4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Insel-Idylle und gefährliche Geheimnisse …
Ein spannender Cosy Crime an der Küste Schottlands
Im malerischen Küstenstädtchen Tobermory auf der Isle of Mull ereignet sich ein schreckliches Unglück und der junge Neil Thorburn stirbt bei einem Autounfall. Die beste Freundin seiner Mutter, die pensionierte Lehrerin Agnes Munro, kehrt daraufhin auf die schottische Insel zurück, um der Familie beizustehen. Doch es kommt noch schlimmer, denn wenig später stirbt auch Neils Schwester Hazel bei einem Selbstmordversuch. Das glaubt zumindest die Polizei, doch Agnes ist sicher, dass mehr hinter diesem Todesfall steckt und beginnt, gemeinsam mit dem Inselpolizisten und dem örtlichen Pfarrer zu ermitteln. Tatsächlich stoßen sie auf einige Ungereimtheiten: Wer war der Mann, der in der Todesnacht vor Hazels Haus gesehen wurde? Und warum fehlt Neils Laptop in seinem Nachlass? Als eine Zeugin nur knapp einem Brandanschlag entgeht, weiß Agnes, dass sie einem Geheimnis auf der Spur ist, für das jemand über Leichen geht …
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Tödliche Zeilen.
Erste Leser:innenstimmen
„Ein schottischer Wohlfühlkrimi für gemütliche Kaminabende."
„Atmosphärisch und augenzwinkernd geschriebener Cosy Crime."
„Was fast wie ein Thriller beginnt, entwickelt sich zum faszinierenden Portrait einer Kleinstadt."
„Eine spannende Lektüre, die gekonnt klassische Krimielemente mit spannenden Charakteren mischt."
„Agnes Munro ermittelt so sympathisch und klug wie Miss Marple!"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2023
Im malerischen Küstenstädtchen Tobermory auf der Isle of Mull ereignet sich ein schreckliches Unglück, und der junge Neil Thorburn stirbt bei einem Autounfall. Die beste Freundin seiner Mutter, die pensionierte Lehrerin Agnes Munro, kehrt daraufhin auf die schottische Insel zurück, um der Familie beizustehen. Doch es kommt noch schlimmer, denn wenig später stirbt auch Neils Schwester Hazel bei einem Selbstmordversuch. Das glaubt zumindest die Polizei, doch Agnes ist sicher, dass mehr hinter diesem Todesfall steckt und beginnt, gemeinsam mit dem Inselpolizisten und dem örtlichen Pfarrer zu ermitteln. Tatsächlich stoßen sie auf einige Ungereimtheiten: Wer war der Mann, der in der Todesnacht vor Hazels Haus gesehen wurde? Und warum fehlt Neils Laptop in seinem Nachlass? Als eine Zeugin nur knapp einem Brandanschlag entgeht, weiß Agnes, dass sie einem Geheimnis auf der Spur ist, für das jemand über Leichen geht …
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Tödliche Zeilen.
Überarbeitete Neuausgabe Januar 2023
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-139-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-185-8
Copyright © 2019, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei dp Verlag erschienenen Titels Tödliche Zeilen (ISBN: 978-3-96087-465-2).
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Andy Shell shutterstock.com: © gyn9037, © Bernulius, © Holly Auchincloss, © Nikiforov Alexander Lektorat: Astrid Rahlfs
E-Book-Version 29.03.2023, 13:17:17.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
Newsletter
TikTok
YouTube
Hazel schreckte aus dem Schlaf und sah auf den Wecker. Regen prasselte gegen ihr Fenster wie Trommelwirbel. Halb drei in der Nacht. Wer kam auf die Idee, an einem ganz normalen Wochentag um diese Zeit anzurufen? Kurz überlegte sie, das Klingeln zu ignorieren. Doch was, wenn es etwas Wichtiges war? Sie griff nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Hey Zel, noch wach?«
Hazel erkannte die Stimme ihres Bruders.
»Neil? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Ich hab schon längst geschlafen. Weißt du, wie spät es ist?«
»Hör zu. Ich muss dich unbedingt sprechen. Hab ‘ne Entscheidung getroffen. Ist wichtig. Brauche unbedingt deine Meinung dazu. Ich komm jetzt rüber, okay?«
Neil hatte die Worte gelallt. Hazel war schlagartig hellwach.
»Sag mal, lallst du? Bist du etwa betrunken? Verflucht! Bleib, wo du bist. Setz dich bloß nicht ans Steuer! Schon gar nicht bei dem Wetter.«
»Bin schon auf dem Weg. Ich hab das im Griff, Zel«, verkündete Neil. »Ist doch nicht weit.«
Hazels Herz jagte. Sie sprang aus dem Bett, lief in den Flur und riss ihre Jacke vom Haken.
»Neil! Leg sofort das Handy weg und fahr rechts ran. Ich komme und hole dich ab.«
»Lass gut sein. Bin gleich bei dir, ja?«
Hazel zog hastig die Jacke über den Pyjama, schlüpfte in ihre Schuhe und wühlte in der Kommodenschublade nach dem Autoschlüssel wühlte.
»Neil! Ich meine das ernst! Fahr sofort ran und bleib, wo du bist! Ich komme jetzt.«
Sie öffnete die Haustür und blickte hinaus. Der Regen fiel in dichten Fäden.
»Scheiße, Neil. Da draußen geht gerade die Welt unter. Halt sofort an, ich komme und hole dich! Ich lege jetzt auf, okay?«
»Mann, scheiße, ich seh überhaupt nicht …«
»Neil!! Bist du okay? Du hältst sofort an, und ich lege auf. Okay?«
»Verdammt, was …«
»Okay, Neil? NEIL!?«
» …«
»NEIL!!«
Eine leichte Brise kräuselte das Wasser, und die Nachmittagssonne glitzerte auf den Wellen, als die CalMac Fähre Douart Castle passierte und auf den Fähranleger von Craignure zuhielt. Es hätte ein Bild aus einem Urlaubskatalog sein können. Doch das sommerliche Idyll passte genauso wenig zum Anlass ihres Besuchs wie der Schal mit dem leuchtend pinkfarbenen Blumenmuster, der fröhlich im Seewind flatterte. Agnes stand an der Reling und beobachtete die Isle of Mull beim Anlegen, während sie sich im Kopf zurechtlegte, was sie sagen sollte. Sie hatte noch nie gewusst, was man in solch einer Situation Tröstliches sagen konnte. Sie hasste Kondolenzbesuche, die Floskeln, das traditionelle Schwarz. Doch dieses Mal war es anders. Es ging schließlich um Neil, Effys Sohn. Effy war für sie dagewesen, und sie würde sich nun zusammennehmen und ebenso für ihre Freundin dasein. Nur wie konnte man einer Mutter Mut machen, die gerade ihren Sohn verloren hatte? Was sagte man seinem Vater, seiner Schwester? Neil war doch gerade erst siebenundzwanzig gewesen, kerngesund. Eigentlich hätte er sein Leben noch vor sich haben sollen.
Am Ufer entdeckte Agnes Hazels roten Haarschopf, der schon von Weitem in der Sonne leuchtete. Sie holte tief Luft. Zurück auf die Insel zu kommen, war für sie ohnehin mit einem Gefühl der Beklemmung verbunden. Zu viele schmerzhafte Erinnerungen lauerten hier auf sie und nun würden weitere hinzukommen.
Sie folgte den anderen Passagieren von Bord. Hazel hatte die Hand an die Stirn gehoben und sah, auf den Fußballen balancierend, über die Köpfe der Wartenden hinweg. Anscheinend hatte sie Agnes entdeckt, denn sie winkte.
Wieder musste sich Agnes erst daran gewöhnen, wie erwachsen Hazel inzwischen aussah. Noch zu gut erinnerte sie sich an das kleine, sommersprossige Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Auch wenn es sich manchmal anfühlte, als sei nicht viel Zeit vergangen, seitdem sie ihr Patenkind zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, würde sich der Tag nun bald zum dreißigsten Mal jähren. Agnes wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als könne sie damit den unangenehmen Gedanken verjagen. Sie mochte sich nicht alt fühlen, und es löste Unbehagen in ihr aus, darüber nachzudenken.
