Ahrtrüffel - Marion Demme-Zech - E-Book

Ahrtrüffel E-Book

Marion Demme-Zech

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine Leiche auf einer Trüffelplantage im Ahrtal macht den Unternehmer Peter Siedenburg und die Journalistin Greta Schönherr zu unfreiwilligen Partnern. Siedenburgs Firma droht der Ruin, da die Keimfähigkeit seiner eigenen Trüffeln erschöpft ist. Als er bei der Suche nach neuen Trüffeln auf eine stark verweste Leiche auf seinem Grund stößt, gilt er schnell als Mörder. Greta Schönherr soll seine Unschuld beweisen. Sie vertraut Siedenburg nicht, doch sie wittert eine große Story und lässt sich auf einen gefährlichen Deal ein.

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Marion Demme-Zech / Frank Krajewski

Ahrtrüffel

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Schwarzes Gold Das Trüffelimperium von Peter Siedenburg steckt in großen Schwierigkeiten. Mithilfe eines Wundermittels konnte Peter Siedenburg zwar die Trüffelproduktion stark beschleunigen, allerdings verloren die damit behandelten Pilze ihre Keimfähigkeit. Natürlich gewachsene Trüffel scheinen die einzige Rettung für das Unternehmen zu sein. Siedenburg hofft, sie auf einer ehemaligen Trüffelplantage zu finden. Dort stößt er auf die Leiche eines seit Jahren vermissten Mitarbeiters. Schnell ist klar, der Mann wurde ermordet. Um Schwierigkeiten mit der Polizei zu vermeiden, hält er den grausamen Fund geheim. Das erweist sich als fataler Fehler, denn durch einen anonymen Anruf gilt Siedenburg plötzlich als Hauptverdächtiger.

Einzig die Journalistin Greta Schönherr kann ihm nun noch helfen, indem sie den wahren Mörder aufspürt. Mit gemischten Gefühlen stellt sich die ehrgeizige junge Frau dieser Aufgabe. Dabei begibt sie sich auf eine Reise in die Welt der Trüffel und in die Vergangenheit, was lange Verdrängtes ans Tageslicht fördert …

Marion Demme-Zech wurde im Saarland geboren. Dort lebt sie noch heute, mit Tochter und Mann direkt unterhalb einer Burg. Sie studierte Erziehungswissenschaft, Soziologie und ein bisschen Bauingenieurwesen. Anfänglich schrieb sie pädagogische Autorenbeiträge, in den letzten Jahren folgten Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien.

Frank Krajewski lebt in Remagen und ist geprüfter Pilzsachverständiger der Deutschen Gesellschaft für Mykologie. Er arbeitet als Pilzführer, Referent für pilzspezifische Vorträge in Deutschland, Frankreich, Ungarn und als Berater bei Pilzvergiftungen an Kliniken. Außerdem ist er ein gefragter Experte in diversen Fernseh- und Radiosendungen und hat an einem Trüffel-Kochbuch mitgearbeitet. Gemeinsam mit Marion Demme-Zech ist er in Anthologien mit finsteren Pilzgeschichten vertreten.

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung(E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © volff / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6244-3

Privattruffière und Firmengelände Siedenburg GmbH in Bad Bodendorf 16.11.2034, 9.14 Uhr

Tuber uncinatum – da war er. Er legte den Arm um ihn, wie ein alter Freund, den man lange nicht gesehen hatte. Um seine Anwesenheit zu bemerken, hätte es den Olfaktor, dessen Maske auf seinem Gesicht saß, gar nicht gebraucht. Nicht einmal die feuchte Luft der ersten Novembertage konnte das intensive Aroma zerstreuen. Der Mann mit den in die Jahre gekommenen schwarzen Wanderstiefeln und der dunklen Jacke war an diesem Tag ungewöhnlich früh zur Trüffelsuche aufgebrochen. Die Erwartung, nein vielmehr die Jagdlust, hatte ihn nicht schlafen lassen. Er war hungrig nach dem unverwechselbaren Geruch, der wie Nebel über dem verwitterten Laub der Haselbüsche hing. Der betörende Trüffelduft drängte, presste, scheuchte alles andere an den Rand des Denkens. Der Firmenchef hatte seinen Alltag verlassen und war in eine Welt eingetaucht, die einen archaischen Jagdtrieb in ihm weckte.

Es war außerordentlich still auf der Truffière. Der Wind hielt den Atem an, und nicht ein einziger Lufthauch störte die ungewöhnliche Ruhe, die sich über das Gelände gelegt hatte. Peter Siedenburg bemerkte diesen Umstand kaum. Während der Suche drang nichts an ihn heran. Er spürte weder das Alter noch die schmerzende Hüfte und vergaß selbst die vielen Probleme, die ihm seit Wochen im Nacken saßen. Er fühlte sich, als wäre er nach einer Ewigkeit endlich wieder zu Hause. Alles hatte hier begonnen, die Erinnerung drängte ihm die absonderlichsten Gedanken auf. Die Suche auf dem alten Gelände machte ihn auf seltsame Weise rührselig, fastmelancholisch. Womöglich war es Zeit für ihn geworden, er war längst im Alter, um sich zur Ruhe zu setzen. Hatte er nicht langsam genug von all dem Ärger, den beständigen Scherereien in der Firma?

