälfte ihrer Zeit verbringen sie mit Fressen, die andere Hälfte mit Verdauen. Zen-Meister des Tierreichs hat man sie auch schon genannt. – Andere sagen jedoch …«

Er hält inne, ohne seinen Gedanken zu Ende zu führen. Will er Urs auf die Folter spannen?

»Die anderen? Was sagen die?«

»Nun, die sehen in ihm den tapferen, hartnäckigen Kämpfer.«