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Afrika ist kein schriftloser Kontinent, schon gar nicht, wenn man seine Nordküste miteinbezieht: In Alexandria entwickelten sich vor mehr als zwei Jahrtausenden Verfahren des Umgangs mit Schriften, die heute Philologie heißen. Robert Stockhammer diskutiert Beiträge zur afrikanischen Philologie, von Herodot über Augustinus bis Saro-Wiwa und Coetzee: Epen, Romane, Reiseberichte, historische, philosophische und rhetorische Traktate. Dabei zeigt sich unter anderem, dass Afrika jenseits von geographischen Festlegungen ein Schauplatz von Globalisierungsprozessen war und ist, die von philologischen Praktiken ebenso befördert wie reflektiert werden.
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Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2016
2Afrika ist kein schriftloser Kontinent, schon gar nicht, wenn man seine Nordküste miteinbezieht: In Alexandria entwickelten sich vor mehr als zwei Jahrtausenden Verfahren des Umgangs mit Schriften, die heute Philologie heißen. Robert Stockhammer diskutiert Beiträge zur afrikanischen Philologie, von Herodot über Augustinus bis Ken Saro-Wiwa und J. M. Coetzee: Epen, Romane, Reiseberichte, historische, philosophische und rhetorische Traktate. Es zeigt sich, dass Afrika jenseits von geographischen Festlegungen ein Schauplatz von Globalisierungsprozessen war und ist, die von philologischen Praktiken ebenso befördert wie reflektiert werden.
Robert Stockhammer ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Veröffentlichungen im Suhrkamp Verlag: Grenzwerte des Ästhetischen (Hg., stw 1602), Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben (es 2398), Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution (stw 2095).
3Robert Stockhammer
Afrikanische Philologie
Suhrkamp
4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2163
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
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eISBN 978-3-518-74304-1
www.suhrkamp.de
Cover
Impressum
Inhalt
Lesebeginn
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[Informationen zum Buch/Autor]
[Impressum]
Inhalt
Einleitung
I
Herodot. Verkehrung und Verkehr
1
Ägyptische Experimentalphilologie
2
Von den Barbaren lernen, sie Barbaren zu nennen
3
Black Athena
und
Nations nègres
, oder: Wie schwarz sind sie?
4
Herodots
Bewohnte
versus Hegels
Welt
5
Uneindeutige Grenzen, wechselnde Zuschreibungen
II
Alexandrinische Philologie – und die Argonauten des südlichen Mittelmeers
1
Praktiken an der Bibliothek von Alexandria
2
Dichtung und Geographie in der
Argonautica
und bei Eratosthenes
3
Das Afrika des Epos: Poetische Intervention in den Kolonialismus
III
Afrikanische Philologie in Romanform: Heliodor,
Aithiopika
1
Konstruktion des Plots aus dem Orakel
2
Barbaren als Übersetzer
3
Homer als Ägypter
4
Schwarz-Weiß-Malerei
IV
Barbarismus und Christentum: Augustinus
1
Die Sprache des »punischen Kirchenvaters«
2
Barbarismos und Figur
3
sermo barbarus
V
Schriftlichkeit im islamischen Afrika
1
Vernichtung von Bibliotheken oder
translatio studii
(Alexandria–Bagdad–Kairo)
2
Das Land der nicht unbedingt Schwarzen
3
Was ist ›Islamische Philologie‹, zumal in Afrika?
4
Timbuktu: Kurzer Abriss des afrikanischen Schrifttums in arabischer Schrift
5
Zum Verhältnis von Schriftlich- und Mündlichkeit; zwei Alphabete
VI
Vom Mittelmeer zum ›schwarzen‹ Atlantik. Sklavenhandel und Ethnologisierung Afrikas in der Frühen Neuzeit
1
»Afrika
passim
« (Braudel)
2
Sklavenhandel im
Black Atlantic
3
Schwierigkeiten einer afrikanischen Philologie in der Frühen Neuzeit
VII
Alphabetisches Afrika
1
Von der Quaqua-Küste zum »purple patch«
2
Afrikanische Drucke (Raymond Roussel,
Impressions d’Afrique
)
3
»alphabet authority« (Walter Abish,
Alphabetical Africa
, I)
4
Schreib- und Radierstunde (Walter Abish,
Alphabetical Africa
, II)
VIII
Die Sachen und die Sprachen – was ist ›Afrikanische Literatur‹?