Auf dem Anleger nahm Agnes Hazel in den Arm und streichelte wortlos ihren Rücken. Vielleicht hatte sie sich zu viele Gedanken gemacht. Manchmal brauchte es keine Worte, um auszudrücken, was man fühlte.
Hazel drückte ihre Patentante noch einmal und löste sich aus der Umarmung.
»Lieb, dass du so schnell gekommen bist.«
Ihre Stimme klang kratzig.
»Lass nur, ich kann den Koffer selbst nehmen«, wehrte Agnes ab, als Hazel nach ihrem Gepäck griff, und hakte sich unter. »Wie geht es jetzt zu Hause?«
Hazel seufzte. »Dad ist erstaunlich gefasst. Wahrscheinlich kann er es nur nicht so zeigen. Du kennst ihn ja, Charlie Thorburn, der Unerschütterliche. Mum macht mir ernsthafte Sorgen. Sie hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und möchte nicht mit uns sprechen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist, als ob wir ihr egal wären. Glaubt sie, sie ist die Einzige, die trauert?«
Ihre letzten Worte klangen wütend und verzweifelt zugleich.
Agnes zog Hazel fest an ihre Seite. »So darfst du nicht denken, Hazel. Deine Mum liebt euch sehr, und ihr seid ihr gewiss nicht egal. Sie kann nicht anders. Deine Mutter hat Probleme schon immer zuerst mit sich allein ausgemacht. Gib ihr etwas Zeit, den Schock zu verarbeiten. Wenn sie dann aus ihrem Schneckenhaus herauskommt, wird sie euch dafür umso mehr brauchen.«
»Vielleicht hast du recht, Tante Agnes. Mum war noch nie besonders gut darin, sich helfen zu lassen.« Hazel wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Ach, lass doch das Tante weg, Hazel. Das klingt so altmodisch, findest du nicht?«
Hazel lächelte kurz. »Ich finde altmodisch schön. Und du bist doch meine Patentante.«
»Aber du bist doch kein Kind mehr.«
»Vielleicht höre ich es genau deshalb so gern.« Hazel strich sich eine rote Haarsträhne hinters Ohr. »Es klingt nach schöner Kindheit, heiler Welt und einer Zeit, in der alles noch viel einfacher schien.«
»Wenn es so ist, darfst du natürlich gern dabei bleiben.« Agnes drückte liebevoll Hazels Arm, als sie den Parkplatz erreichten.
Eine Weile schwiegen beide, während sie die schmale zweispurige Straße entlangfuhren, die sich an die Küstenlinie schmiegte, vorbei an Weiden, moosbewachsenen Felsen und Gruppen von dürren Birken, bis Hazel schließlich das Schweigen brach. »Ich habe für dich das Gästezimmer hergerichtet. Es wird dir gefallen. Wir haben es erst vor einem Monat renoviert.«
»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich vielleicht ins Hotel …« Weiter kam Agnes nicht, denn Hazel widersprach vehement.
»Kommt gar nicht in die Tüte, Tante Agnes. Du bleibst bei uns.«
Agnes lächelte. »Danke, das ist wirklich lieb. Aber ich möchte keine zusätzliche Belastung für euch sein. Dann lasst mich wenigstens das Einkaufen und Kochen übernehmen, einverstanden?«
»Das nehmen wir gern an. Ich schlafe zurzeit auch bei Mum und Dad. Ich kann sie jetzt nicht allein lassen. Bei mir daheim würde ich ohnehin nur herumsitzen und die Wände anstarren.«
Die Straße verengte sich auf eine Spur und wand sich durch einen schmalen Streifen Kiefernwald. Hazel drosselte das Tempo und blickte konzentriert auf die Straße. Agnes war froh, dass sie so eine umsichtige Fahrerin war. Ihr waren die oft schwer einzusehenden einspurigen Straßen, die es noch immer überall auf der Insel gab, noch nie ganz geheuer gewesen. Man musste immer auf der Hut sein, auf den Gegenverkehr achten und mit Schafen oder Hochlandrindern auf der Fahrbahn rechnen. Dennoch waren hier in der Gegend tödliche Unfälle selten. Das war ihr, seit sie die Nachricht von Neils Unfall erhalten hatte, nicht aus dem Kopf gegangen. Hazel hatte sie am Telefon nicht mit Fragen belästigen wollen, und der Zeitungsbericht hatte ebenfalls keine Details genannt. »Wie ist es denn passiert? War es ein Wildunfall?«
Hazel schüttelte den Kopf und presste kurz die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. »Nein. Kein Wildunfall. Neil hatte offenbar getrunken und ist mitten in der Nacht bei strömendem Regen losgefahren. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat. Er kam von Dervaig. Die Sicht war schlecht, die Straße rutschig. Es hatte schon den ganzen Tag, geregnet und höchstwahrscheinlich war der Fahrbahnrand rutschig vom Schlamm. Vielleicht ist er aus der Spur geraten. Genau werden wir es wohl nie wissen.« Hazel hielt das Lenkrad fest umklammert und rang sichtlich um Fassung. »Warum ist er bloß mitten in der Nacht bei so einem Wetter ins Auto gestiegen? Ich begreife das nicht!«
»Wie schrecklich, Hazel! Ich kann mir das auch überhaupt nicht vorstellen.« Agnes zupfte an ihrem Schal. Ihr war unangenehm bewusst, dass es einfach nichts Passendes zu sagen gab, wenn ein so junger Mensch starb. Nichts, was sie hätte sagen können, hätte es besser gemacht. Wahrscheinlich war es wichtiger, dass sie hergekommen war.
»Sie haben ihn in der Nacht noch nach Craignure gebracht, aber dort konnte man nichts mehr für ihn tun.« Hazels Stimme zitterte. »Ich habe dir erzählt, dass er zu mir wollte?«
Agnes wandte ruckartig den Kopf. Dieses Detail war ihr tatsächlich neu. »Nein, das wusste ich nicht. Hast du eine Ahnung, warum?«
Hazels Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad herum. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass er zu mir wollte. Er hat mich auf der Fahrt aus dem Auto angerufen.«
Ein entsetzter Laut entfuhr Agnes und sie schlug die Hand vor den Mund. Gleichzeitig bereute sie es. Den tödlichen Unfall ihres Bruders quasi miterlebt zu haben, musste schlimm genug für Hazel sein. Jetzt daran erinnert zu werden, machte es nur noch schwerer. Sie schluckte und fragte nicht weiter, doch offenbar wollte Hazel darüber sprechen.
»Natürlich habe ich gesagt, er soll sofort anhalten. Er klang ganz aufgeregt, sagte, er habe eine wichtige Entscheidung getroffen und müsse dringend mit mir sprechen. Ich habe ihn immer wieder gebeten, zu halten und vorgeschlagen, dass ich losfahre, um ihn zu holen, aber er wollte einfach nicht hören.«
»Oh Hazel, das ist ja furchtbar! Hast du irgendeine Ahnung, worum es ging?«
»Keinen Schimmer. Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf darüber. Wer weiß, ob es wirklich so etwas Weltbewegendes war. Schließlich war er betrunken, und Neil … Na ja, er war schon immer sehr impulsiv. Du kennst ihn ja.« Hazel schluckte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Ich werde wohl nie erfahren, was er mir so unbedingt sagen wollte.« Sie lenkte den Wagen in eine Ausbuchtung am Straßenrand, um einen entgegenkommenden Transporter passieren zu lassen.
