Ägypten - Jürgen Stryjak - E-Book

Ägypten E-Book

Jürgen Stryjak

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Beschreibung

In Ägypten leben fast 100 Millionen Menschen auf einer Fläche, die der Bayerns entspricht. Der Rest ist unbewohnte Wüste. Warum gibt es trotz dieser apokalyptischen Enge, trotz Elend und Perspektivlosigkeit nicht mehr Unruhen und bewaffneten Widerstand? Das erklärt Jürgen Stryjak in seinem Buch. Es erzählt von der Geschichte eines Landes vor den Toren Europas, das immer ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen gewesen ist, seiner faszinierenden Flexibilität, dem Einfluss des Nils auf seinen Lebensrhythmus. Zugleich beleuchtet Stryjak die wirtschaftliche und politische Macht des Militärs, die Umbrüche in der überwiegend jungen Gesellschaft, die Rolle des politischen Islams. Dabei räumt er mit vielen westlichen Fehlwahrnehmungen auf und liefert neue Erkenntnisse zum Scheitern der Demokratiebewegung.
»Was mir an diesem ungewöhnlichen Deutschen am besten gefallen hat, war, dass er sich – anders als viele seiner Kollegen und andere Ausländer – voll und ganz auf den Alltag in den Wohnvierteln der einfachen Leute einlassen konnte.«
Nagib Machfus, ägyptischer Literaturnobelpreisträger, über Jürgen Stryjak

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Seitenzahl: 289

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Jürgen Stryjak

Ägypten

Ein Länderporträt

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Mai 2020

© Christoph Links Verlag GmbH

Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Reihengestaltung: Stephanie Raubach, Berlin

Coverfoto und S. 3: Blick auf das Stadtviertel Al-Azhar in Kairo © picture alliance/roberthouding (Nico Tondini)

Karte: Peter Palm, Berlin

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-087-2eISBN 978-3-86284-479-1

Inhalt

Vorwort

Der Nil

Die wichtigste Konstante Ägyptens

Europas Blick auf den Nil

Wiege von Zivilisationen

Ein jahrtausendealtes Land

Gestohlene Revolutionen

Ägyptischer Frühling

Auf dem Weg zur ägyptischen Eiszeit

Inszenierte Rebellion

Militärdiktatur oder »gelenkte Erneuerung«

Die Stunde des Militärs

Revolutionsschicksale

Einschüchterung der Massen

Ehrfurcht vor dem Staat

Das Regime von al-Sisi auf Erfolgskurs

Ägypten heute und morgen

Wirtschaftskrise und Militärwirtschaft

Das Militär als Wirtschaftsmacht

Militärische Kommandowirtschaft oder freies Unternehmertum

Tradition versus Moderne

Eine junge Gesellschaft auf der Suche

Fromm, aber nicht fanatisch

Insha’Allah – der Islam im ägyptischen Alltag

Die Rolle des Islam bei der Revolution 2011

Die Muslimbruderschaft

Das Christentum im biblischen Ägypten

Die Kirche und das al-Sisi-Regime

Kultur ist Widerstand

Die Musik der Revolution

Satire und Verschwörungstheorien in einer Militärdiktatur

Die Literaturszene

Land der Gegensätze

Apokalypse Kairo

Wie (über-)lebt man in Kairo?

Die neue Verwaltungshauptstadt

Die Entwicklung in den Regionen und der Tourismus

Ausblick

Anhang

Nachrichtenportale

Literatur

Filme

Musik

Karte

Basisdaten Ägypten

Dank

Zum Autor

Vorwort

Fast scheint es, als hätte eine Welle der Ägyptomanie die internationalen Medien zum Jahreswechsel 2019/2020 ergriffen. Die New York Times listet Ägypten auf Platz 17 von weltweit 52 Zielen, die im beginnenden Jahr unbedingt als Urlaubsziel in Erwägung gezogen werden sollten. Für die britische BBC ist 2020 das Jahr, das sich besonders für einen Trip nach Kairo eignet. Beim Ranking »Best in Travel 2020« der Redaktion des Reiseführers »Lonely Planet« kommt Kairo auf Platz 3 der »Best Cities« weltweit. Und das US-amerikanische Magazin Forbes stellt das Land am Nil sogar an die Spitze seiner Liste der 27 besten Reiseziele für 2020. Das ist eine durchaus erstaunliche Einschätzung, nachdem vor neun Jahren ein Volksaufstand Langzeitherrscher Hosni Mubarak entmachtete, gefolgt von einer Zeit der politischen Instabilität, dem ersten frei gewählten Präsidenten, Mohammed Mursi, und schließlich einer »zweiten Revolution« – oder war es ein Militärputsch, der zur Militärdiktatur von Abdel Fattah al-Sisi führte? Kann es unter solchen Umständen sein, dass Ägypten wieder ein Premiumziel für Touristen aus aller Welt wird?

Dafür müsste Ägypten das Stigma verlieren, ein unsicheres, riskantes (Urlaubs-)Land zu sein. In den Jahren nach der Revolution von 2011 war die politische Entwicklung oft verwirrend. Es hat Umbrüche, Wirtschaftskrisen, Machtwechsel und an einigen Orten auch Gewalt gegeben, aber in fast allen dieser Phasen war Ägypten für Urlauber ziemlich sicher. Die Zahl der Touristen, die ans Rote Meer oder zu den pharaonischen, christlichen und islamischen Altertümern kommen, wächst nun seit einigen Jahren wieder, und dieser Trend könnte noch mehr Schwung bekommen. Das hat vor allem mit der bevorstehenden Eröffnung des Grand Egyptian Museum zu tun. Im Herbst 2020 soll es soweit sein, dann wird das größte archäologische Museum der Welt feierlich in Kairo eingeweiht. Einzigartige historische Artefakte werden den Besuchern aus aller Welt dann zugänglich sein, wie zum Beispiel auf jenen 7000 Quadratmetern, auf denen zum ersten Mal alle 5000 Grabbeigaben aus dem Grab von Tutanchamun gezeigt werden, einschließlich der berühmten Totenmaske aus Gold.