1
Amos Tutuolas »falsches« oder »junges Englisch«
2
Der Schauplatz als Gegenstand: zum Versuch, ›Afrikanische Literatur‹ inhaltlich zu bestimmen
3
Das Original und die Schrift
4
Sprach- und/oder Literaturgemeinschaften
5
Warum es (keine) afrikanische Philosophie gibt
6
Wenn es keine afrikanische Philosophie gibt, so gibt es doch jedenfalls afrikanische Philologie
7
Vom »falschen« über das »junge« zum »neuen« Englisch
IX
Der Kindersoldat als Philologe
1
»Big big grammar« (Ken Saro-Wiwa,
Sozaboy
)
2
Mehr Sprachigkeit (Ahmadou Kourouma,
Allah n’est pas obligé
)
X
Genozid und Globalisierung, in Afrika und ›der‹ Welt
1
Ein Übersetzer als alexandrinische Bibliothek (Daoud Hari,
The Translator
)
2
»How many acts of genocide does it take to make a genocide?«
3
Schwarz-Nichtganzschwarz-Malerei
4
Die 1135. Geschichte
XI
Coda: J.M. Coetzees Erzählungen über Afrikanische Philologie
1
Der Roman in Afrika
2
humanity/ies
3
Philo
a
logische Momente
4
»freigebig« – an einem Rand der afrikanischen Philologie
Literaturverzeichnis
Namenregister
Fußnoten
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»als ob allenthalben Afrika wäre«
Johann Gottfried Herder
»›Ah, you were like the ancient Library of Alexandria once on that shore, demanding the loan of every book from every traveler so it might be copied for the library.‹«[1] Dies sagt in Daoud Haris The Translator. A Memoir ein libyscher Student zu dem Ich-Erzähler, der sich von ihm ständig Bücher ausleiht. Genauso habe, an derselben nordafrikanischen Küste, die Bibliothek von Alexandria alle Reisenden dazu genötigt, jedes Buch, das sie mit sich führten, auszuleihen, um eine Kopie davon anzufertigen. Denn der Auftrag der größten Bibliothek des Altertums bestand darin, »soweit irgend möglich, alle Bücher der Welt zu sammeln«.[2] Daoud Hari braucht diese Bücher nicht zuletzt zur Ausbildung der Kompetenzen, die seiner Arbeit zugrunde liegen: Er wird als Dolmetscher unter anderem an einer Untersuchung der Gewaltereignisse in der westsudanesischen Provinz Darfur arbeiten und lernt das Englische, nach seinem eigenen Bericht, vor allem beim Lesen von Treasure Island und Oliver Twist.
Afrika ist kein schriftloser Kontinent. Die Zeichensysteme der Ägypter gehören zu den ältesten der Welt. Entlang der südlichen Mittelmeerküste verbreiteten sich schon vor Christi Geburt das phönizische sowie viele daraus abgeleitete Alphabete: diejenigen Buchstaben, die für die Notation des Hebräischen, des Griechischen und des Lateinischen verwendet wurden. Und in Alexandria bildete sich im dritten vorchristlichen Jahrhundert die Philologie heraus, als Gemeinschaftswerk von Bibliothekaren, Übersetzern, Editoren, Kommentatoren, Grammatikern, Dichtern und Geographen – wobei viele Mitglieder dieses Wissenschaftskollegs mehre10re dieser Funktionen in Personalunion besetzten. In der Folgezeit haben die drei großen monotheistischen Religionen, die sich alle auf Heilige Schriften stützen, um deren Auslegung nicht zuletzt an der nordafrikanischen Küste gerungen. Auch die umfassendste spätantike Enzyklopädie der Philologie, die Hochzeit von Mercurius und Philologia von Martianus Capella, wurde wahrscheinlich dort verfasst, vielleicht in Karthago, als Augustinus im nicht sehr weit entfernten Hippo Regius als Bischof tätig war.[3] Und noch Michel Foucaults Methodenschrift zur Archäologie des europäischen Wissens entstand am Felsen von Karthago.[4]
Dies alles zähle aber, mag man einwenden, zu Nordafrika, zum Maghreb und Ägypten, sei also durch die Sahara vom eigentlichen oder ›Schwarz-Afrika‹ getrennt – und dort habe sich die lateinische Schrift erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert halbwegs flächendeckend verbreitet. Dieser Einwand ist jedoch, zum einen, nur halb richtig. Zwar gibt es tatsächlich nur spärliche Indizien für Schriftsysteme südlich der Sahara, die in die Zeit vor der Ankunft von Arabern und Europäern zurückreichen. Doch drangen die Nachfahren des phönizischen Alphabets schon früh auch in südlichere Bereiche Afrikas vor. Seit dem 3. nachchristlichen Jahrhundert wurde in Äthiopien eine Silbenschrift zur Notation des Ge’ez entwickelt. Die arabische Schrift gelangte mit der Verbreitung des Islam schon während des 8. Jahrhunderts im Südosten bis Sansibar, etwas später im Westen nach Māli. In Timbuktu und Umgebung entstanden seit dem 13. Jahrhundert große Sammlungen von Manuskripten in arabischer Schrift, die auch zur Notation einiger Sprachen afrikanischer Herkunft verwendet wurde. Schon im frühen 16. Jahrhundert schrieb ein kongolesischer Herrscher Briefe an den Papst auf Portugiesisch.