Agnes legte ihr die Hand auf den Unterarm und drückte ihn kurz. »Wann soll die Beerdigung stattfinden? Kann ich dabei irgendwie helfen?«
»Darüber haben wir uns bisher kaum Gedanken gemacht. Sobald die Polizei seine … seinen … sobald sie ihn zur Bestattung freigegeben hat, schätze ich. Die polizeiliche Untersuchung läuft noch. Sie wollen feststellen, ob es wirklich ein Unfall war oder ob er womöglich absichtlich …« Hazel sprach nicht weiter und lenkte den Wagen wieder auf die Straße.
»Sie glauben, er könnte beabsichtigt haben, sich selbst zu töten? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Agnes strich sich eine Strähne ihres aschblonden Pagenkopfes hinters Ohr. Sie war selten um Worte verlegen, aber das Gehörte machte sie zunehmend sprachlos. Sie hatte Effys Sohn seit Jahren nicht gesehen, doch sie erinnerte sich an ihn noch als fröhlichen, stets etwas frechen Teenager, und sie konnte nicht fassen, dass er einfach aufgehört hatte zu existieren. Wie mochte es erst für Effy, Charlie und Hazel sein?
Hazel zog die Schultern hoch. Sie wischte sich erneut über die Augen. Ihre Stimme klang kraftlos.
»Neil hatte seine Phasen, das weißt du sicher. Seit er nach Glasgow gezogen war, hatte er immer wieder richtig üble Zeiten. Er war launisch und antriebslos, und getrunken hat er auch zu viel. Aber seit kurzem hatte ich den Eindruck, er habe sich wieder gefangen. Seit er zurück auf der Insel war, machte es den Anschein, als wäre er auf einem richtig guten Weg. Er wollte ganz neu durchstarten, hatte Pläne. Ich glaube nicht, dass er das nur vorgespielt hat. Wir können uns doch nicht alle so getäuscht haben.«
»Das glaube ich auch nicht. Bestimmt ist die Ermittlung bloß Routine. Sie wollen einfach sichergehen und kennen die genauen Umstände schließlich nicht so gut wie seine Familie«, gab Agnes zu bedenken.
»Hätte er doch auf mich gehört! Wenn er nur das verfluchte Telefon zur Seite gelegt und angehalten hätte.« Hazel fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Ich hätte auflegen sollen, anstatt auf ihn einzureden. Wer weiß, vielleicht wäre er dann noch am Leben.«
»So etwas darfst du noch nicht einmal denken!« Agnes fühlte sich hilflos. Zu gern hätte sie Hazel diese Gedanken ausgeredet. Doch ihr war klar, dass es wenig Zweck hatte. Die quälenden Fragen in Hazels Kopf würden so schnell nicht verstummen. »Es ist nicht deine Schuld, Liebes.«
»Ich weiß.« Hazel nickte, und eine rote Strähne fiel ihr in die Stirn. Sie verzog den Mund. »Das glaube ich jedenfalls. Ich denke trotzdem ständig darüber nach, ob ich es nicht irgendwie hätte verhindern können, wenn ich anders reagiert hätte. Das Telefonat brach irgendwann einfach ab. Vielleicht hatte er aufgelegt, vielleicht war es ein Funkloch. Der Handyempfang ist hier schließlich nicht besonders zuverlässig, wie du weißt.«
Agnes versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, um Hazel nicht noch mehr aufzuwühlen. »Das Problem hatte ich noch nicht, als ich hier gelebt habe. Aber ich bin auch immer froh, wenn die Zivilisation mich wiederhat.«
»Wann bist du weggezogen? Ich erinnere mich nicht mehr so genau. Ich muss so ungefähr zehn gewesen sein. Kurz nach der Jahrtausendwende, oder?«
»Im Oktober 2001. Mein erstes Handy habe ich mir erst zwei Jahre später gekauft. Inzwischen kann ich nicht mehr ohne.« Sie klopfte auf ihre Handtasche. Ein auffälliges Stück in Apfelgrün mit einem pinkfarbenen Griff. »Und ich war lange nicht mehr hier auf der Insel.«
»Das ist eine starke Tasche, Tante Agnes.« Hazel lächelte kurz. Sie hatte sich immer für den extravaganten Modestil ihrer Patentante begeistern können.
»Die habe ich auf einem Kunstgewerbemarkt erstanden. Ich konnte einfach nicht daran vorbeigehen. Du kennst mich ja.« Sie stieß einen gespielten Seufzer aus. In Wahrheit bereute sie allerdings keinen ihrer Impulskäufe. Außergewöhnlichen Stücken konnte sie eben nicht widerstehen, und sie genoss es, sich extravagant zu kleiden. Sie sah Hazel an und schüttelte den Kopf. »Fünfzehn Jahre ist das schon her. Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen. Und jetzt sieh dich an: eine erwachsene Frau. Die Welt hat sich ganz schön verändert, nicht wahr? Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme da gar nicht mehr mit.«
»Das ist aber keine Sache des Alters. Wenn ich die Nachrichten ansehe, glaube ich auch manchmal, ich bin in so einer Art Paralleluniversum gelandet.« Ein Mutterschaf mit Lamm kreuzte gemächlich die Straße. Hazel bremste ab und hupte kurz. »Nur hier auf der Insel schien die Welt noch vollkommen in Ordnung zu sein, bis …«
Agnes war normalerweise nicht der Typ ältere Dame, der gerne darüber jammerte, dass früher alles besser gewesen sei. Doch in letzter Zeit hatte sie sich mehrfach dabei ertappt. Vielleicht setzte ihr die Pensionierung zu, dieses Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Noch steckte sie voller Pläne und ihr spukten so viele Projekte und Ideen im Kopf herum. Doch an manchen Tagen kam es ihr vor, als laufe alles nur noch auf das Ende zu. Der Gedanke machte ihr Angst.
Die weißen, schiefergedeckten Häuschen der Ortschaft Salen huschten am Fenster vorbei, und die Straße verlief eine Weile parallel zur Küste. Rechts trennte sie nur ein schmaler Streifen Salzwiese von der Salen Bay. Einzelne Schafe grasten dort und bildeten weiße Tupfen vor dem Blau der Bucht. Die verwitterten Überreste einiger Fischerboote ragten wie Skelette in den Sommerhimmel und verliehen der Landschaft etwas Melancholisches.
Über zwanzig Jahre lang hatte sie die Insel ihr Zuhause genannt. Keine fünf Minuten Fußweg von hier hatte sie gewohnt. Dennoch fühlte sich Agnes seltsam fremd, als sie vor dem hübschen, orange gestrichenen Haus der Thorburns in der Breadalbane Street stand. Sie kam sich vor wie ein Eindringling. Charlies Van parkte in der Einfahrt, und aus dem Schuppen neben dem Haus drangen Scheppern und Klappern.
»Dad?«, rief Hazel. »Agnes ist hier.«
Das Scheppern hörte auf, und die kräftige Gestalt von Charlie Thorburn erschien in der Schuppentür. Er wischte mit dem Handrücken einige Schweißperlen von der Stirn. Die wenigen verbliebenen roten Haare wirkten wie ein Flammenkranz um die lichter werdende Mitte. Er stellte seinen Werkzeugkoffer neben dem Van ab und kam zu ihnen, um Agnes zu begrüßen. »Gut siehst du aus, Agnes. Du hast dich kaum verändert.« Charlie brachte ein kurzes Lächeln zustande. Dann deutete er mit dem Kinn auf eines der Fenster im zweiten Stock. »Effy schläft endlich. Ich konnte sie überreden, eine von den Pillen zu nehmen, die Doktor McInnes ihr verschrieben hat.«
Mit seiner bulligen Gestalt wirkte Charlie wie ein unverrückbarer Fels. Doch wer ihn gut kannte, konnte sehen, dass die Ereignisse auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen waren. Er wirkte kraftlos, weniger aufrecht, als Agnes ihn in Erinnerung hatte.