Finanziell bräuchte er sich genau genommen nicht zu sorgen, wenn er seine Situation völlig sachlich betrachtete. Bei dem, was er besaß, würde es für ein paar durchaus gesättigte Leben reichen. Obwohl er auf Anraten seiner Steuerberater Privat- und Firmenvermögen streng getrennt hatte, packte Peter dann und wann die Befürchtung, er könnte eines Tages trotzdem noch einmal, wie damals in seiner Kindheit, bitterarm sein.

Peter Siedenburg suchte den Boden ab. Zwei oder drei Haubenmeisen störten die Ruhe und zeterten über seinem Kopf in den unteren Zweigen von mehreren Eichenriesen. Nicht mit ihm, sondern wegen Eichelhähern und Elstern, die sich mit nicht weniger lautem Gekrächze bemerkbar machten.

Alles hatte sich verändert, sogar hier, ging es dem Firmenchef durch den Kopf. Noch vor wenigen Jahren wäre dieses Verhalten der Meisen undenkbar gewesen. Zu dieser Jahreszeit flogen sie normalerweise überlegenen Gefiederten aus dem Weg. Es hätte nichts zu verteidigen gegeben und nichts zu versorgen, doch jetzt war die letzte Brut vor drei Wochen geschlüpft – die vierte in nur einem Jahr. Nichts war mehr normal: Die stetig hohen Temperaturen stellten das natürliche Verhalten in der Vogelwelt auf den Kopf. Sie bauten ihre erste Nestanlage bereits im Januar. Seit einigen Jahren gab es auch im Winter ausreichend Nahrung – ebenso wie genügend Fressfeinde.

Siedenburg schaltete den Olfaktor ab, entfernte die Maske von seiner Nase und ließ sie am Hals herabbaumeln. Dieses eigens entwickelte Messinstrument brauchte er nur selten. Trotzdem war er stolz auf seine Erfindung, die die Anwesenheit von Trüffel durch ein akustisches Signal anzeigte und – das war das Besondere an diesem Set-up – Trüffelduft sicher in die Nase leitete, ohne dass er den Rücken krumm machen musste. Mit scharfem Blick suchte er den beinah vegetationslosen Waldboden ab. Einige Insekten sprangen ihm ins Auge, die über einem Laubhügel schwirrten.

»Chapeau! Da kannst du auch nicht mehr weit sein, mein Freund«, murmelte Siedenburg und ließ den Rucksack auf den Waldboden sinken.

Er war seinem Ziel nah. Die vor ihm aufsteigenden rotäugigen kleinen Monster waren solide Marker für Trüffel. Fliegende Trüffelhunde sozusagen. Sein Puls hämmerte.

So schnell es mit seinen verschlissenen Hüften ging, kniete er sich hin und verscheuchte die Biester mit den Händen. Luft wirbelte auf, und den flüchtenden Insekten folgte ein aus dem Laub aufsteigender Geruch nach dem, was Siedenburgs Sinne am meisten erregte. Es war wie ein Rausch, jedes Mal von Neuem. Sein fortgeschrittenes Alter änderte nichts daran. Er schob Laub und Lößerde beiseite. Die Handgriffe waren routiniert, bald schon ertasteten die Fingerkuppen die typisch raue Oberfläche eines Trüffels. Der Fruchtkörper verströmte ein Aroma, das direkt in Siedenburgs Hirn zog und nicht den kleinsten Zweifel zuließ: ein enorm großer Tuber uncinatum, definitiv – gemeinhin als Burgundertrüffel bekannt. Eine früher meist verachtete, jedoch besser duftende Variante des Tuber aestivums, dessen märchenhafter Aufstieg die Trüffelmärkte vor einigen Jahrzehnten durcheinandergewirbelt hatte. Das Trüffelfieber hielt seitdem an, und die Absatzchancen waren über die Jahre hinweg prächtig geblieben.

Siedenburgs Augen glänzten. Er hatte die ehemalige Truffière und das darum liegende weitläufige Waldgebiet trotz der ebenfalls auf dem Gelände befindlichen, stetig wachsenden Produktionshallen aus nostalgischen Gründen bewahrt. Auch dabei hatte er den richtigen Riecher bewiesen. Dieser Fund nun würde seiner Firma einen satten Gewinn einbringen. Der Trüffel schien stattlich zu sein. Aufgrund des ungewöhnlich großen Ausmaßes schätzte Siedenburg, die Sporenmenge der Knolle dürfte für gut 5.000 Infektionen ausreichen.