Zum anderen gibt es gute Gründe, die Unterscheidung zwischen Nord- und Schwarzafrika nicht einfach vorauszusetzen, sondern zunächst einmal, scheinbar naiv, vom Afrika der Schulgeographie auszugehen, dem beispielsweise auch politische und Sport-Organisationen wie die Afrikanische Union (AU) und die Confédération Africaine de Football (CAF) entsprechen: Mu‘ammar al-Qaḏḏāfī 11war 2009/2010 Präsident der Afrikanischen Union; Ägypten gewann schon siebenmal die Afrika-Meisterschaften im Fußball. In bestimmten Zusammenhängen mag es funktional sein, kulturelle Unterschiede zwischen dem mittelmeerischen und dem subsaharischen Afrika hervorzuheben. Würde man diese Unterscheidung jedoch als selbstverständlich voraussetzen, ließe sich nicht mehr beobachten, wann sie mit welchen Absichten getroffen wird. So beruhen etwa Hegels berüchtigte und viel zitierte Aussagen über Afrika als geschichtslosem Kontinent darauf, dass er zuvor das »europäische« (Nord-)Afrika vom »eigentlichen« (Schwarz-)Afrika ausgenommen und damit die Außengrenze seiner Weltgeschichte in den afrikanischen Kontinent verlegt hat.[5] In mindestens zwei sehr gewaltsamen innerafrikanischen Auseinandersetzungen (in Ruanda und Darfur) wurde über eine Million Menschen unter Berufung auf die behauptete Möglichkeit ermordet, zwischen richtig-schwarzen und nicht-ganz-schwarzen Afrikanern zu unterscheiden.
Ebenso falsch wäre es jedoch auch, die schulgeographischen Usancen unbefragt beizubehalten und die Grenzen Afrikas als ein für alle Mal gegebene vorauszusetzen. »Afrika passim«, lautet ein Eintrag im Register zur deutschen Übersetzung von Fernand Braudels monumentalem Buch über das Mittelmeer, also: »Afrika allenthalben«, vielleicht auch: »Afrika weit und breit herum zerstreut«. Bereits Herodot bekannte, dass er eine Grenze zwischen Asíē und Libýē (dem griechischen Wort für einen größeren Teil des erst später Africa genannten Kontinents) »mit eindeutiger Bestimmtheit nicht angeben« könne.[6] Eine scharfe Grenze zu Europa wäre nicht leichter zu ziehen: Der EU-Mitgliedsstaat Malta etwa liegt auf der afrikanischen Kontinentalplatte. »Eigentlich müßte man«, mit Fernand Braudel, »von hundert Grenzen zugleich sprechen.«[7] Unter diesen Grenzen gibt es keine selbstverständlichen, allenfalls ältere und jüngere, durchlässigere und weniger durchlässige oder auch solche, die in verschiedenen Richtungen verschieden durchlässig sind. Permanent werden Grenzen in Frage gestellt, permanent neue gezogen. Spanien wurde, sei es aus klimatischen Gründen, sei es aufgrund seiner langen Zugehörigkeit zum Bereich des Islams, das 12»europäische Afrika« genannt, also mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet, den Hegel für den Maghreb verwendete. Portugal und Spanien eroberten schon im 15. Jahrhundert zwei kleine Enklaven auf dem afrikanischen Festland, Ceuta und Melilla im heutigen Marokko, wo derzeit die wohl bestgesicherten Außengrenzen der EU liegen.