Als ich vor Jahrzehnten das erste Mal nach Kairo gezogen war, wohnte ich in Bab al-Shaariyya, einem ärmeren Altstadtviertel unweit des berühmten Basars Khan al-Khalili. Morgens weckte mich der Gesang der Nachbarstochter von gegenüber, wenn sie auf dem Balkon die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Vor dem Haus grüßte mich Ahmed fröhlich, so oft ich an seiner mobilen Teeküche vorbeikam. Der Postbote rief beschwingt meinen Namen, wenn er einen Brief für mich hatte. Bis heute habe ich mit Unterbrechungen insgesamt rund 20 Jahre in Kairo gelebt. Und immer habe ich den Humor, die Gelassenheit und die Hilfsbereitschaft vieler Ägypter bewundert, vor allem angesichts der Lebensbedingungen, die sie oft ertragen müssen. Ich halte die Menschen für die eigentliche Attraktion des Landes.

Gelegentlich sagen Leute zu mir, dass sie nicht nach Ägypten reisen, weil sie den brutalen Polizeistaat nicht unterstützen wollen, der dort ja tatsächlich herrscht. Ich halte diese Einstellung für falsch, denn in erster Linie trifft sie die, die es nicht verdient haben, dass man sie meidet. Die allermeisten Ägypterinnen und Ägypter verabscheuen Gewalt, besonders auch die gegen Gäste ihres Landes, egal, ob diese Gewalt religiös verbrämt oder politisch motiviert ist. Dass Ägypten nach 2011 nicht in blutigem Chaos versank wie andere Länder der Region, das liegt zuallererst an ihnen. Wie alle anderen Menschen auch, wünschen sich die meisten Ägypter vor allem einen friedlichen Alltag in einem möglichst stabilen Land. Man sollte sie nicht bestrafen für ein repressives Regime, unter dem sie selbst am stärksten leiden. Wer eine Reise nach Ägypten unternimmt, wird mit einer Gastfreundschaft belohnt, die zu Recht legendär ist.

In diesem Buch werden daher die Ägypterinnen und Ägypter die Hauptrollen spielen, ihre Lebensweisen und Eigenarten. Es wird auch viel um Politik gehen, um Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Doch im Mittelpunkt stehen die Menschen und ihr Streben nach einem Leben in Freiheit.

Der Nil

Die wichtigste Konstante Ägyptens

Ägypten sei ein Geschenk des Nils, so hat es der antike griechische Geschichtsschreiber Herodot formuliert. Der Nil ist tatsächlich die ewige Konstante Ägyptens, an der sich alles andere messen lassen muss. Die allermeisten Ägypter verbringen ihr gesamtes Leben mehr oder weniger in seiner Nähe, und sie haben das verinnerlicht, was vor fast zweieinhalb Jahrtausenden auch schon Herodot aufgefallen war. Im Großstadtmoloch Kairo ist der Nil einer der wenigen Orte, an dem fast alle Ägypter, die ich kenne, ein Gefühl von Ruhe und Frieden verspüren. Wo der breite Strom die dicht bebaute Riesenstadt in ihrer Mitte durchschneidet, da kann man endlich den Blick auch mal in die Ferne schweifen lassen. Junge ägyptische Start-up-Unternehmer haben dieses Sehnsuchtspotenzial und den »Chillfaktor« erkannt und schufen das Nile Taxi. Die zitronengelben Motorboote fahren an der frischen Luft und ohne Staugefahr auf festen Strecken in der Stadt hoch und runter.

Ohne den Nil gäbe es Ägypten in dieser Form nicht. Ohne ihn bestünde die gesamte Landesfläche fast ausnahmslos aus unbarmherziger, lebensfeindlicher Wüste. Auch mit dem Nil sind es zwar immer noch rund 95 Prozent Wüste, aber die restlichen fünf Prozent hat der Nil an seinen Ufern zu Gärten und fruchtbaren Feldern gemacht. Deshalb ist der Fluss eine Art ägyptisches Nationalheiligtum. Wer sich ihm unziemlich nähert, begeht eine unverzeihliche Sünde. Zuletzt musste dies die beliebte ägyptische Sängerin Sherine erfahren. Bei einem Konzert 2017 im Golfstaat Bahrain machte sich der Popstar über die Redensart lustig: »Wer einmal vom Nil getrunken hat, kommt immer wieder hierher zurück.« Ein Fan hatte darum gebeten, dass sie ihr Lied »Hast du nicht aus dem Nil getrunken?« singt, das die Redensart aufgreift. Spöttisch antwortete die Sängerin: »Wenn ich aus dem Nil trinke, bekomme ich Bilharziose.« Also eine in Ägypten verbreitete Wurmkrankheit. »Trink lieber Evian!«, rief Sherine dem Mann noch zu. Bei so manchem patriotischen Ägypter löste das Empörung aus, es verletzte seinen Nationalstolz. Ein Gericht verurteilte daraufhin die Sängerin zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet rund 300 Euro. In der Revision wurde das Urteil aufgehoben. Der Berufsverband der Musiker verhängte allerdings eine zweimonatige Auftrittssperre für Sherine in Ägypten.