Ein Geschenk des Himmels, urteilte der Firmenchef erleichtert, denn damit könnten sie 5.000 Hasel- oder Eichensetzlinge mykorrhizieren. Was sich für einen Laien vielleicht kompliziert anhörte, war für Siedenburg zwar Alltag, aber trotzdem jeden Tag von Neuem eine Sensation. Es war ihm in den letzten Jahren gelungen, die für die Kultivierung von Trüffeln notwendige Symbiose zwischen Pilz und Wurzel gezielt voranzutreiben und zu steuern. Das war die Grundvoraussetzung dafür, dass man Trüffel gewinnbringend anbauen konnte. Zwar spielte immer noch der Zufall eine Rolle, aber mit den Jahren hatte der Firmenchef erkannt, was es alles brauchte, um das Feinwurzelsystem eines Baums oder Strauchs in richtiger Weise mit den Trüffelsporen in Kontakt zu bringen und ein Wachstum der Pilze zu initiieren. Es war eine erstaunliche Symbiose – ein Zusammenspiel zwischen Pilz und Pflanze, von dem beide profitierten: Die ungewöhnliche Partnerschaft sorgte bei der Wirtspflanze für eine vergrößerte Wurzeloberfläche. Dadurch war sie weit besser mit Wasser und Nährstoffen versorgt. Aber auch der Pilz war bei dieser seltsamen Zweckgemeinschaft ein Gewinner. Über die Wurzelzellen nahm er Kohlenhydrate und insbesondere Glucose auf. Selbst konnte er dies nicht produzieren, da er nicht über das dafür notwendige Blattgrün verfügte. Eine harmonische Beziehung also und nach Meinung von Siedenburg glücklicher als die meisten Verbindungen, die es auf Menschenseite gab.

Mittlerweile war der Firmenchef im Bereich des Trüffelanbaus seinen Konkurrenten weit überlegen. Es gelang ihm, fast jede beliebige Baumart und Büsche zu mykorrhizieren. Die gezielte Besiedelung der Wirtspflanzen mit den Symbiosepilzen war für ihn ein Kinderspiel, solange seine Firma über die dafür notwendigen Sporen verfügte.

Die verdammten Sporen waren in dem ganzen Ablauf die einzige vertrackte Stelle, dachte Siedenburg, als er darauf wartete, dass sich auf der anderen Seite der Leitung jemand meldete. Gerade trat er über seinen Comchip, der auf den ersten Blick wie eine schlichte Uhr anmutete, sich aber auf den zweiten als technisches Wunderwerk offenbarte, mit seinem Abteilungsleiter aus dem Bereich Mykorrhizierung in Verbindung. »Sergej? Hallo. Ich bin fündig geworden. Wann könnt ihr vor Ort sein?«

»Halbe Stunde, Mister Siedenburg. Labor ich mach fertik mit Svetlana.«

»In Ordnung. Bis gleich.«

Man würde einen Trupp vorbeischicken, während Sergej gleichzeitig alle notwendigen Vorbereitungen im Labor einleitete. Siedenburg nickte, obwohl ihn niemand sehen konnte. Er wollte den Comchip stummschalten, da er einiges zu erledigen hatte, bis der Trupp eintraf, doch Sergej meldete sich erneut: »Jeannette sagen grade mir: Mister Siedenburg an Pressetermin erinnern. Bitte!«

Peter ächzte und deaktivierte den Comchip mit seinem Daumen. Das Display klappte um und schob sich automatisch zusammen. Nun war es nicht mehr viel größer als eines der früheren Zweieurostücke. Als gäbe es nichts Bedeutenderes auf der Welt als dieses Interview, dachte Siedenburg. Jeannette war seine Vertriebsleiterin. Tüchtig, ohne jede Frage, und stets um sein Image besorgt. Doch ihr fehlte jeglicher Weitblick. Im Moment rettete er die Firma und sicherte damit ihr und all den anderen Schmarotzern den Job.

»So, jetzt werden wir dich Schmuckstück mal ernten«, flüsterte Siedenburg, als er sich wieder seinem Fund zuwandte. Das fachgemäße Heraushebeln des Trüffels würde er übernehmen, nicht diese Pfuscher. So ein Fund musste mit äußerster Sorgfalt extrahiert werden, immer im Bestreben, den Trüffel nach Möglichkeit in einem Stück und unbeschadet zu bergen. Zu diesem Zweck nahm der Firmenchef die Fundstelle ein zweites Mal in Augenschein. Er fuhr mit den Fingern an den Konturen des Trüffels entlang. Er saß beharrlich fest im Boden. Nicht auszuschließen, dass die Baumwurzel, welche ihn versorgte, ihn fest in ihren Fängen hielt, sagte sich Siedenburg. Das würde die Angelegenheit weitaus komplizierter machen.

Der Firmenchef holte aus seiner Kühltasche ein Trüffelmesser, mit dem er in einem großzügigen Radius um den Trüffel in den Boden einstach. Er grub in aller Ruhe, fast zeremoniell. Vor ihm lag ein Schatz, ein Juwel aus der Welt der Trüffel. Der Fund war reines Gold wert und würde ihm ein paar Wochen Zeit verschaffen. Auch wenn das letztlich nur ein Aufschub und nicht die Lösung war, das wusste er.

Mit dem Messer schob Siedenburg die ausgestochene Erdmasse in die Höhe. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln. Ein sonderbarer Moment, der Peter befremdete, denn es gab nur wenige Dinge, die ihn mit Freude erfüllten.

Die raue Kugel erhob sich majestätisch, steckte aber immer noch fest. Es knirschte, als der Firmenchef einen Klumpen lehmiger Erde aus der Vertiefung hob und zur Seite schob. Ein bizarres Geräusch. Erst als er sich wieder zur Grabstelle hinwendete, registrierte er sie. Siedenburg sprang auf. Sein Mund stand offen, die Augen traten aus ihren Höhlen. Das Messer rutschte ihm aus der Hand und versenkte sich in den Boden. Da war nicht einfach nur ein Trüffel. Peter Siedenburg hielt seine Hände weit von sich gestreckt, so weit wie er nur konnte, als habe er sie gerade in Blut gebadet.

