Dolphin Dance - Helmut Barz - E-Book

Dolphin Dance E-Book

Helmut Barz

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Beschreibung

"Ich hatte eine Spur. Und am Ende waren eine Menge Leute tot." –Die Erkenntnis trifft sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Katharina Klein weiß, wer vor 16 Jahren ihre Familie ermordet hat. Doch warum? Und kann sie den Täter noch dingfest machen? Gerade erst zurück aus dem unfreiwilligen Urlaub auf Mafia Island stürzen sich Katharina Klein und Andreas Amendt in ihren persönlichsten Fall. Eine Odyssee durch das winterlich verschneite Frankfurt beginnt, die erst viele Tage und zahlreiche Tote später endet. – Oder auch nicht … Katharina liebt Oldtimer, Schusswaffen, den falschen Mann – und hat endliche eine Spur zum Mörder ihrer Familie. Grund genug, alle Warnungen in den Wind zu schlagen – denn schließlich ist sie Frankfurts chaotischste (und beste) Kriminalpolizistin. "Ein Krimi-Reißer – ganz nach dem Geschmack von Sherlock Holmes-FreundInnen, die klug erdachte Morde und deren feinsinnige Aufklärung Blutrünstigkeit und Grausamkeit vorziehen. Verteufelt spannend!" (Kultur Extra)

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Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Impressum

edition coeurart

Helmut Barz

Blumenstraße 52

63069 Offenbach am Main

www.helmut-barz.de

Lektorat, Korrektorat dieser Ausgabe:

Vanessa Heinisch, Christiane Barz

Satz, Gestaltung, Cover:

Helmut Barz,basierend auf einem Design von Markus Drapatz/Suttonverlag
Veröffentlichung über:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Veröffentlichung (auch auszugsweise), öffentlicher Vortrag, Übertragung in andere Medien nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors.

Dieses Buch wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Für etwaige Fehler oder gesundheitliche Folgen (etwa durch geraubten Nachtschlaf) übernimmt der Autor keine Haftung.

Copyright © Helmut Barz 2012, 2019

Inhaltsverzeichnis
Die Katharina-Klein-Krimis von Helmut Barz
Weitere Titel von Helmut Barz
Impressum
Dramatis Personae
Präludium in d-Moll
Erster Teil: Koala
Good Question
Steppin’ in It
Actual Proof
Palm Grease
He Who Lives in Fear
Early Warning
Interludium in c-Moll
Zweiter Teil: Nishigigoi
Bomb
Alone and I
Chemical Residue
Tell Me a Beadtime Story
Gentle Thoughts
Curiosity
The Pleasure is Mine
Survival of the Fittest
The Eye of the Hurricane
And What If I Don’t
Ready or Not
Help Yourself
The Thief
Sly
Heartbeat
Lydisches Interludium
Dritter Teil: Wanze
Black Gravity
Hidden Shadows
Knee Deep
The Maze
Bubbles
Triangle
The Twilight Clone
The Twilight Clone
Hang Up Your Hang-Ups
Getting to the Good Part
Interludium in h-Moll
Vierter Teil: Delfin
The Prisoner
On Green Dolphin Street
Come Running to Me
Traitor
Dolphin Dance
Interludium in D♭-Dur
Nachspiel: Aaskrähe
You’ll Know When You Get There
King Cobra
A Tribute to Someone
Can’t Hide Your Love
4 a.m.
Schlussakkord?

»I think there’s a great beauty to having problems.

That’s one of the ways we learn.«

Herbie Hancock

Nach seinen Kompositionen

sind die Kapitel dieses Buches benannt.

Dramatis Personae

Katharina Klein, Kriminalpolizistin auf der Suche nach einem Mörder und seinem Auftraggeber.

Andreas Amendt, Rechtsmediziner auf der Suche nach einem Sinn.

Die Toten, manche schuldig, manche unschuldig, manche schon vor langer Zeit gestorben, manche erst gestern.

Die Täter, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.

Die Freunde, auf die man sich eventuell sogar verlassen kann.

Die Feinde, die man immer wie Freunde behandeln sollte. Nichts ärgert sie mehr.

Die Helfer, zumeist mit eigener Agenda. Aber man sollte nicht zu wählerisch sein.

Die Nachbarn, die man sich ja nicht immer aussuchen kann.

Die Anderen, einige sind hilfreich, einige sind in Dinge verstrickt, aber die meisten sind einfach nur im Weg.

Die Fragenden, denn die Wahrheit ist nicht immer einfach – und schon gar nicht plausibel.

Präludium in d-Moll

Frankfurt am Main, 5. Dezember 2007

Damals.

Dritter Dezember.

Der Tag, an dem ihre Familie ermordet wurde.

***

Etwas hatte sie geweckt. Mitten in der Nacht. Katharina hatte nicht gewusst, was.

Sie hatte gefroren.

Es war ein heißer Tag gewesen in Kapstadt. Deshalb hatte sie vor dem Zubettgehen das Fenster geöffnet. In der Nacht war es stark abgekühlt; der Vollmond hatte ins Zimmer geschienen, sein Licht kalt und weiß wie Knochen.

Katharina hatte an der in ein Laken eingeschlagenen Decke gezerrt, um sich darin einzurollen; doch Laken und Decke waren, wie in Südafrika üblich, an den Seiten und am Fußende fest unter die Matratze gesteckt gewesen.

Endlich hatte sie es aufgeben. Auf dem Rücken liegend hatte sie zur Decke geschaut. Nachgedacht.

An diesem Tag war ein Päckchen von ihrer Schwester Susanne eingetroffen. Eine Kassette mit Musik und ein langer Brief. Die Kassette hatte Katharina vor dem Einschlafen gehört. Jetzt ging ihr ein Lied nicht mehr aus dem Kopf. Melancholisch, gesungen von einer rauchigen Frauenstimme, nur begleitet von einer Gitarre. »Autumn Leaves« hieß es. Katharina hatte es nicht gekannt. Doch es würde wohl ihr neues Lieblingslied werden.

Wie bei Susanne. Das hatte ihre Schwester in dem Brief geschrieben: dass sie ihr neues Lieblingslied entdeckt und außerdem ihren Traummann kennengelernt habe. Mit ihm zusammen sei. Verlobt. Und schwanger.

Was Susanne machte, machte sie gründlich: Verliebt, verlobt und schwanger in weniger als drei Monaten. Katharinas Schwester hatte sich immer Kinder gewünscht. Möglichst viele. Ihr Vater hatte sie manchmal damit aufgezogen: Wie das denn zusammengehen könne – sie wolle doch Ärztin werden. Aber sie hatte nur erwidert, das sei alles eine Frage der Organisation. Typisch Susanne.

Im PS des Briefes hatte sie geschrieben, dass sie aber mit der Hochzeit bis zu Katharinas Rückkehr warten würde. Katharina solle doch Brautjungfer sein. Dann hatte Susanne noch spöttisch ergänzt: wenn Katharina bis dahin noch Jungfer wäre.

Katharina musste grinsen, als sie daran dachte. Susanne hatte ihre jüngere Schwester immer mit ihrer Schüchternheit aufgezogen. Aber sie hatte ja gar keine Ahnung. George hatte Katharina geküsst. George, der Rugby-Star. Auf den alle Mädchen der Schule standen. Aber geküsst hatte er Katharina. Einfach so. Doch, das Austauschjahr in Südafrika war eine gute Idee gewesen.

Sie hatte sich zufrieden gerekelt und dann auf die Seite gedreht, um weiterzuschlafen. Das Mondlicht schien auf das Foto ihrer Familie, das sie auf dem Nachttisch stehen hatte. Ihr Vater mit seinem gepflegten, roten Bart. Ihre Mutter, wie immer streng dreinblickend. Ihre Schwester lachte. Eine Strähne ihres langen, glatten und ansonsten schwarzen Haares war neonblau gefärbt: Susannes Form der Anarchie.

Katharina waren schon die Augen zugefallen, als sie es gehört hatte: Ihr Gastvater telefonierte. In seinem Arbeitszimmer, das neben Katharinas Zimmer lag. Seine Stimme war hektisch gewesen, schroff. Endlich hatte er den Hörer aufgelegt.

Kurz darauf hatte es leise an Katharinas Tür geklopft. Ihr Gastvater hatte den Kopf hereingesteckt, gesehen, dass sie wach war, und war ganz ins Zimmer gekommen. Er hatte sich zu Katharina auf das Bett gesetzt. Ihre Hand genommen.

»Katharina, your parents and your sister …  Something has happened.« – Ihrer Familie war etwas zugestoßen.

***

Die Stewardess hatte immer wieder besorgt gefragt, ob sie etwas brauche. Katharina hatte nur wortlos den Kopf geschüttelt und wieder aus dem kleinen Fenster in die Dunkelheit gestarrt, später auf die monotone, nur manchmal von den grünen Kreisen künstlicher Oasen unterbrochene Fläche der Sahara, zuletzt auf die wintergraue Wolkendecke über Europa.

Ihr Gastvater hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie nach Deutschland zu bringen. War mit ihr durch die Nacht gerast, an den Townships vorbei zum Kapstadter Flughafen. Hatte ein Ticket erkämpft. Erster Klasse. Als ob das irgendetwas geändert hätte.

***

Der Ankunftsbereich des Frankfurter Flughafens war dank eines heiß umstrittenen Umbauprojektes ein bedrückend enges Labyrinth aus Sperrholzgängen. Katharinas Schritte hatten dumpf auf den provisorischen Dielen gedröhnt. Sie war langsam gegangen, ihren kleinen Rucksack auf dem Rücken und ihren Teddy im Arm. Eine Zollbeamtin hatte sie rausgewunken, aber nur um Katharina zu fragen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Katharina hatte wieder den Kopf geschüttelt. Die Beamtin hatte sie zum Ausgang begleitet.