Gelegentlich habe ich die Behauptung gelesen, dass der Nil der Grund dafür sei, dass Ägypter das Leben oft mit einem erstaunlichen Gleichmut hinnehmen und dass sie so entspannt und gelassen sind. Diese Gelassenheit und auch der Humor vieler Leute sind etwas, das mich selbst nach 20 Jahren im Land immer noch erstaunt – vor allem angesichts der Lebensbedingungen, die viele Ägypter ertragen müssen. Das soll darin begründet sein, dass der Nil über Jahrtausende das Leben der Ägypter geprägt hat, und zwar mit einer Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, die für die Menschen nur göttlichen Ursprungs gewesen sein konnte. Der breite majestätische Strom stellte nicht nur fast immer ausreichend Wasser bereit. Jedes Jahr im Sommer sorgte er auch für einen ganz besonderen Segen. Jährlich ab Juni stieg bei Assuan der Pegel des Flusses, weil es zuvor im äthiopischen Hochland stark geregnet hatte. Innerhalb von zwei Wochen hatte das Hochwasser erst Kairo, dann das Nildelta erreicht. Der Höhepunkt der Flut war zwischen August und Ende September, danach ging der Pegel innerhalb weniger Wochen wieder auf den normalen Stand zurück. Die überfluteten Flächen waren vom Hochwasser ausgewaschen worden und versalzten deshalb nicht. Zurück blieb fruchtbarer Schlamm als Dünger, um den sich niemand kümmern musste. Komfortabler geht es kaum.

Das dies die Mentalität von Menschen prägte, erscheint mir plausibel. Es kann eigentlich gar nicht anders sein, als dass diese immerwährende und fast in jedem Jahr pünktlich wiederkehrende Erfahrung ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist und zu dem Wunsch führte, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn dann ist es in bester Ordnung. Den Göttern sei Dank beziehungsweise Gott sei Dank! Nun weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis eine wiederkehrende Erfahrung die Mentalität eines Volkes prägen kann. Aber es ist eine schöne Geschichte.

Und die wiederkehrenden Nilfluten sind tatsächlich nur noch Geschichte. Den Ägyptern von heute ist längst klar, dass der Nil eine sensible und gefährdete Ressource ist. Es begann damit, dass bei Assuan erst Staumauern errichtet wurden, dann ein kleiner Staudamm und schließlich in den 1960er Jahren der große Assuan-Staudamm. Der Bau des wichtigen Prestigeobjekts begann während der Herrschaft des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Der Damm wurde mehrmals erweitert und hat respektable Ausmaße erreicht: knapp einen Kilometer breit, vier Kilometer lang und 111 Meter hoch. Anscheinend wurde hier 17-mal so viel Stein verbaut wie für die Pyramiden von Giza – der Vergleich zeigt, in welche Liga unter den Bauwerken der Damm für viele Ägypter gehört. Vor ihm erstreckt sich der gigantische Nasser-See. An diesem See ließ das ägyptische Regime im Rahmen des Toshka-Projekts ein riesiges Pumpwerk bauen, es soll das größte der Welt sein. Benannt wurde es nach dem durch die Revolution von 2011 gestürzten Präsidenten Mubarak. Es soll das Nilwasser aus dem Stausee in einen langen Kanal pumpen, über den dann eine große Fläche Land in der Wüste urbar gemacht werden soll.

Seit der Errichtung des Assuan-Staudammes erreicht die Nilschwemme Ägypten nicht mehr. Es ist nun zwar sicherer vor Überschwemmungen und Dürren und die Felder können bis zu drei Mal jährlich bestellt werden, aber die Böden versalzen, und weil sich der Nilschlamm im Stausee sammelt, sind die Bauern auf teure chemische Düngemittel angewiesen. Der Eingriff in den Lauf des Nils ist deshalb an sich schon eine heikle Angelegenheit, aber noch riskanter könnte die Tatsache sein, dass mit dem Nil praktisch fast das gesamte Trink- und Nutzwasser Ägyptens aus dem Ausland kommt. Der längste Fluss der Erde erreicht Ägypten als letztes, nachdem er zuvor durch neun andere Länder Afrikas geflossen ist – kein anderer Fluss der Welt ist so wichtig für so viele Menschen. Ägyptens Gedeih und Verderb sind also von dem abhängig, was zuvor in diesen neun Ländern mit dem Nilwasser geschieht. Bereits 1985 hatte Boutros Boutros-Ghali, der ehemalige UN-Generalsekretär, damals Außenminister Ägyptens, erklärt: »Der nächste Krieg in der Region wird um Nilwasser geführt werden.«

1929 hatten Ägypten und Großbritannien, das damals seine ostafrikanischen Kolonien Kenia, Uganda, das jetzige Tansania sowie den Sudan vertrat, ein Dokument unterzeichnet, das jegliche Maßnahmen untersagt, die die Menge des Nilwassers, die bis nach Ägypten gelangt, reduzieren würden. In einem Vertrag von 1959 wird Ägypten die Entnahme von jährlich 55 Milliarden Kubikmetern der schätzungsweise insgesamt 83 Milliarden Kubikmeter Nilwasser zugesprochen.

Das ist eine stattliche Menge, aber die Bevölkerung Ägyptens wächst schnell, das Land braucht immer größere Mengen Wasser. Dabei spielt der Trinkwasserbedarf nur eine geringe Rolle. Das meiste Wasser des Nils wird in Ägypten als Nutzwasser auf Feldern und in der Industrie gebraucht. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten kam es bereits zu Wasserkrisen im Land. Tausende Menschen protestierten gegen Wasserknappheit, im Nildelta zum Beispiel. Sie blockierten Fernverkehrsstraßen und Autobahnen. Das Fernsehen zeigte Bilder von Bäuerinnen eines Dorfes, die schwere Wasserkanister kilometerweit trugen, und sprach von der »Revolution der Durstigen«. Es waren Bilder, wie sie die Welt vor allem aus schwarzafrikanischen Dürregebieten kennt. Dutzende Menschen wurden gezeigt, wie sie sich an einer dreckigen Wasserlache bückten und ihre Kanister füllten.

Vermutlich müsste es solche Szenen derzeit noch nicht geben. Das Problem sei im Moment eher Missmanagement, zum Beispiel bei der Bewässerung der Felder, als Wassermangel, behaupten Experten. Aber das wird sich schnell ändern. Der Klimawandel verursacht noch größere Trockenheit im Land. Gleichzeitig muss der Fluss immer mehr Menschen versorgen. Angesichts des Bevölkerungswachstums, so prognostizieren Fachleute, bräuchte Ägypten Mitte des Jahrhunderts eigentlich einen zweiten Nil. Doch den wird es nicht geben.