Dies kam der Wahrheit sehr nah, obwohl nüchtern betrachtet hier schon lange kein Blut mehr fließen durfte. Siedenburg wollte es, doch er konnte sich nicht von dem grauenerregenden Fund abwenden. So etwas hatte er nie zuvor gesehen: Der Trüffel, den er angehoben hatte, wurde von fünf Fingern einer skelettierten Hand gehalten. Ein gelblich-weißes Geflecht umgab die Knochen. Siedenburg starrte den Trüffel an, der zwischen Daumen und Zeigefinger festsaß, und bemerkte einen Ring, der am Ringfinger steckte. Was den Firmenchef von allem am meisten verstörte, war der Umstand, dass er von der ersten Sekunde an wusste, zu wem diese Hand gehörte. Er hatte den goldenen Ring und die darauf abgebildeten Symbole sofort erkannt.

Siedenburg stolperte fluchtartig rückwärts und strauchelte. Er stürzte und wurde von einem der Bäume abgebremst. Den Kopf gesenkt, darauf konzentriert ruhig zu atmen, verharrte er dort. Alles um ihn herum drehte sich. Die Gedanken an die damaligen, für Jahre verdrängten Ereignisse, waren mit einem Schlag wieder präsent. Jetzt, da sich die Realität ihm in so brutaler Weise aufdrängte, gab es keinen Zweifel: Der Hochstapler war damals nicht einfach untergetaucht, wie Peter inständig gehofft hatte. Irgendwas, oder genauer gesagt irgendwer, hatte dafür gesorgt, dass er für immer und ewig verschwunden blieb.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er das bereits befürchtet. Ja! Und exakt deswegen hatte er alle Erinnerungen an jene Tage in die entlegenste Schublade seines Gedächtnisses gesteckt und nie mehr hervorgeholt. Im Vergessen und Verdrängen war Siedenburg ein Ass – doch jetzt, bei diesem Anblick, war das Ausblenden der Tatsachen ein Ding der Unmöglichkeit. Alles war wieder da, als wäre es gestern gewesen. Peter Siedenburg zwang sich zur Ruhe. Es gab keinen Grund, in Panik zu geraten, redete er sich ein, denn er war kein Gefühlsmensch. Er war ein rationaler Denker. Gefühlsduselei war ihm immer schon zuwider gewesen, seine Nüchternheit würde auch diesmal seine Rettung sein.

Als sich Siedenburg allmählich einigermaßen unter Kontrolle hatte, überlegte er, wie er weiter vorgehen sollte. Er durfte aus dem ersten Entsetzen heraus nichts Unüberlegtes machen, denn eins war klar: Niemandem wäre in irgendeiner Weise geholfen, wenn er jetzt die Polizei riefe. Tot ist tot. Daran ließe sich nichts ändern. Und eine Leiche in seinem Wald wäre bei der gegenwärtigen äußerst vertrackten Lage nicht gerade ideal. Dilettantische Schnüffler, die seine Firma auf den Kopf stellten, wären so ziemlich das Letzte, was er derzeit brauchte. Deshalb würde Peter Siedenburg alles daran setzen, diese lange zurückliegenden Ereignisse in Vergessenheit zu belassen.

Er bewegte sich zögernd auf die Fundstelle zu, den Kopf abgewandt. Im nahen Umfeld der Hand angekommen, ging er in die Knie und beugte sich vor. Er hielt die Luft an, während er mit spitzen Fingern nach dem Myzel fasste. Die Knochen wollte er unter keinen Umständen berühren.

Die Skeletthand jedoch war nicht bereit, ihren Schatz ohne Gegenwehr freizugeben. Eisern hielt sie den Trüffel mit ihrer fleischlosen Faust umschlossen. Siedenburg zog entschlossener. Zu entschlossen vielleicht, denn es knirschte abscheulich und Siedenburg trat erneut den Rückzug an. Ein abgetrenntes Fingerglied, das sich gelöst hatte, sprang ihm hinterher. Von kopflosem Schrecken erfasst, fiel Siedenburg abermals nach hinten auf den Boden. Er kroch mit weit aufgerissenen Augen rückwärts und entdeckte dabei die Speiche des Unterarms, die wie ein Fahnenmast aus der Erde ragte. Ringsum auf dem Waldboden lagen die Glieder der Hand, wie ein vernachlässigtes Puzzle.

»Verdammt«, raunte Siedenburg, da vernahm er einen zarten Laut, ein leises Rascheln, das sich auf ihn zubewegte. Er schaute sich misstrauisch um. Die Atmosphäre war gespenstisch, selbst für einen nüchternen Menschen wie ihn. Das Geräusch stammte von dem Trüffel, der, aus seiner Gefangenschaft erlöst, zielsicher auf den Firmenchef zukullerte, als wüsste er genau, wo er hingehörte.

