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Ein Umzug und ihre erste Liebe verändern das Leben der sechzehnjährigen Sophia schlagartig. Als dann auch noch ein Familiengeheimnis enthüllt wird, entdeckt sie, dass nichts so ist, wie es scheint — und dass sie eine Entscheidung treffen muss, die nicht nur ihre Zukunft, sondern das Schicksal zweier Welten verändern wird. Kann Sophia diese Last tragen und die Menschen retten, die sie liebt? Band 1 der spannenden Orbis-Trilogie
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vanessa Funk
Ahawa Lamia
Orbis-Trilogie, Band 1
Ahawa Lamia
Flammendes Erwachen
Von Vanessa Funk
Impressum
1. Auflage, 2024
© Oktober Vanessa Funk – alle Rechte vorbehalten.
Kirchgasse 3
96253 Untersiemau
Webseite: www.vanessa-funk.de
Umschlag: 2024 Copyright by TomJay – book cover4everyone/www.tomjay.de © Slava_14/Depositphotos.com, © BiancoBlue Depositphotos.com, © ananaline/Stock.Adobe.com
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Kennt ihr das, wenn man glaubt, dass man langsam den Verstand verliert? Habt ihr euch je ausgeschlossen gefühlt und gedacht, dass ihr nicht dazugehört? Mir ging es fast mein ganzes Leben so.
Nie passte ich irgendwo rein, und das Leben war nicht, wie es sein sollte. Ich hatte das Gefühl, dass es noch mehr geben musste und dass dies nicht alles sein konnte. Irgendwann begann ich, Stimmen zu hören, und fühlte mich beobachtet. Aber ich sah nie eine Person. Ich hatte große Angst, in einer Klinik zu landen. Aber dann erfuhr ich, dass ich nicht irre oder krank war, sondern dass ich kein Mensch war. Für jemanden wie mich war es völlig normal, all das wahrzunehmen. Und es gehörte auch dazu, dass ich die Gefühle von anderen so deutlich wie meine eigenen spüren konnte.
Nun fragt ihr euch sicher, was ich bin, wenn ich kein Mensch bin. Das ist leider nicht so leicht zu beschreiben, ich begreife es auch noch nicht richtig. Aber ich werde versuchen, es euch zu erklären. Und zwar anhand einer Geschichte – meiner Geschichte
Capitulum 1
Ahawa – was?
Ich heiße Sophia Miller und bin sechzehn Jahre alt. Kurz nach meinem letzten Geburtstag hatte mein Leben angefangen, sich zu verändern. Mein Vater hatte seinen Job verloren und daher mussten wir in eine Kleinstadt umziehen. Vorher hatten wir ein großes Haus mit einem tollen Garten. Nun war es eine kleine Wohnung am Stadtrand. Das bedeutete auch eine neue Schule, neue Lehrer und neue Freunde. Zumindest für meine Schwester Cecilia – ich war ohnehin immer allein.
Hier gab es nichts. Abgesehen von einem großen, unheimlichen Wald. Für einen Teenager war das die Hölle auf Erden. Doch nach einiger Zeit konnte man sogar solch einem Ort etwas abgewinnen. Zumindest war es bei mir so, aber Cecilia sah es anders. Für sie war das Wohnen in unserem neuen Zuhause kaum zu ertragen. Sie vermisste ihr altes Leben, ihre Freunde und vor allem ihr eigenes Zimmer. Da ich noch nie wirkliche Freunde hatte, machte es mir nicht so viel aus. Aber dass ich nun ein Zimmer mit ihr teilen musste, war auch für mich nicht leicht. Das lag daran, dass Cecilia und ich absolut nichts gemeinsam hatten. Cecilia war eine Schönheit, sie hatte tiefblaue Augen und langes, blondes Haar. Sie war schlank und konnte mit ihrer Persönlichkeit die Leute ganz einfach um den Finger wickeln. Und natürlich war sie auch größer als ich.
Ich hingegen war eine kleine graue Maus. Da ich schüchtern war, fiel es mir sehr schwer, Kontakt mit Menschen zu finden. Daher hatte ich auch keine Freunde. Mein unscheinbares Aussehen war dabei auch nicht hilfreich. Meine Haare waren nicht blond, sondern hatten ein gewöhnliches Braun, und ich hatte immer noch etwas Babyspeck.
Das einzig Tolle an mir waren meine auffälligen grünen Augen. Ich glaubte, auf diese war sogar Cecilia neidisch, wobei sie das natürlich nie zugeben würde. Schon als kleine Kinder hatten Cecilia und ich uns nicht gut verstanden. Ich hatte das Gefühl, dass sie in mir eine Konkurrentin sah. Auch wenn ich versuchte, mich ihr anzunähern, lehnte sie mich ab. Auch deshalb konnten die Menschen nicht glauben, dass wir Zwillinge waren. Dass wir unterschiedlich aussahen, machte es natürlich noch unverständlicher. Es war fast so, als ob außerhalb meiner Familie noch nie jemand von zweieiigen Zwillingen gehört hätte.
An einem Samstag war ich mal wieder auf dem Weg zu meinem Lieblingsplatz. Dieser befand sich tatsächlich in dem unheimlichen Wald. Es war ein altes, verfallenes Haus, das direkt an einem See lag. In der Nähe gab es noch weitere einst bewohnte Häuser, aber diese waren fast nicht mehr erhalten. Oft waren nur noch die Grundmauern und vereinzelte Steine erkennbar. Aber nicht bei meiner Lieblingsruine. Hier gab es noch ein fast vollständiges Dach, so dass ich bei Regen nicht nass wurde. Ebenso gab es noch eine Tür, auch wenn diese verzogen war und verrottete. In den Wänden fehlten hier und da ein paar Steine, aber das war nicht schlimm. Somit hatte ich einen direkten Blick auf den nahe gelegenen See. Bevor ich losgegangen war, hatte ich meine Schwester gefragt, ob sie mitkomme, aber Cecilia hatte keine Lust. Sie blieb lieber im Bett liegen und schaute ihre Lieblingsserie, irgendeine Geschichte über einen Halbdämon aus dem Mittelalter, an.
So machte ich mich wie immer allein auf den Weg. Inzwischen hatte ich keine Angst mehr davor, in den Wald hineinzuspazieren. Der Wald hatte mir nach dem Umzug zunächst große Angst gemacht, ich spürte etwas Gefährliches und wollte mich von dort fernhalten. Aber es gab hier leider nicht viel, wohin man gehen konnte. Und da ich weder Lust hatte, in meiner Freizeit den ganzen Tag zu Hause zu bleiben, noch, in der Stadt Leuten zu begegnen, von denen ich wusste, dass sie mich nicht mochten, wie die neuen tollen Freunde meiner Schwester, hatte ich mich überwunden. Zuerst war ich immer nur ein paar Schritte in den Wald gegangen. Als ich merkte, dass es hier nichts gab, was mir gefährlich werden konnte, ging ich immer weiter hinein. Schon bald verbrachte ich viel Zeit in der Natur und entdeckte immer mehr tolle Sachen. Zwar war es manchmal noch etwas unheimlich, wobei ich nicht erklären konnte, woher das Gefühl kam, aber ich lernte, den Ort zu schätzen und das Mysteriöse zu genießen. Um ehrlich zu sein, gefiel es mir hier so gut wie sonst nirgends auf der Welt.
An meinem Lieblingsplatz angekommen, suchte ich mir eine bequeme Stelle und begann zu lesen. Ich war ein absoluter Bücherwurm und liebte es, mich in anderen Welten zu verlieren. So entging ich der Wirklichkeit und hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Wenn man las, hatte man keine Sorgen. Aber noch wichtiger war, dass ich Freunde hatte. Das war es, was ich am meisten in meinen Leben vermisste. Wieder einmal begleitete ich meinen Lieblingsmagier mit der blitzförmigen Narbe auf seinem Abenteuer. Sobald ich in die Welt der Fantasie abgetaucht war, war es eigentlich schwer, mich wieder zurückzuholen. Doch plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich nicht allein war. Besorgt schaute ich mich um, konnte aber niemanden erkennen. Ich versuchte, mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren, aber schon kurze Zeit später hatte ich erneut das Gefühl, dass hier noch jemand war. Panisch drehte ich mich um. Doch außer mir war niemand in der Ruine. Allerdings hätte ich schwören können,, dass ich für eine Sekunde eine Person erkannt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich solch eine Empfindung hatte, doch an diesem Ort bereitete es mir mehr Angst als woanders. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, jetzt weiterzulesen. Deshalb packte ich das Buch in die Tasche und machte mich auf den Weg nach Hause.