Das größte Kopfzerbrechen bereitet den Ägyptern allerdings derzeit Äthiopien, das den Oberlauf des Blauen Nils und damit die Quelle von bis zu 85 Prozent des ägyptischen Nilwassers kontrolliert. Vor neun Jahren hat man dort mit dem Bau des so genannten Renaissance-Staudamms begonnen, für die Äthiopier ein Jahrhundertprojekt. Ende 2020 soll die Stromerzeugung beginnen. Solange sich in Äthiopien das Staubecken füllt, so lange kommt weniger Wasser in Ägypten an, wo man verheerende Folgen befürchtet: ausgetrocknete Felder, eine gefährdete Trinkwasserversorgung, Salzwasser, das aus dem Mittelmeer ins Nildelta eindringt. Während der Arbeit an diesem Buch sind die zähen Verhandlungen – begleitet von gegenseitigen Kriegsandrohungen – zwischen beiden Ländern ins Stocken geraten. Die Unterzeichnung einer von den USA vermittelten Einigung wurde verschoben. Sie sieht unter anderem vor, dass der Stausee nur dann gefüllt wird, wenn in Äthiopien Regenzeit herrscht.

Dabei hat Ägypten schon genug damit zu tun, sich auf ein anderes von Menschen gemachtes Problem einzustellen: auf die Folgen des Klimawandels. Durch den Klimawandel könnte der Nil bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 75 Prozent weniger Wasser führen. Das hängt auch stark mit den Klimaveränderungen in den Quellregionen des Nils zusammen. Doch die größte Gefahr droht der Region des Nildeltas. In der Mittelmeerstadt Alexandria wurden bereits erste Betonwälle zum Schutz vor dem steigenden Meeresspiegel errichtet. Eine Studie prognostiziert, dass im Nildelta bis 2050 eine Fläche unter Wasser stehen könnte, die der von Hamburg entspricht. Bis zum Ende des Jahrhunderts steht womöglich ein Gebiet von der Größe des Saarlands unter Wasser. 5,7 Millionen Ägypter wären davon betroffen, unter anderem in Gebieten um Alexandria. Hinzu kommt, dass durch den Assuan-Staudamm viel weniger Sedimente über den Nil ins Delta gelangen, was die Küste noch anfälliger für Erosion macht.

Die Regierung ist sich der Gefahren durchaus bewusst. Das Wasserministerium Ägyptens erklärte, dass die nationalen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel mindestens zehn Milliarden Euro kosten könnten. Doch das wird kaum reichen. Für den Energiesektor hat Ägypten einige ambitionierte Umweltprojekte angekündigt oder bereits umgesetzt. Bei Assuan ging Ende 2019 eines der größten Solarkraftwerke der Welt in Betrieb. Bis 2035 sollen 42 Prozent des elektrischen Stroms aus erneuerbaren Energien stammen. In Alexandria will man demnächst Elektrobusse im Stadtverkehr einsetzen. In Kooperation mit einem chinesischen Hersteller sollen in Ägypten Elektroautos für den heimischen Markt produziert werden. Doch für Investitionen dieser Art könnte zukünftig das Geld fehlen, wenn das Land eine Wasserkrise von nahezu biblischem Ausmaß bewältigen muss.

Europas Blick auf den Nil

Dabei ist der Nil doch eigentlich ein Mythos und kein Konfliktherd. »Bei Sonnenuntergang sieht es so aus«, schrieb Gustave Flaubert 1850, »als seien die Bäume mit Kohlestift gezeichnet, und die Sandhügel erscheinen wie aus Goldstaub.« Der französische Schriftsteller war nur einer von vielen prominenten Europäern, die in den letzten Jahrhunderten die klassische Ägyptenreise auf dem Nil zu den pharaonischen Tempeln und Gräbern an seinen Ufern unternahmen. Flauberts Interesse scheint dabei mehr dem lyrischen Landschaftserlebnis als dem prosaischen Geschichtsinteresse gegolten zu haben. Im selben Jahr notierte Reisegefährte Maxime Du Camp: »Wenn Flaubert gekonnt hätte, so wäre er am liebsten auf einem Sofa liegend gereist, ohne sich zu rühren, hätte die Landschaften, die Ruinen und die Städte an sich vorüberziehen sehen wie die Leinwand eines Panoramas.«

Lange war für die europäischen Aristokraten und Bohemiens die Dahabiyya das bevorzugte Transportmittel auf dem Nil. Der Name der Segelboote ist vom arabischen Wort für Gold abgeleitet, denn das Holz vom Schiffsrumpf und von seinen Aufbauten schimmerte in der Abendsonne nicht selten goldgelb. Die langsamen Frachtsegler boten wenig Komfort, aber so viel Entschleunigung, dass man die Landschaft gebührend auf sich wirken lassen konnte. Wer auf dem Nil segelt, so lautet eine ägyptische Redensart, sollte Segel besitzen, die aus Geduld gewebt sind.

Die Dahabiyya, auf der ich einst eine solche Reise unternahm, war ein liebevoll rekonstruierter Segler aus dem Jahre 1840 für 18 Gäste und zehn Mann Besatzung. Unter Deck war das Boot überall mit nostalgischem Interieur ausgestattet, mit historischen Leuchtern und Tischen, Messingbeschlägen an Türen und Wänden und mit orientalischen Diwan-Stoffen im Salon. Eine Nilkreuzfahrt auf einer Dahabiyya hat den Vorteil, dass man anlegen und eine Pause machen kann, wo man möchte. Zum Beispiel auf einer Wiese am Ufer zum Abendessen, das dann nicht auf dem Deck unter einem Sonnenschirm, sondern an Land serviert wird. Manchmal fuhren wir dicht am Ufer entlang. Wenn dann der Motor des Schleppschiffes verstummte, weil der Wind für die Segel an den zwei Masten reichte, dann war es so still, dass man Oberägypten hören konnte. Die frische Brise rauschte in den Palmen, Vögel zwitscherten, auf einem Feldweg spielten Kinder. Einmal ritt ein Bauer auf einem Esel auf dem Uferweg entlang und sang zufrieden vor sich hin. Es war, als wären wir jetzt im 19. Jahrhundert angekommen.