Siedenburg überlegte nicht lange, sondern griff zu. Er sagte sich, dass er nun habe, was er wolle, stand schwerfällig auf und verstaute den Trüffel in seiner Kühltasche. Sein Wunsch war es, diese leidige Episode möglichst schnell zu vergessen, und der Rest der Welt sollte von all dem überhaupt erst gar nichts erfahren. Dafür würde er sorgen. Also scharrte er Laub, Erde, Äste, Steine – alles, was er greifen konnte – zusammen und überdeckte damit den Fundort, bis die Stelle wieder vollkommen gewöhnlich aussah und nichts mehr an den grausigen Fund erinnerte.

Danach sank er am Fuße einer der alten Eichen nieder. Er entfernte die Olfaktormaske vom Hals und legte die Hände vor sein Gesicht. Es würde dauern, bis die anderen vor Ort eintrafen, und so lange musste er die Nerven bewahren.

Was für ein Wahnsinn, dachte er, als er sich allmählich fasste. Als hätte er nicht genug Ärger am Hals, musste ihm auch das noch passieren. Er war wie vom Unglück verfolgt. Warum, um alles in der Welt, hatte er auf diesem weitläufigen Gebiet nur auf dieses verfluchte Skelett treffen müssen. Das war sein Wald! Sein Revier. Einzig an diesem Platz fand er Ruhe und Abstand; all das, was er im Moment sehnlichst vermisste.

Innenstadt von Sinzig 16.11.2034, 9.14 Uhr

Mein Gott, wie lange war ich schon nicht mehr hier, fragte sich Greta, als sie ziellos durch die Stadt spazierte. Sinzig, das Tor zur Eifel, hatte sich seit ihrem letzten Besuch in Kindheitstagen in eine Metropole verwandelt. In den Schulferien hatte sie die gemütliche Kleinstadt oft mit ihren Großeltern besucht. Stets nach dem gleichen Schema: Zuerst zog es sie zum Schloss, im Anschluss daran schlenderten sie durch die Gassen, suchten sich einen Gasthof, und am Nachmittag fuhren sie zum naheliegenden Bad Bodendorf. Für Greta stets der Höhepunkt des Tages. Während andere Kinder sich in Spaßbädern amüsierten oder wieder andere sich in Freizeitparks die Seele aus dem Leib schrien, hatten sie und ihre Großeltern mit viel Begeisterung jedes Museum besichtigt, das sich in anfahrbarer Entfernung befand. Die Leidenschaft für alles Technische teilte Greta mit ihrem Großvater, und so stand damals auch das Technikmuseum in Bad Bodendorf mit der alten Kohlensäuregas-Verflüssigungsanlage, die Greta bereits als Kind fasziniert hatte, auf ihrem Ausflugsprogramm. Wären ihre Eltern in jenen Tagen ein wenig hellhöriger gewesen, so hätten sie den späteren Berufswunsch ihrer Tochter möglicherweise erahnt und ihnen wäre eine von zahlreichen Enttäuschungen über ihren Nachwuchs erspart geblieben, sagte sich Greta bitter, während sie das alte Sinziger Schloss betrachtete. Früher war es an diesem Ort idyllisch und still gewesen, doch jetzt versammelten sich auf dem Schlossvorplatz zahllose Pilztouristen, die im Stundentakt zu Stadtführungen aufbrachen. Im Slalom lief sie um die Scharen der Wartenden herum, immerzu versucht, keines der vielen Standschilder, die Seminare, Ausstellungen und historische Führungen zum Thema Trüffel anpriesen, zu rammen. Dass an einem normalen Wochentag ein derartiger Ansturm herrschen könnte, damit hatte sie nicht gerechnet.

Greta brauchte keine Führung. Auch wenn sich vieles verändert hatte, konnte sie sich noch grob in der Stadt orientieren. Sie streifte durch die Schlossstraße hinauf in Richtung Kirchplatz, wo für heute ein Trüffelmarkt angekündigt war. Es war ernüchternd. In der Tat gab es nicht mehr viel, was noch an ihre Kindheitsbesuche erinnerte. Kein Wunder, denn Sinzig war durch den unvorhersehbar schnellen Aufstieg der Siedenburg GmbH in Bad Bodendorf zu einem Zentrum der Trüffelproduktion geworden, und das hatte der Stadt – zumindest wirtschaftlich – einen sagenhaften Aufschwung beschert. Die Einwohnerzahl hatte sich im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Die Zahl der Trüffeltouristen, so fühlte es sich in jedem Fall für Greta an, musste sich hingegen verzehnfacht haben.

Städtereisen im eigenen Land oder gar in den Süden verlegten die Urlauber heutzutage bevorzugt auf den Herbst oder das Frühjahr. Seitdem man in den vergangenen Jahren aus Sicherheitsgründen viele der beliebten Inseln und Halligen in der Nordsee hatte räumen müssen, bevor sie beinahe spurlos verschwunden waren, zog es die Menschen in den für gewöhnlich unerträglich heißen Sommern meist noch weiter in den Norden. Schweden, Norwegen, Island – in diesen Ländern herrschte von Ende April bis September Hochkonjunktur. Statt eines überhitzten Sommerurlaubs gönnte man sich heute, wenn man es sich irgendwie leisten konnte, eine erfrischende Pause. Und so herrschte hier in Sinzig, obwohl es mitten im November war, Hochsaison. Zumal dieser Monat die beste Zeit für Pilze und Trüffel war.