***

»Mein Name ist …  ich bin Kriminalrat Polanski«, hatte sich der große, breitschultrige Mann mit dem zerknitterten Jackett ungelenk vorgestellt. Er hatte hinter der Sicherheitsschleuse auf Katharina gewartet. »Ihre Eltern und Ihre Schwester …  Kommen Sie bitte mit uns mit.«

In seiner Begleitung war ein Priester gewesen. Katholisch. Schwarzes Hemd, weißer Kragen. Dunkel gelockte Haare. Jung. Höchstens Ende zwanzig. Er hatte nichts gesagt. Sie nur mit seinen sanften grauen Augen gemustert. Doch auf der Fahrt zum Institut für Rechtsmedizin hatte er Katharinas Hand gehalten. Ganz fest.

***

Drei Stahltische hinter einer großen Glasscheibe, drei tote Körper, sauber mit weißen Tüchern abgedeckt. Nur die Gesichter waren zu sehen gewesen. Katharina hatte genickt. – Ja, das war ihre Familie.

Sie hatte sich abwenden müssen. Der Priester hatte sie in den Arm genommen. Und dann endlich hatte Katharina weinen können.

***

»Wir müssen aufhören, uns auf diese Weise zu treffen, Frau Klein. Die Leute könnten anfangen zu reden.«

Katharina schreckte auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie die drei Männer an dem großen, hölzernen Tisch vor ihr Platz genommen hatten: die Untersuchungskommission.

Links außen saß Staatsanwalt Harald Ratzinger. Höchststrafen-Harry. Dreißig Jahre im Dienste der Strafverfolgung hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

Auf der rechten Seite saß, die frühzeitig schütter werdenden braunen Haare sorgfältig frisiert und das Kinn frisch rasiert, Kriminaldirektor Hans-Peter Weigl, Leiter der Internen Ermittlung.

Der Mann in der Mitte stand noch: aristokratisch hochgewachsen, weißes, volles Haar, die Züge eines Adlers – Dr. Wolfhard Weingärtner, Richter am Oberlandesgericht. Er hielt Katharina lächelnd die Hand hingestreckt. Sie reagierte nicht. Enttäuscht setzte er sich: »Nun gut. Dann fangen wir an. – Fürs Protokoll: Zusammengetreten heute, am 22. Januar 2008, ist der Untersuchungsausschuss in Sachen Klein / Amendt. Dieser Ausschuss hat die Aufgabe, die Vorfälle zwischen dem 15. und dem 19. Januar aufzuklären. Aktenzeichen …«

Während der Richter zahlreiche lange Nummern diktierte, drifteten Katharinas Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit, zu dem Priester. Er war auch zur Beerdigung ihrer Familie gekommen.

***

Es hatte bei der Organisation der Trauerfeier einigen Hickhack gegeben. Katharinas Vater war zwar offiziell evangelisch gewesen und nie aus der Kirche ausgetreten, hatte aber regelmäßig der Humanistischen Gesellschaft gespendet. Auch ihre Mutter hatte mit der Religion, die ihr in die Wiege gelegt worden war, nichts am Hut; trotzdem hatte sie regelmäßig Vorträge beim Freundeskreis des Buddhismus gehalten. Katharina und Susanne waren gänzlich ohne Religion aufgewachsen, nicht einmal getauft.

Die Humanistische Gesellschaft und der Freundeskreis des Buddhismus hatten sich deshalb zu den wahren Erbwaltern erklärt und haderten um die richtige Zeremonie. Das südkoreanische Konsulat hatte Anspruch auf die Leichen von Mutter und Tochter erhoben und wollte sie auf Kosten der Erben ausfliegen lassen. Und zu guter Letzt hatte sich auch noch der zuständige Pastor des Frankfurter Zentralfriedhofs eingemischt und schon einmal prophylaktisch gegen heidnische Riten auf seinem heiligen Grund und Boden protestiert. Ihm wäre es vermutlich am liebsten gewesen, man hätte die drei Toten im Schutze der Nacht an einem Kreuzweg verscharrt.

Endlich hatte Katharinas Patenonkel Antonio Kurtz – zumindest nannte sie ihn ihren Patenonkel, auch ohne Taufe: Den Erzählungen ihrer Eltern nach musste er legendäre Partys geschmissen haben, um Susanne und Katharina auf Erden willkommen zu heißen –; endlich hatte also Antonio Kurtz die Organisation der Feier an sich gerissen und damit beinahe einen diplomatischen Zwischenfall ausgelöst, doch letztlich hatte er sich durchsetzen können: Jetzt gab es eine kurze buddhistische Zeremonie, ein ebenso kurzes Gebet des diensthabenden Pastors und eine Totenrede, die ein ehemaliger Kulturdezernent der Stadt Frankfurt hielt. Sein chaotisch zu allen Seiten wegstehendes weißes Haar bebte, als er in warmen Worten die Verdienste von Katharinas Familie um die Kultur Frankfurts beschwor:

Diether Klein, der renommierte Kunsthändler, ein leuchtender Stern der Gesellschaft, der im Auftrag der Museen Frankfurts so manchen Schatz geborgen hatte.

Kyung-Soon Klein, die Dozentin für asiatische Sprachen und Literatur, die so viel zur Verständigung der Kulturkreise beigetragen hatte.

Susanne Klein, die Studentin der Medizin, die …  die …

Schnell wechselte der Kulturdezernent a. D. das Thema und sprach wieder vom überragenden Engagement des Kunstsammlers Klein.

Katharina hatte in der ersten Reihe der Kapelle gesessen und die drei kleinen Urnen angestarrt, die auf einem üppig mit weißen Blumen dekorierten Tisch standen. Auch die Urnen waren weiß gewesen. Weiß – die buddhistische Trauerfarbe.

Kriminalrat Polanski und der Priester hatten etwas abseits an der Wand der Kapelle gelehnt und waren dann in respektvollem Abstand dem Trauerzug zum Grab auf dem Frankfurter Hauptfriedhof gefolgt.

Der Priester war der Letzte gewesen, der Katharina kondoliert hatte. Endlos viele Menschen hatten Katharinas Hand gedrückt, mehr oder weniger ehrlich »Mein Beileid« gemurmelt und waren dann durch den klebrigen Dezember-Nieselregen davongewandert.

Der Priester aber war vor ihr stehen geblieben. Hatte wieder ihre Hand gehalten. Dann hatte er gefragt: »Wissen Sie schon, was Sie jetzt machen werden?«

Das war wirklich eine gute Frage: zur Familie ihrer Mutter? Die südkoreanischen Verwandten hatten Katharina deutlich spüren lassen, dass sie Katharinas Mutter die Hochzeit mit einem Deutschen nicht verziehen hatten und die Tochter als Bastard betrachteten, der in ihrer Welt nicht willkommen war.

Ihr Vater hatte keine Familie mehr, also hatte Katharinas Patenonkel angeboten, die Siebzehnjährige bei sich aufzunehmen. Doch das Jugendamt hatte sein Veto eingelegt. Verständlich. Antonio Kurtz verdiente sein Geld als »Erotik-Gastronom«: Er kontrollierte weite Teile des Frankfurter Rotlichtmilieus.

Ihr Gastvater aus Südafrika, ein guter Freund ihres Vaters, hatte endlich die rettende Idee gehabt: Katharina solle zurück nach Kapstadt kommen. Dort an der Deutschen Schule ihr Abitur machen. Fort aus Frankfurt. Fort von den Erinnerungen an ihre Familie.

So würde es geschehen. Am nächsten Tag würde Katharina in ein Flugzeug steigen. Sie antwortete dem Priester also knapp: »Ich gehe nach Südafrika und mache da mein Abitur.«

Er nickte. Dann sagte er zögernd: »Ich weiß, es ist kein Trost für Sie. Aber …  Ihre Eltern und Ihre Schwester waren gute Menschen. Und Gott hat sie sicher gnädig bei sich aufgenommen.«

***

»Wir vernehmen jetzt die Zeugin Katharina Klein. – Ihr vollständiger Name …«

Die Worte des Richters holten Katharina in die Gegenwart zurück. »Was bitte?«, fragte sie benommen.

Richter Weingärtner wiederholte sanft: »Ihr vollständiger Name. Fürs Protokoll.«

»Katharina Yong Klein.«

»Und Ihr Beruf?«

»Kriminalhauptko…  Kriminaldirektorin bei der Frankfurter Kriminalpolizei.«

In diesem Augenblick wurde die Tür des Sitzungssaales aufgerissen. Energische Schritte in Stöckelschuhen. »Ach, hier sind Sie!«

»Frau Doktor Müller-Burkhardt! Was verschafft uns die Ehre und Freude der Anwesenheit der Oberstaatsanwältin?«, fragte Richter Weingärtner.

»Das sollten Sie eigentlich wissen. Ich bin hier, um die rechtlichen Interessen der Vernommenen zu wahren. Irgendwer muss das ja tun.«

»Werte Frau Kollegin«, ließ sich Staatsanwalt Ratzinger vernehmen. »Das hier ist nur eine informelle Anhörung.«

»Umso wichtiger.« Frauke Müller-Burkhardt warf mit großer Geste ihren Mantel ab, rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm neben Katharina Platz. »Der werte Herr Kollege Ratzinger sollte eigentlich wissen, dass die Aussagen vor dieser Kommission ohne Rechtsbeistand absolut nichts wert sind. – Haben Sie Frau Klein überhaupt schon belehrt?«

»Über was?«, fragte Ratzinger muffig zurück.

»Über ihre Rechte. Dass sie hier gar nichts sagen muss.«

Katharina hob die Hand. »Ist schon gut, Frauke …«, sie korrigierte sich, »…  Frau Müller-Burkhardt. Ich will aussagen.«

»Aber nicht ohne rechtlichen Beistand.«

Richter Weingärtner nippte vergnügt glucksend an seinem Kaffee: »Nachdem wir das jetzt geklärt haben, könnten wir dann vielleicht endlich anfangen?«

Niemand widersprach, also fuhr der Richter fort: »Frau Klein, vielleicht wäre es am besten, wenn Sie uns kurz den Ablauf der Geschehnisse aus Ihrer Sicht schildern könnten.«

»Was ist da schon groß zu schildern? Ich hatte eine Spur zum Mörder meiner Familie. Und am Ende waren eine Menge Leute tot.«

»Das können Sie laut sagen«, murmelte Staatsanwalt Ratzinger.

»Moment, Mörder der Familie?«, mischte sich Kriminaldirektor Weigl ein.