Die Dahabiyya verlor ihre Bedeutung für die Nil-Reisenden mit der Einführung des Dampfschiffes. Viele, die heutzutage eine Pauschalreise nach Mallorca oder in die Türkei buchen, wissen gar nicht, dass sie diese Art zu reisen im Grunde dem Nil verdanken. Ägypten gilt nicht nur als Wiege der Zivilisation, sondern auch als Wiege der Pauschalreise, und Thomas Cook ist ihr Erfinder. 1869 erlebte der Brite in Oberägypten mit eigenen Augen, dass ein pharaonischer Tempel dem anderen folgt wie Perlen auf einer Gebetskette, aufgefädelt am Nil. Fortan verfrachtete er seine Reisegruppen auf Flussdampfer mit Vollpension. Zu den berühmtesten unter den Kreuzfahrtschiffen auf dem Nil gehört die MS Sudan, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts. Von einer Tour auf dem Schaufelraddampfer ließ sich Agatha Christie zu ihrem Buch »Der Tod auf dem Nil« inspirieren.

Damals auf dem Nil muss auch das begonnen haben, was heute eine ganz übliche Attitüde ist, nämlich die Verachtung, mit der manche Individualreisende auf Pauschaltouristen blicken. Amelia Edwards, die Grande Dame der historischen Nilreisenden aus Europa, schrieb vor anderthalb Jahrhunderten: »Die Leute auf den Dahabiyyas verachten die Cook'schen Touristen.« Sie würden dem organisierten Tourismus mit arrogantem Mitleid begegnen. Reiseprofi Thomas Cook konterte damals: »Meine Gäste wollen Geschwindigkeit statt der schweren Prüfung durch langatmige Geduld.«

Die Nilreise auf großen motorisierten Kreuzfahrtschiffen ist auch heute noch ein Klassiker unter den Urlaubsangeboten für Ägypten, allerdings hat die Zahl der Touristen, die solch eine Reise buchen, seit 2011 stark nachgelassen. Das Geschäft erholt sich nur langsam. Das ist schade, denn was könnte es Schöneres geben, als liegend auf einem Sofa zu reisen, ohne sich zu rühren, idyllische Landschaften und pharaonische Tempel an sich vorbeiziehen zu lassen und so die Wiege von Zivilisationen zu besuchen.

Wiege von Zivilisationen

Ein jahrtausendealtes Land

»Ägypten ist das Land, in dem sich Zivilisationen treffen.« Das konnte man Ende 2019 wochenlang auf Plakaten lesen, die im Rahmen einer Kampagne überall im Land hingen. Der Slogan leuchtete auch von den riesigen Werbewänden, die in Kairo zum Beispiel die Ausfallstraße zum Flughafen säumen. Aber auch an anderen Hauptstraßen war die Kampagne unübersehbar. Alle paar Meter hing eines der Motive auf einem kleinen Täfelchen, immer versehen mit dem Spruch: »Where Civilizations meet.« Die Werbeaktion sollte auf ein vom Staat organisiertes Weltjugend forum aufmerksam machen, das in Sharm al-Sheikh stattfand. Dort würden sich Zivilisationen in einem Land treffen, das an sich schon ein zivilisatorischer Schmelztiegel sei. So in etwa lautete die Botschaft der Kampagne. Und damit das klar wurde, waren auf sieben einzelnen Motiven Vertreterinnen und Vertreter dieser ägyptischen Zivilisationen zu sehen: vier Frauen und drei Männer, afrikanisch, mediterran, griechisch-römisch, koptisch, islamisch, arabisch und pharaonisch.

Das seien Ägyptens »sieben Säulen«, auch diese Formulierung wurde im Rahmen der Kampagne verwendet. Auf diesen Säulen unterschiedlichster Kulturen würde das moderne Ägypten ruhen. Und es stimmt, kaum ein anderes Land der Welt war über einen so langen Zeitraum schon so globalisiert. Ägypten hat fremde Kulturen aufgesogen wie ein Schwamm, aber auch eigene geschaffen, deren Spuren heute bis in die fernsten Winkel der Welt reichen. Ägypten besitzt zudem das erste Kalenderblatt der Menschheitsgeschichte, das auch den Namen verdient, weil es tatsächlich ein konkretes Datum nennt. Im Nordosten jener Metropole, die seit gut eintausend Jahren Kairo heißt, fand vor mehr als 6000 Jahren die Gründung einer Siedlung statt. Wie Max Rodenbeck in seinem großartigen Buch »Cairo. The City Victorious« schildert, konnten Wissenschaftler anhand der Sternenkonstellation und im Vergleich mit verschiedenen Kalendern einen genauen Zeitpunkt ermitteln: Am 19. Juli 4241 v. Chr. wurde die Siedlung On gegründet, morgens um 4.58 Uhr, um genau zu sein.

Dörfer, in denen Landwirtschaft betrieben wurde, gab es auf dem Gebiet des heutigen Ägypten seit mindestens 7000 Jahren. Zu den bislang ältesten Belegen dafür gehören die Überreste einer Siedlung, die ägyptische und französische Archäologen 2018 fanden. Im Nildelta entdeckten sie 140 Kilometer nördlich von Kairo Werkzeuge, Knochen und Keramik. Also ziemlich verlässliche Hinweise darauf, dass vor rund 7000 Jahren Menschen an diesem Ort sesshaft waren – 2500 Jahre vor dem Bau der Pyramiden von Giza. Heute kann Ägypten auf mehrere Tausend Jahre kontinuierlicher Landesgeschichte auf einem mehr oder weniger gleichbleibenden Territorium zurückblicken. Im Alten Ägypten hieß das Land Kemet, sein heutiger Name wird zurückgeführt auf das altgriechische Aigýptos, das wiederum auch altägyptische Wurzeln haben soll. Der arabische Name für Ägypten lautet Misr, so wie es heute in der offiziellen Landesbezeichnung verwendet wird: Gumhuriyya Misr al-Arabiyya – Arabische Republik Ägypten.