Greta erinnerte sich lebhaft an die Zeit, in der der Trüffelboom ins Rollen gekommen war. Sie war damals von der Grundschule zum Gymnasium gewechselt. Rund 20 Jahre dürfte es her sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten einige Naive gehofft, dass der Klimawandel lediglich ein Schreckgespenst sei, welches sich im günstigsten Fall in naher Zukunft als wissenschaftlicher Irrtum erweisen sollte. Es gab sogar Politiker, die trotz aller Warnungen behauptet hatten, ungewöhnlich kalte Winter würden die Theorie der globalen Erwärmung widerlegen.

Unbegreiflich, wie blauäugig man in jenen Tagen gewesen war, überlegte Greta. Die Erinnerung weckte in ihr ein Gefühl des Unbehagens, denn auch wenn man mittlerweile in allen denkbaren Bereichen Maßnahmen zur Senkung des CO2-Ausstoßes eingeleitet hatte, war die Phase des Umbruchs längst nicht vorbei. Keine Ahnung, wohin das alles führen sollte. Heute sind wir schlauer, entschuldigten viele Politiker und andere Verantwortliche die Versäumnisse der Vergangenheit, aber hatte man nicht damals auch schon gewusst, dass es längst Zeit zum Umdenken war?

Es hatte zahlreiche Vorboten gegeben, die ankündigten, was unwiderruflich kommen sollte. Ungeachtet dessen hatten zahlreiche Länder versucht, die Sache auszusitzen, oder hatten darauf gewartet, dass irgendein anderer endlich etwas unternahm. Ein gewaltiger Fehler, wie sich später herausstellte, denn so trat die Klimaverlagerung weitaus schneller ein als erwartet, und die bald nicht mehr zu ignorierende, radikale Umwälzung der Vegetationsbedingungen machten selbst dem einfältigsten Menschen klar, dass hier eine ungeheuerliche Sache vor sich ging. Die Welt, wie man sie kannte, wandelte sich – in unglaublicher Geschwindigkeit. Es hatte sich angefühlt wie eine Revolution – nur diesmal ohne menschliche Beteiligung. Die Natur hatte sich zur Wehr gesetzt, und an ein Aufhalten der verheerenden Entwicklungen war zu jenem Zeitpunkt der Geschichte nicht mehr zu denken. Man hatte den möglichen Wendepunkt längst überschritten.

Auf die Weise erfuhren auch die klassischen Trüffelregionen in Italien und Frankreich einen tiefgreifenden Wandel. Der Mangel an Wasser ließ viele Arten aus ihren ursprünglichen Wuchsgebieten verschwinden. Man versuchte alles, um die Entwicklung aufzuhalten. Mit Bewässerungsprogrammen, die Unsummen verschlangen, kämpfte man darum, der Trockenheit der Böden entgegenzuwirken. Doch alle Bemühungen blieben wirkungslos, der Weggang der Trüffel war unwiderruflich. Innerhalb weniger Jahre warfen die Truffièren keinen Gewinn mehr ab. Es gab gewalttätige Proteste der Trüffelbauern und anderer Erwerbslandwirte in Italien, Frankreich über den Balkan hinweg bis in den fernsten Osten. Niemand der Protestierenden wusste dabei, wogegen oder wofür sie auf die Straße gingen. Sie waren außer sich vor Wut, und irgendjemand musste schließlich an der Misere schuld sein.

Die traditionellen Trüffelgebiete verloren kontinuierlich an Bedeutung, gleichzeitig verfestigte sich ein mediterranes Klimaprofil in Deutschland. Während die südlichen Trüffelgebiete mit ihrem Misserfolg rangen und nach wirtschaftlichen Alternativen suchten, erlebte Sinzig einen Aufschwung, mit dem niemand gerechnet hätte. Die unversehens hohen Gewinn erzielende Truffière im Ahrgebiet, die man zu Beginn eher als Freizeitbeschäftigung einiger Pilzfreaks belächelt hatte, lag mit einem Schlag ganz weit vorn. Sinzig war quasi über Nacht die Trüffelhauptstadt Deutschlands geworden.

Überall wimmelte es seitdem von Feriengästen, und die Bewohner der Stadt hatten sich geschäftstüchtig auf diesen Andrang eingestellt. Ein Souvenirladen schloss sich an den nächsten, ungeachtet der Tatsache, dass sich das Angebot, wie so oft, kaum unterschied. Jeder wollte sein Stück von der Torte. Selbst die Siedenburg GmbH, die fraglos zu den größten Gewinnern dieses Wandels zählte, mischte im Stadtgeschehen mit. Ihre kugelrunden Trüffelbuden schossen innerhalb kürzester Zeit wie Pilze aus dem Boden und versprachen Gourmet- und Schnellgenuss. Was für eine wahnwitzige Mischung, dachte Greta, als sie an einer der Buden vorbeispazierte und die Schlange vor dem Tresen ausmachte.

Da das Klima, sogar jetzt mitten im November, auffallend mild war, saßen draußen auf den Mauern und den Stühlen noch viele Gäste und kosteten verschiedenste Trüffelkreationen. Trüffellasagne, Trüffelbrot, Suppe mit Trüffelsahne, in der Auslage des Trüffelspezialitätengeschäfts bot man Süßwaren mit Trüffelaroma an. Anscheinend verwendete man Trüffel mittlerweile für beinah alles oder besser gesagt in allem. Durch das vermehrte Angebot war das schwarze Gold im Grunde für jedermann erschwinglich geworden. Trotzdem hatte es sich auf seltsame Weise seine Exklusivität bewahrt und repräsentierte einen Lebensstil, mit dem viele sympathisierten.