Der Richter musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue: »Ich weiß ja, Herr Weigl, dass Sie Ihre Position im Frankfurter Polizeipräsidium nur als Durchreisestation auf dem Weg nach Wiesbaden zum BKA betrachten. Aber auch Sie sollten über die Kriminalgeschichte der Stadt Frankfurt auf dem Laufenden sein. Haben Sie im Ernst noch nie vom Mordfall Klein gehört?«

»Doch. Selbstverständlich. Aber ich nahm an, der Fall sei praktisch gelöst. Es hieß doch immer, die Indizienkette habe nicht ausgereicht, vor allem, weil der Täter –«

»Der damals dringend Tatverdächtige«, korrigierte ihn Frauke Müller-Burkhardt streng.

»Der damals dringend Tatverdächtige«, wiederholte Kriminaldirektor Weigl genervt. »Weil der also einen ausgesprochen praktischen Gedächtnisverlust erlitten haben soll –«

»Doktor Amendt hat –«, fuhr Katharina auf.

Frauke Müller-Burkhardt packte sie am Arm und zog sie auf ihren Stuhl zurück.

»Doktor Amendt?«, fragte Weigl verblüfft. »Doktor Andreas Amendt? Der aus der Akte?«

»Genau der«, bestätigte Richter Weingärtner.

»Na, das wird ja immer schöner. Wollen Sie im Ernst sagen, dass wir eine Familienangehörige und einen dringend Tatverdächtigen gemeinsam haben ermitteln lassen?« Kriminaldirektor Weigl musste seine Entrüstung mit einem Schluck Wasser runterspülen.

»Wenn Sie die Akten gelesen hätten«, erwiderte Frauke Müller-Burkhardt spitz, »dann wüssten Sie, dass niemand irgendjemanden hat ermitteln lassen. Und was Kriminaldirektorin Klein in ihrem Urlaub tut, ist ihre Privatangelegenheit.«

»Nicht, wenn am Schluss zahlreiche Tote in der Gegend herumliegen.«

»Eins nach dem anderen.« Richter Weingärtner rückte seinen Notizblock zurecht. »Vielleicht beginnen wir wirklich ganz von vorne. – Frau Klein, wenn es Ihnen nichts ausmacht: Vielleicht könnten Sie auch kurz die Umstände der Ermordung Ihrer Familie schildern.«

Katharina räusperte sich, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. »Meine Eltern, Diether Klein und Kyung-Soon Klein, sowie meine Schwester Susanne wurden am dritten Dezember 1991 im Haus meiner Eltern erschossen.«

»Wissen Sie auch von wem?«, fragte Richter Weingärtner sanft.

»Ja. Von einem Auftragsmörder mit dem Alias Ministro.«

»Ministro? Der Superstar unter den Auftragsmördern? Etwas kleiner haben Sie es nicht?« Kriminaldirektor Weigl hatte die Arme verschränkt. »Dieser Amendt war also nur rein zufällig am Tatort? Und für seinen Gedächtnisausfall und das Blut auf seiner Kleidung haben Sie sicher auch eine Erklärung.«

»Ja. Doktor Amendt war der Verlobte meiner Schwester. Ministro hat ihn unter Drogen gesetzt und als Sündenbock am Tatort zurückgelassen. Das Blut auf seiner Kleidung kam daher, dass er versucht hat, meine Schwester wiederzubeleben.«

»Tolle Räuberpistole, die Sie uns da auftischen. Sie sollten zum Film gehen.«

So hatte Andreas Amendt auch reagiert, als Katharina ihm zum ersten Mal von ihrer Theorie erzählt hatte. Er hatte selbst geglaubt, der Täter gewesen zu sein. Aber das gehörte nicht hierher.

Der Richter nippte erneut an seinem Kaffee: »Wissen Sie was, Frau Klein? Erzählen Sie am besten einfach mal. Sonst halten wir uns hier noch Stunden mit Detailfragen auf, die uns in der Sache nicht weiterbringen. – Einverstanden, meine Herren? Frau Doktor Müller-Burkhardt?«

Die Gefragten nickten zustimmend.

»Also gut.« Katharina holte tief Luft und atmete ganz langsam aus, um ihren Herzschlag zu beruhigen.

Wo sollte sie anfangen? Vielleicht am besten bei ihrer Rückkehr aus Tansania. Bei ihrer Ankunft auf dem Frankfurter Flughafen.

Sie und Dr. Amendt hatten gerade die Sicherheitsschleuse passiert, als Katharina eine Erleuchtung gehabt hatte. Nein, keine Erleuchtung. Blitzschlag war das bessere Wort. Mit einem Mal hatte sie gewusst, wer ihre Eltern erschossen hatte.

Und so hatte es begonnen. Wann war das gewesen? Am 15. Januar. Vor sieben Tagen. Einer Ewigkeit.

***

Erster Teil: Koala

»If you're going through hell, keep going.«

Good Question

Flughafen Frankfurt am Main, in den frühen Morgenstunden des 15. Januar 2008

Die Welt hatte stillgestanden.

Eine Stunde? Eine Minute? Den Bruchteil einer Sekunde?

Lange genug. Katharina hatte sich erinnert.

An damals. An den Ankunftsbereich. Polanski – an der Absperrung auf sie wartend. In seiner Begleitung ein Priester. Warme graue Augen. Schwarzes Haar.

Sechzehn Jahre später hatte sie den Priester wiedergetroffen. In Tansania. Auf Mafia Island. Dorthin war sie geflohen. Vor einem Auftragskiller namens Ministro.

Sie hatte den Priester zunächst nicht wiedererkannt: Sein Haar war grau geworden. Doch seine Augen waren noch immer warm und sanft. Er hatte vor ihr gesessen und sie wieder so angeschaut wie damals. Diesmal allerdings über den Lauf einer Pistole hinweg. Ministro: das spanische Wort für Priester.

Felipe de Vega, ein kolumbianischer Drogenboss, hatte ihn beauftragt, Katharina zu töten, weil sie seinen Sohn Miguel erschossen hatte. Doch Ministro hatte den Auftrag nicht ausgeführt: Er töte keine Unschuldigen. Und er halte Katharina für einen guten Menschen. Das hatte er zumindest gesagt: »Die Welt ist mit Ihnen besser dran als ohne Sie.«

War das die ganze Wahrheit gewesen?

***

»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Klein? Sie sind totenblass.« Die Worte drangen kaum zu Katharina durch.

»Was? Ich …« Ihre eigene Stimme klang weit entfernt. Dumpf. Die Wörter schmerzten.

Zwei Hände nahmen sie behutsam an den Schultern. Schoben sie. Setzten sie hin. „Lehnen Sie sich nach vorne. Den Kopf zwischen die Knie.« Die Hände führten sie. Katharina hatte keine Kraft, sich ihnen zu widersetzen. »Ja, so«, fuhr die Stimme fort. »Und tief durchatmen. – Ich hole Ihnen einen Kaffee aus dem Automaten da.«

Die Hände ließen sie los. Katharina sah auf. Alles wirkte verschwommen. Nur der Mann vor ihr nicht. Andreas Amendt.

»Nein, warten Sie. Ich …« Ihre Stimme kratzte im Hals. »Ich weiß, wer meine Familie umgebracht hat.«

Amendt packte ihre Hände so stark, dass es wehtat: »Was? Wer?«

Katharina erzählte. Leise. Hastig. Von ihrer Ankunft damals. Von dem Polizisten, der sie abgeholt hatte. Von seiner Begleitung. Einem Priester. »Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, woher ich ihn kenne. Jetzt weiß ich es. Der Priester damals, das war er.«

»Wer?«

»Ministro. Javier.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Aber wer sollte einen Killer auf Ihre Eltern ansetzen? Und auf Susanne?« Amendt ließ ihre Hände los. Sank auf die Knie.

»Das ist die Frage, oder nicht?«

Andreas Amendt sah zu Boden. Dann wieder zu ihr. Seine Worte kamen stockend: »Und was ist, wenn Sie sich irren?«

Ja, was? Ministros Augen …  Die Augen des Priesters von damals …

Irrte sie sich? Spielte ihre Fantasie ihr einen Streich? Katharina musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.

»Ich irre mich nicht.« Sie zog den Reißverschluss des Vorderfachs ihrer Reisetasche auf. Sie steckte die Hand in das Fach, halb erwartend, dass der kleine Stoffbeutel nicht mehr dort war. Aufgelöst im Nichts eines bösen Traumes.

Doch er war noch da. Katharina spürte das Metall der drei Geschosse durch den Stoff, schloss ihre Finger um den Beutel und zog ihn hervor.

Dreimal hatte Ministro in ihr Bett geschossen. Die Kugeln hatte er als Memento mori zurückgelassen.

»Die waren für Sie bestimmt. Schon immer«, hallte Ministros Stimme in ihrem Kopf. Das also hatte er gemeint. Oder nicht?

»Und ich kann es sogar beweisen.« Katharinas Stimme klang nicht ganz so fest, wie sie es sich gewünscht hätte. Ihre Hand umklammerte den kleinen Stoffbeutel mit den Geschossen, als könne sie die Wahrheit aus ihnen herauspressen.

»Beweisen? Wie?«

Katharina ignorierte Amendts Frage. Konnte das alles wirklich sein? War das Schicksal wirklich so grausam gewesen, ihr ausgerechnet den Killer auf den Hals zu hetzen, der ihre Eltern auf dem Gewissen hatte? Und warum hatte Ministro sie verschont? In Tansania. Und damals. Denn wozu sonst hätte er sie zur Rechtsmedizin begleiten, die Beerdigung besuchen sollen, außer, um auch das letzte Kind der Familie Klein zu beseitigen?

Und was war auf Mafia Island geschehen? »Ich töte keine Unschuldigen.« War das wirklich die ganze Wahrheit? Bildete sie sich alles andere nur ein?

Sie öffnete ihre Hand und sah auf den kleinen Stoffbeutel. So klein und doch so wichtig. Kurzerhand steckte sie den Beutel in die Innentasche ihres Mantels. Dann stand sie auf und klemmte sich ihre Handtasche fest unter den Arm. Ihre Beine standen stabil auf dem Boden.

Das Gesetz der Schwerkraft galt also noch. Die Welt stand nicht still und drehte sich auch nicht rückwärts.