»Das ist gut zu hören. Schlaf wird ihr guttun.« Agnes sah Charlie an. »Es tut mir so schrecklich leid wegen Neil. Und was ist mit dir? Wie fühlst du dich?«
Charlie zuckte mit den Schultern, es wirkte hilflos. »Ehrlich gesagt, habe ich es noch gar nicht richtig begriffen, weißt du? Ich mach halt irgendwie weiter, nicht?«
Agnes zog die Brauen zusammen und drückte noch einmal seine Hand. »Ich kann mir nur vorstellen, wie schwer es für euch sein muss. Wenn ich irgendetwas für euch tun kann, lasst es mich bitte wissen, ja?«
»Danke, Agnes. Ich freue mich, dass du kommen konntest. Effy wird es guttun. Es vergeht noch immer kein Tag, an dem sie dich nicht vermisst. Wirklich schade, dass du damals weggezogen bist. Wir kommen ja nur hin und wieder aufs Festland.«
»Ich vermisse euch doch auch. Aber … na ja, es war für mich leichter so.«
Charlie nickte. »Sollte auch kein Vorwurf sein. Ich hoffe, das weißt du. Was ich sagen wollte, ist, dass es Effy helfen wird, wenn du da bist.«
Hazel hatte die Stirn in Falten gelegt und deutete auf den Werkzeugkasten neben dem Lieferwagen. »Gehst du arbeiten?«
»Bei Hendersons regnet es rein. Ich hab versprochen, ich gucke mir das mal an.«
»Du bist nicht der einzige Dachdecker auf der Insel, weißt du?« Hazels Ton war vorwurfsvoll.
Charlies breite Schultern zuckten in einer Geste der Resignation. »Deine Mutter schläft jetzt. Wenn ich zu Hause herumsitze, während es bei Jean Henderson durchs Dach tropft, macht es die Dinge auch nicht besser. Du weißt, wie ich bin, ich muss einfach irgendetwas tun.«
»Schon gut. Tut mir leid, Dad.« Hazel malte mit der Schuhspitze einen Halbkreis in den Kies der Einfahrt. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Vater, der ihre tiefe Vertrautheit erkennen ließ. Sie schien verstanden zu haben, dass dies eben Charlies Art war, mit Neils Tod umzugehen.
Sie wandte sich an Agnes. »Komm, lass uns ins Haus gehen. Gib mal deinen Koffer her, dann trage ich ihn hoch.«
»Lass nur, Hazel. Ich kann das selbst.« Agnes konnte Charlie verstehen. Sie mochte es auch nicht, zum Nichtstun verurteilt zu sein. Sie war es gewohnt, immer irgendeiner mehr oder weniger sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Schon allein deshalb graute ihr vor ihrer Zukunft als Rentnerin. Resolut griff sie nach dem Koffer, doch Hazel ließ den Griff nicht los.
»Wie du dich vielleicht noch erinnerst, kann ich genauso stur sein wie mein Vater.« Hazel deutete zu Charlie, der inzwischen damit begonnen hatte, den Van zu beladen.
»Dann werde ich uns in der Zwischenzeit wenigstens einen Tee aufbrühen.« Agnes folgte Hazel ins Haus und ging in die Küche. Dort füllte sie den Wasserkocher und klappte einige Schranktüren auf und zu, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Viel hatte sich im Haus ihrer Freundin nicht verändert. Es war immer noch so altmodisch und bieder, wie sie es in Erinnerung hatte. Mit dem Unterschied, dass sie es heute mit anderen Augen betrachtete.
Effys Haus war bis in den letzten Winkel mit Wärme und Liebe gefüllt. Sie steckten in den akkurat gelegten Falten der Vorhänge, dem kitschigen, geblümten Geschirr und jedem scheußlichen Häkeldeckchen. Es war nicht bloß ein Haus, es war ein echtes Zuhause und es hatte Zeiten gegeben, da hatte Agnes ihre Freundin um all das beneidet. Wer weiß, wie ihr Leben heute ausgesehen hätte, wenn sie und John Eltern geworden wären?
Gedankenverloren hatte Agnes die Kette aus buntem Muranoglas um ihren Finger gewickelt. Sie ließ sie los und schüttelte kurz den Kopf, als wolle sie sich selbst zur Ordnung rufen. Es war müßig, über all die Wenns und Hättes des Lebens nachzudenken. Sie goss Wasser in die Kanne, und während der Tee zog, nahm sie sich des traurigen Hortensiensträußchens an, das auf dem Küchentisch vor sich hinwelkte. Die vertrockneten Blüten beförderte sie in den Abfall und wusch die Vase aus. Später würde sie im Garten ein paar frische holen. Bunte Blumen würden ein bisschen Normalität ins Haus bringen. Effy hatte immer frische Pflanzen im Haus gehabt.
Als sie das Teetablett in den Wintergarten trug, hörte sie Hazels Schritte auf der Treppe. »Ich mache mich nur schnell frisch und bin dann gleich bei dir, Tante Agnes.«
Agnes stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und schaute hinaus. Gras und Büsche waren saftig grün, und in den sorgsam gepflegten Blumenbeeten überboten sich die Blüten in ihrem sommerlichen Farbenrausch. Über das glitzernde Wasser der Bucht hinweg konnte man die in Nebel gehüllten Hügel von Morvern erkennen. Dieser Blick gehörte zu den Dingen, die sie in Edinburgh vermisste.
Doch auch diese atemberaubende Aussicht würde ihre Freundin kaum trösten. Agnes konnte nur ahnen, wie es ihr gehen mochte. Zwar hatte sie keine eigenen Kinder, doch in fünfzehn Jahren an einer Schule mit Internatsbetrieb wuchsen einem die Schützlinge auch so ans Herz, dass man sich oft wie eine Mutter fühlte. Man nahm deutlich mehr Anteil am Leben der Schülerinnen und Schüler als in einer gewöhnlichen Tagesschule.
Hazel erschien in der Tür, und Agnes machte sich daran, Tee in Effys geblümte Tassen zu gießen.
»Nimmst du Milch oder Zucker?«
»Nur etwas Milch, bitte.« Hazel setzte sich und zog ein Bein unter ihren Körper. »Wenn ich so ganz banale alltägliche Dinge tue, kommt es mir irgendwie unanständig vor. Neil ist tot, und ich trinke Tee, putze mir die Zähne oder wasche ab. Kannst du das nachvollziehen?«
Agnes setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Nur zu gut. Man glaubt, die Welt müsste aufhören, sich zu drehen. Doch das Leben und alles um einen herum läuft einfach weiter.«
»Wie hast du das damals nur geschafft?«
Agnes fühlte einen Kloß im Hals. Auch nach Jahren fiel es ihr schwer, an die Zeit unmittelbar nach Johns Tod zu denken. »Am Anfang fand ich es beinahe unerträglich, dass die Welt einfach weitermacht, als sei nichts geschehen. Doch es macht Neil nicht wieder lebendig, wenn ihr aufhört, euer Leben zu leben. Es klingt wie die schlimmste Plattitüde, aber die Zeit macht es tatsächlich besser. Du musst dich auf die Lebenden konzentrieren, Hazel. Es gibt immer Menschen, die dich brauchen und Leute, die jetzt für euch da sind und euch Kraft geben. Ich hatte deine Mutter. Sie war da. Als John krank wurde, als er starb und in der Zeit danach, als ich das Gefühl hatte, mir wächst alles über den Kopf. Auch wenn ich mich manchmal regelrecht eklig ihr gegenüber verhielt, weil ich so wütend und verzweifelt war. Sie hat es verstanden und mich nicht allein gelassen mit all dem.«
Hazel wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das Schrecklichste ist für mich die Vorstellung, Neil könnte es absichtlich getan haben.« Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen. »Als er nach dem Schulabschluss nach Glasgow zog, haben wir für eine ganze Weile den Draht zueinander verloren. Es war eine schwierige Zeit, und er war nicht gerade umgänglich. Gerade hatten wir damit begonnen, uns wieder anzunähern. Er hat davon gesprochen, dass er ganz neu durchstarten wolle. Er wirkte optimistisch, nicht lebensmüde.«
»Die Polizei muss eben jeden Zweifel ausräumen. Sicher werden sie zu dem Schluss kommen, dass es ein Unfall war.« Agnes nahm einen Schluck Tee.