Den gesamten Heimweg überlegte ich, ob da jemand gewesen war oder mir meine Fantasie mal wieder einen Streich gespielt hatte. Ich grübelte darüber nach, zurück zur Ruine zu rennen, ließ es aber doch bleiben. Aufgrund dieses ständigen Hin und Hers dauerte es eine Weile, den Wald zu verlassen. In der Wohnung angekommen, schlurfte ich, nachdem ich meine Mutter mit einem kurzen »Hallo!« begrüßt hatte, direkt in das Zimmer von Cecilia und mir. Dort fand ich meine Schwester ausgestreckt und entspannt auf ihrem Bett. So wie es aussah, war ihre Sendung zu Ende. An Cecilia beeindruckte mich ihre widersprüchliche Art. Wenn sie nicht faul im Bett lag und Serien schaute, war sie unterwegs und machte was mit Freunden. Wahrscheinlich wollte Cecilia wie üblich ihre Ruhe. Doch das war mir jetzt egal. Ich war durcheinander aufgrund dessen, was ich erlebt hatte, und musste dringend mit jemandem darüber reden.
»Hey Cecilia, mir ist im Wald etwas Seltsames passiert.«
Zwar war ich mir nicht sicher, wie ich es erklären sollte, aber ich musste es versuchen.
Ohne sich umzudrehen, murmelte sie: »Ach, was soll da schon gewesen sein? Du warst in einem langweiligen Wald.«
Wieso merkte Cecilia nicht, wie verwirrt ich war? Vielleicht sollte ich es ihr doch nicht sagen.
»Ach, nichts.«
»Sophia, du bist echt seltsam. Aber wenn wir schon reden, ich habe dir was zu erzählen.«
»Äh, was gibt`s denn?«
»Du weißt doch, dass ich es hier total langweilig finde und ich mir nichts mehr wünsche, als dieses Nest zu verlassen und endlich wieder in unser altes Leben zurückzukehren.«
»Wie könnte ich das vergessen? Du redest doch über nichts anderes.«
»Sophia, jetzt echt mal, könntest du mich ausreden lassen? Ich höre dir immer zu, wenn du mal wieder über deine eigenartigen Buchwesen sprichst.«
Cecilia schaute genervt zu mir.
War ja klar. Ich antwortete ihr und sie meckerte mich an. Ich wollte ihr erklären, dass es keine Wesen, sondern außergewöhnliche Charaktere waren, von denen sie da sprach. Und dass es nicht schaden würde, wenn sie mal etwas mehr lesen würde. Doch da redete sie schon weiter.
»Jetzt bin ich mir sicher, ich werde es hier mühelos aushalten.«
Sie setzte ein verschwörerisches Lächeln auf.
»Und woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel?«
»Lass mich doch endlich mal ausreden. Mike möchte mit mir ausgehen.«
Jetzt war ich geschockt. Mike war der begehrteste Junge an unserer Schule. Er sah umwerfend aus mit seinen schwarzen Haaren und seinen dunkelblauen Augen. Seine Ist-mir-egal-Einstellung machte ihn unglaublich anziehend. Daher war es kein Wunder, dass jedes Mädchen in unserer Klassenstufe in ihn verknallt war. Na ja, jedes – bis auf mich. Aber nicht, weil ich Mike nicht toll fand, sondern weil ich wusste, dass eine graue Maus wie ich nie eine Chance bei ihm hätte. Dass er sich mit meiner Schwester verabredet hatte, ließ mich jedoch eifersüchtig werden. Ich gönnte es Cecilia, aber es war unfair. Ihr fiel es immer so leicht, Freunde zu gewinnen. Seit wir hier lebten, hatte ich nicht eine einzige Freundin gefunden. Die Leute redeten nur mit mir, wenn sie meine Hausaufgaben abschreiben wollten.
»Erde an Sophia, hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Bei der Frage fuchtelte Cecilia mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum.
»Ja, sorry, ich hab dir zugehört. Das ist ja der absolute Wahnsinn. Weißt du schon, was ihr dann unternehmen werdet?«
»Nein, so genau haben wir nicht darüber gesprochen. Er hat mir nur gesagt, dass er mich am nächsten Samstag um acht Uhr abholt und wir dann einen Film anschauen. Aber für mich wird das nicht die einzige Aktivität an dem Abend sein.«
Was das bedeutete, war klar. Sie würde alles daran setzen, ihn zu küssen. Und wenn sie erst seine Freundin wäre, hätte es Cecilia geschafft. Sie wäre dann das beliebteste Mädchen der Schule und hätte noch mehr Freunde als jetzt. Und ich wäre nach wie vor allein zu Hause mit meinen Büchern. Cecilia merkte, dass ich mit den Gedanken schon wieder woanders war, und entschied sich, nicht weiter mit mir zu reden.
Ich war froh, dass das Gespräch beendet war, denn ich käme ohnehin nicht dazu, darüber zu reden, was mir wichtig war, und ich hatte keine Lust mehr, mir die tollen Dinge aus Cecilias Leben anzuhören. Der restliche Tag verlief ereignislos. Cecilia schaute weiterhin fern oder schlief. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an, etwas für die Schule zu lernen. Ein paar Stunden später kam unser Vater heim und wir aßen gemeinsam zu Abend. Nach dem Essen ging ich wieder ins Zimmer. Meine Schwester verschwand im Badezimmer, um sich zu schminken. Sie wollte zu ihrer Freundin Nele. Cecilia brauchte ewig im Bad. Nachdem sie endlich fertig war, konnte ich meine Zähne putzen und mich umziehen. Der Tag hatte mich ziemlich geschafft, und ich wollte ins Bett. Als ich zurück im Zimmer war, sah ich, dass Cecilia gegangen war.
Sie hätte sich doch wenigstens von mir verabschieden können. Etwas Höflichkeit war doch wohl nicht zu viel verlangt, oder?
Da ich nichts mehr zu tun hatte, beschloss ich, ins Bett zu gehen. Doch bis es mir gelang, einzuschlafen, dauerte es echt lange. Ständig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Immer wenn ich es fast geschafft hatte, tauchte der Gedanke an das Geschehen in der Ruine auf. Deshalb versuchte ich, mich auf das Aufsagen meiner Lieblingsfiguren aus den unzähligen Büchern, die ich kannte, zu konzentrieren. Das war zwar etwas seltsam, aber manchmal half es mir beim Einschlafen.
Ich war bei den Figuren der magischen Welt der Zauberer angekommen, da übernahm die Müdigkeit meinen Körper. Ich glitt in einen komischen Traum, in dem mich immer wieder eine Person in der alten Ruine verfolgte. In den nächsten Tagen lief das Leben wie gewohnt. Cecilia und ich mussten in die Schule, und nach dem Unterricht lernte ich, während meine Schwester Zeit mit ihren neuen Freundinnen Nele und Lina verbrachte. Beide waren anmaßend und eingebildet. Sie machten sich ständig über mich lustig. Dabei hatte ich ihnen nichts getan. Was Cecilia an den Mädchen so super fand, würde ich nie verstehen. Aber immerhin hatte Cecilia Freunde. Ich war einfach so schüchtern, dass ich mich nicht traute, aufzufallen. Ich hatte mich angepasst, um so gut es ging unbemerkt zu bleiben, auch wenn ich mir eigentlich das Gegenteil wünschte. Ich redete nur mit jemandem, wenn meine Notizen oder Hausaufgaben gebraucht wurden. Und zu allem Übel stand am Ende der Woche eine wichtige Prüfung in Mathematik an. Mathe war mein schlechtestes Fach. Okay, ich hatte hier eine Drei, aber in all den anderen Fächern stand ich auf Eins.
Aufgrund des vielen Lernens dachte ich kaum an das Erlebnis in der Ruine. Langsam verblasste die Erinnerung, und ich war mir inzwischen sicher, dass ich mir das Gefühl nur eingebildet hatte. Am Freitag hatte das Lernen endlich ein Ende. Die Prüfung war nicht so schwer gewesen wie gedacht und ich hatte sicherlich eine gute Note geschrieben. Da der Lernstress weg war, hatte ich endlich den Kopf frei und bekam wieder Lust, meinen Lieblingsplatz aufzusuchen. Zwar hatte ich noch einen kleinen Rest des unheimlichen Gefühls in mir, aber ich wollte mir davon nichts verderben lassen. Daher beschloss ich, wieder in den Wald zu gehen. Als ich loswollte, kam meine Mutter zu mir und bat mich, ein paar Sachen für das Abendessen einzukaufen.