Zwei tiefe Atemzüge später schaltete Katharinas Hirn in den Planungsmodus: Was war jetzt zu tun?

Erst einmal einen fahrbaren Untersatz besorgen. Dann …

Dann Ministro zum Schein engagieren, in eine Falle locken und so lange ausquetschen, bis er den Auftraggeber von damals verriet. Eigentlich ganz einfach.

»Kommen Sie, Doktor Amendt. Auf uns wartet Arbeit.«

Katharina befahl sich, loszugehen. Einen Fuß vor den anderen. Doch nach ein paar Metern stoppte sie wieder. Irgendetwas fehlte. Nur was? Nein! Wer!

Andreas Amendt saß noch immer auf dem Boden vor dem Gepäckkarren. Katharina ging zurück und streckte ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen: »Kommen Sie?«

Er reagierte nicht, fuhr sich nur nervös mit der Hand durch sein lockiges, schwarzes Haar. Endlich sah er auf. Auch Amendt hatte graue Augen. Mit einem Schuss Blau. »Was ist, wenn Sie sich irren?«

Katharina setzte sich wieder auf den Gepäckwagen, um mit Amendt auf Augenhöhe zu sein. »Sie glauben noch immer, dass Sie es gewesen sind, oder?«

Amendt starrte schweigend auf den Boden, als würde der sich jeden Augenblick öffnen und ihn verschlucken.

»Was muss ich eigentlich noch tun, um Sie endlich vom Gegenteil zu überzeugen?«, brauste Katharina auf. Das war ja zum Verrücktwerden mit diesem Kerl!

»Immerhin war ich –«

»Zur Tatzeit am Tatort, ja. Und Ihre Mutter war schizophren. Das haben wir ja jetzt oft genug durchgekaut!«

»Und wenn –?«

»Die sorgfältig beseitigten Spuren? Die Blutflecken auf Ihrer Kleidung, die nur den einen einzigen Schluss zulassen: Dass Sie versucht haben, meine Schwester wiederzubeleben?«

»Ich könnte –«

»Ich weiß! Sie sind für einen kurzen Moment zur Vernunft gekommen. Dann haben Sie praktischerweise den Verstand wieder verloren und alle anderen Spuren beseitigt.«

»Sie wissen genau –«

»Ach ja, richtig. Sie sind …  was sind Sie noch mal? Ach ja: Eine multiple Persönlichkeit. Stecken mit dem Mörder zusammen in einem Körper. Und das alles klingt für Sie nach einer brauchbaren Theorie? Verdammt noch mal, Sie sind einer der besten Rechtsmediziner des Landes. Wenn jemand mit so einem Hirngespinst bei Ihnen auflaufen würde, würden Sie ihm ins Gesicht lachen.«

»Und Ihre Theorie?« Amendts Augen funkelten wütend. »Der große Unbekannte? Der Profi? Der aus dem Nichts auftaucht? – Ich dachte, Sie mögen keine Krimis.«

»Ach, und dass Sie ohne jedes Motiv morden, weil Sie ja eine multiple Persönlichkeit sind? Und diese andere Persönlichkeit in Ihnen schießt nicht nur wie der Teufel, sondern ist auch ein derartiger Profi in Spurenkunde, dass sie nicht nur alle Spuren verwischt, sondern auch noch den Verdacht auf Ihr anderes Ich lenkt? ›Liebling, ich habe einen Superbösewicht verschluckt‹? – Meine Theorie hat wenigstens keine Löcher, durch die man einen Laster fahren könnte!« Katharina hatte die Sätze abgefeuert wie ein Maschinengewehr. Jetzt war sie außer Atem und musste tief Luft holen.

Amendt sprang auf. »Eine Theorie, für die Sie keine Beweise haben. Nur eine vage Erinnerung an einen Priester, der Ministro gewesen sein könnte. Und den Sie jetzt auf einmal, nach sechzehn Jahren, wiedererkannt haben wollen.«

»Besser als nichts.« Katharina erhob sich gleichfalls. »Kommen Sie endlich?«

»Wohin?«

Katharina wirbelte zu ihm herum: »Zur nächsten Autovermietung. Und dann bringen wir das hier zu Ende. Sie und ich. Ein für alle Mal.«

Sie wandte sich ab und marschierte los. Mit einem Blick über die Schulter sah sie, dass Amendt ihr endlich folgte. Langsam, als sei die Schwerkraft ein fast unüberwindliches Hindernis. Doch gleich blieb er wieder stehen und fragte: »Und was, wenn ich doch –?«

»Wenn Sie doch der Täter sind? Nun, in dem Fall schieße ich Ihnen eine Kugel in den Kopf. Das habe ich Ihnen ja versprochen.«

***

»Hatten Sie reserviert?«

Oh nein, nicht schon wieder. Das war jetzt bereits die vierte Autovermietung, bei der sie anfragten. Immer waren Katharina und Andreas Amendt freundlich, aber bestimmt abgewiesen worden.

»Nein«, antwortete Katharina also verdrossen. Die junge Frau mit dem verunglückten brünetten Langhaarschnitt sah Katharina und Amendt an, als hätten sie gerade nach dem nächsten Raumschiff zum Mond gefragt.

»Oh, ich fürchte …  Aber lassen Sie mich mal schauen«, sagte die Frau schließlich mit professioneller Freundlichkeit und wandte sich ihrem Computer zu. Nach ein wenig Klickerei hellte sich ihre Miene auf: »Sie haben Glück. Wir haben noch genau einen Wagen. – Allerdings aus unserem Oberklasse-Tarif. Einen Porsche Cayenne GLS.«

»Iiih!«, entfuhr es Katharina, bevor Andreas Amendt ihr den Ellbogen in die Seite stoßen konnte. Er lehnte sich vor: »Der Wagen hat doch Winterreifen?«

»Aber natürlich«, antwortete die Frau begeistert. »Und acht Airbags. ABS. Einparkhilfe. Abstandswarner. ESP. Absolut sicher.«

»Hervorragend. Den nehmen wir«, sagte Amendt rasch, bevor Katharina ihm widersprechen konnte.

»Sehr schön!« Die Frau gab Amendt ein Klemmbrett mit Formularen, das er an Katharina weiterreichte.

Katharina wollte sich ans Ausfüllen machen, doch der Kugelschreiber, der mit Bindfaden am Klemmbrett befestigt war, schrieb natürlich nicht. Also fischte sie einen Stift aus ihrer Handtasche.

Wow! Wo hatte sie den denn mitgehen lassen? Katharina drehte den edel metallisch-roten, dicken Kugelschreiber in ihren Händen, aber er trug keinen Firmenaufdruck. Na, da würde sich aber jemand ärgern.

Ihr fiel ein, dass sie ja immer noch mit falschen Papieren unterwegs war; ihre echten lagen in dem kleinen Safe in ihrem Wohnzimmer. Nun gut, dann würde also noch etwas länger »Zoë Yamamoto, Halbjapanerin, Geschäftsfrau« bleiben. Ihre Mutter, die immer stolz auf ihre koreanische Herkunft gewesen war, würde sich im Grabe umdrehen. Als Katharina mit dem Ausfüllen fertig war, schob sie das Klemmbrett über den Tresen. »Nun denn, ein Porsche Cayenne. Mir bleibt auch nichts erspart.«

»Wieso? Der Wagen ist doch genau der Richtige für uns! Winterreifen. Acht Airbags. Und viel Blech um uns herum«, widersprach Amendt begeistert.

Die Frau hinter dem Tresen zwinkerte Katharina verschwörerisch zu: »Machen Sie sich nichts draus. Genau wie mein Mann. Werdende Väter sind so.«

Katharina zuckte zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen: »Werdende Väter?«

Die Frau sah sie erschrocken an: »Ach, sind Sie nicht …? Ich dachte nur …  Sie leuchten so von innen.«

»Nein, ich bin nicht schwanger«, blaffte Katharina.

Die Frau musterte sie mit Bedauern: »Nicht aufgeben. Nicht verzweifeln. Das klappt schon.«

»Was? Ach so. Nein. – Wir sind kein Paar.«

»Oh!« Mit leicht geröteten Wangen begann die Frau übereifrig, die Daten von den Formularen in den Computer zu übertragen. Zwischendrin fragte sie: »Wie lange denken Sie, dass Sie den Wagen brauchen?«

Eine gute Frage. Katharinas eigenes Auto, ein alter, von ihr selbst restaurierter Mini Monte Carlo, war von einer Bombe zerrissen worden. Vom Polizeidienst war sie momentan beurlaubt; sie würde also keinen Dienstwagen zur Verfügung haben. Und die Großzügigkeit ihres Patenonkels wollte sie auch nicht mehr beanspruchen als unbedingt nötig. »Na ja, zwei Wochen, würde ich sagen«, antwortete sie schließlich.

»Kein Problem. Nun bleibt noch die Frage der Kaution. Dazu bräuchte ich …«

Katharina hatte schon ihre Handtasche geöffnet und zog ein Bündel Geldscheine hervor.

»Tut mir leid, Bargeld kann ich nicht akzeptieren. Ich bräuchte eine Kreditkarte. Aus Versicherungsgründen.«

Katharina hatte keine, zumindest nicht auf den Namen Zoë Yamamoto. Doch Andreas Amendt hatte schon seine Brieftasche hervorgezogen. »Nehmen Sie meine.« Lässig warf er eine American Express Platinum Card auf den Tresen.

»Was ist?«, fragte er, als er Katharinas erstaunten Blick bemerkte. »Als Chefarzt bekommen Sie so was hinterhergeworfen.«

»Ach, Sie sind Arzt?«, fragte die Frau neugierig. Wenn sie jetzt irgendetwas von »guter Partie« sagte, würde Katharina über den Tresen springen und sie zwingen, die Computertastatur zu verspeisen.

»Ja, Rechtsmediziner.«

Die Frau schluckte. »Aha!« Sie nahm die Karte und schob sie in das Lesegerät.

»Aber wenn ich den Wagen abgebe, kann ich bar bezahlen, oder?«, fragte Katharina.