»Trotzdem frage ich mich, ob wir Neils depressive Phasen unterschätzt haben. Warum steigt man mitten in der Nacht und bei strömendem Regen ins Auto? Allerdings klang er am Telefon nicht resigniert, eher aufgekratzt, beinahe enthusiastisch. Ich kann mir nur keinen Reim darauf machen, was er mir so Dringendes erzählen wollte. Dafür hätte er doch nicht mitten in der Nacht losfahren müssen. Das hätte doch Zeit gehabt.«
Agnes zog die Stirn kraus. »Hat er mit euch über seine Pläne gesprochen? Ich erinnere mich, dass eure Mutter sich Sorgen gemacht hatte, weil sie glaubte, ihm fehle eine Orientierung im Leben.«
»Er hätte hier wohnen können, aber er wollte auf eigenen Füßen stehen. Also ist er bei Peggy Morgan untergekommen. Du kennst sie sicher noch. Sie hat ihm günstig ein Zimmer vermietet. Es war für beide ein guter Deal. Sie ist einsam und hat jede Menge Platz. Neil hat ihr im Garten und mit Reparaturen geholfen. Zusätzlich hat er sich ein bisschen Geld mit Gelegenheitsjobs verdient, im Café Fish und in Craig Kirkpatricks Bootsverleih. Mir kam es vor, als hätte er dieses Mal die Kurve gekriegt. Konkrete Pläne hatte er keine, soweit ich weiß. Doch er hat davon geträumt, Schriftsteller zu werden.«
»Wirklich? Das wusste ich gar nicht.« Agnes stellte die Teetasse ab. »Was hat er denn geschrieben?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht so genau. So einen Fantasy-Kram. Er war ja immer ganz verrückt auf diese Sci-Fi- und Fantasy-Schinken. Ich muss zugeben, dass ich seine schriftstellerischen Ambitionen nie ganz ernst genommen habe. Im Nachhinein fühle ich mich schrecklich deswegen. Neil hätte jemanden gebrauchen können, der ihn aufbaut und an ihn glaubt. Er hatte immer diese Selbstzweifel. Warum habe ich ihn nicht mehr unterstützt oder ihn mal danach gefragt, woran er gerade arbeitet?« Agnes konnte wieder Tränen in Hazels Augen sehen.
»Versuch bitte, dich nicht ständig zu fragen, was wäre, wenn. Du wirst dich nur mit Selbstvorwürfen zerfleischen.«
Hazel schniefte und schaffte es, kurz zu lächeln. »Ich weiß, du hast recht, aber diese Fragen in meinem Kopf kann ich nur schwer ausblenden. Es tut gut, darüber zu sprechen, Tante Agnes. Das hilft.«
»Leider gibt es nicht auf alles eine Antwort. Wir müssen lernen, mit unseren Fragezeichen zu leben.«
»Ich werde es versuchen.« Hazel presste die Lippen zusammen und nickte.
»Weißt du was?« Agnes hatte beschlossen, dass tatkräftige Unterstützung den Thorburns die größte Hilfe sein würde. »Ich schaue gleich mal, was euer Kühlschrank und der Vorratsschrank noch hergeben. Danach gehe ich einkaufen und koche euch für heute Abend eine kräftige Hühnersuppe. Vielleicht kann ich deine Mutter überreden, ein bisschen zu essen. Schließlich muss sie bei Kräften bleiben.«
Hazel nahm das Tablett und folgte Agnes in die Küche. Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du bist die Beste, Tante Agnes. Ich bin froh, dass du da bist.«
Es war eigentlich nur ein kurzer Fußweg zu dem kleinen Supermarkt am Fisherman’s Pier, doch Agnes brauchte eine halbe Stunde, weil sie immer wieder stehen bleiben musste, um alte Bekannte zu begrüßen. Das blieb nicht aus, wenn man fast ein Vierteljahrhundert an der einzigen weiterführenden Schule im Ort unterrichtet hatte. Viele, die ihr heute begegneten, hatte sie schon als naseweise Knirpse mit aufgeschürften Knien und schmutzigen Gesichtern gekannt. Später hatten sie dann mit ihren blaugestreiften Krawatten bei ihr im Unterricht gesessen. In einem Ort mit etwas weniger als tausend Einwohnern verbreiteten sich Nachrichten schneller als ein Buschfeuer, und natürlich hatten alle bereits von dem Unfall gehört. Im Laden nahm Agnes sich einen Einkaufskorb und zog die Liste aus ihrer Jackentasche.
»Guten Abend, Mrs Munro! Wie schön, Sie mal wieder hier zu sehen.«
Agnes blickte von ihrem Zettel auf und erkannte Norman Willies, den Inhaber des Ladens, der früher ebenfalls bei ihr im Unterricht gesessen hatte. »Was verschlägt Sie denn nach so langer Zeit …« Norman unterbrach sich und schob mit dem Zeigefinger die kleine Nickelbrille hoch. »Natürlich. Wie taktlos von mir. Schlimme Sache, das mit Neil Thorburn. Er war noch gar nicht so lange wieder hier und dann das! War noch eine ganze Ecke jünger als ich, möchte ich meinen. Tragisch so etwas. Wie geht es Effy, Charlie und Hazel?«
Agnes zog die Schultern nach vorn. »Nicht besonders gut, fürchte ich. Ich bin hier, um die drei ein wenig zu unterstützen.«
»Das ist gut, Mrs M. Das ist wirklich gut, wenn Sie den Thorburns ein bisschen unter die Arme greifen in so einer schweren Zeit. Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Ehrlich gesagt ja. Es würde mir helfen, wenn jemand die Milch und die Getränke liefern könnte. Ich bin zu Fuß und kann nicht mehr so schwer tragen.« Sie rieb über ihre Schulter. »Tja, der Zahn der Zeit nagt wohl auch an mir.«
»Hören Sie auf, Mrs Munro. Sie sehen topfit aus und schick wie eh und je. Ich schicke Ihnen gleich Tom rauf, wenn er aus der Pause zurück ist. Wissen Sie schon, wann Neils Beerdigung stattfindet?«
»Nein. Leider nicht. Die Polizei hat die Untersuchungen offenbar noch nicht ganz abgeschlossen.«
»Verstehe. Glauben Sie, Effy würde sich über ein paar Blumen freuen? Dann gebe ich Tom nachher einen Strauß mit.«
»Ehrlich gesagt habe ich Effy noch gar nicht gesprochen. Als ich ankam, schlief sie. Aber frische Blumen hat sie schon immer gern gehabt. Schaden können sie bestimmt nicht. Danke, Norman.«
An der Kasse ließ Agnes die schwereren Artikel für die spätere Lieferung in einen Karton packen und machte sich mit den Zutaten für die Hühnersuppe und ein paar Kleinigkeiten in der Einkaufstasche auf den Rückweg. Das Haus war ungewöhnlich still. Charlie schien immer noch unterwegs zu sein, und Hazel hatte sich in den Wintergarten zurückgezogen. Offenbar war ihr gerade auch nicht nach Gesellschaft zumute. Agnes packte derweil die Einkäufe aus und machte sich ans Kochen. Etwas später köchelte die Suppe auf dem Herd und verströmte einen Duft, den Agnes aus Kindertagen kannte. Immer wenn sie krank oder traurig war, hatte ihre Mutter eine kräftigende Suppe gekocht. Eine der wenigen mütterlichen Anwandlungen, die sie überhaupt gehabt hatte. Vielleicht konnte sie ihre Freundin damit zum Essen bewegen.