Konnte sie das nicht selbst machen? Wieso musste immer ich das tun?
Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Deshalb tat ich, was sie wollte. Sie hatte so viel auf die Liste geschrieben, dass ich lange brauchte, um alles zu bekommen. Als ich endlich wieder zu Hause war, musste ich meiner Mutter im Haushalt helfen. Ich fand es unfair, dass es nur an mir hängenblieb. Doch mein Protest, dass Cecilia auch etwas tun könne, schmetterte unsere Mutter ab.
»Sophia, du weißt, dass deine Schwester mehr Zeit für die Schule braucht. Es fällt ihr nicht immer alles so leicht wie dir.«
Ja, was das anging, hatte sie wirklich recht, ich war hervorragend in der Schule. Im Vergleich zu anderen Teenagern lernte ich gern. Cecilia hingegen hatte dabei große Probleme. Das nannte man wohl ausgleichende Gerechtigkeit. Doch ich würde all meine guten Noten hergeben, um endlich ein paar Freunde zu finden. Mir war klar, dass es auch jetzt keinen Sinn ergäbe, mit meiner Mutter zu diskutieren. Daher erfüllte ich einfach die Aufgaben, die sie mir gab. An meinem Plan, in den Wald zu gehen, änderte sich aber nichts. Immer wieder kreisten meine Gedanken darum, und ich hatte keine andere Wahl, als es herauszufinden. Nur so konnte ich mir sicher sein, dass das Phänomen echt gewesen war und dass ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Dass ich mir etwas einbildete, kam leider schon öfter vor. Ich hatte in meinem Leben immer wieder das Gefühl, dass etwas Geheimnisvolles mit mir passiert war. In meinen Träumen sah ich oft merkwürdige Bilder, die Menschen in einer anderen Welt zeigten. Manchmal, wenn ich emotional war, passierten seltsame Sachen. Am Ende konnte ich mir das zwar trotzdem logisch erklären, doch ein merkwürdiges Gefühl blieb. Ich spürte, dass ich mir die Person nicht eingebildet hatte, auch wenn kaum etwas zu erkennen gewesen war.
Am nächsten Tag bot sich endlich eine passende Gelegenheit. Meine Eltern waren nicht zu Hause, sie waren zu irgendeiner Infoveranstaltung für Eltern in der Schule eingeladen. Wieso das ausgerechnet an einem Samstag stattfand, verwunderte mich. Vielleicht weil an diesem Tag die wenigsten Eltern arbeiten mussten. Aber jetzt zählte nur, dass meine Eltern nicht zu Hause waren.
Cecilia war zwar da, doch sie beschäftigte sich mal wieder mit ihrer Lieblingstätigkeit, dem Vorführen ihrer neu gekauften Sachen. Dazu hatte sie sich mit Lina und Nele bei uns verabredet. Die beiden sollten ihr helfen, das perfekte Outfit zu finden. Heute Abend stand das große Date mit Mike an. Wenn die beiden da waren, verbrachte ich ungern Zeit in unserem Zimmer. Sie tuschelten ständig irgendeine Gemeinheit in meine Richtung.
So schnell wie möglich ging ich zur Ruine. Diesmal kam mir der Weg in den Wald noch länger vor. Vielleicht weil ich mir unsicher war, was mich erwarten würde. Manchmal wünschte ich mir so sehr, dass das, was ich gesehen hatte, real war, und dass es einen Grund gab, warum ich mich so anders fühlte. Im Moment war jedoch noch alles offen, und meine Hoffnung existierte noch. Dort angekommen, war ich mir nicht sicher, wie es weitergehen sollte. Es war niemand außer mir da und ich hatte kein ungutes Gefühl. Bis auf die Naturgeräusche des umliegenden Waldes konnte man nichts hören. Ich beschloss, erst einmal zu warten. Also setzte ich mich an meinen üblichen Platz und begann zu lesen.
Doch nachdem eine halbe Stunde lang nichts passiert war, kam mir der Gedanke, dass ich mir beim letzten Mal doch alles nur eingebildet hatte.
Na toll, jetzt war ich schon so verzweifelt, weil ich keine Freunde hatte, dass ich enttäuscht war, wenn mir keine fremden Personen auflauerten. Wenn Cecilia wüsste, dass ich meinen Samstag in dieser Ruine verbrachte, würde sie mich endgültig für verrückt erklären.
Enttäuscht wollte ich wieder aufbrechen, da nahm ich auf einmal ein seltsames Gefühl wahr. Ich schaute mich um und sah etwas. Ein rothaariges Mädchen in einem sonderbaren Outfit stand an der hinteren Wand. Ich hätte schwören können, dass sie vor wenigen Sekunden noch nicht da gewesen war.
»Hey, hast du vor, schon wieder wegzugehen?«
Mir klappte die Kinnlade runter.
Wer war das? Woher kam sie? Und was hatte sie da an?
Das Mädchen trug ein zartrosa Kleid aus einem feinen, fließenden Stoff. Dazu hatte sie eine Art Stoffschuhe an, die ich noch nie gesehen hatte. In ihren roten Haaren befand sich ein kunstvoller Kranz aus vielen bunten Federn. In Gedanken verpasste ich mir selbst eine kleine Ohrfeige. Ich musste mich jetzt konzentrieren. Wenn sie der Grund für das seltsame Gefühl beim letzten Mal war, musste ich herausfinden, was hier vor sich ging.
Doch was machte ich jetzt? Etwas erwidern oder schnell verschwinden? Vielleicht war sie gefährlich.
»Sophia, sag doch was.«
Die Stimme des Mädchens klang ein wenig genervt.
Ich antwortete: »Hallo. Wer bist du? Und woher kennst du meinen Namen?«
Sie schaute mich an, sagte aber nichts mehr.
Was war denn jetzt los? Erst beschwerte sie sich, dass ich nicht redete, und nun sagte sie selbst nichts mehr.
Eine Weile starrte mich das Mädchen nur an.
Sollte ich was sagen? Wieso sprach sie nicht?
Langsam fragte ich mich, ob es nicht besser wäre, nach Hause zu gehen.
Wenn sie nicht mit mir reden wollte, hatte es keinen Sinn, hierzubleiben. Ich wollte meinen Gedanken gerade in die Tat umsetzen.
Plötzlich sagte sie: »Hey, ich heiße Melody. Tut mir leid, dass ich dich so lange angestarrt habe. Es hat viel Kraft gekostet, hierherzukommen, und ich bin mir nicht sicher, ob es klug ist, mit dir zu sprechen. Deinen Namen habe ich gehört, als du mit dir selbst gesprochen hast. Zuerst dachte ich, du hast mich erkannt, aber dann verstand ich, dass du nicht mit mir geredet hast. Du bist wirklich ein wenig eigenartig.«
Sie fand, dass ich eigenartig war? Was passierte hier eigentlich gerade? Vielleicht wäre eine Einbildung doch die bessere Wahl gewesen.
Capitulum 2
Der Orbis
Ich stand jetzt wenige Zentimeter von dem Mädchen entfernt. Sie schaute mich interessiert an.
»Schön, dass wir uns jetzt so nahe sind. Ich war bereits öfters hier, aber ich habe mich nie getraut, von der Wand wegzugehen. Je weiter ich mich entferne, desto schwerer ist es, meine Kräfte einzusetzen. Da ich mir auch nicht sicher war, ob ich mit dir reden sollte oder nicht, bin ich dann wieder zurück in den Orbis gegangen.«
»Der Orbis, was ist das?«
Wieder antwortete sie nicht. Langsam verlor ich die Geduld. Ich wusste nicht, wer sie war und wovon sie da redete. Daher beschloss ich, den Druck ein bisschen zu erhöhen.