In Prozessen des Miteinander-Verkehrens (wie Herodot es nennt) begegnen einander vielleicht anfangs – in heuristischer Vereinfachung – distinkte Gruppen, von denen jeweils nur eine afrikanisch genannt werden kann: Griechen und Ägypter, Araber und Zaghawa, Portugiesen und Kongolesen … Sehr bald schon transformiert jedoch der Verkehr diese Gruppen in einem Maße, dass die Zurechnung von Einzelnen zu ihnen immer schwieriger wird. Sind Homer und einige der wichtigsten griechischen Götter nicht eigentlich Ägypter? Stammen nicht auch die Kolcher aus Ägypten? Ist Ägypten aber nicht seinerseits eine äthiopische Kolonie? Kommen gar die ruandischen Tutsi aus Äthiopien? Wieso bilden ausgerechnet in ›Schwarzland‹ (dem Sudan) ›Schwarze‹ nur eine Minderheit – und was heißt hier schwarz? Unterscheiden sich noch heute die Nachfahren der im 19. Jahrhundert nach Liberia remigrierten ehemaligen Sklaven, deren Vorfahren in früheren Jahrhunderten nach Amerika transportiert wurden, von den Nachfahren derjenigen, deren Vorfahren ununterbrochen auf dem Territorium des heutigen Liberia lebten?
Gerade auch unter den Autoren von Texten ist eine dichotomische Unterscheidung von Afrikanern und Nicht-Afrikanern nur für idealtypische Fälle passgenau. So waren etwa Amos Tutuola und Ahmadou Kourouma Schriftsteller, die überwiegend in Afrika schrieben und deshalb einigermaßen eindeutig als Afrikaner bezeichnet werden können; die Impressions d’Afrique von Raymond Roussel, der angeblich am liebsten in einem Auto mit zugezogenen Vorhängen reiste, wird man hingegen als Fremdbeschreibung rubrizieren. Migrationen von Menschen, Sprachen und Schriften haben jedoch schon seit langem die Opposition von Eigen- und Fremdbeschreibung unterlaufen. Wer ist das Subjekt der vielsprachigen und hochgradig selbstreflexiven Forschungen in Herodots Ägypten-Bericht: der griechische Forscher Herodot oder doch seine ägyptischen Gewährsleute selbst? Waren Kallimachos und Eratosthenes nicht doch Griechen, wenngleich auf nordafrikanischem 13Territorium? Hat der Punier Augustinus nicht schon mit seiner Unterweisung in die Disziplinen des ›europäischen‹ triviums das Recht verwirkt, als jener ›afrikanische Philosoph‹ zu gelten, als der er gelegentlich bezeichnet wird? Welche Rolle spielt seine algerische Herkunft für die Philologie Jacques Derridas? Muss J. M. Coetzee nicht doppelt aus Afrika ausgeklammert werden, weil er erstens Nachfahre holländischer Einwanderer – also bloß Afrikaner im Sinne dieses englischen Wortes (dem das deutsche Afrikaaner entspricht) – und zweitens inzwischen australischer Staatsbürger ist? Ja, sogar die Texte Amos Tutuolas oder Ahmadou Kouroumas beruhen auf dem Medium einst aus Europa importierter Sprachen und deren Fixierung in lateinischer Alphabetschrift; und ihre Wirkung wäre eine andere gewesen, wären diese Texte nicht in europäischen Verlagen erschienen. Das Adjektiv afrikanisch bezeichnet daher im Verlauf dieses Buches nur ausnahmsweise gesicherte Ursprünge und wird sozusagen konstitutiv kleingeschrieben – begegnet es in Texten aus dem Untersuchungsbereich des Buches hingegen als gleichsam großgeschriebenes, so ist die damit einhergehende Essentialisierung als solche zu analysieren.