Sie stieg die steile Treppe in den ersten Stock hoch und klopfte zaghaft an die Schlafzimmertür. »Effy? Bist du wach? Ich bin es, Agnes.«
Von drinnen waren das Rascheln der Bettdecke und das Klicken der Nachttischlampe zu hören. »Agnes?« Effy klang müde, ihre Stimme heiser. »Komm herein.«
Agnes betrat das abgedunkelte Zimmer und blieb kurz vor dem Bett stehen. Ihre Freundin hatte sich aufgesetzt und die Decke zurückgeschlagen. Effys ohnehin schmales Gesicht war blass und wirkte hohlwangig. Das von feinen, grauen Strähnen durchzogene braune Haar stand wirr vom Kopf ab. Effy machte einen erbärmlichen Eindruck, der Agnes das Herz zusammenzog. Schweigend setzte sie sich auf die Bettkante und nahm Effys Hände. Feingliedrig und schmal wie Effy selbst, fühlten sie sich kraftlos an zwischen Agnes’ warmen, kräftigen Handflächen. Effy war immer zart gewesen, doch strahlte sie sonst Zähigkeit und Stärke aus, die ihr nun fehlten. Noch nie war Agnes ihre Freundin so zerbrechlich erschienen. Effy war drei Jahre jünger, gerade einmal Anfang sechzig. Doch in diesem Moment wirkte sie tatsächlich wie eine alte Frau. Eine ganze Weile saßen die Freundinnen einfach nur da. »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte Effy leise.
Agnes lächelte und drückte ihre Hände. »Du solltest etwas essen. Ich habe eine Hühnersuppe gemacht. Soll ich dir einen Teller bringen?«
Effy schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht ewig hier verkriechen, nicht wahr?« Agnes konnte spüren, wie ihre Freundin die Schultern straffte. Als sie jetzt wieder sprach, klang ihre Stimme merklich kräftiger. »Du findest, ich sollte mich zusammenreißen, nicht?«
Agnes schüttelte den Kopf. »Nein. Wie käme ich dazu? Ich habe doch selbst weiß Gott keine Tapferkeitsmedaille verdient, als ich damals John verlor. Hazel hat sich Sorgen gemacht. Sie braucht dich. Genau wie Charlie.«
»Erinnerst du dich noch, wie viel Hazel und ich früher gestritten haben? Als sie ein Kind und später, als sie ein Teenager war?«, fragte Effy.
»Oh ja. Da ging es manchmal rund.« Agnes lachte kurz.
»Sie war so rebellisch und hat mich immer auf die Palme gebracht. Und du hast immer zu ihr gehalten!«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Agnes. »Nicht immer.«
»Du warst einfach gelassener. Ich habe mir immer schreckliche Sorgen um meine beiden gemacht, dass sie mal auf die schiefe Bahn gelangen könnten. Man glaubt, man kann seine Kinder beschützen, und dann passiert so etwas.«
»Effy, du bist eine tolle Mutter. Das warst du immer schon. Ich hätte mir so eine gewünscht.«
»Bloß wie viel Zeit habe ich damit verschwendet, mit Neil und Hazel zu streiten? Dabei sind sie beide tolle Kinder. Ich bin so stolz auf sie. War … ich wünschte, dass ich es Neil öfter gesagt hätte. Und jetzt ist es zu spät dafür.« Effy atmete tief ein und wischte sich über die Augen. »Er war immer so verschlossen, vielleicht hat er das von seinem Vater. Wir haben nie viel über Gefühle gesprochen. Ich habe ihn damit verschont, weil ich dachte, es wäre ihm unangenehm. Und jetzt frage ich mich, ob ich ihm nicht öfter hätte sagen müssen, dass ich ihn liebe und dass ich stolz auf ihn war – trotz aller Schwierigkeiten.«
»Das wusste er. Du hast es ihn immer spüren lassen. Außerdem glaube ich fest, dass er dich auch jetzt noch hört – wo immer er ist.«
»Übrigens war Reverend Fletcher hier. Ich habe ihn weggeschickt, wollte nicht mit ihm sprechen. Eigentlich habe ich mir ja nie viel aus der Kirche gemacht. Und plötzlich wünsche ich mir jemanden, der mich überzeugen kann, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und dass wir uns dort alle wiedersehen. Vielleicht sollte ich den Reverend anrufen.«
»Schaden kann es jedenfalls nicht«, fand Agnes. »Andrew hat mir damals in der schweren Zeit sehr geholfen. Aber bevor du ihn anrufst, musst du wirklich etwas essen. Und du solltest Hazel sagen, was du mir eben gesagt hast. Sie braucht dich, Effy.«
»Du hast recht. Gib mir eine Viertelstunde.« Effy deutete auf ihren Kopf. »Ich sehe sicher aus wie eine Vogelscheuche.«
»Das waren gerade Neils Mitbewohner aus Glasgow.« Effy stellte das Telefon in die Ladestation. Sie wischte sich über die Augen. Das Gespräch hatte sie sichtlich berührt. Es war ihr immer noch anzumerken, dass der Alltag eine Kraftanstrengung bedeutete. »Wirklich nette Jungs. Sie wollen unbedingt zur Beerdigung kommen. Möchte noch jemand etwas trinken? Ich wollte mir gerade etwas holen.«
»Nein danke, Effy. Ich hole die Liste, dann setze ich Neils Freunde darauf.« Agnes nahm einen Kugelschreiber und notierte die Namen, die Effy ihr nannte. Seit die Polizei Neils Leichnam zur Bestattung freigegeben hatte, drehte sich bei den Thorburns alles um die Organisation der Beerdigung. Die Geschäftigkeit schien Effy Halt zu geben, und sie war nun offenbar wild entschlossen, sich ihrer Familie zuliebe zusammenzureißen.
Während die Thorburns darüber diskutierten, was Neil sich für seine Beerdigung gewünscht hätte, ertappte sich Agnes immer wieder dabei, wie ihre Gedanken zu dem Gefäß aus glattpoliertem Sandstein wanderten, der letzten Skulptur, die sie je geschaffen hatte, und die sie an ein gebrochenes Versprechen erinnerte. Ob John ihr verzeihen würde? Sie wischte den Gedanken beiseite. Schließlich war sie hier, um ihrer Freundin zu helfen. Sie telefonierte herum, um eine einigermaßen preisgünstige Unterkunft für Neils Mitbewohner zu finden, doch es gestaltete sich erwartungsgemäß so kurzfristig in der Hauptferienzeit schwierig. Sie legte den Hörer auf und wandte sich an Hazel, die damit beschäftigt war, den Text für die Anzeige aufzusetzen.
»Im Crown and Thistle wären noch zwei Doppelzimmer zu haben. Aber das dürfte für die jungen Leute aus Glasgow zu teuer sein, meinst du nicht?«
»Eher richte ich bei mir zu Hause ein Matratzenlager ein, als dass ich erlaube, dass die drei ihr Geld diesem gewissenlosen Geldsack McNiven in den Rachen werfen!« Hazels Reaktion war für ihr ausgeglichenes Temperament ungewöhnlich heftig.
»Henry McNiven?« Agnes zog die Augenbrauen zusammen. »Ich wusste nicht, dass du so schlecht auf ihn zu sprechen bist. Für mich war er immer ein sehr strebsamer junger Mann. Nicht besonders künstlerisch begabt, aber keiner, der mir negativ aufgefallen wäre. War er nicht mit Neil befreundet?«
»Ja. Da war er aber noch kein hemmungsloser Profitgeier«, knurrte Hazel. Charlie, der auf dem Sofa saß und die Sportbeilage las, faltete seufzend die Ecke seiner Zeitung zurück und zog eine Augenbraue hoch. »McNiven plant einen Hotelneubau in der Nähe von Loch Frisa. Er will dort einige Feuchtwiesen trockenlegen lassen, um Bauland zu gewinnen. Hazel und ihre Bürgerinitiative liegen sich schon ewig mit ihm in den Haaren, nur wegen ein paar Eidechsen.«
»Fadenmolche, Dad. Und du brauchst dich gar nicht so despektierlich über uns zu äußern. Schließlich kommen die Touristen gerade wegen unserer unberührten Natur her. Leute wie Henry McNiven sägen kräftig an dem Ast, auf dem wir alle sitzen, wenn sie nur auf das schnelle Geld spekulieren.« Hazel sah ihren Vater finster an.