»Oh, ich sehe, es ist schon spät. Ich gehe jetzt lieber nach Hause. Meine Eltern fragen sich sicher, wo ich bin. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«
»Nein, du darfst nicht gehen. Ich habe lange gebraucht, um mich zu entscheiden, mit dir zu reden. Bitte hör mir zu.«
»Gut, dann sag mir, was du von mir möchtest und wie lange du mich schon beobachtest.«
»Es ist etwas kompliziert. Ich glaube, wenn ich es dir zeige, kannst du alles besser verstehen.«
Doch bevor ich eine Frage stellen konnte, packte mich das Mädchen am Arm und zog mich in Richtung Mauer.
Ich geriet in Panik: »Du hast doch nicht vor, was ich denke, oder? Willst du, dass wir durch diese Wand gehen? Das ist doch völlig verrückt!«
Sie blieb jedoch nicht stehen und zog mich weiter zur Mauer. Ich rechnete mit einem harten Aufprall. Doch auf einmal begann die Wand, in einem glänzenden Schimmer zu leuchten, und es hatte den Anschein, als würde sie nach und nach durchsichtiger werden. Ich war wie gebannt und schaffte es nicht, meinen Blick abzuwenden. Es gab einen Regenbogenlichtstrahl und ich stand auf der anderen Seite der Mauer. Es sah genauso aus wie in der Ruine, nur spiegelverkehrt. Nun standen wir beide da, zwei Mädchen aus scheinbar verschiedenen Welten. So unterschiedlich, aber dennoch ähnlich. Wir waren beinahe gleich groß und schienen im selben Alter zu sein. Ich hatte das Gefühl, in einem anderen Leben hätte ich Melody sein können. Ich betrachtete sie einige Zeit. Nach einer Weile fand ich meine Stimme wieder.
»Was zum Teufel ist passiert? Wo sind wir?«
»Wir, liebe Sophia, sind im Orbis.«
»Und warum hast du mich hierhergebracht? Wie war es mir möglich, durch die Wand zu gehen, und wieso bist du überhaupt in meiner Welt gewesen?«
»Weil es interessant war, dich zu beobachten. Du hast immer dort gesessen und in einer komischen Art von Liber gelesen.«
Liber? Warum verwendete sie das lateinische Wort für Buch? Sonst sprach sie doch auch normal.
»Das hat mich neugierig gemacht und daher kam ich immer wieder. Du hast mich nicht bemerkt, da ich meine Energie versteckt habe und so für dich unsichtbar war. Doch das letzte Mal, als ich dort war, bin ich etwas unvorsichtig gewesen, und du hast mich kurz bemerkt. Ich habe es an deinem Blick gesehen. Bevor ich mich zu erkennen geben konnte, warst du weg.«
Okay, das beantwortete zumindest schon mal ein paar Fragen, warf aber mindestens zehn neue auf.
»Aber das erklärt nicht, wieso du mich hierhergebracht hast und warum ich nicht gegen die Mauer geknallt bin.«
»Wie ich dir schon gesagt habe, es ist kompliziert. Was hältst du davon, wenn ich dir alles zeigen würde? Dann hast du die Möglichkeit, dir selbst ein Bild zu machen.«
»Was genau soll ich sehen?«
»Na, den Orbis, was hast du denn gedacht, Sophia?«
Ich wurde wütend: »Aber erklär mir doch wenigstens, wie ich hierherkommen konnte. Ich bin doch kein Geist, der einfach durch Wände hindurchschweben kann.«
»Sophia, ich weiß nicht genau, was ein Geist ist. Aber ich bin eine Lamia. Der Orbis ist unsere Welt und wir leben Seite an Seite mit der Menschenwelt. Und ob du es glaubst oder nicht, auch Menschen konnten einmal durch die Barriere gehen.«
Eine Lamia? Und Menschen konnten mal durch die Barriere gehen?
»Aber Melody, ich bin doch gerade durch die Barriere gegangen. Also können Menschen noch durchgehen.«
»Du bist kein Mensch, Sophia. Zwar war ich mir zunächst nicht völlig sicher, aber du bist eine Lamia. Noch weiß ich nicht, was für eine du bist, aber du bist eine. Menschen können nicht mehr allein durch die Barriere gehen, und ich habe zu wenig Kraft, um einen Menschen mitzunehmen.«
Kein Mensch? Kein Mensch. Aber das war unmöglich.
»Das ist doch völlig irre. Ich kann nichts anderes sein als ein Mensch. Wenn ich etwas anderes wäre, wüsste ich es doch. Und, hey, wenn nicht mal du dir sicher warst, wie konntest du mich dann zur Wand führen? Was ist, wenn du falschgelegen hättest? Dann wäre ich gegen die Wand gelaufen.«
Melody war genau wie ich verwundert über meinen Gefühlsausbruch. Normalerweise war ich nicht so direkt, aber ich war einfach so schockiert über diese ganzen Erkenntnisse. Melody bemerkte das.
»Sophia, es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich so aufregst. Ich war mir fast sicher, dass du eine Lamia bist, weil ich eine Energie bei dir spüren kann. Diese Energie gibt es bei Menschen nicht.«
Ich schloss die Augen und atmete ein paar Mal durch.
»Okay, aber wenn du sagst, dass ich kein Mensch bin, was bin ich dann? Was ist eine Lamia, und wieso bist du in meine Welt gekommen?«
»Wie ich bereits erwähnt habe, ist es nicht so einfach zu erklären. Ich muss dir erst einiges zeigen, damit du komplett verstehen kannst.«
Das Mädchen stand erwartungsvoll vor mir. Jetzt hatte ich genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich ließ mich darauf ein oder ich bat sie, mich nach Hause zu bringen. Doch wenn ich das machen würde, müsste ich mir für immer einreden, dass ich das alles nur geträumt hatte. Ich wusste nicht, warum, aber ich glaubte Melody. Sehr oft hatte ich das Gefühl, von etwas Mystischem umgeben zu sein. Allerdings hatte ich es auf die Begeisterung für Fantasybücher geschoben. Doch ein kleiner Teil in mir konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass noch mehr dahinterstecken musste.
Melody sah mich erwartungsvoll an.
»Und wie lautet deine Antwort, Sophia? Soll ich dir alles zeigen oder nicht?«
»Ja, ich bin bereit. Zeig mir den Orbis, und lass uns herausfinden, wer und was ich wirklich bin.«
Ich war entschlossen, hinter das Geheimnis zu kommen. Vielleicht würde ich diesmal eine Antwort auf all meine Fragen finden.
»Genau das wollte ich hören. Und jetzt lass uns keine Zeit verschwenden, ich möchte dir endlich meine Welt zeigen.«
Melody schnappte meine Hand, und plötzlich konnte ich eine unbekannte Energie spüren.
Ob Melody das auch spüren konnte? War das die Energie der Lamias?
Als wir dann vor die Tür traten, lag vor uns eine bezaubernde Blumenwiese. Hier blühten viele Blumen, die ich kannte, einige von ihnen waren unheimlich groß. Ich sah Rosen, die hatten die zehnfache Größe einer normalen Rose. Die Düfte waren stark, aber nicht zu aufdringlich. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um den Geruch deutlich aufzunehmen.
Irgendwie kam mir dieser Geruch bekannt vor. Aber rochen Blumen nicht immer gleich, egal, wo sie blühten?
In der Ferne konnte ich ein Meer sehen. Es hatte tiefblaues Wasser, und das Wellenrauschen war bis hierher zu hören. Nichts liebte ich mehr als dieses Geräusch. Es verschaffte mir sofort eine innere Ruhe, und ich fühlte mich komplett entspannt. Direkt vor uns, hinter der Wiese, befand sich eine Stadt mit kleinen Häusern, die aussahen, als würden sie aus einer längst vergangenen Zeit stammen. Statt mit Beton und Glas waren diese mit Lehm, Holz und Stroh gebaut, doch sie wirkten keinesfalls alt oder verfallen. Sie strahlten eine wahre Gemütlichkeit aus. Einige von ihnen waren mit wunderschönen Blumen und allerlei Schnickschnack wie Windspielen dekoriert. In meiner Welt hatte ich noch nie solch schöne Häuser gesehen. Heutzutage wollte man nur noch schick und modern bauen.
In der Mitte der Stadt stand ein überwältigendes Schloss. Es war in den Farben Weiß und Rot gehalten, mit vielen Blumen besetzt und hatte unzählige Türme, die in die Höhe ragten. Doch es wirkte nicht fehl am Platz, sondern eher so, als ob es das Herz dieser Stadt wäre. Das Schloss strahlte eine ungewöhnlich starke Energie aus, so dass ich den Drang hatte, dort hinzugehen. Es war einfach magisch.