Unter verschiedenen Namen existierte somit das Land als ein Staatsgebilde, das sich am Nil auf dem Gebiet des heutigen Ägyptens entwickelte. Dazu gehören auch der Sinai, die Oasen in der Westlichen Wüste (manchmal auch Libysche Wüste genannt) und die Küstengebiete am Roten Meer. Zeitweise beherrschte das Land auch Gebiete darüber hinaus. Aber charakteristisch ist diese verblüffende territoriale Kontinuität. Fachleute haben sich nach dem Grund dafür gefragt und fanden zwei: In seiner langen Geschichte war Ägypten – unabhängig davon, wie es gerade hieß – entweder so stark, dass es drohender Fremdherrschaft widerstehen konnte. Oder aber es hat die fremden Mächte und deren Kulturen in die eigene Kultur integriert und ägyptifiziert, was letztlich ebenfalls ein Zeugnis für die kulturelle Stärke Ägyptens ist. Immer wieder gab es Phasen, da war Ägypten die Provinz eines anderen Staates, aber in der Regel mit solch einer Eigenständigkeit, dass die Bezeichnung Provinz oft nicht angemessen war.

Die Geschichte des Alten Ägypten begann vor etwa 6500 Jahren. Die Phase des sogenannten Alten Reiches setzte etwa 2700 v. Chr. ein, gefolgt vom Mittleren und Neuen Reich, unterbrochen jeweils von sogenannten Zwischenzeiten. Der Ära des Neuen Reiches folgten die Dritte Zwischenzeit sowie die Spätzeit, die 332 v. Chr. ihr Ende fand. Diese knapp 2400 Jahre vom Beginn des Alten Reiches bis zum Ende der sogenannten Spätzeit wurden zumeist von ägyptischen Königen geprägt. Der Begriff Pharao kam erst im Neuen Reich auf, wurde aber nicht konsequent verwendet. Siamun, der 978 v. Chr. die Macht übernahm, war der erste König, der sich auch selbst offiziell den Königstitel Pharao gab. Heute wird die Bezeichnung allerdings oft für alle Könige der gesamten Zeit benutzt. In diesen »pharaonischen« Jahren entstanden viele der faszinierendsten antiken Baudenkmäler Ägyptens, die, wenn sie erhalten geblieben sind, schon Millionen von Touristen aus aller Welt in ihren Bann gezogen haben – darunter erste Monumentalgräber wie die Stufenpyramide von König Djoser bei Kairo und natürlich die drei Pyramiden von Giza, ebenfalls bei Kairo, errichtet im Auftrag der Könige Cheops, Chefren und Mykerinos vor mehr als 4500 Jahren. Welche Blütezeiten Ägypten damals erlebte, macht der Bau der größten der drei deutlich. Die Pyramide von Khufu, besser bekannt unter dem Namen Cheops, hatte ursprünglich eine Höhe von 146,72 Metern – heute sind es rund neun Meter weniger – und eine Seitenlänge von 230 Metern. 2,5 Tonnen wiegt im Durchschnitt jeder der rund 2,3 Millionen verbauten Steinquader. Schätzt man die Bauzeit sehr großzügig auf 30 Jahre, dann würde dies bedeuten, dass über den gesamten Zeitraum hinweg alle sieben Minuten ein Block herangeschafft, hochtransportiert und eingefügt werden musste – eine unglaubliche Leistung. Die meisten Wissenschaftler schätzen die Bauzeit sogar nur auf 20 Jahre. Etwas später entstanden die grandiosen Tempelstätten von Karnak, vermutlich ab etwa 2000 v. Chr., und von Luxor, an denen ab circa 1400 v. Chr. gebaut wurde.

Ägypten gilt vielen als die Wiege der Zivilisation. Seit ein Forscherteam des Deutschen Archäologischen Instituts 1988 in Abydos einen erstaunlichen Hieroglyphenfund machte, gilt dieser Titel mehr denn je als gerechtfertigt. Auf Täfelchen und Scherben entdeckten die Wissenschaftler Schriftzeichen, die vor 5300 Jahren womöglich ohne den Einfluss der Sumerer aus dem mesopotamischen Zweistromland entstanden waren. Mit den Hieroglyphen wurden in erster Linie weder heilige Texte noch Geschichtsepen aufgezeichnet, sondern Inventarlisten, Steuertabellen und Beamtenvermerke. Ägypten ist also auch die Wiege der Bürokratie. Und es ist auch die Wiege des Monotheismus, dessen erste Form etliche Wissenschaftler Echnaton zuschreiben. Der altägyptische König hatte mit dem alleinigen Glauben an den Sonnengott Aton den ersten Monotheismus der Geschichte begründet, über 1300 Jahre vor der Geburt Christi. Der neue Glaube veränderte radikal die Vorstellungswelt der Menschen und schuf vor allem eine neue wirklichkeitsnahe und lebendige Ästhetik, den sogenannten Amarna-Stil. Ein Prunkstück aus der einstigen altägyptischen Hauptstadt Amarna ist die Büste der Königin Nofretete, die sich heute in Berlin befindet.