All die genannten Texte und viele mehr sind, in verschiedenem Grade, Subjekte und Objekte dessen, was hier Philologie heißt. Philologie ist ein Verbund von Praktiken im Umgang mit Schrift und Schriften, der deshalb in Alexandria, wo er entwickelt wurde, noch téchnē grammatikḗ hieß, und der sich mit der Arbeitsdefinition, die Erich Auerbach seinen türkischen Studenten gegeben hat, so zusammenfassen lässt:
Die Philologie ist die Gesamtheit der Tätigkeiten, die sich methodisch mit der Sprache des Menschen sowie der in dieser Sprache verfassten Kunstwerke beschäftigen. Da sie eine sehr alte Wissenschaft ist und man sich auf sehr verschiedene Weisen mit der Sprache beschäftigen kann, hat das Wort ›Philologie‹ einen sehr weiten Sinn und umfasst sehr verschiedene Tätigkeiten.[8]
Zu diesen Formen der intensivierten Auseinandersetzung mit Sprache gehören selbstverständlich diejenigen, die heute als Literatur- und Sprachwissenschaft voneinander unterschieden werden; doch findet eine solche Auseinandersetzung auch in anderen Feldern wie der Theologie, der Poesie, der Philosophie, der fiktionalen Literatur 14usw. statt. Der Poesie und der fiktionalen Prosa ist zwar eher ein implizites Sprachwissen eigen, das man vom expliziten der Sprach- und Literaturwissenschaft zu unterscheiden geneigt sein wird. Wie wenig trennscharf diese Unterscheidung jedoch ist, zeigt schon die Argonautica des Apollonios von Rhodos, eines der Direktoren der Bibliothek von Alexandria, die auch als Kommentar zur Odyssee in Hexametern zu lesen ist. Erzählprosa von Heliodors Aithiopika bis hin zu mehreren »Lessons« in J. M. Coetzees Elizabeth Costello enthält ausführliche Diskussionen über Literatur und Philologie.
Diese Formen intensivierter Auseinandersetzung mit Sprache sind fast immer solche mit Sprachen im Plural. Wie viele autochthone Sprachen auf dem Kontinent Afrika gesprochen werden, bleibe dahingestellt; gern wird dafür die Zahl 1000, manchmal auch 2000, genannt. Viele weitere Sprachen, deren Ursprünge man in Europa oder Asien verorten mag, kamen durch Kolonialisierung und Migration hinzu: das Phönizische, Griechische, Hebräische, Lateinische, Arabische, Portugiesische, Niederländische, Englische, Französische, Italienische und Deutsche (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Viele dieser Sprachen wiederum bildeten auf afrikanischem Boden Idiome aus, die man, je nach sprachpolitischer Haltung, als eigene Sprachen oder als Varietäten der Ausgangssprache klassifizieren kann: das Punische, das Afrikaans, das Krio, das nigerianische Pidgin.
Dass Philologie vielsprachig ist, bildet den Normalfall; irreführend wäre es gerade deshalb, die Komparatistik als komplementäre Ergänzung von Einzelphilologien aufzufassen (wie es seit dem 19. Jahrhundert, mancherorts noch heute, geschieht). Die Ägypter, von denen Herodot berichtet, erstrecken ihre philologischen Forschungen auf alle ihnen bekannten Sprachen; in Alexandria reichert man die Bibliothek unter anderem mit einer Übersetzung des jüdischen Gesetzes ins Griechische an; Augustinus diskutiert gelegentlich punische Wörter; Ahmadou Korouma bewaffnet seinen Erzähler in Allah n’est pas obligé, einen Kindersoldaten, mit gleich vier Wörterbüchern.
In diesen Fällen und den meisten anderen, die in diesem Buch dargestellt werden, bezieht sich das Adjektiv afrikanisch auf den Ort oder die Akteure der Philologie, in einigen wenigen ›nur‹ auf deren Gegenstand (so wie ja auch eine deutsche Philologie nicht grundsätzlich von Deutschen und in Deutschland betrieben werden 15muss).[9] Schon weil viele Orte und Akteure ohnehin nicht in die dichotomische Zuschreibung von Afrika versus Europa (einschließlich Nordamerikas) einzutragen sind, ist afrikanische Philologie nicht das Andere der europäischen, sondern in die Philologie überhaupt involviert, ohne daraus in Reinform auskristallisierbar zu sein. Die Kopplung von afrikanisch und Philologie erlaubt einen spezifischen Blick auf die Philologie und einen spezifischen Blick auf Afrika.