Als ich mich umdrehte und an der Ruine vorbei schaute, konnte ich einen mächtigen Nadelwald erkennen. Er sah genauso aus wie der Wald in meiner Welt.
Seltsam, dass er auch hier so unheimlich wirkte. Was steckte nur dahinter?
Melody hatte mir etwas Zeit gegeben, um alles in Ruhe zu betrachten.
Überwältigt sagte ich: »Es ist unbeschreiblich schön hier. Ist das hier der Orbis?«
»Ja, liebe Sophia, das ist der Orbis. Die Welt und das Zuhause von uns Lamias. Es ist ähnlich wie in deiner Welt und doch wieder komplett anders.«
Sie hatte recht. Auf den ersten Blick sah vieles gleich aus: der Himmel, das Meer und die Stadt. Zumindest wenn man die Bauweise der Häuser berücksichtigte. Jedoch war vieles völlig anders. Die Luft wirkte reiner, und die Natur machte einen ausgeglicheneren Eindruck. Alle Dinge strahlten eine Art Energie aus.
»Was genau ist eine Lamia?«
Melody hatte diesen Begriff schon ein paar Mal genannt, und ich wollte wissen, was dahintersteckte. Ihrer Aussage nach war ich ja eine Lamia.
Offenbar hatte ich die richtige Frage gestellt, denn Melody begann sofort, zu sprechen.
»Es gibt einiges darüber zu sagen. Eine Lamia ist jemand, der die uralte Magie der Elemente beherrscht und so die Natur kontrollieren kann.«
»Die Magie der Elemente – meinst du damit Feuer, Wasser, Erde und Luft?«
»Ganz genau, eine Lamia beherrscht eines der vier Elemente. Daher gibt es auch vier verschiedene Linien. Die Ventum, die Aqua, die Terra und die Ignes. Jede Linie besitzt eigene Fähigkeiten: So können die Ventum fliegen, die Aqua beherrschen das Wasser, und die Terra sorgen dafür, dass der Boden fruchtbar ist und alles wächst. Die Ignes sind die Herrscher über das Feuer, und das macht sie gleichzeitig zu den Mächtigsten von uns Lamias. Deshalb sind sie die Wachen der Königslinie und die Beschützer aller Lamias im Orbis.«
Okay, das hatte ich verstanden: vier Elemente, vier Linien und vier unterschiedliche Fähigkeiten. Aber was war die Königslinie?
»Die Königslinie? Was hat es damit auf sich?«
Melody schien zu überlegen, so als müsste sie genau nachdenken, bevor sie etwas sagte.
»Die Königslinie ist die Linie, die alle vier Elemente vereint. Daher sind die Lamias, die aus dieser Linie stammen, sehr mächtig. Sie können ihre Kraft aus allem ziehen, was es hier gibt.«
Ich fragte mich, warum diese Lamias überhaupt beschützt werden mussten, wenn sie so mächtig waren.
»Wenn ich das richtig verstehe, sind die Mitglieder der Königslinie die Regenten eurer Welt.«
Auf einmal wurde Melodys Blick traurig, und sie drehte sich von mir weg.
»Nicht ganz, es gibt zwar einige Lamias aus dieser Linie, aber regiert werden wir nur von einer, und zwar von der Ahawa Lamia.«
Als Melody die Worte aussprach, spürte ich ein vertrautes Gefühl. Mein Gesichtsausdruck musste Bände gesprochen haben.
Melody sagte: »Die Ahawa Lamia ist unsere Königin. Sie ist aus der Königslinie und vereint somit alle vier Elemente und zusätzlich das fünfte Element. Und bevor du wieder fragst, das fünfte Element ist die Liebe.«
»Ich habe noch nie gehört, dass die Liebe ein Element ist. Menschen können die anderen Elemente nicht beherrschen. Und wenn Liebe ein Element ist, dann könnte ein Mensch auch nicht lieben. Aber jeder Mensch auf der Welt kann lieben. Ob es nun die Liebe zwischen einem Paar oder die Liebe zu den eigenen Kindern ist. Bedeutet das, dass außer der Ahawa Lamia niemand Liebe empfinden kann?«
Melody schaute mich etwas irritiert an: »Die Liebe, von der du sprichst, ist nicht vergleichbar mit der Liebe, über die die Ahawa Lamia Macht besitzt. Wüsstest du, was für eine Kraft das ist, würdest du diese Dinge nicht als Liebe bezeichnen.«
»Ist das dein Ernst? Du sagst, dass so etwas Selbstverständliches wie die Liebe nur von einer einzigen Lamia beherrscht werden kann. Egal, was für eine Macht sie auch hat. Liebe ist für jeden fühlbar, und es ist unmöglich, dass die anderen Lamias für nichts und niemanden Liebe empfinden.«
Erschrocken schaute sie zu mir. Das, was ich gesagt hatte, musste sie verstört haben. Sie öffnete zwar den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
Dann antwortete sie: »Das habe ich so nicht gesagt. Wir empfinden Liebe, sowohl füreinander als auch für die Natur. Allerdings ist die Liebe, die von einer Ahawa Lamia ausgeht, eine andere Art der Liebe. Diese Liebe ist rein und stark. Eine Ahawa kann mit ihrer Liebe alles reinigen und alle Herzen öffnen. Sie vertreibt somit das Böse aus der Welt. Nur sie allein schafft es, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse zu erhalten.«
Eine besondere Art der Liebe, die das Gleichgewicht der Mächte halten konnte? Ich würde nur zu gern sehen, wie diese Königin aussah und wie diese Art von Liebe funktionierte.
»Melody, hast du die Ahawa Lamia schon mal gesehen? Ich möchte unbedingt einen Blick auf sie werfen und verstehen, was es mit dieser Art von Liebe auf sich hat.«
Melodys Augen füllten sich mit Tränen. Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen und ich wollte Melody um Entschuldigung bitten. Doch sie kam mir wieder zuvor.
Schluchzend sagte sie: »Es tut mir leid, Sophia, aber das wird nicht möglich sein. Seit einigen Jahren gibt es keine Königin mehr. Die letzte Ahawa Lamia ist verschwunden. Es gibt Gerüchte, dass sie durch dieses Portal in die Menschenwelt geflohen ist. Deshalb war ich so oft in deiner Welt. Ich wollte sie finden, aber statt ihrer fand ich dich.«
Die letzte Königin war in meine Welt geflohen, aber warum?
»Aber Melody, wie ist das denn möglich? Ich dachte, eine Ahawa Lamia ist die Einzige, die das Gleichgewicht der Mächte halten kann. Wer hat denn diese Aufgabe übernommen?«
»Im Moment wird das Gleichgewicht durch die Königslinie gehalten. Das funktioniert allerdings nur, da es im Moment keine allzu finsteren Mächte im Orbis gibt. Aber es liegt ein Wandel in der Luft, etwas Böses scheint sich zu formieren. Wenn das geschieht und wir bis dahin keine Königin haben, wird unsere Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren.«
»Es muss doch jemanden geben? Kann die Königslinie nicht mehr als eine Ahawa Lamia vorbringen?«
Melody schüttelte den Kopf und erzählte mir, es komme, wenn überhaupt, pro Generation nur einmal vor, dass ein Kind mit der Macht der Ahawa Lamia geboren werde. Und seit dem Verschwinden der Königin habe es keine neue gegeben.
Ich fragte Melody, warum die Königin verschwunden sei. Genau wusste sie es nicht. Sie sagte nur, dass es vor etwa siebzehn Jahren passiert sei, weil sich die Königin in einen Ignes verliebt habe. Zuerst verstand ich nicht, warum die Königin deshalb verschwunden war, aber Melody machte mir klar, dass eine Liebe zwischen der Königsfamilie und ihren Wächtern, den Ignes, verboten war.
Wieso wurde so etwas in einer Weltverboten, in der so viel Wert auf Liebe gelegt wurde?
Ich war völlig in meinen Gedanken versunken. Mir wollte einfach nicht in den Kopf gehen, warum die Liebe verboten war, so dass die Königin die eigene Welt verlassen musste.