»Natürlich! Die Kreditkarte ist nur für die Versicherung. Und für die Kaution. – Also fahren Sie schön vorsichtig! Damit Sie Ihren …  Bekannten nicht in die Pleite treiben.«

Die Frau reichte Amendt seine Karte zurück und schob ein prall gefülltes Plastikmäppchen über den Tresen. »Der Wagen steht in unserem Transportation Convenience Center im Parkhaus gegenüber von Terminal 1.«

»Transportation …  was?«

»Im Transportation Convenience Center«, wiederholte die Frau so beglückt, als würde der Wagen frisch vom Papst gesegnet im Petersdom auf Katharina warten. »Sie können unsere Firmenschilder praktisch nicht übersehen. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«

***

Porsche Cayenne! Katharina stapfte missmutig neben Andreas Amendt her, der artig den Gepäckwagen vor sich herschob. Und was hatte die Frau gedacht? Dass sie schwanger war? Weil sie so »von innen leuchtete«? Schwachsinn! Wovon sollte sie überhaupt schwanger sein? Sie hatte keinen Sex mehr gehabt seit …

Katharinas Magen drehte sich um. Sie ließ Amendt stehen und rannte zur nächsten Toilette. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig in eine Kabine. Dann erbrach sie sich. In immer neuen Schüben. Endlich versiegte der Brechreiz. Katharina spülte und ließ sich auf den Toilettensitz sinken. Kalter, klebriger Schweiß stand ihr auf der Stirn.

Hatte sie wirklich mit Ministro geschlafen? Dem Mörder ihrer Eltern? So sehr Katharina sich anstrengte: Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wusste nur, dass er sie zu ihrem Bungalow begleitet hatte. In der Lodge auf Mafia Island. An Heiligabend. Vor ihrer Tür hatte er sie geküsst. Es war ein schöner Kuss gewesen. Sanft. Da war er für sie noch Javier gewesen. Priester Javier. Ein hilfsbereiter katholischer Geistlicher. Natürlich, der Reiz des Verbotenen!

Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie an einen Stuhl gefesselt aufgewacht war. Ministro hatte vor ihr gesessen. Mit einer Pistole in der Hand.

Hatte er das Spiel wirklich so weit getrieben? Waren sie miteinander im Bett gewesen? Aber selbst wenn …  Der Griff zum Kondom war Katharina doch in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hatte es noch nie vergessen. Noch nie!

Aber Ministro hatte sie unter Drogen gesetzt. Gefügig gemacht. Hatte er sie also …  vergewaltigt?

Bei dem Gedanken musste Katharina schon wieder würgen. Sie zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen, bis der Brechreiz nachließ. Noch ein Grund mehr, Ministro aufzuspüren. Ihn zu stellen. Und ihn dann …

»Frau Klein? Geht es Ihnen gut?«, holte sie eine männliche Stimme in die Realität zurück. Andreas Amendt. Katharina kam aus ihrer Toilettenkabine.

»Sie sehen furchtbar aus. Das Flugzeugfrühstück?«, fragte Amendt. Dann musterte er sie noch einmal: »Sie sind doch nicht wirklich –?«

»Nein, ich bin nicht schwanger! Wovon denn? Flugsamen? – Und jetzt raus aus der Damentoilette!«

Amendt gehorchte. Katharina ging zum Waschbecken. Sie wollte sich Gesicht und Hände waschen. Doch dann überkam sie erneut die Übelkeit. Sie stürzte zurück in die Kabine, würgte, doch es kam nur noch Galle.

Sie spülte und setzte sich wieder auf den Toilettensitz. Ihre Beine zitterten, ihr Gesicht fühlte sich eiskalt an. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und zählte langsam bis zehn. Ihr Puls beruhigte sich. Ganz mit der Ruhe! Wann hatte sie zuletzt ihre Tage gehabt? Das war …  Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie ihr eine Frau ein paar Tampons in die Hand drückte. Sandra Herbst, eine gute Freundin von Andreas Amendt, die er in Afrika besucht hatte. Katharina hatte Kopfschmerzen gehabt. Und dann auch noch …  Klar! Das war am ersten Januar gewesen! Neujahr! Sie hatte einen Kater gehabt. Dann kamen auch noch ihre Tage. Und keine Tampons zur Hand. Sandra Herbst hatte ihr ausgeholfen. Erster Januar! Acht Tage nach ihrer Begegnung mit Ministro! Sie war also definitiv nicht schwanger. Wenigstens etwas! Die Stirn an die kühle Holztür der Toilettenkabine gelehnt, blieb sie sitzen, bis sie sich kräftig genug fühlte, um aufzustehen.

***

»Na Klasse! Ein schwuler Löschzug!«

»Na kommen Sie, Frau Klein. So schlimm ist es auch nicht.«

Nicht so schlimm? Reichte es nicht, dass sie die nächsten vierzehn Tage in einem Cayenne unterwegs sein würden? Musste er auch noch in diesem krassen Lila lackiert sein, das im Prospekt bestimmt »lavender-metallic« hieß?

»Außerdem sieht der Wagen eher wie ein Papamobil aus«, bemerkte Andreas Amendt.

Gut. Papamobil. Damit hatte der Wagen seinen Spitznamen weg.

Katharina war schlecht gelaunt um den unübersehbar violetten, hochbeinigen Pseudo-Geländewagen herumgewandert, während Andreas Amendt das Gepäck in den – zugegeben – geräumigen Kofferraum lud.

Nun denn, Amendt hatte das Papamobil ja unbedingt nehmen wollen. Also sollte er die Konsequenzen tragen. Katharina drückte ihm den Autoschlüssel in die Hand: »Sie fahren!«

Andreas Amendt ließ beinahe den Schlüssel fallen: »Ich …  also Sie sind doch als Fahrerin eingetragen und …«

»Nun haben Sie sich nicht so! Sie haben es doch gehört: Airbags. ABS. EBS. – Also, was ist?«

»Ich …« Langes Zögern. »Ich kann nicht Auto fahren.«

»Sie können was nicht?«

»Autofahren. Ich habe keinen Führerschein.« Amendt hielt ihr trotzig den Autoschlüssel hin. »Ich habe Angst in Autos, okay?«

»Okay, okay.« Katharina nahm den Schlüssel und stieg ein. Zugegeben, die Ledersitze waren schon bequem. Andreas Amendt kletterte auf den Beifahrersitz und schnallte sich umständlich an.

»Sie können wirklich nicht Auto fahren?«, fragte Katharina noch einmal. »Sie haben keinen Führerschein?«

»Nur für Motorräder.«

Katharina hatte den Wagen bereits anrollen lassen, doch sie trat noch einmal auf die Bremse: »Was? Sie haben Angst in Autos, aber Sie fahren diese Organspenderschleudern?«

Amendt starrte aus der Windschutzscheibe: »Wenn Sie es genau wissen wollen: ja. Dann ist es wenigstens gleich vorbei. Und ich verbrenne nicht eingeklemmt in einem Wrack.«

Das war natürlich ein Argument. Katharina steuerte den Wagen schweigend aus dem Parkhaus hinaus in den in großen Flocken auf die Windschutzscheibe klatschenden Schnee. Na prima! Das bedeutete Verkehrschaos. Wären sie doch noch in Tansania geblieben.

***

Steppin’ in It

Polizeipräsidium Frankfurt am Main, eine enervierende Autofahrt durch morgendlichen Schneefall später

Der Besucherparkplatz des Polizeipräsidiums war natürlich voll und Katharina hatte ihren Ausweis für den Mitarbeiterparkplatz nicht dabei. Sie musste also den Block dreimal umrunden, bis sie endlich eine Parklücke fand, die groß genug war für das Papamobil – in einer Nebenstraße, zwischen zwei großen Bergen schmutzig-grauen Schneematsches.

Sie und Andreas Amendt stapften und schlitterten über die noch nicht gekehrten Gehwege zum Haupteingang des Präsidiums. Die Beamtin an der Pforte erkannte Katharina zum Glück und ließ sie und Amendt durch die Sperre. Am Fahrstuhl warteten sie schweigend.

Endlich erklang das erlösende »Ping!« des ankommenden Aufzugs. Ungeduldig drängte Katharina in die Kabine. Sie wollte gerade das Stockwerk anwählen, als eine schrill-quäkige Stimme rief: »Halt! Warten!«

Die Stimme kam hinter einem vollgepackten Putzwagen hervor, der auf die Aufzugtür zuraste. Katharina musste zur Seite springen, der Bügel ihrer Handtasche verfing sich am Handgriff des Putzwagens, der Wagen stellte sich quer. Um den Knoten zu lösen, mussten sie alle wieder aussteigen.

»Passense doch auf!«, schnauzte die Reinigungskraft Katharina an. Ihr Körper war unter einem zu weiten Putzkittel verborgen, ihr Haar steckte unter einem Kopftuch. Ihre blauen Augen blitzten wütend: »Mussisch machen meine Arbeit auch!«

Katharina wollte etwas Giftiges erwidern, doch Andreas Amendt legte beruhigend die Hand auf ihren Arm.

Als sie endlich das gewünschte Stockwerk erreicht hatten, ließen sie der Putzfrau mit ihrem Wagen den Vortritt. Leise verärgert vor sich hin murmelnd verschwand sie im Gewirr der Gänge.

***

»Ich weiß, wer meine Eltern umgebracht hat!«

Kriminaldirektor Polanski blieb ob dieses Satzes, den Katharina ihm statt einer Begrüßung entgegenschmetterte, auf halbem Wege um seinen Schreibtisch herum stehen: »Und ich sehe, Sie haben den Täter gleich mitgebracht!« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Andreas Amendt, der hinter Katharina Polanskis Büro betreten hatte.

»Was? Nein. Doktor Amendt ist unschuldig. Er hat versucht, Susanne das Leben zu retten.« Ohne Polanski Zeit für eine Erwiderung zu lassen, sprudelte sie weiter: »Erinnern Sie sich an den Priester, der Sie damals begleitet hat, als Sie mich vom Flughafen abgeholt haben?«

»Dunkel. Was ist mit –?«

»Das war Ministro!«

»Der Killer?« Polanski blinzelte ein paar Mal. Dann ging er wieder um seinen Schreibtisch herum und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er öffnete sein Schreibtischschränkchen, schloss es jedoch gleich wieder. Es war wohl doch noch zu früh für einen Cognac. »Setzen Sie sich besser«, sagte er. »Und erzählen Sie von Anfang an.«

***

Nachdem Katharina ihren Bericht beendet hatte, nahm Polanski seine Lesebrille ab und putzte sie mit seiner Krawatte. »Dass Doktor Amendt versucht hat, seiner Verlobten das Leben zu retten, ist ja noch schlüssig. – Aber der Rest?«

»Was ist damit?« Katharinas Frage klang schärfer, als sie es beabsichtigt hatte.