667 v. Chr. wurde Ägypten für wenige Jahre eine Provinz des Assyrischen Reiches. 142 Jahre später eroberten die Perser das Land und machten Ägypten über einen längeren Zeitraum zur Provinz eines ausländischen Reiches, und zwar mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung von wenigen Jahren für insgesamt 130 Jahre. Die Provinz verwaltete sich allerdings selbst und genoss einige Freiheiten, wie etwa die der Religionsausübung. Die Ägypter setzten sich gegen die Perser streckenweise erbittert zur Wehr und begrüßten Alexander den Großen deshalb wohlgesonnen, als er 332 v. Chr. den Norden Ägyptens nahezu kampflos einnahm und zum Teil des Königreiches Makedonien machte. Ein Jahr später gründete er die Mittelmeerstadt Alexandria. Zu jener Zeit begann die griechisch-römische Phase Ägyptens. Alexander der Große wollte das Land praktisch als Ägypter und nicht als Besatzer regieren, deshalb ließ er sich zum Pharao krönen – und übernahm den Rest des Landes. Nach seinem Tod wurde mit Ptolemaios I. einer seiner Generäle Statthalter der Provinz Ägypten und begründete die Dynastie der Ptolemäer, die Ägypten fast 300 Jahre lang regierte. Im Jahre 30 v. Chr. wurde Ägypten nach dem Tod von Kleopatra, der letzten Ptolemäer-Königin, römische Provinz.

In der griechisch-römischen Phase erlebte Ägypten nicht nur eine Blütezeit, es wurde auch zu einem multikulturellen Schmelztiegel und sollte dies über viele Jahrhunderte auch bleiben. Die hellenistischen Ptolemäer übernahmen Elemente der ägyptischen Traditionen. Die verschiedensten religiösen und künstlerischen Einflüsse verschmolzen zu neuen Ideen. Alexandria wurde zu einem Zentrum von Wissenschaft und Philosophie. Der später zerstörte Leuchtturm der Stadt gehörte zu den Sieben Weltwundern, Alexandrias Bibliothek war die wichtigste der Antike. Daneben wirkten römische, jüdische und später christliche Einflüsse. Während der römischen Phase wurde Alexandria zum ersten Ort der Welt mit Straßenbeleuchtung. Die Laternenmasten wurden hier hergestellt, man kennt nicht nur die Namen der Fabrikanten, sondern weiß auch, dass die Laternen vier Stunden pro Nacht brannten.

Selbst in der entlegenen Halboase Fayyum, rund 100 Kilometer südwestlich von Kairo, trafen Ägypter auf zugezogene Makedonier, Griechen und Römer. Die koptisch-orthodoxe Kirche Ägyptens soll bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus gegründet worden sein und gehört damit zu den ältesten christlichen Gemeinden. Schließlich eroberten muslimische Araber um 640 das Niltal. In den folgenden Jahrhunderten war Ägypten oft ein Zentrum der islamischen Welt. Neben den arabischen gab es starke türkische Einflüsse, die von der Jahrhunderte währenden osmanischen Herrschaft herrührten. Das kann man heute noch in der Alltagssprache der Ägypter hören. Das Wort Basha für Pascha kommt aus dem Türkischen, ebenso Gazma für Schuhe oder Agzakhana für Apotheke. Die Baltagiyya, von denen in den vergangenen Jahren in Ägypten so oft die Rede war, also die Schlägertrupps aus den Armenvierteln, die für wenig Geld Regimegegner verprügeln, selbst ihre Bezeichnung geht auf das Türkische zurück: Aus Balta, türkisch für Axt, wurde im Ägyptisch-Arabischen das Wort Baltagi als Bezeichnung für den mit einer Axt Bewaffneten.

Als Napoleon während des Ägyptenfeldzuges in der Nähe der Pyramiden eintraf, soll er angeblich seinen Soldaten ergriffen zugerufen haben: »Vergesst nicht, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken!« Das ist höchstwahrscheinlich nur Legende. Zu jenem Zeitpunkt konnte Napoleon die Pyramiden noch gar nicht gesehen haben, er hielt die Ansprache irgendwo nördlich des Dorfes Imbaba, wo das ägyptische Heer wartete. Zudem fand Napoleons »Schlacht an den Pyramiden« ebenfalls kilometerweit von den Pyramiden entfernt statt. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich lösten die in Napoleons Heer mitreisenden Wissenschaftler und Künstler mit den Ergebnissen ihrer Expedition eine wahre Ägyptomanie in Europa aus. Das Interesse für Ägypten wurde immer größer. Bohemiens und Künstler begannen im 19. Jahrhundert damit, vor dem europäischen Winter nach Oberägypten zu fliehen. Vor 200 Jahren schrieb Ali Bey al-Abbassi über Europäer in Ägypten: »Sie halten an der Tracht und an den Gebräuchen ihrer Länder fest, und wenn sie sich einmal auf der Straße zeigen, zieht ihre Eigenart die öffentliche Neugier auf sie. Dadurch aus der Fassung gebracht, gleichen sie dann in ihrem exaltierten Dahinschreiten Wahnsinnigen.«

Die klassische Nilreise wurde populär, Gustave Flaubert, Agatha Christie, Thomas Mann, Ingeborg Bachmann und viele andere kamen. Für Fürst von Pückler-Muskau war die Tempelinsel Philae bei Assuan »eins der lieblichsten Wunder im Land der Pharaonen«. Den Tempel gibt es noch, obwohl die Insel selbst gar nicht mehr existiert, denn sie ist untergegangen. 1977, nach dem Bau des Assuan-Staudammes, hatte man die Tempelanlage inklusive des berühmten Isis-Heiligtums in fast 50 000 Einzelteile zerlegt und ein paar Hundert Meter weiter auf der Insel Agilka neu errichtet. Da steht sie heute immer noch, als sei nichts gewesen. Auch der berühmte ptolemäische Kalabsha-Tempel ein paar Kilometer südwestlich befindet sich an einem neuen Ort, auf einer Insel mitten im Stausee, den es zu Flauberts Zeiten noch gar nicht gab. Die Kulturlandschaft Nubien ist versunken, und selbst die berühmte Tempelanlage von Abu Simbel ging auf Wanderschaft. Nichts ist mehr, wie es einmal war – und trotzdem irgendwie noch genauso.