»Melody, du musst mir erklären, warum die Königin geflohen ist. Ja, ich verstehe, dass die Liebe verboten ist, aber die Königin kann die Regeln ändern, oder?«
Melody sagte, dass es nicht nur der Ahawa Lamia, sondern allen Lamias verboten sei, sich mit Lamias aus anderen Linien zu verbinden. Melody erzählte weiter und es wurde klar, dass dies jedoch nicht immer so gewesen war. Früher war es den Lamias erlaubt, den zu lieben, den sie wollten. Doch eines Tages wandte sich dann ein Nachkomme namens Fatum, der die Linien des Windes und des Feuers in sich vereinte, gegen die Königslinie. Melody wusste nicht, warum er es getan hatte. Darüber wurde nicht gesprochen. Viele Lamias starben bei diesem Aufstand. Als schon fast alles verloren war, zog die damalige Ahawa Lamia gegen Fatum in den Kampf. Sie schaffte es zwar, ihn zu besiegen, und vermutlich hatte er nicht sehr gelitten, da die Königin sehr stark und gnädig war. Aber leider verlor die Königin im Kampf auch ihr eigenes Leben. Der Verlust der geliebte Königin war so schrecklich und die Lamias waren so erschrocken darüber, dass der Krieg sofort endete. Danach hatte die Königslinie beschlossen, dass es keine Nachkommen mehr aus verschiedenen Linien geben durfte. Auch viele der Lamias hielten das für eine gute Idee, da sie erlebt hatten, dass die eigene Königin bei so etwas sterben konnte.
Melody erzählte mir, man habe nicht nur ein Gesetz erlassen, sondern alle Kinder, die aus solch einer Verbindung stammten, gefangen genommen und getötet.
Was? Wie konnte jemand nur so grausam sein und unschuldige Kinder töten? Die Lamias waren doch selbst betroffen von dem Verlust. Außerdem hatten viele der Idee zugestimmt. Wie konnte man sie nun dafür noch bestrafen?
In mir kochte eine immense Wut hoch. Zudem verwirrte mich alles, und ich hatte eine Unzahl an Fragen.
Wieso war ich nur so wütend? Ja, das Schicksal der Kinder war grauenhaft, aber eigentlich betraf es mich doch nicht. Aber ich konnte Ungerechtigkeit einfach nicht hinnehmen.
Eines beschäftigte mich aber besonders und ich musste Melody sofort danach fragen.
»Aber Melody, warum entsteht das Böse jetzt? Die Flucht der Königin liegt doch schon viele Jahre zurück.«
»Sophia, es entsteht nicht, sondern es ist dabei, sich zu erheben. Als die Ahawa Lamia damals ging, war das für all diejenigen, die wegen des Verbots ihre Kinder oder Partner verloren hatten, die perfekte Gelegenheit, eine Rebellion anzuzetteln. Es wird vermutet, dass sich diese Lamias, wenn sie stark genug sind, zusammentun und das Schloss angreifen.«
Was? Es sollte zu einem Krieg kommen, in dem wieder unzählige Lamias ihr Leben verlieren könnten? Bedeutete das, dass auch Melody in Gefahr war?
In dem Moment beschloss ich, dass ich versuchen würde zu helfen. Zwar wusste ich nicht, wie, aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass in einer Welt, die meiner so nah war, bald Unschuldige sterben würden. Mit diesem Wissen konnte ich nicht weiterleben. Vor allem dann nicht, wenn eine Person eine arglose Entscheidung getroffen und damit eine ganze Welt verdammt hatte. Das war nicht fair – und ich wusste schon jetzt, dass ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte.
Auf keinen Fall.
Capitulum 3
Fragen über Fragen
Der Orbis, eine Welt, die ich nicht kannte, aber zu der ich mich dennoch hingezogen fühlte, schwebte in Gefahr. Es sei denn, bald käme eine Ahawa Lamia und würde das Gleichgewicht der Mächte wieder in Einklang bringen.
»Melody, danke, dass du mir all das erzählt und gezeigt hast. Ich möchte dir helfen, aber ich weiß nicht, wie. Vielleicht sollte ich erst mal in meine Welt zurück. Sicher werde ich dort schon von meinen Eltern vermisst.«
Ich schaute auf meine Armbanduhr und sah, dass bereits zwei Stunden vergangen waren. Ich hatte meinen Eltern nicht gesagt, wohin ich heute gehen würde, und es gab guten Grund zu der Annahme, dass mein Handy hier keinen Empfang hatte. Wenn meine Eltern von der Schulveranstaltung zurück waren und mich nicht erreichten, würden sie sich sicher Sorgen machen. Zudem musste ich unbedingt meine Gedanken ordnen.
Melody schaute mich erstaunt an.
»Was? Du möchtest jetzt schon zurück? Du hast doch nichts gesehen. Bist du denn überhaupt nicht neugierig, zu welcher Art von Lamias du gehörst und wieso du in der Menschenwelt aufgewachsen bist?«
»Glaub mir, es gibt nichts, was mich mehr interessiert. Aber ich bin schon zu lange von zu Hause weg.«
Melodys Gesichtszüge hellten sich auf. Sie erklärte mir, dass die Zeit im Orbis anders vergehe.
Eine Stunde hier sei eine halbe Stunde in der Menschenwelt. Ich hätte genug Zeit, weil zu Hause erst die Hälfte der Zeitspanne vergangen sei. Ich freute mich und war erleichtert, dass ich den Orbis etwas genauer erkunden durfte.
»Schon überredet, dann lass uns losgehen.«
Freudestrahlend nahm Melody meine Hand und befahl mir, stillzustehen. Sie ging um mich herum und legte von hinten die Arme um mich, so als würde sie mich umarmen.
Plötzlich spürte ich wieder diese Energie wie in der Ruine, als Melody meine Hand genommen hatte. Die Energie wurde immer stärker, und in mir breitete sich eine angenehme Wärme aus. Ich war so fasziniert von dem Gefühl, dass ich nicht bemerkte, dass meine Füße vom Boden abhoben und ich zu schweben begann. Als es mir bewusst wurde und sich mein Körper immer mehr vom Boden entfernte, schrie ich erschrocken auf.
»Mach dir keine Sorgen und vertrau mir, ich halte dich fest.«
»Du hast vorhin gesagt, dass du nicht stark genug bist, um mich durch das Portal zu bringen, aber nun soll ich dir glauben, dass du mich halten kannst, während wir immer weiter nach oben steigen?«
»Das ist ein gutes Argument. Aber ich bin eine starke Ventum, das Fliegen ist meine Natur, und ich werde nicht allzu hoch fliegen. Wenn ich dich fallen lasse, kann ich dich sicher rechtzeitig wieder fangen.«
»Na, jetzt bin ich völlig beruhigt.«
Melody kicherte und verstärkte den Druck ihrer Arme, die meinen Körper umschlangen. Irgendwie wusste ich, dass sie mich nicht fallen lassen würde.
Seltsam, dass ich diesem Mädchen mein Leben anvertraute, obwohl ich sie nicht wirklich kannte.
Als wir noch etwas höher stiegen, konnte ich einen genauen Blick auf die Ruine werfen, aus der wir gerade gekommen waren. Diese Ruine war ähnlich wie in der Menschenwelt mal ein Haus gewesen, und ich wunderte mich, dass es hier genauso aussah wie auf meiner Seite. Aber mehr konnte ich mir nicht ansehen, da Melody weiter nach oben flog. Meine Angst wurde wieder größer, und ich kniff die Augen zusammen. Melody musste gespürt haben, dass ich mich anspannte, und begann, ein wenig zu sinken. Wir waren immer noch in der Luft, aber mit dieser Höhe konnte ich mich mehr oder weniger anfreunden.
Wir flogen eine Zeitlang, und die Ruine war immer weniger zu erkennen. Jetzt, da wir etwas weiter weg waren, konnte ich den großen Wald hinter der Ruine überblicken. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich ein kleines, verfallenes Haus, das direkt am Anfang des dunklen Waldes stand. Es war von einigen Bäumen und Sträuchern halb verdeckt, und man sah es nur aus einem gewissen Winkel. Deshalb hatte ich es vorher nicht gesehen.
Wieso stand da nur dieses eine Haus?
Wieder überkam mich eine Welle der Angst und ich schloss erneut die Augen. Ich versuchte, ruhig zu atmen und mich zu entspannen. Auch das blieb Melody nicht verborgen und sie reduzierte die Höhe noch ein bisschen. Tatsächlich konnte ich mich etwas beruhigen. Ich versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Es war herrlich, den Wind auf der Haut zu fühlen und diese imponierende Welt von oben zu betrachten. Wir waren mittlerweile einige Meter von der Ruine entfernt, so dass ich mir die Stadt etwas genauer anschauen konnte. Obwohl die Häuser anders aussahen, passten sie perfekt in diese Welt.