Effy war gerade wieder hereingekommen und blieb im Türrahmen stehen. Sie betrachtete ihren Mann und ihre Tochter mit einem Lächeln. »Ihr könnt schon wieder streiten. Irgendwie wohltuend, das zu hören.«
»Entschuldige, Mum.«
»Nein, ich meine das durchaus ernst. Macht ruhig weiter. Es wirkt so normal, wenn ihr kabbelt.«
Effy setzte sich zu Charlie auf die Couch, zog die Beine an den Körper und lehnte sich an seine Schulter, während sie schweigend zuhörte.
»Dabei waren wir doch eigentlich schon fertig, nicht wahr?« Charlie grinste Hazel an. »Ich finde es ja gut, dass meine Tochter für ihre Überzeugungen kämpft. Hazel liegen sie nun mal am Herzen, ihre Fadenlurche.«
»Fadenmolche, Dad.« Hazel lachte. »Und sie gehören zu den bedrohten Arten. Außerdem nisten Steinadler und Seeadler beim Loch Frisa und brauchen bestimmt keinen weiteren Touristenmagneten. Eierdiebe haben wir hier auch genug. McNiven soll sein Hotel einfach woanders bauen.«
»Touristen bevorzugen Zimmer mit Blick auf den See. Henry McNiven ist eben ein Geschäftsmann. Da kannst du es ihm nicht verübeln, dass er sein Hotel da bauen möchte, wo es am schönsten ist.«
»Die Touristen können auch woanders wohnen. Die Fadenmolche nicht.«
Effy schien sich verpflichtet zu fühlen, für Charlie Partei zu ergreifen. »Du musst eben auch McNivens Standpunkt verstehen, Hazel. Er hat viel investiert und muss das Geld erst einmal wieder reinholen. Im Übrigen tust du ihm Unrecht, wenn du ihn immer als gewissenlosen Teufel hinstellst, der nur seinen Profit im Kopf hat. Er hat viel für die Gemeinde getan und lässt sich nicht lumpen, wenn es um Spenden geht.«
»Ich weiß, Dad mag ihn, weil er ihn aus dem Golfclub kennt. Deswegen wiederhole ich hier auch nicht, was er neulich im Pub zu mir gesagt hat.«
Charlie horchte auf. »Was hat er denn gesagt?«
Hazel hob beschwichtigend die Hand. »Lass gut sein, Dad. Ich möchte dich nicht mit in die Sache hineinziehen. Dann würde ich mich auf sein Niveau begeben, und ich halte ihm zugute, dass er an dem Abend ziemlich getankt hatte. Wahrscheinlich hat er es nicht so gemeint.«
»Was hat er nicht so gemeint? Ich werde …«
»Dad! Ich bin erwachsen, ich kann mich selbst verteidigen, wenn ich es für geboten halte, danke. Jedenfalls freue ich mich, dass die Gemeinde versprochen hat, unsere Bedenken genau zu prüfen. Ob es McNiven passt oder nicht, er wird mit dem Bau wohl warten müssen.« Hazel grinste. »Kundschaft werde ich ihm gewiss nicht beschaffen. Im Übrigen können die Jungs sich ein Zimmer in seinem überteuerten Schuppen sicher nicht leisten. Die drei können bestimmt bei Bella unterkommen. Sie und Michael haben viel Platz in dem neuen Haus.«
»Bella McAulay?«, fragte Agnes, und Hazel nickte. »War die nicht zwei Jahrgänge über dir? Ich erinnere mich noch, dass sie eine richtige Leseratte war.«
»Genau. Das ist sie auch heute noch.« Hazel lachte. »Wir haben festgestellt, dass wir ganz ähnlich ticken und sind richtig gute Freundinnen geworden.«
»Hazel ist sogar die Patentante vom kleinen Lachie«, ergänzte Effy, nicht ohne etwas Wehmut in der Stimme. »Und wenn du dann auch mal Kinder hast …«
»Mum! In nächster Zeit wird das nicht passieren, so viel kann ich mit Sicherheit sagen.« Hazel pustete sich ärgerlich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Offenbar konnten auch Mutter und Tochter bereits wieder streiten. Man hätte fast meinen können, alles wäre wie immer, doch die hauchdünne Decke von Normalität konnte noch nicht lange tragen.
»Entschuldige, Hazel. So war es nicht gemeint. Ich musste nur gerade daran denken, wie viel Neil noch vor sich hatte. Vielleicht hätte er irgendwann auch eine eigene Familie gehabt.« Es war Effy anzuhören, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie räusperte sich und tupfte mit dem Ärmel über ihre Augen.
Charlie faltete die Zeitung, legte sie auf dem Tisch ab, nahm Effy in den Arm und zog ihren Kopf fester an seine Schulter. »Es ist nicht fair. Ich weiß.«
Es freute Agnes, dass so viele Leute gekommen waren, um den Thorburns beizustehen. Effy hatte sich entschieden, Neil nicht aufbahren zu lassen, hatte sich aber dennoch eine Feier in der Art einer traditionellen Totenwache am Vorabend der Beerdigung gewünscht. Agnes ließ den Blick durch den Raum schweifen. Der junge Mann neben Hazel kam ihr auf den ersten Blick nur vage bekannt vor, doch sie nahm an, dass es sich um einen von Neils Jugendfreunden handeln musste. Sein hellbraunes Haar trug er sehr kurz geschnitten, was die etwas abstehenden Ohren und das längliche Gesicht zusätzlich betonte. Als Hazel ihn ansprach, bildeten sich deutlich sichtbare rote Flecken an seinem Hals. Agnes verkniff sich ein Lächeln. Es war nur zu offensichtlich, dass der junge Mann in Hazel verschossen war. Wer mochte es ihm verdenken? Sie war eine attraktive junge Frau. Agnes schalt sich für ihre Neugier, dennoch konnte sie es nicht lassen, sich mit dem Getränketablett zu der Gruppe vorzuarbeiten, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Als er sich ihr zuwandte, runzelte er zunächst die Stirn, dann erhellte ein sympathisches Lächeln sein Gesicht.
»Mrs Munro! Vielleicht erinnern sie sich nicht mehr. Ist schließlich schon eine Ewigkeit her. Matt, Matthew Jarvis.«
»Natürlich! Matthew! Stimmt, wir haben uns sicher mindestens zehn Jahre nicht gesehen.«
»Kurz nach Ihnen bin ich auch aufs Festland gegangen, um meine Ausbildung zu machen. Erst in Tulliallan, dann Inverness und Oban. Seit vergangenem Jahr bin ich wieder hier und leite die örtliche Dienststelle.« Der Stolz in seiner Stimme war deutlich zu hören.
»Sie dürfen jetzt Police Sergeant Jarvis zu mir sagen – jedenfalls, wenn ich im Dienst bin.«
»Gratuliere, Police Sergeant Jarvis. Das ist großartig. Du hattest ja schon in der Schule ein Faible für die Polizei, wenn ich mich richtig erinnere. Warst du auch mit Neil befreundet?«
Die verblassten roten Flecken an Matthews Hals flammten erneut auf. Es war ihm sichtlich unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Er warf einen nervösen Seitenblick auf Hazel. »Nicht so direkt. Wir kannten uns, aber befreundet waren wir nicht. Ich … äh … wollte heute einfach für die Thorburns da sein.«
Ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und einem elegant geschnittenen schwarzen Anzug kam durch den Raum auf sie zu. Hazel, die sich gerade Matt Jarvis zugewandt hatte, blickte auf und lächelte. »Stephen? Was machst du denn hier? Ich dachte, du wohnst jetzt in Fort William.«
Der Mann schüttelte Hazels ausgestreckte Hand und zog dann die junge Frau in eine kräftige Umarmung. »Es tut mir schrecklich leid, Hazel. Ich habe es in der Zeitung erfahren. Natürlich habe ich sofort Urlaub genommen. Neil war früher schließlich mein bester Freund. Auch wenn wir nach der Schule den Kontakt verloren haben.«
Hazel lächelte. »Lieb von dir, extra herzukommen. Ich nehme an, du wohnst bei deinen Eltern.«
Matt Jarvis beobachtete den attraktiven Dunkelhaarigen mit einem skeptischen Gesichtsausdruck. Agnes überlegte, woher er ihr bekannt vorkam. Dann fiel es ihr ein. Natürlich! Das war Stephen McVoren. Der lange, dünne Teenager von damals hatte sich ganz schön gemacht. Heute ahnte sicher niemand mehr, dass er früher den Spitznamen Stickman – Strichmännchen – getragen hatte. Er war breitschultrig und muskulös.