Greta rümpfte die Nase. Ihr war all dies zuwider. Auf sämtliches Repräsentative verzichtete sie liebend gerne. Hätte sie jemand nach ihrer Meinung gefragt, so hätte sie ihm gesagt, dass die Stadt durch die vielen Veränderungen ihre Ursprünglichkeit verloren habe. Das alles hier erinnerte Greta an ihre Eltern, die bewusst ein solch »gehobenes« Leben pflegten – und dies war womöglich einer der Hauptgründe, warum sie Trüffel in keiner Weise etwas abgewinnen konnte.

Aber egal, sagte sich die junge Journalistin, die so oder so nicht aus kulinarischem Interesse in diese Region gereist war. Auf sie wartete ein Auftrag, und der würde, wenn man dem, was man über Peter Siedenburg hörte, glauben wollte, kein leichter sein. Gegen elf hatte sie einen Termin auf seinem Anwesen in Remagen. Die Journalistin musste sich eingestehen, dass sie nervös war. Nicht zuletzt, weil sie noch viel zu viel Zeit bis zu dem Treffen hatte. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, beschloss Greta, rein aus Gründen der Recherche, es mit einer der Trüffelbuden zu versuchen.

Siedenburgs Vertriebsleiterin, die mit ihr den Pressetermin vereinbart hatte, schien tüchtig zu sein, ging es Greta durch den Kopf, als sie näher an den Trüffel-Imbiss, oder wie immer man das nennen wollte, herantrat. Sie hatte im Rahmen ihrer Vorarbeiten zum Interview erfahren, dass es ihre Ansprechpartnerin gewesen war, die dem Trüffelimperialisten geraten hatte, jeder der Buden einen eigenen Namen und ein angesagtes Retrodesign zu verpassen. Das Konzept ging auf. Nahezu alle Stühle waren belegt, und Greta suchte nach einem freien Platz.

Just in diesem Moment wurde ein Tisch mit zwei Stühlen am Rand des Imbisses mit dem Namen »Zur schwarzen Knolle« frei. Greta eilte los, bevor ihr ein anderer zuvorkommen konnte, und setzte sich. In der Annahme, dass es doch auch mit Sicherheit etwas Trüffelfreies geben müsste, griff sie nach der Karte und machte bald ein langes Gesicht. Ein einziges Trüffeldrama, so weit das Auge reichte. Es war eine Weile vergangen, bis die Bedienung an ihrem Tisch eintraf.

»Schönen guten Morgen, hat etwas gedauert. Aber jetzt bin ich für Sie da. Was darf es sein?« Eine behaglich dunkle Stimme unterbrach Greta, die damit begonnen hatte, noch einmal die Vorbereitungen zu ihrem Interview durchzugehen. Sie schaute auf und straffte in der gleichen Sekunde die Schultern. Warum musste ihr das gerade hier und heute passieren, fragte sie sich, während der Trüffelkellner sie unbefangen anlächelte. Ausgerechnet heute! Prompt versank Greta nochmals hinter der Karte. »Einen Kakao, bitte.« Die Journalistin hielt ihre Augen starr auf die Getränkeauswahl gerichtet.

»Mit Trüffelaroma?«

Mein Gott, diese Frage hatte sie befürchtet. Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein! Danke. Einen ganz normalen Kakao, bitte.«

Greta merkte, dass ihre Hände unangenehm feucht waren. Sie schwitzte. Aber das war kein Wunder, denn sie kannte den Trüffelkellner. Es war Sean. Der Sean, der stets ein wenig unausgeschlafen wirkte und zwei Semester nach ihr mit dem Technikjournalistikstudium in Bonn begonnen hatte. Der Sean, der enttäuschender Weise nie Notiz von ihr genommen hatte. Vermutlich studierte er immer noch und verdiente sich hier etwas dazu. Früher hatte ihn Greta ab und zu in der Mensa gesehen oder ihm in der Bibliothek zugenickt, wo er allerdings eher selten anzutreffen war. Heute war das erste Mal, dass er mit ihr sprach.

»Sehr gerne. Kommt sofort«, entgegnete der junge Mann, wählte auf dem zu einem Tablett ausgeklappten Business-Comchip die einzelnen Waren aus und schob sie in den Bestellkorb.

»11«, vermeldete das Gerät.

»Ihr Kakao wird leider erst in elf Minuten fertig sein«, informierte der Kellner Greta. »Wie gesagt: Heute ist viel los. Ich komme dann gleich wieder zu Ihnen.«

Greta nickte und Sean ging an den nächsten Tisch.

Als er im Trüffelhaus verschwand, schob Greta die Karte zurück in den pilzförmigen Ständer. Sie presste ihre Lippen aufeinander. Sean noch einmal zu begegnen, das hatte sie wirklich nicht erwartet. In letzter Zeit dachte sie nur selten an ihn. Das Ganze war eine belanglose Schwärmerei auf der Uni gewesen, ein hoffnungsloses Unterfangen, ein Irrsinn vielleicht sogar, denn Sean hatte offenkundig niemals Kenntnis von ihr genommen, während sie in jener Zeit manchmal Tage und Nächte damit zugebracht hatte, an ihn zu denken.