Von hier aus konnte ich sowohl die faszinierende Blumenwiese und das blauglitzernde Meer als auch die beeindruckende Stadt in ihrer ganzen Schönheit überblicken. Auf einmal schwankte Melody, und ich schrie. Sofort war meine Entspannung verschwunden.
Melody entging das nicht: »Tut mir leid, Sophia, ich war kurz etwas abgelenkt.«
»Du warst abgelenkt? Melody, ich habe dir mein Leben anvertraut, bitte sei vorsichtiger. Ich möchte nicht sterben, bevor ich weiß, wer ich eigentlich bin.«
»Keine Angst, ich bin jetzt wieder voll konzentriert, und es ist Jahre her, dass ich jemanden habe fallen lassen.«
»Was? Du hast schon mal jemanden fallen lassen? Lass mich sofort runter, ich möchte nicht mehr fliegen!«
Die war doch völlig verrückt. Wieso hatte ich mich darauf eingelassen?
Aber Melody machte keine Anstalten, den Flug zu beenden.
Ich wollte schreien, da sagte sie: »Es tut mir leid, Sophia, ich wollte dir keine Angst machen. Ich habe dich sicher, und du wirst nicht fallen. Der Vorfall, den ich meinte, ist Jahre her. Ich war noch sehr klein und hatte gerade erst angefangen, meine Kräfte zu trainieren. Ich hatte mich überschätzt und meine Freundin Bera fallen lassen. Sie ist auch eine Ventum und höchstens einen Meter tief gestürzt. Nun sind meine Kräfte voll entwickelt, und ich kann dir garantieren, dass du nicht fallen wirst.«
Auch diesmal wusste ich, dass ich Melody glauben konnte. Ich atmete wieder ein paar Mal tief durch und versuchte, mich zu entspannen. Nach einiger Zeit gelang es mir sogar. Ich bemerkte, dass diese Welt eine Geborgenheit und Vertrautheit ausstrahlte, die ich in der Menschenwelt niemals empfunden hatte, von dem Wald einmal abgesehen.
Wie merkwürdig, jetzt bezeichnete ich meine Welt schon als Menschenwelt.
Aber ich fühlte mich dem Orbis jetzt schon vertrauter, als mir lieb war.
Einige Minuten herrschte Stille. Dann sagte Melody: »Hey, Sophia, genießt du deinen Flug jetzt ein bisschen? Wenn du jetzt nach unten schaust, erkennst du das Viertel der Ventum.«
Seltsamerweise genoss ich den Flug nun wirklich, auch wenn mir etwas mulmig dabei war, nach unten zu sehen.
Ich musste es wagen, ich wollte das nicht verpassen.
Ich schaute hinunter und sah eine Ansiedlung von gemütlich aussehenden Hütten. Sie waren sehr einfach gehalten und aus Holz und Stroh gebaut. Es gab zu jedem Gebäude einen bezaubernden Garten, und die Häuser waren mit Windspielen dekoriert. Melody setzte zur Landung an, und ich war froh, wieder auf festem Boden zu stehen. Der Flug war nervenaufreibend und ungewohnt gewesen. Zwar konnte ich ihn an ein paar Stellen genießen, aber am Ende war mir der feste Boden doch lieber. Als ich mich umschaute, sah ich, dass wir vor einem kleinen, aber herrlichen Haus standen.
Melody sah mich fröhlich an: »Hier wohne ich mit meiner Mutter. Es ist nichts Besonderes, aber ich lebe gern hier.«
Das Haus war wie die anderen Hütten im Viertel gebaut und wirkte äußerst gemütlich. An den Wänden hingen ebenfalls zahlreiche Windspiele, und überall blühten die faszinierendsten Blumen, die ich je gesehen hatte.
Also sagte ich zu Melody: »Ich finde es perfekt.«
Melody strahlte über das ganze Gesicht.
Es war nett, dass Melody mir ihr Haus zeigte, aber wollten wir nicht herausfinden, welche Art von Lamia ich war?
Als ob sie erneut meine Gedanken gelesen hätte, sagte Melody: »Meine Mutter ist eine alte Ventum ...«
In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, wurden Melodys Augen groß, und sie schaute sich panisch um. Als sie sah, dass wir allein waren, fuhr sie hastig fort.
»Oh Gott, sag ihr bloß nicht, dass ich gesagt habe, sie wäre alt. Sie ist sehr sensibel, wenn es um ihr Alter geht.«
Ich musste kichern, weil sich Melody solche Gedanken wegen einer kleinen Aussage machte.
Sie fuhr fort: »Aber was ich eigentlich sagen wollte, sie hat schon viel miterlebt und kann uns sicher dabei helfen, herauszufinden, zu welcher Linie du gehörst. Außerdem ist sie die Beraterin der Ventum für die Königslinie.«
Melody und ich gingen ins Haus und durchquerten dieses schnurstracks, so dass wir direkt im Garten ankamen. Dort saß eine kleine, etwas pummelige Frau mit weißen Haaren auf einer Bank.
Wieso waren ihre Haare weiß? Vom Aussehen her würde ich sie nicht älter als meine Eltern schätzen. War sie deshalb so sensibel, wenn es um ihr Alter ging?
Als sie uns hörte, schaute sie auf. Ich konnte sofort erkennen, dass es Melodys Mutter war. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Sie hatten beide die gleichen Augen und das gleiche freundliche Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, dass sich ihre Augen weiteten.
»Schatz, du bist zurück, und wie ich sehe, hast du uns einen Gast mitgebracht.«
Melody lief zu ihrer Mutter und umarmte sie. Es war herzlich, und ich merkte, dass die beiden eine tiefe Liebe verband.
Wieso konnte ich die Gefühle anderer so deutlich wahrnehmen?
»Ja, Mama, ich bin wieder da, und das ist meine Freundin Sophia. Ich habe sie aus der Menschenwelt mitgebracht, und zwar durch das Portal an der äußeren Wiese. Du weißt schon, neben dem verfallenen Haus am Waldrand.«
Jetzt wurden die Augen von Melodys Mutter eindeutig größer. Sie schien überrascht und verwirrt zu sein. Aber vor allem konnte man Angst und Sorge in ihrem Blick erkennen.
»Was hast du da gesagt? Du bist durch das Portal gegangen? Du weißt, dass es uns strengstens verboten ist, dort hinzugehen!«
Sie war erschüttert über die Aussage ihrer Tochter.
Melody schaute reumütig: »Mama, ich weiß, dass es verboten ist. Aber ich musste doch etwas machen. Dort wurde die verschwundene Königin das letzte Mal gesehen.«
»Ja, du hast recht, dort wurde die ehemalige Königin zum letzten Mal gesehen, aber das ist schon siebzehn Jahre her. Wie bist du auf die Idee gekommen, dass du sie dort finden könntest? Es war unglaublich gefährlich und verantwortungslos.
Du bist mein einziges Kind und wenn dir etwas passieren sollte, könnte ich es nicht ertragen.«
Die Frau stand auf und nahm ihre Tochter erneut in die Arme. Die Wut war nun verflogen und es blieb nur Dankbarkeit darüber, dass Melody nichts passiert war.
Nachdem der erste Schock überwunden war, löste sie sich von ihrer Tochter und begann, mich genauer anzuschauen.
»Du bist Sophia? Mein Name ist Alba, ich bin Melodys Mutter und die Beraterin der Ventum. Du kommst also aus der Menschenwelt. Und da du durch das Portal gekommen bist, kannst du kein Mensch sein. Wusstest du, dass du eine Lamia bist?«
Alba nahm mich bei der Hand, und wir setzten uns auf die Bank, auf der sie zuvor gesessen hatte. Ich erzählte ihr, dass ich bis vor ein paar Stunden nicht gewusst hätte, dass der Orbis überhaupt existiere. Meine Familie und das Leben in der Menschenwelt schienen sie zu interessieren, und sie hörte mir aufmerksam zu, bis ich meine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Nachdem ich fertig war, schaute mich Alba liebevoll an. Ich konnte spüren, dass sie ein grundgutes Wesen hatte. Als sie mich erneut am Arm berührte, floss eine angenehme Wärme durch meinen Körper.