Als Agnes sich mit dem Tablett auf den Weg in die Küche machte, um noch Häppchen nachzulegen, kam ihr eine alte Dame mit akkurat gelegter Dauerwelle in einem altmodischen Tweed-Ensemble entgegen, und Agnes erkannte sie als Peggy Morgan, die einsame alte Dame, die Neil bei sich aufgenommen hatte. »Agnes! Wie schön, dich einmal wiederzusehen. Wenn auch der Anlass alles andere als erfreulich ist.«
»Das geht mir genauso, Peggy. Ich freue mich, euch zu sehen, aber ich wünschte, der Anlass wäre ein anderer. Ich finde es rührend, dass so viele gekommen sind. Das wird Effy guttun. Neil ist bei dir untergekommen, habe ich gehört?«
Peggy Morgan nickte. »Er war so ein lieber Kerl und mir eine große Hilfe. So weit draußen wohnt es sich schließlich doch recht einsam, und ich bin inzwischen nicht mehr so mobil. Früher habe ich Einkäufe, Arzttermine und Besuche zu Fuß oder mit dem Fahrrad geschafft. Hin und wieder habe ich auch noch den Landrover genommen, aber das traue ich mir nicht mehr zu. Ich bin so unsicher geworden. Neil hat für mich eingekauft und im Garten geholfen. Pflanzen und Unkrautjäten schaffe ich noch allein, aber für die größeren Arbeiten wie das Rasenmähen und den Strauchschnitt brauche ich Hilfe. Neil war ein absoluter Goldschatz. Gerade noch habe ich zu Reverend Fletcher gesagt, der Herr hätte besser mich zu sich genommen als so einen tüchtigen jungen Mann, der noch so viel im Leben vor sich hatte. Keine Angst, ich bin nicht lebensmüde. Bloß wäre es doch eigentlich gerecht, wenn wir Alten zuerst gehen.«
»Ich verstehe, was du meinst, Peggy. Es ist nicht richtig, wenn Eltern ihre Kinder begraben müssen. So ist es nicht vorgesehen.«
»Hoffentlich hat mir der Reverend meine Bemerkung nicht übelgenommen. Gehört sich schließlich nicht, dem Herrn in sein Werk reinzureden. Aber manchmal fällt es mir einfach schwer, seine Wege nachzuvollziehen. Vermutlich ist das nur menschlich.« Peggy sah auf die Uhr. »Agnes, bitte entschuldige mich. Ich wollte schnell noch mit Hazel sprechen. Ich muss aufpassen, dass ich den Bus erwische.«
Peggy wandte sich um und tippte Hazel auf die Schulter. »Entschuldige, dass ich dich unterbreche, Hazel, aber ich muss gleich zum Bus und wollte dir schnell noch etwas sagen. Deine Mutter möchte ich damit jetzt nicht belästigen, aber ich wollte euch wissen lassen, dass bei mir noch Sachen von Neil stehen. Es eilt nicht, so schnell werde ich das Zimmer nicht wieder vermieten, ich wollte nur Bescheid sagen. Nicht, dass ihr irgendetwas sucht. Wenn ihr die Dinge abholen möchtet, könnt ihr jederzeit vorbeikommen. Es ist nicht viel – das passt vielleicht in drei, vier Kisten. Hauptsächlich ist es Kleidung, aber auch Bücher, Papierkram, dieser kleine Computer … ich habe nichts angerührt. Es steht alles noch so da, wie er es verlassen hat. Wenn ihr möchtet, kann ich es aber auch für euch zusammenpacken. Das geht schnell.«
»Danke, Peggy. Ich weiß noch nicht, ob ich im Moment dazu in der Lage wäre, die Sachen abzuholen. Vielleicht …«
»Aber das kann ich doch für dich tun, Hazel«, bot Stephen an. »Mein Wagen ist bei Mackay’s zur Reparatur, aber morgen bekomme ich ihn wieder. Dann fahre ich gleich rüber.«
»Das wäre wirklich eine große Hilfe. Danke.« Hazel lächelte und legte Stephen die Hand auf den Arm.
Matt Jarvis sah zu den beiden hinüber, und man merkte ihm an, dass er litt. Also beschloss Agnes, ihrem ehemaligen Schüler ein wenig auf die Sprünge zu helfen. »Matthew, Peggy erzählte mir gerade, dass sie nicht lange bleiben kann, weil sie noch den Bus erreichen muss. Könntest du sie nicht später mitnehmen? Für dich ist es doch kein allzu großer Umweg.«
»Aber selbstverständlich, Peggy. Das mache ich gern.« Der junge Polizist schien zu begreifen, was Agnes vorhatte, und nickte eifrig.
»Oh vielen Dank, wie lieb von dir, Matthew. Dann brauche ich mich nicht so zu beeilen, um noch den Bus zu erwischen.«
»Wenn du noch Platz im Auto hättest, könntest du doch Peggy helfen, Neils Sachen zu packen, und sie gleich mitnehmen«, schlug Agnes vor.
Hazel sah Matt an und lächelte. »Das wäre wirklich prima, Matt. Wenn es dir nicht allzu viel Mühe macht. Ich weiß nämlich nicht, ob ich es in der nächsten Zeit schaffe, und Peggy wäre es sicher lieber, wenn die Sachen nicht so lange bei ihr herumstehen.« Sie wandte sich an McVoren. »Trotzdem danke für das Angebot, Stephen.«
Matthew strahlte. »Wirklich, kein Thema, Hazel. Ich bringe euch die Sachen dann später vorbei. Wenn ich sonst noch irgendetwas für euch tun kann, musst du es mich nur wissen lassen. Ich helfe wirklich gern.«
Stephen McVoren bedachte den Sergeant mit einem finsteren Blick, als sich drei junge Männer zu der Gruppe gesellten, in denen Agnes Neils Glasgower Freunde erkannte. Eigentlich wollte sie ja nicht lauschen, aber offenbar drehte sich deren Gespräch gerade um Neils schriftstellerische Ambitionen, und Neugier war leider schon immer eine ihrer großen Schwächen gewesen. Außerdem gab es für sie gerade ohnehin nichts zu tun, sagte sie sich. Unauffällig hielt sie sich in der Nähe, um die Unterhaltung zu verfolgen.
»Ehrlich gesagt, weiß ich es gar nicht«, sagte gerade einer der Glasgower Freunde. »Neil hat um seinen Roman immer ein großes Geheimnis gemacht. Sollte wohl ein umfangreicheres Fantasy-Epos werden. Er hat nie jemandem auch nur eine Seite davon gezeigt. Nur einige seiner Kurzgeschichten durfte ich lesen. Die waren gar nicht schlecht. Ich glaube schon, dass er einen Verlag dafür gefunden hätte. Talentiert war er. Na ja, jedenfalls nehme ich an, dass der Roman auch gut war, lesen durfte ich ihn, wie gesagt, nicht.«
»Ja, da war er eigen«, bestätigte ein weiterer Freund. »Er meinte, die Rohfassung wäre zu persönlich. Er wollte den Roman erst vollkommen fertigstellen und noch einmal überarbeiten. Das Schreiben sei für ihn so eine Art Therapie, hat er gemeint. Es schien ihm auch wirklich gutzutun. Er war ausgeglichener, wenn er geschrieben hat.«