Auch die britische Herrschaft über Ägypten hinterließ Spuren im Land. Sie dauerte 40 Jahre und endete 1922 mit der Unabhängigkeit. Ägypten wurde wieder ein Königreich, das allerdings nur kurze Zeit Bestand hatte. Nachdem die sogenannten Freien Offiziere unter Führung von Gamal Abdel Nasser 1952 einen Staatsstreich verübt hatten, wurde König Faruq ins Exil gejagt. Es begann die bis heute andauernde Phase der »Offiziersrepublik«. Mit Ausnahme der Jahre 2011 bis 2013 hatten seit 1953 immer Ex-Militärs das Präsidentenamt inne. Einschließlich Feldmarschall a. D. Abdel Fattah al-Sisi waren dies insgesamt fünf.

Ägypten, das in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder eine Schlüsselrolle in der arabischen Welt spielte, hat sich seit dem Militärputsch von 2013 nicht komplett, aber weitgehend auf sich selbst konzentriert. Außenpolitisch wird nur das gemacht, was das Land vor dem Zusammenbruch bewahren soll.

Die Beziehungen zu Israel sind von Pragmatismus geprägt und vergleichsweise eng. In Tel Aviv ist man froh, dass Ägypten unter al-Sisi ein berechenbarer Partner ist. Unter dem islamistischen Präsidenten Mursi, der ab Juni 2012 ein Jahr lang im Amt war, war das Verhältnis der beiden Staaten angespannter. Mursi hatte sich zwar zum Friedensvertrag mit Israel bekannt, der 1978 im US-amerikanischen Camp David unterzeichnet wurde, er wusste, dass er sich andernfalls die Unterstützung aus dem Ausland verscherzt. Aber andere ranghohe Führer der Muslimbruderschaft erklärten, dass der Friedensvertrag alles andere als unantastbar sei. Allerdings gelangten im Januar 2013 antisemitische Äußerungen von Mursi an die Öffentlichkeit, unter anderem hatte die New York Times auf sie aufmerksam gemacht. Sie stammten aus dem Jahr 2010. Darin sprach Mursi zwar nicht von Juden, sondern von Zionisten, aber er verwendete eindeutig antisemitische Stereotype. Bei einer Recherche entdeckte ich kurz darauf Audioaufnahmen, in denen sich Mursi noch drastischer antisemitisch äußerte. In einer Rede vor Mitgliedern der Ärztekammer der ägyptischen Provinz Al-Sharqiyya erklärte er Anfang 2010: »Meine Brüder, wir dürfen nicht vergessen, unseren Kindern und Enkelkindern den Hass auf die Juden beizubringen. Mit diesem Hass müssen wir sie füttern, er muss erhalten bleiben.« Palästina werde nicht ohne Widerstandskampf befreit werden können. Die Zionisten müssten bekämpft werden, wo immer sie sich aufhielten. Von al-Sisi wird man solche Äußerungen nicht hören. Mit Israel verbinden ihn eine Reihe gemeinsamer Interessen. Ab 2020 bekommt Ägypten aus dem jüdischen Nachbarstaat Erdgas geliefert, auf der Grundlage eines Vertrages, der eine Laufzeit von 15 Jahren hat. Mindestens ebenso wichtig ist aber die Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit. Wie die New York Times zuerst berichtete, flogen israelische Kampfflugzeuge, Militärhubschrauber sowie Drohnen seit dem Herbst 2015 mehr als 100 Luftangriffe auf Ziele im Norden des Sinai. Die Angriffe richten sich gegen Stellungen von Terroristen des sogenannten Islamischen Staats auf ägyptischem Gebiet. Das geschieht mit dem Einverständnis von al-Sisi. Die IS-Terroristen sind ein gemeinsamer Feind von Ägypten und Israel. In den Jahrzehnten vor Abschluss des Friedensvertrages von Camp David standen sich die beiden Länder noch in vier Kriegen gegenüber. Auf die beiden ersten in den Jahren 1948/49 sowie 1956 folgten 1967 der Sechs-Tage-Krieg sowie 1973 der Jom-Kippur-Krieg, der in Ägypten Oktoberkrieg genannt wird, weil er am 6. Oktober begann.

Besonders enge Beziehungen pflegt Ägypten zu Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die drei Golfmonarchien sind froh, dass Ägyptens Militär den gesellschaftlichen Umbruch im bevölkerungsreichsten arabischen Land abgewürgt hat, und helfen mit Milliardensummen aus. Das Regime von al-Sisi unterstützt den aufständischen General Haftar in Libyen militärisch, in der Hoffnung, er könne das Nachbarland mit eiserner Faust stabilisieren. Al-Sisi sucht die Nähe zu den autokratischen Regimen in Russland und China, kann sich aber schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht vom Westen entfernen. Da passte es gut, dass US-Präsident Donald Trump Präsident al-Sisi als seinen »Lieblingsdiktator« bezeichnete. 2019 war Ägypten weltweit der drittbeste Kunde der deutschen Rüstungsindustrie.

Bezugspunkte für die Selbstwahrnehmung der nationalen Größe findet das Land in der Vergangenheit. Dass Ägypten auf diese einzigartig lange und einflussreiche Geschichte zurückblicken kann, tut dem Nationalstolz so gut, wie es dem Tourismusgeschäft hilft. Derzeit wird auch deshalb viel zur Bewahrung der Kulturgüter des Landes unternommen. Etliche neue Museen wurden eingeweiht, andere sind im Bau oder werden gerade saniert. So wurde zum Beispiel das Museum von Mallawi in der oberägyptischen Provinz Al-Minya drei Jahre nach einer Plünderung wiedereröffnet. 950 der einst 1089 Ausstellungsstücke pharaonischen, griechisch-römischen, koptischen und islamischen Ursprungs sind wieder zu sehen. Der Rest verschwand 2013 während des Angriffes durch die plündernden Banden. In Alexandria wurde Anfang 2020 die Eliyahu-Hanavi-Synagoge nach der Sanierung in altem Glanz wiedereröffnet. Umgerechnet 5,5 Millionen Euro wurden aus der Staatskasse für die Renovierung bereitgestellt. Zum ersten Schabbat-Gebet nach der Wiedereröffnung reisten 180 ägyptische Juden aus dem Ausland an.