»Haben Sie sich mal zugehört? Die Morde sollen von genau dem Killer begangen worden sein, der – ganz zufällig – sechzehn Jahre später auch auf Sie angesetzt ist? Der es, wie auch immer, schafft, Sie aufzuspüren? Und der Sie dann laufen lässt, weil er Sie für einen guten Menschen hält? – Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass Ihnen Ihre Fantasie da einen Streich gespielt hat? Ich meine, ich kann ja verstehen, dass Sie nach dem Stress der letzten Zeit –«

»Ich kann es sogar beweisen!«, fiel Katharina ihm schroff ins Wort. Dann fügte sie zögernd hinzu: »Glaube ich.«

»Und wie?« Polanski klang nicht gerade überzeugt.

Katharina zog den kleinen Stoffbeutel aus der Innentasche ihres Mantels und legte ihn vor Polanski auf den Tisch: »Damit.«

Polanski drehte den Beutel zwischen den Fingern. »Was ist das?«

»Drei Geschosse aus Ministros Pistole.«

Polanski sah überrascht auf: »Wo haben Sie die denn her? Ich dachte, er hätte Sie laufen lassen?«

»Hat er. Aber vorher hat er dreimal in mein Bett geschossen. Und dann hat er gesagt: ›Diese Kugeln waren für Sie bestimmt. Schon immer.‹«

»Ach, und Sie denken, er meinte –«

»Was soll er sonst gemeint haben?«

»Eben. Genau diese Frage sollten Sie sich stellen.«

»Vielleicht …«, wollte Katharina widersprechen.

»Genau. Vielleicht«, griff Polanski ihren angefangenen Satz auf. »Vielleicht wollte er Sie auch nur auf eine falsche Fährte führen. Ein wenig mit Ihnen spielen. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?«

»In jedem Fall sollten wir –«

»Nicht wir! Ich!«, schnitt ihr Polanski das Wort ab. »Sie sind für so was nicht mehr zuständig.«

»Aber –«

»Kein Aber. Vor allem, wenn Sie recht haben sollten, dürfen Sie nichts, aber auch gar nichts mit den weiteren Ermittlungen zu tun haben. Wie Sie eigentlich genau wissen. Sie sind Angehörige.«

»Aber –«

»Und überhaupt: Ermittlungen sind nicht Ihre Aufgabe. Nicht mehr!«

Dieser Satz ernüchterte Katharina schlagartig. »Warum das denn?«

»Weil Sie jetzt Kriminaldirektorin sind.«

»Was soll das denn heißen?«

»Mein Gott, haben Sie eigentlich unsere Dienstvorschriften und Regularien überhaupt jemals gelesen? Sie gehören jetzt zum Führungspersonal. Ihre Aufgabe besteht darin, Ihre Einheit zu führen.«

»Ich darf also nicht mehr ermitteln? Überhaupt nicht mehr?«

»Willkommen im Club!«

»Als der Innenminister mich befördert hat, da haben Sie gesagt –«

»Ich weiß, was ich gesagt habe!«

Katharina spürte Zorn in sich aufsteigen: »Sie haben mich angelogen?«

»Weil ich verhindern wollte, dass Sie dem Innenminister an die Gurgel springen.«

»Aber –«

»Das war die einzige Möglichkeit, Ihren Kopf zu retten. Ein verärgerter Innenminister …  Vermutlich säßen Sie jetzt in U-Haft. Es gibt immer noch genug Leute, die Ihren Kopf wollen.«

»Hölsung?« Berndt Hölsung, ein Kollege aus ihrer ehemaligen Abteilung, war Katharinas Todfeind.

»Der auch, ja. Nehmen Sie sich vor dem in Acht.«

»Er spielt mit dem Innenminister Golf, ich weiß.«

»Und er ist stinksauer. Hat sich selbst Hoffnungen auf Beförderung gemacht.«

»Aber er ist doch gerade befördert worden. Für seinen …« Katharina malte Anführungszeichen in die Luft, »…  ›erfolgreichen Schlag gegen den Drogenhandel‹.«

Dieser »erfolgreiche Schlag« – das war die Schießerei gewesen, in der Katharina Miguel de Vega getötet hatte. Und in der Katharinas Team-Partner Thomas ums Leben gekommen war.

»Das wurde wieder rückgängig gemacht. Irgendjemand hat der Presse gesteckt, was wirklich abgelaufen ist.«

Katharina konnte nicht umhin, sich zufrieden zurückzulehnen. »Und was geschieht jetzt?«

»Sie bereiten sich in aller Ruhe auf Ihre neue Aufgabe vor.«

»Und Ministro? Die Kugeln?«

Polanski musterte sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg. »Das Beste wäre, Sie vergessen sie einfach.«

»Was?«, brauste Katharina auf.

»Vergessen Sie die Kugeln. Ich meine das ernst.«

»Und warum sollte ich das tun?«

Polanski antwortete bedächtig: »Weil Sie die Kugeln in keinem Fall weiterbringen. Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass ein professioneller Killer eine Tatwaffe zweimal benutzt – wie Sie eigentlich wissen sollten –, zum anderen: Selbst, wenn die Kugeln aus der Waffe stammen, mit der Ihre Eltern getötet worden sind: Was wäre mit dieser Erkenntnis gewonnen?«

»Nun, wir hätten eine Spur –«

»Die uns schnurstracks ins Leere führt. Wenn Sie recht haben sollten, ist dieser Ministro bereits seit mehr als sechzehn Jahren im Geschäft. Und so lange hält man sich nur, wenn man weiß, was man tut. Es dürfte also absolut unmöglich sein, seiner habhaft zu werden. Und selbst wenn uns dieses Kunststück gelingen sollte, wissen wir immer noch nichts über seine Auftraggeber.«

»Die kriege ich schon aus ihm heraus!«

»Haben Sie mir nicht zugehört? Sie halten sich da raus!«, bellte Polanski zornig. »Sie kompromittieren sonst den ganzen Fall.«

»Aber –«

»Kein Aber! Das ist eine offizielle Anweisung! Und ich meine das auch nicht augenzwinkernd.«

»Augenzwinkernd?«

»Sie wissen schon: Ich schaue weg, und Sie tun, was Sie wollen. Das kommt einfach nicht mehr infrage. Und schon gar nicht in diesem Fall. – Haben wir uns da verstanden?«

Polanski hatte recht. Wenn herauskäme, dass sie sich eingemischt hatte, würde selbst der unfähigste Verteidiger den Fall so lange mit seinen paragrafenbeschmierten Fingerchen zerpflücken, bis nur noch das Konfetti für die Feier anlässlich des Freispruchs seines Klienten übrigblieb.

»Aber die Kugeln? Lassen Sie die wenigstens untersuchen?«, fragte Katharina kleinlaut.

Polanski wollte antworten, sein Kopfschütteln deutete bereits das »Nein!« an, als sich Andreas Amendt einmischte: »Meinen Sie nicht, dass Sie dieser Spur wenigstens ansatzweise nachgehen sollten? Vielleicht führen die Kugeln Sie ja auch zu einem ganz anderen Fall.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn Frau Klein sich irrt, muss es einen anderen Grund gegeben haben, aus dem dieser Ministro ihr die Kugeln hinterlassen hat. Vielleicht wollte er –«

»Für so ein ›Vielleicht‹ setze ich nicht mein Kapital beim BKA aufs Spiel. Eine ballistische Untersuchung, die höchstwahrscheinlich ins Leere führt: Dafür habe ich wieder den Etat noch das politische Standing.«

Amendt legte die Fingerspitzen zusammen. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich werde spontan mein Gedächtnis wiederfinden.«

Polanski sah ihn verblüfft an: »Wie meinen Sie das?«

»Ich schlage Ihnen einen Handel vor: Sie lassen die Kugeln untersuchen und wenn sie weder zum Mord an Frau Kleins Familie noch zu einem anderen Verbrechen führen, unterschreibe ich Ihnen ein volles Geständnis.«

»Haben Sie den Verstand verloren?«, fuhr ihn Katharina an.

»Absolut nicht. Ich vertraue einfach Ihren Instinkten, Frau Klein. Da bin ich bisher ganz gut mit gefahren.«

Polanski hatte ein gefährliches Glitzern in den Augen. »Verstehe ich Sie richtig, Doktor Amendt? Ich lasse die Kugeln untersuchen und im Gegenzug dazu unterschreiben Sie mir ein Geständnis?«

»Genau.«

»Das Sie nicht widerrufen?«

»Nein.«

»Und Sie lassen sich freiwillig wegen Mordes verurteilen?«

Andreas Amendt zuckte mit den Schultern: »Verminderte Schuldfähigkeit. Ich verbringe vermutlich den Rest meiner Tage in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Es gibt ohnehin eine Menge Leute, die der Meinung sind, dass ich da hingehöre.«

»Aber das ist doch totaler Wahnsinn!«, mischte sich Katharina ein. »Was ist, wenn ich mich wirklich irre? Dann sitzen sie unschuldig hinter Gittern.«

Amendt lächelte schmal: »Dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für Sie, sich nicht zu irren. – Deal?« Er reichte Polanski die Hand.

Polanski schlug ein. »Deal!«

Katharina schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn das schiefging …  Irgendetwas sagte ihr, dass Amendt sich nicht freiwillig einsperren lassen würde. Eher würde er sich das Leben nehmen.

Polanski verpackte eine der Kugeln in ein Plastiktütchen und schob den Stoffbeutel mit den beiden anderen zu Katharina. »Die verwahren Sie besser.«

Unschlüssig schob Katharina den Beutel zurück in ihre Manteltasche. Polanski war aufgestanden und zu seinem Büroschrank gegangen. Er schloss umständlich einen darin eingebauten Tresor auf, dem er eine kleine, durchsichtige Plastikschachtel entnahm.