Afrika wird dabei nicht als scharf abgrenzbare Region verstanden, sondern als Schauplatz interkontinentaler, potenziell erdumspannender Bewegungen von Menschen und Schriften. Man kann diese Transaktionen Prozesse der Globalisierung nennen, wenn man an diesem Wort bewusst arbeitet.[10] Befördert werden solche Globalisierungsprozesse nicht zuletzt durch philologische Praktiken. In Alexandria legte Eratosthenes – der Erste, der seine Berufsbezeichnung als Philologe angab, und zugleich derjenige, der den Namen der Disziplin Geographie prägte – mit seiner Messung des Erdumfangs wichtige Grundlagen für die sphairopoiía, also die Glob-alisierung im Wortsinn (die Herstellung von Globen).
16Philologie gestaltet aber auch die Ferne-/Nähe-Beziehungen zwischen Menschen in einer Weise um, dass diese vom Aufenthaltsort dieser Menschen teilweise unabhängig werden – und genau so lassen sich mehrere viel zitierte Definitionen von Globalisierung paraphrasieren.[11] Im heutigen Stadium stützt sich die Globalisierung vor allem auf eine Verschaltung von Draht und Daten, dank welcher Nachrichten übermittelt werden können, ohne dass auch nur ein menschlicher Akteur seinen Aufenthaltsort ändern müsste. Zwar ist dies eine jüngere Entwicklung, die – einmal von Rauchzeichen und ›Buschtelegraphen‹ abgesehen – erst im 19. Jahrhundert einsetzte. Lange zuvor schon hatte es jedoch die Verschaltung von Schriften mit Schiffen (gegebenenfalls auch Wüstenschiffen) ermöglicht, den Nachrichtenverkehr immerhin von der Bewegung bestimmter Personen im Raum zu entkoppeln. Die im Hafen von Alexandria konfiszierten Manuskripte stammten von anderen Orten, waren häufig in anderen Sprachen, oft auch anderen Schriftsystemen verfasst und enthielten manchmal Wissen über andere Orte: Der alexandrinische »Aristeas-Brief« empfiehlt gerade Königen besonders die Lektüre von Reiseberichten.[12] Die im Skriptorium oder, nach Erfindung des Buchdrucks, in Verlagshäusern angefertigten Kopien können dann wiederum anderswohin transportiert werden. So müssen Autoren nicht selbst dorthin reisen, wo ihre Schriften gelesen werden, und Leser müssen nicht selbst dorthin reisen, woher Schriften stammen und wovon sie berichten. Manche dieser Leser schreiben ihrerseits, schreiben also das Gelesene um. Sehr schnell bildet sich eine Kette von Transportwegen, deren Ursprung nicht mehr leicht auszumachen ist.
Daraus folgt keineswegs, dass es ganz egal wäre, wo sich jemand befindet. Globalisierungsprozesse münden weder im schlechten noch im guten Sinne automatisch in Gleichheit, sondern beruhen auf wechselseitigen, interkontinentalen, aber keineswegs symmetrischen Austauschbeziehungen. Die ungleiche Verteilung der Verfügung über Schrift und Schriftträger entspricht Machtverhältnissen. Im Regelfall etwa besitzt der Schiffseigner auch die Verfügungs17gewalt über das an Bord geführte Logbuch; häufig kann er sogar darüber entscheiden, welche Berichte von einer auf diesem Schiff unternommenen Reise veröffentlicht werden dürfen und welche nicht. Viele Menschen, die auf Schiffen transportiert wurden, konnten weder schreiben noch hätten sie über die notwendigen Mittel zur Aufzeichnung und Vervielfältigung von Berichten verfügt, wenn sie hätten schreiben können: Von den geschätzten 12,5 Millionen Menschen, die als Sklaven über den Atlantik verschifft wurden, sind nur sehr wenige Berichte erhalten. Die Möglichkeit des writing back – dass also jemand schreibt, dessen Schreiben eher nicht vorgesehen ist – ist eine durchaus labile, deren Bedingungen ihrerseits reflektiert werden müssen. Afrika ist kein schriftloser Kontinent, aber zugleich wird dort besonders deutlich, dass sich Schreiben keineswegs von selbst versteht: weder dass überhaupt geschrieben wird noch auch in welcher Sprache. Romane wie Ken Saro-Wiwas Sozaboy oder Walter Abishs Alphabetical Africa thematisieren diese ungleiche Verteilung der Schrift und der Institutionen zu ihrer Verbreitung. Daoud Hari berichtet davon, unter welch prekären Bedingungen immerhin einige Erzählungen von Überlebenden sehr gewaltsamer Ereignisse zustande gekommen sind. Philologie muss noch die Ränder von Aussageakten analysieren, deren Möglichkeit und Unmöglichkeit – also ihren eigenen Rand.