Greta fühlte sich unbehaglich. Ihre Wangen glühten. Zögerlich nahm sie den Schal von ihrem Hals, schaute sich unschlüssig um und kontrollierte zum wiederholten Male die Vollständigkeit ihrer Unterlagen. Sie überlegte kurz, dann hielt sie den Comchip vor den Abrechnungsmonitor und überwies die ausstehende Summe plus großzügiges Trinkgeld. Greta konnte nicht länger auf ihren Kakao warten. Die Reihe über Peter Siedenburg war ihr erster großer Auftrag, und sie wollte auf keinen Fall zu spät eintreffen, redete sich die Journalistin ein, auch wenn sie wusste, dass dies nicht der wahre Grund für ihre plötzliche Eile war.

Privatanwesen »Zur Waldburg« der Familie Siedenburg in Remagen 16.11.2034, 10.31 Uhr

Greta kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als der Wagen durch das sich langsam öffnende, imposante schmiedeeiserne Tor fuhr und über die alleeähnliche Zufahrt auf die Gebäudetrakte, die noch in der Ferne lagen, zusteuerte. Ihr Interviewpartner sollte, wenn man ihren Quellen glauben durfte, auffallend sparsam sein und trotz seines enormen Erfolges ein bescheidenes Leben führen. Den Eindruck von Askese machte das abgeschiedene Anwesen allerdings nicht im Entferntesten. Laut Gretas Recherche hatte Siedenburg das alte Hotel »Zur Waldburg« auf dem Victoriaberg oberhalb von Remagen kurz nach der Firmengründung erworben. Zuvor hatte das Hotel rund 50 Jahre leer gestanden und war gegen Ende nicht mehr als eine Ruine gewesen. Aufgrund des desolaten Zustands war es »ein Schnäppchen« gewesen, das sich Siedenburg von seinen ersten geschäftlichen Erfolgen geleistet hatte. Angeblich hatte er in jenen Tagen selbst Hand angelegt und über Monate in einem alten Caravan gelebt, da das Gebäude anfänglich unbewohnbar gewesen war. Später hatte er nach und nach die einzelnen, fertiggestellten Trakte bezogen. In den Unterlagen hatte Greta nur wenige Informationen gefunden, wie es ab dieser Zeit weitergegangen war. Sie hoffte, dass sich diese Lücke mit dem heutigen Tage schließen ließ. Die Journalistin jedenfalls hatte eine Vielzahl von Fragen an den Gründer der Siedenburg GmbH, und ihr Plan war es, möglichst viel bisher Verborgenes aus dem Firmenchef herauszukitzeln.

Wenn man sich umsah, sprach vieles dafür, dass der gesamte Landsitz in den letzten Jahren eine aufwendige Renovierung erfahren hatte, kam Greta beim Anblick der Grünanlage und des nun langsam auf sie zukommenden Anwesens in den Sinn. Es handelte sich um eine imposante, wenn auch nicht unbedingt hübsche, Ansammlung an Extravagantem. Nach allem, was die Journalistin über Siedenburg gelesen hatte, würde Greta fast vermuten, dass dies nicht dessen Geschmack entsprach. Vielleicht war hier eine Frau mit im Spiel gewesen, folgerte Greta, und der Gedanke an eine geheime Ehefrau gefiel ihr. Gerade fuhr der Wagen an Zitronenbäumen und meterhohen Palmen vorbei, die sich offensichtlich äußerst heimisch fühlten und inzwischen aufgrund der milden Winter in der Eifel keine Seltenheit mehr waren. Auf dem gepflegten englischen Rasen, den vermutlich bis auf den Gärtner zum Wässern niemand betreten durfte, standen weiße Statuen neben antik anmutenden Säulen, Löwen und Vasen mit Goldelementen – viel zahlreicher, als der gute Geschmack vertragen konnte. Greta sah ihre Vermutung bestätigt: Sie würde wetten, dass es eine Frau in Siedenburgs Leben gab, die dessen Erspartes großzügig gegen Luxusgegenstände eintauschte.

Die Tatsache, dass über Siedenburgs Privatleben nur wenig bekannt war, war für ihre Recherche von Nachteil, für die geplante Reportage allerdings könnte es ein Glücksfall sein – falls es ihr gelang, Neues zu erfahren. Über die Gründe konnte man nur spekulieren, was das Ganze für Außenstehende erwartungsgemäß umso spannender machte. Sie müsste ihr Interview in jedem Fall klug anstellen.

In einem älteren Zeitungsausschnitt einer Klatschzeitschrift hatte Greta unter der Rubrik »Schlagzeilen« einen kurzen Bericht mit dem Titel »Der reichste Junggeselle um Sinzig sagt endlich ›Ja‹« gefunden.

Aufgrund der fragwürdigen Quelle und fehlender Bilder, die dies belegen könnten, war sich Greta nicht sicher, ob die Meldung nicht einfach nur eine von vielen niemals bestätigten Informationen aus der Gerüchteküche war.

»Ankunft in zwei Minuten«, kündigte die Stimme aus dem Eifel-Null-Energie-Express gleichgültig an.