»Was ist das?«, fragte Katharina.

»Eine der Kugeln, mit denen Ihre Familie getötet wurde.«

Katharina schluckte: »Die bewahren Sie in Ihrem Büro auf?«

»Ich hatte Ihnen doch gesagt: Die Akte bleibt offen, bis der Fall gelöst ist.« Polanski setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm aus einer anderen Schublade ein Formular und begann es sorgfältig auszufüllen. Katharina und Andreas Amendt schauten ihm schweigend zu.

Endlich war er fertig und steckte die beiden Kugeln zusammen mit dem Formular in einen braunen Umschlag.

»Und jetzt?«, fragte Katharina.

»Jetzt warte ich auf die Resultate. Das kann aber ein paar Wochen dauern.«

»Warum denn so lange?«

»Ein sechzehn Jahre alter Fall hat beim BKA eben keine besonders hohe Priorität.«

»Können Sie nicht –?«

»Nein! Ich kann das nicht beschleunigen. Und ich werde es auch nicht versuchen.«

»Und was machen wir inzwischen?«

»Sie machen überhaupt nichts! Haben Sie nicht gehört, was ich eben gesagt habe? Sie müssen sich raushalten. Sie gefährden sonst den ganzen Fall, verstanden?«

Polanski sah Katharina streng in die Augen. Endlich senkte sie den Blick und nickte: »Verstanden.«

»Also gut: Nutzen Sie die Zeit und bereiten Sie sich stattdessen in aller Ruhe auf Ihre neue Aufgabe vor. Unterschätzen Sie das nicht.«

»Was soll ich nicht unterschätzen?«

»Mitarbeiterführung, Organisation, Papierkrieg …  Sie werden gut beschäftigt sein.«

»Und ich darf überhaupt nicht mehr ermitteln?«

»Sie werden schlicht keine Zeit dafür haben. Vor allem, da Sie diese Ermittlungseinheit völlig neu aufbauen müssen.«

»Aber Ermitteln ist das, was ich am besten kann.«

»Ich weiß, Katharina. Sie wissen, dass ich Ihre Talente sehr schätze. Aber meine erste Wahl für die Leitung der Sonderermittlungseinheit wären Sie nicht gewesen.«

»Sie haben mich also ins offene Messer laufen lassen.«

»So schlimm ist es ja nun auch nicht.« Polanski hob beschwichtigend die Hände. »Immerhin haben Sie noch einen Job. Und Sie sitzen nicht im Gefängnis. Sie werden das Kind schon schaukeln. – Apropos: Das bringt mich hierzu.« Polanski ging erneut zu seinem Büro-Safe und entnahm ihm eine Pistole: »Ihre Dienstwaffe.«.

Er legte die Pistole vor sich auf den Schreibtisch. Eine Heckler & Koch P2000 mit verbessertem Visier und modifiziertem Abzug, der auf Katharinas kleine Hände eingestellt war.

Katharina wollte danach greifen, aber …

Ihre Dienstwaffe? Die hatte ihr Polanski doch bereits zurückgegeben. Nach der Schießerei, in der sie Miguel de Vega erschossen hatte, musste sie die Pistole vorschriftsgemäß der Spurensicherung übergeben. Doch nach der Anhörung hatte sie sie von Polanski zurückbekommen. Und dann? Ja, was hatte sie dann mit der Waffe gemacht? Sie sah sich selbst, wie sie den kleinen Safe in ihrem Wohnzimmer öffnete, um die Pistole hineinzulegen. Im Safe hatte sie die Akte zur Ermordung ihrer Familie entdeckt. Ihr war eingefallen, dass es der Todestag ihrer Familie gewesen war, der dritte Dezember. Sie war anschließend zum Haus ihrer Eltern gefahren. Aber was hatte sie mit der Pistole gemacht? Sie hätte schwören können …

»Was ist?«, unterbrach Polanski ihre Gedanken.

»Wie kommt die Pistole hierher? Die haben Sie mir doch schon zurückgegeben.«

»Ja, aber irgendwie scheint mein Büro sie magisch anzuziehen.« Polanski lächelte schief. Katharina hatte schon öfter »von der Dienstwaffe Gebrauch gemacht«, als ihm lieb war. Und jedes Mal wurde die Waffe kurzfristig zur ballistischen Untersuchung eingezogen. Die Strafpredigten, die Polanski Katharina hielt, wenn er ihr die Waffe zurückgab, waren länger und länger geworden.

»Wie kommt die Pistole hierher?«, wiederholte Katharina drängend ihre Frage.

»Die lag im Regal in Ihrem Wohnzimmer. Ganz offen. Da habe ich sie besser an mich genommen, bevor jemand Unsinn damit anstellt.«

Regal. Wohnzimmer. Über die Akte musste sie ihre Pistole völlig vergessen und einfach beiseitegelegt haben. Verdammt, wie leichtsinnig. Gut, dass Polanski …  Aber …

»Wie kommen Sie denn in meine Wohnung?«

Polanski zuckte mit den Achseln. »Ich bin kurz nach Weihnachten bei Ihrem Haus vorbeigekommen, da habe ich Licht gesehen. Ich dachte, Sie wären entgegen allen Warnungen schon wieder zurückgekommen, also bin ich hoch. Waren aber nur Ihr Patenonkel und zwei seiner Spießgesellen.«

»Was haben die denn da gemacht?«

»Ich will es nicht beschwören, aber ich glaube, sie haben die Vorhänge gewaschen. Zumindest waren Kurtz und seine beiden Leibwächter gerade dabei, sie wieder aufzuhängen.«

Ach ja, natürlich. Sie hatte Antonio Kurtz ihren Wohnungsschlüssel gegeben, damit er in ihrer Abwesenheit nach der Post sah. Vorhänge zu waschen: Das sah ihm ähnlich.

»Und da habe ich die Pistole entdeckt. Dachte, ich nehme sie besser an mich. Ich meine, Kurtz kann man trauen, aber seinen Spießgesellen? – Wollte ja nicht, dass Sie nach Ihrer Rückkehr gleich wieder in Schwierigkeiten geraten, weil Ihre Pistole auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht ist. Oder bei einer Straftat.«

Katharina räusperte sich: »Danke.«

Sie wollte nach der Waffe greifen, doch Polanski legte seine Hand auf die Pistole: »Als Kriminaldirektorin haben Sie keinen Anspruch auf eine Dienstwaffe. Also müssen Sie die hier noch offiziell abgeben.«

»Was? Und wie soll ich mich dann verteidigen?«

»Ganz einfach: gar nicht. Aber ich kann Sie beruhigen: Wenn Sie erst mal hinter einem Schreibtisch sitzen, nimmt die Anzahl der physischen Bedrohungen ganz schnell ab.« Polanski legte das Rückgabeformular vor sie hin. »Bitte unterschreiben Sie das.«

Nun denn, Katharina war mit der Waffe ohnehin nie wirklich warm geworden. Zudem besaß sie immer noch ihre Stockert & Rohrbacher Modell 1: eine handgefertigte Pistole, die ihr Patenonkel ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

Polanski musste Katharinas Gedanken erraten haben: »Die Waffen in Ihrem privaten Besitz können Sie natürlich behalten. Allerdings dürfen Sie sie nicht mehr führen.«

Das hätte sie sich denken können. Allerdings würde sie dieses Verbot bis auf Weiteres ignorieren. Das brauchte Polanski aber nicht zu wissen.

Katharina hatte gerade das Formular unterschrieben, als die Tür zu Polanskis Büro aufgerissen wurde. Ein großer Putzwagen wurde klappernd hereingeschoben.

»So, muss ich putzen dann hier!« Schon wieder diese keifende Putzfrau aus dem Fahrstuhl.

Polanski stand auf: »Nicht jetzt! Sehen Sie nicht, dass ich arbeite?«

»Ich arbeiten auch! Kann nicht immer warten! Krieg ich nicht bezahlt!« Die Putzfrau stürmte vor, einen Lappen und einen Eimer Wasser in der Hand.

Polanski stellte sich ihr in den Weg: »Ich sagte doch, nicht jetzt!«

Die Putzfrau ließ sich nicht beirren: »Aber dann beschweren! Weil alles so schmutzig! Und wer wieder gewesen?« Die Frau stieß Polanski ihren Putzlappen vor die Brust. »Wenigstens Müll ich muss mitnehmen, sonst stinken!«

Polanski seufzte tief: »Na meinetwegen. Aber bitte beeilen Sie sich.«

Die Putzfrau schob umständlich ihren Putzwagen weiter in den Raum hinein. Dabei drängte sie Polanski gegen seinen Schrank. Er nahm es schicksalsergeben hin.

Katharina sah aus den Augenwinkeln auf den braunen Umschlag mit den Kugeln im Postausgangskorb. Vielleicht konnte sie das Ganze ja ein wenig beschleunigen? Sie vergewisserte sich, dass Polanski abgelenkt war, und ließ den Umschlag in ihrer Handtasche verschwinden.

Unterdessen hatte die Putzfrau umständlich Polanskis Mülleimer unter dem Schreibtisch hervorgefischt, ein paar zerknüllte Taschentücher von Polanskis Schreibtisch genommen, und wollte gerade anfangen, die Tischplatte mit ihrem Putzlappen zu säubern, als Polanski ein Machtwort sprach: »Ich sagte doch, Sie brauchen meinen Schreibtisch nicht zu putzen.«

»Ist doch völlig dreckig!«

»Oder Sie machen es morgen«, sagte Polanski mit seiner sanftesten Stimme. »Dann bin ich nicht im Büro.«

Die Putzfrau sah ihn mit wütend blitzenden Augen an, fügte sich aber endlich. Sie leerte den Papierkorb in eine große Mülltüte und stellte ihn mit lautem Klappern wieder unter Polanskis Schreibtisch zurück. Dann wendete sie umständlich ihren Putzwagen. Dabei rammte sie Polanskis Schienbein.