Wieso hatte ich das vorher nicht gefühlt? Hatte Alba vielleicht wie Melody ihre Kraft verborgen?
»Können Sie jetzt, da Sie alles über mich wissen, herausfinden, aus welcher Linie ich bin? Dafür gibt es doch sicherlich einen Test, oder?«
Alba erklärte mir, dass es nicht so kompliziert sei, wie ich mir das vorstelle. Sie als Beraterin könne durch eine einzige Berührung spüren, ob ich die Energie der Ventum in mir trage. Wenn sie nichts fühle, könnten wir diese Linie ausschließen, und sie würde mich zu den anderen Beratern bringen, das klassische Ausschlussverfahren. Außerdem wolle sie, dass ich sie duze.
Da sie mich schon zweimal berührt hatte, müsste sie inzwischen doch wissen, ob ich zu den Ventum gehöre. Oder nicht? Musste sie sich dafür etwas länger auf mich konzentrieren?
Ich gab Alba erneut meine Hand. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Auf einmal fachte der Wind auf, Alba öffnete ihre Augen wieder und sah mich erschrocken an.
Sie sprach zu Melody, wendete den Blick aber nicht von mir ab.
»Bring Sophia bitte sofort zurück zum Portal, und achte darauf, dass euch niemand sieht!«
Mich zurückbringen? Aber ich war doch gerade erst angekommen. Was hatte Alba beim Berühren meiner Hand verspürt?
Ich musste es wissen, keinesfalls würde ich den Orbis ohne eine Antwort verlassen.
»Alba, was hast du gespürt?«
Erst zögerte sie, doch nach weiterem Drängen sagte sie mir, dass ich keine reine Ventum sei. Ich besitze zwar die Macht des Windes, doch könne sie bei mir die Kraft einer der anderen Linien wahrnehmen. Wenn die Königslinie das herausfinde, würde sie glauben, ich sei eines der Kinder aus der Verbindung zweier Linien, und dann würden sie mich jagen und töten.
Was, mich töten? Ich war doch nicht von hier, was für eine Gefahr konnte ich schon darstellen?
»Alba, bevor ich gehe, musst du mir ein paar Fragen beantworten. Ich kann einfach nicht in meine Welt zurück, bevor ich die Informationen habe.
Außerdem hat uns bestimmt niemand gesehen, für den Moment sollte ich hier also sicher sein.«
Alba überlegte einen Moment und stimmte mir dann mit einem Kopfnicken zu.
»Was möchtest du wissen?«
»Melody hat mir bereits erzählt, was die vier Linien und die Königslinie sind, welche Fähigkeiten es gibt und dass vor langer Zeit ein Krieg stattgefunden hat. Seitdem sind Kinder aus unterschiedlichen Linien verboten. Ich weiß auch von den Gräueltaten der Königslinie und der Flucht der letzten Ahawa Lamia. Mir ist auch bekannt, dass es, wenn überhaupt, nur alle paar Jahre ein Kind gibt, das die Macht der Ahawa Lamia besitzt. Wenn bereits siebzehn Jahre seit dem Fluch vergangen sind, warum gibt es dann keine neue Ahawa Lamia? Die Königslinie existiert doch noch. Auch würde ich gern wissen, wie sich die Kräfte einer Lamia zusammensetzen und ob jede Lamia über die Kraft verfügen kann. Melody hat mir erzählt, dass man dafür trainieren muss.«
Auch diesmal hörte mir Alba sehr genau zu. Sie blieb lange still, begann dann aber zu sprechen.
»Die grundsätzlichen Sachen hat dir Melody bereits erzählt, und ja – wir Lamias müssen all unsere Kräfte trainieren. Die Kraft vererbt sich von den Eltern an die Kinder. Sind die Eltern aus einer Linie, bekommen auch die Kinder diese Kraft. Allerdings muss diese Kraft trainiert werden. Zum einen, damit sie stärker wird, und zum anderen, damit sie kontrolliert werden kann. Außerdem besitzt jede Lamia, egal, aus welcher Linie sie kommt, Selbstheilungskräfte. Das entsprechende Element kann die Heilung sogar noch beschleunigen. Hat eine Lamia die volle Kontrolle über ihre Kräfte, so besteht die Möglichkeit, ein fast unsterbliches Leben zu führen. Das ist auch der Grund, warum es nicht in jeder Generation eine Ahawa Lamia geben muss. Es wird zwar immer ein Kind geboren, das diese Kraft besitzt, aber wenn es noch eine Königin gibt, dann muss das Kind den Platz später nicht einnehmen und kann ein ganz normales Leben als Mitglied der Königsfamilie führen. Die verschwundene Königin war die Einzige aus der aktuellen Königsfamilie, die diese Kraft hatte. Und wenn in einer Lamia mehr als eine Kraft zu spüren ist, müssen die Eltern aus unterschiedlichen Linien kommen. Als Ventum spüre ich die Kraft des Windes in dir, aber ich kann nicht sagen, welche die andere Kraft ist.«
Ich war ein Nachkomme verschiedener Linien? Waren meine Eltern deshalb aus dem Orbis geflohen? Hatten sie geplant, mich vor dem Verbot der Königslinie zu beschützen? Oder waren sie gar nicht meine Eltern? Vielleicht wurde ich in der Menschenwelt ausgesetzt, dort dann gefunden und aufgezogen. Waren Cecilia und ich überhaupt Zwillinge?
Als ich so darüber nachdachte, kam mir noch ein anderer Gedanke.
War es möglich, dass meine Mutter keine einfache Lamia war, sondern die verschwundene Ahawa Lamia Das war vielleicht weit hergeholt, aber nicht unmöglich.
Ich wollte Alba meine Gedanken mitteilen, aber dazu blieb keine Zeit. Ich sah, wie sie Melody ein Zeichen gab. Auf einmal ging alles ganz schnell. Melody packte mich wieder von hinten und wir flogen hoch in die Luft. Ich hatte nicht mal mehr die Gelegenheit, mich von Alba zu verabschieden. Melody flog schneller als beim ersten Mal. Sie stellte die Anweisung ihrer Mutter nicht eine Sekunde infrage. Nach kurzer Zeit landeten wir wieder am Rande der Blumenwiese. Mir wurde klar, dass Melody vorhin nur für mich so langsam geflogen war. Da diesmal alles so schnell ging, hatte ich nicht mal Zeit, Panik zu bekommen. Melody ließ mich los und befahl mir, mich zu beeilen. Ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben, obwohl ich mir sicher war, dass uns bisher niemand bemerkt hatte. Sie wollte nicht, dass mir ihretwegen etwas passierte, denn immerhin hatte sie mich hierhergebracht. Ich protestierte, weil ich nicht in die Menschenwelt zurückwollte. Nicht, solange ich so gut wie nichts über mich und meine Herkunft erfahren hatte.
Aber der Ausdruck auf Melodys Gesicht ließ keine Widerrede zu.
»Ich weiß, dass du viele Fragen hast, aber du bist hier nicht sicher. Wenn du tatsächlich mindestens zwei Linien in dir vereinst, stellst du eine Gefahr für die Königslinie dar. Und wer weiß, was passiert, wenn die Rebellen dich in die Finger bekommen.«
Sie hatte recht, ich war hier nicht sicher. Und solange die Gefahr so groß war, würde ich keine Antworten bekommen.
Mit dieser Erkenntnis beschloss ich, erst einmal in die Menschenwelt zurückzukehren. Außerdem musste ich herausfinden, was meine Eltern über die ganze Sache wussten.
Waren sie aus dem Orbis, oder hatten sie mich nur gefunden und aufgezogen? War meine Familie eigentlich meine Familie, und falls ja, warum hatten sie mich jahrelang belogen?
Dass ich kein Mensch war, stand fest und ich würde nicht eher aufhören, bis ich die Wahrheit erfahren hatte. Schnell erzählte ich Melody von meinem Vorhaben und ihre Augen begannen zu leuchten. Wir machten den Plan, dass ich hierher zurückkommen würde, sobald ich mit meinen Eltern geredet hatte. Melody würde sich jeden Tag in der Nähe des Portals aufhalten, um auf meine Rückkehr in unsere Welt zu warten. Melodys Worte lösten in mir ein enormes Glücksgefühl aus. Sie hatte recht, diese Welt war meine Welt. Ich spürte, dass ich hierhingehörte. Und eines Tages würde ich zurückkommen.