Die Anordnung der vorliegenden Studie folgt der Chronologie der untersuchten Texte, vom 5. vorchristlichen Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart. Die meisten Kapitel vertrauen auf close readings von einzelnen Texten; Konzepte der Philologie und der Globalisierung werden, als ihrerseits je historisch geprägte, fortlaufend mitentwickelt. Wenngleich fast jeder Satz dieser Studie neu geschrieben ist, weist sie Schnittmengen zu Arbeiten auf, die ich bereits publiziert habe und die in Fußnoten sowie dem Literaturverzeichnis ausgewiesen werden – nicht um mich des Geleisteten zu rühmen, sondern um Selbstplagiate zu vermeiden. Die relativ hohe Zahl dieser Verweise ist vielleicht damit zu rechtfertigen, dass das nun vorliegende Buch ein bisher ungeschriebenes Zentrum meiner Beschäftigungen der letzten fünfzehn Jahre ausformuliert. Die im Kapitel VIII umkreiste Frage nach Bestimmungen afrikanischer Literatur habe ich erstmals intensiv mit Susan Arndt und Dirk Naguschewski im Rahmen des Projekts Afrika <=> Europa 18diskutiert. Der verhältnismäßig große Anteil, den Antike und Spätantike hier einnehmen (mit den ersten vier von elf Kapiteln), ist nicht zuletzt auf viele Anregungen Martin Hoses zurückzuführen; auch Bernhard Teuber hat ein Kapitel und viele einzelne Ideen aus diesem Umfeld mit mir diskutiert. Im Kapitel V zeigen sich, angesichts meiner fehlenden Sprachkenntnisse im Arabischen, die Gefahren meines Dilettierens vermutlich noch deutlicher als in den ersten vier – es hätte aber etwas sehr Entscheidendes gefehlt, wenn ich nicht wenigstens tastend die Verbreitung und Funktionen der arabischen Schrift auf dem afrikanischen Kontinent zu beschreiben versucht hätte. Für philologische Assistenz beim Umgang mit arabischen Texten und bei der Umschrift arabischer Namen und Wörter danke ich Tamara Fröhler und Leonora Sonego; für etwaige Fehler bleibe ich selbstverständlich trotzdem allein verantwortlich. Außer in diesem Kapitel kommen auch in dem folgenden über die Jahrhunderte des Sklavenhandels genaue Lektüren von einzelnen Texten zu kurz; dieser Sachverhalt wird jedoch als solcher dort motiviert, und für Camões’ Lusiadas, die sich hier anboten, kann ich auf eine in Entstehung begriffene Studie von Helga Thalhofer verweisen. Viele Anregungen verdanke ich den Zuhörern einer Vorlesung, in der ich eine frühere Fassung des Buches vorgestellt habe, sowie Tamara Fröhler und Daniel Neumann, die sie ganz durchgelesen haben.
Das zweite Buch von Herodots in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts verfassten Historíai, des ältesten überlieferten Geschichtswerkes des Abendlandes, unterbricht die Chronologie in einem Maße, in dem dies nirgendwo sonst im Lauf der neun Bücher geschieht.[1] Zu Beginn dieses Buches schickt Kambyses, persischer König und Sohn des Kyros, sich an, Ägypten zu erobern; zu Beginn des dritten Buches wird er den Entschluss in die Tat umsetzen. Die damit geschilderten Ereignisse lassen sich in moderner Zeitrechnung auf das Jahr 525 v. Chr. datieren, liegen also vermutlich ein knappes Jahrhundert vor der Niederschrift der Historien oder knapp ein halbes Jahrhundert vor den entscheidenden Schlachten zwischen Persern und Griechen, mit denen diese Historien enden. Das zweite Buch aber, das zur Gänze Ägypten – mit kleinen Ausflügen nach Äthiopien und anderen benachbarten Regionen – gewidmet ist, reicht 330 Generationen von Königen oder, nach den Datierungen heutiger Ägyptologen, ins späte 4. vorchristliche Jahrtausend zurück.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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