Endlich hatte sie den Wagen aus dem Raum hinausgeschoben. Die Tür hatte sie natürlich offen gelassen. Polanski schloss sie mit Nachdruck. Er humpelte, als er zurück zu seinem Schreibtisch ging: »Und das ist einer der Gründe, warum Kriminaldirektoren keine Schusswaffen führen. Das Risiko ist einfach zu hoch.«

Katharina sah ihren Chef erstaunt an: »Was für ein Risiko?«

»Renitente Putzkräfte, Mitarbeiter, die machen, was sie wollen, permanente Einmischungen …  Sie werden schon sehen.« Polanski konnte sich ein sarkastisches Grinsen nicht verkneifen. »Ich glaube, das nennt man Karma.« Das Lächeln verschwand. »Dennoch, ich muss Sie noch einmal warnen. Ihre neue Einheit ist –«

»Eine Weglobe-Einheit, ich weiß«, setzte Katharina seinen Satz fort. »Die am besten möglichst rasch und kostengünstig scheitern soll. Aber nur über meine Leiche.«

»Na ja, wenigstens haben Sie Ihren Kampfgeist noch. – Aber da wir gerade davon sprechen: Sie sollten dringend den Rest Ihres Teams benennen. Sonst nutzt das Innenministerium die Gelegenheit, alle renitenten, schwierigen Beamten, die die schon immer loswerden wollten, zu Ihnen zu versetzen.«

»Sie meinen Beamte wie mich?«

»Bock zum Gärtner«, murmelte Andreas Amendt und nahm Polanski damit das Wort aus dem Mund.

»Ganz recht, Doktor Amendt«, antwortete er begeistert. »Bock zum Gärtner. Aber vielleicht ist das ja ganz gut so. – Ich erwarte jedenfalls, dass Sie sich verdammte Mühe geben, Katharina. Und bis Ende der Woche will ich Vorschläge zur weiteren Besetzung Ihres Teams hören.«

»Werden Sie! Habe ich es jemals an Arbeitseinsatz mangeln lassen?«

»Nein, aber Diplomatie ist nicht Ihre Stärke. Das müssen Sie zugeben.«

Das musste sich Katharina wirklich eingestehen. Sie warf einen Blick auf ihre Handtasche. Nun denn, sie würde gleich damit anfangen, ihre diplomatischen Fähigkeiten zu trainieren, wenn sie die Sachverständigen beim BKA davon überzeugte, die Kugeln möglichst sofort zu untersuchen. Sie stand auf: »Also gut, Chef, dann gehen wir uns mal auf unsere große Aufgabe vorbereiten. Und ich hoffe, Sie halten mich trotzdem auf dem Laufenden.«

Polanski sah sie fragend an: »Worüber?«

»Über das Untersuchungsergebnis natürlich. Und das dürfen Sie mir sagen, obwohl ich Angehörige bin. So gut kenne ich unsere Dienstvorschriften dann doch.«

»Natürlich. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie nichts auf eigene Faust unternehmen werden, egal, wie das Ergebnis aussieht.« Polanski reichte Katharina die Hand.

Katharina schüttelte sie: »Versprochen!«

Auch Amendt war aufgestanden und hatte sich zur Tür gewandt, aber Polanski stellte sich ihm in den Weg: »Und Sie denken an unseren Deal!«

»Natürlich denke ich daran.«

»Na, dann ist ja gut.« Polanski konnte den Triumph in seiner Stimme nicht ganz verbergen.

Katharina und Amendt waren schon fast an der Tür, als Polanski sie noch einmal aufhielt: »Ach, Katharina? Eines noch!«

Er kam um den Schreibtisch herum und hielt ihr eine grüne, eingeschweißte Karte hin: »Ihr neuer Dienstausweis.«

Katharina wollte nach der Karte greifen, doch Polanski zog sie noch einmal weg: »Aber keinen Unfug damit anstellen. Haben wir uns verstanden?«

»Versprochen, Chef!«

»Dann herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin.« Feierlich überreichte ihr Polanski den Dienstausweis.

»Katharina Klein, leitende Kriminaldirektorin«, las Katharina halblaut. Der Ausweis würde ihr einige Türen öffnen. Doch auch das musste Polanski ja nicht unbedingt wissen.

***

Katharina wartete ab, bis Polanski seine Bürotür hinter ihr und Amendt geschlossen hatte, dann ging sie mit schnellen Schritten auf den Aufzug zu. »Kommen Sie, Doktor Amendt? Wir machen einen kleinen Ausflug nach Wiesbaden.«

»Was wollen wir denn da?«

»Was wohl? Die Untersuchung etwas beschleunigen.« Sie zeigte ihm verstohlen den braunen Umschlag mit den Kugeln in ihrer Handtasche.

»Aber Polanski hat doch gesagt –«

»Ich weiß, was Polanski gesagt hat. Aber solange es kein offizielles Untersuchungsergebnis gibt, kann er mich auch nicht daran hindern, mich weiter mit der Sache zu beschäftigen. – Außerdem will ich Sie nicht hinter Gittern sehen. Also, auf nach Wiesbaden!«

***

Actual Proof

Kriminaltechnisches Institut des BKA in Wiesbaden, eine Fahrt über die wenigstens bereits geräumte Autobahn später

Das Gebäude des Kriminaltechnischen Instituts des BKA in Wiesbaden würde sicher keine Schönheitspreise gewinnen. Der monströse Kasten sah aus, als hätten eine Fabrikhalle und ein Weltkriegs-Bunker im Vollsuff ein Kind gezeugt und anschließend in der hessischen Provinz ausgesetzt. Daran änderten auch die bunten, sich dekorativ um das Gebäude schlängelnden Metallgalerien nichts.

Wenigstens hatte sich der Pförtner dazu herabgelassen, Katharina und Andreas Amendt in ihrem Wagen auf den Besucherparkplatz zu lassen, doch sie mussten zehn Minuten suchen, bis sie endlich eine Parklücke entdeckten, die groß genug für den Cayenne war.

Sie wollten sich schon auf den Fußmarsch zum Haupteingang machen, als Katharina noch eine Idee hatte: Sie öffnete den Kofferraum und entnahm den Geheimfächern ihres Kosmetikkoffers die Teile ihrer Stockert & Rohrbacher Modell 1. Mit geübten Handgriffen setzte sie die Pistole zusammen. Andreas Amendt sah ihr kritisch über die Schulter: »Sie wollen sich doch nicht etwa den Weg freischießen, oder?«

»Nein, keine Sorge. Nur ein wenig angewandte Diplomatie.«

***

Die Beamtin im großen Kasten aus Panzerglas am Haupteingang des Gebäudes fragte mürrisch: »Was wollen Sie?«

»Mein Name ist Katharina Klein, ich komme vom Polizeipräsidium Frankfurt für eine ballistische Untersuchung.«

Die Beamtin musterte sie abschätzig von oben bis unten: »Können Sie sich ausweisen?«

Als Antwort knallte Katharina ihren neuen Dienstausweis auf den Tresen. Die Beamtin nahm ihn und drehte ihn lustlos zwischen ihren Fingern. Doch dann hatte sie wohl den hohen Dienstrang entdeckt und nahm unwillkürlich Haltung an: »Ja, Frau Kriminaldirektorin. – Ich schaue gleich nach, wer von der Ballistik im Hause ist.«

Sie tippte auf ihrer Computertastatur, setzte ein professionelles Lächeln auf und sagte: »Herr Schönauer ist auf dem Schießstand.«

***

Eine dröhnende Salve aus einer Pistole, dann ein lautes »Verdammte Scheiße!«.

Gerhard Schönauer stand an der hintersten Bahn des Schießstands und wollte wohl die Pistole, mit der er eben geschossen hatte, wütend den Schüssen hinterherwerfen. Er legte sie energisch auf die kleine Balustrade vor sich, dann drückte er den Knopf, mit dem er die Zielscheibe zu sich heranholte. Katharina wartete, bis er keine Waffe mehr in der Hand hielt.

»Herr Schönauer?«, fragte sie mit lauter Stimme, denn der Angesprochene trug Ohrenschützer.

Der Ballistiker warf ihr nur einen knappen Blick über die Schulter zu. »Sehen Sie das?« Er deutete auf die Zielscheibe.

Oha! Schönauer galt als einer der besten Schützen der deutschen Polizei. Entweder war dieser Ruf reine Legende oder irgendetwas mit der Pistole war ganz und gar nicht in Ordnung. Das Trefferbild war lausig, die Einschläge über die ganze Zielscheibe verteilt.

»Probleme?«, fragte Katharina vorsichtig.

»Das können Sie laut sagen. Die ganze Lieferung …« Schönauer deutete auf einen kleinen Handwagen, auf dem sich Pistolenkoffer stapelten. »Bisher hat keine Einzige davon ein vernünftiges Schussbild ergeben.« Dann musterte er Katharina, als hätte er sie eben erst entdeckt. »Moment mal, Sie kenne ich doch. – Sie sind doch die Frau, die diese beiden Drogendealer abgeknallt hat.«

Gerhard Schönauer hatte bei Katharinas Anhörung zum Tod von Miguel de Vega und seinem Partner ausgesagt und ihr unterstellt, die beiden Männer kaltblütig hingerichtet zu haben. Erst ein Video des Vorgangs, das zeigte, dass Katharina in Notwehr gehandelt hatte, konnte ihr den Kopf retten.

»Na, dann beweisen Sie mal, dass Sie wirklich so eine Meisterschützin sind.« Schönauer nahm einen neuen Pistolenkoffer vom Handwagen und reichte ihn Katharina. »Sagen Sie mir, ob ich heute Morgen einfach einen Knick in der Optik habe oder ob wirklich die ganze Charge versaut ist.«

Nun denn! Wenigstens befand sich Katharina auf vertrautem Terrain. Sie setzte sich Schutzbrille und Gehörschutz auf, spannte eine neue Zielscheibe ein und ließ sie zurückfahren. Sie lud das Magazin der Pistole und zog den Schlitten zurück, um sie zu spannen.

Schon beim ersten Schuss merkte Katharina, was nicht stimmte: Die Waffe bockte. Bei den nächsten Schüssen versuchte sie, die Bewegung auszugleichen, aber es war unmöglich. Im Gegenteil, das unkontrollierbare Rucken der Waffe wurde nur noch schlimmer.