Mord am Saar-Hunsrück-Steig - Marion Demme-Zech - E-Book

Mord am Saar-Hunsrück-Steig E-Book

Marion Demme-Zech

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine Wandertour über den Saar-Hunsrück-Steig, klingt das nicht nach einer netten Auszeit? Überhaupt nicht, finden Kommissarin Toni Kuppertz und der lauffaule Polizeidackel Günther - und wandern trotzdem mit. Die Tour bietet weit mehr Thrill als erwartet, denn jemand nimmt das Thema Auszeit wörtlich. Ein Vorfall jagt den nächsten: ein Weidezaun, der bei Berührung regelrecht röstet, ein Brand in einem Schloss und eine Kneippanlage, die tödlich elektrisiert. Verdeckt ermitteln Toni und Günther in der Wandergruppe und spüren dabei mehr Verdächtige auf, als ihnen lieb sind.

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Seitenzahl: 395

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Marion Demme-Zech

Mord am Saar-Hunsrück-Steig

Wanderkrimi

Zum Buch

Auf Abwegen Einen Wanderurlaub entlang des Saar-Hunsrück-Steigs – etwas Unpassenderes hätte den Kollegen vom LKA Saarbrücken als Geburtstagsgeschenk für die arbeitswütige Kommissarin Toni Kuppertz gar nicht einfallen können. Ihrem unfreiwilligen Begleiter, dem eigensinnigen Polizeidackel Günther, schlägt obendrein die tierärztlich verordnete Diät aufs Gemüt. All das rückt schon bald in den Hintergrund, als auf der Tour eine Reihe von bizarren Vorfällen Toni und Günther aufhorchen lässt: Dinge verschwinden, ein nächtlicher Brand in ihrer Unterkunft sorgt für helle Aufregung und völlig Fremde beißen auf wunderliche Weise in ihrem Umfeld ins Gras. Bei all dem Mordsspektakel wollen Toni und Günther nicht mehr an zufällige Ereignisse glauben. Beide sind überzeugt: Bei jemandem aus der Gruppe ist eine Sicherung durchgebrannt und dieser Jemand hat es auf einen der anderen Wanderer abgesehen. Heimlich bringen Kommissarin und Dackel mehr über ihre Begleiter in Erfahrung und kämpfen mit einem echten Luxusproblem: Es gibt empörend viele Mordmotive.

Die Saarländerin Marion Demme-Zech ist Erziehungswissenschaftlerin. Folgerichtig nahm ihre Laufbahn als Autorin mit pädagogischen Fachbeiträgen ihren Anfang. Dann allerdings entdeckte sie ihre kriminelle Ader. Alles begann mit Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien. 2020 erschien Marion Demme-Zechs erster Kriminalroman. Noch im gleichen Jahr ging mit „Letzter Ausstieg Saar“ ihre Saarland-Krimireihe um das Komissarenduo Forsberg und Kuppertz sowie den Dackel Günther an den Start. Wenn die Autorin nicht gerade Morde „anzettelt“, widmet sie ihre Zeit ungewöhnlichen Reiseführern und Gesellschaftsspielen über ihre Heimat.

Impressum

Dieses Buch wird gefördert vom Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die einzige Ausnahme bilden die in der Danksagung

erwähnten Personen mit Gastauftritt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Kartendesign: Susanne Lutz

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andreas Kestel / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7708-9

Zitat

Though this be madness, yet there is method in’t.

Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.

William Shakespeare

 

Ein freier Tag wäre keine dumme Idee gewesen

Landespolizeipräsidium Saarland in Saarbrücken 26.05.2023 Antonia Kuppertz

Geburtstag und dann auch noch der 35. – das braucht echt keiner!

Ich hätte mir besser freinehmen sollen, geht mir durch den Kopf, als ich mit meinem Wagen auf dem Parkplatz des LKA in Saarbrücken eintreffe und den Motor abstelle.

Andererseits mache ich mir vielleicht einfach zu viele Gedanken. Chris und Eliza, meine beiden Kollegen aus der Tatortgruppe, werden vermutlich gut beschäftigt sein. Gestern wurden zwei nagelneue Fußballtore vom Sportplatz in Völklingen gestohlen. Keine Ahnung, wie die Täter die über den hohen Zaun hieven konnten. Dies anhand der Spuren zu rekonstruieren, wird bestenfalls den ganzen Tag in Anspruch nehmen. Das heißt, sie sind außer Haus. Bleibt nur noch Wolfgang als direkter Kollege und potenzieller Querulant, der mir den Tag mit unangenehmen Glückwünschen und abgeschmackten Sprüchen »versüßen« könnte. Doch was das angeht, habe ich volles Vertrauen in ihn. Wolfgang ist genauso ein Geburtstagsmuffel wie ich, und obendrein ist er extrem vergesslich, zumindest was Privates angeht. Die Chancen stehen also gut, dass das heute ein völlig normaler Tag wird. Bestenfalls ein Nullachtfünfzehn-Tag – mehr wünsche ich mir überhaupt nicht zu meinem 35.

»Du hättest dir besser freinehmen sollen«, empfängt mich mein Kollege Wolfgang ein paar Minuten später, als ich die Tür zu unserem gemeinsamen Büro im LKA öffne. »Hier ist der Teufel los.«

»Was ist denn passiert?«, will ich wissen.

»Frag nicht! Am besten siehst du es dir selbst an.« Wolfgang springt vom Stuhl auf. Bevor ich etwas entgegnen kann, ist er schon an mir vorbei in Richtung Flur gestürmt. Ich folge ihm. Hinter mir höre ich Günther, unseren Polizeihund in Ausbildung, der sich aus seinem Körbchen im Büro gräbt. Das ist nicht die Uhrzeit unseres Polizeidackels, aber neugierig ist er trotzdem. Mit hängendem Kopf trottet er uns durch den schmucklosen Flur der Kriminalabteilung hinterher.

»Wo willst du denn hin?« Ich bekomme keine Antwort. Wolfgang wird schneller. Ich habe alle Mühe mitzuhalten. Mein Kollege ist im Normalfall eher der gemütliche Typ. Wenn er in eine solche Hektik verfällt, ist eins klar: Es kann sich um keine Lappalie handeln.

Ich tippe auf Mord, womöglich Mehrfachmord oder eine Kindesentführung. Weinende Eltern noch vor dem Frühstück – alles, nur das nicht, denke ich. Solche schlimmen Ereignisse schlagen mir jedes Mal auf den Magen.

Wolfgang bleibt vor dem großen Versammlungssaal stehen. Ui, eine Sondersitzung um halb acht in der Früh. Das gab es in meiner gesamten Laufbahn bisher kein einziges Mal. Ich rücke die Dienstjacke zurecht und streiche mir die Haare glatt.

»Mach dich auf was gefasst!«, warnt mich Wolfgang und drückt die Klinke nach unten. Ich betrete als Erste den Raum, gespannt, was mich erwartet.

Das Einzige, was ich erkenne, ist Dunkelheit. He, was ist denn jetzt los, frage ich mich. Irgendetwas Seltsames geht vor. Eine Hand in meinem Rücken drückt mich nach vorn, tiefer in den bedrohlich finsteren Raum. Ich versuche, mich dagegenzustemmen, doch zu spät. Es rumst hinter mir.

Ich zucke zusammen. Das muss die Tür gewesen sein. Der Lichtschein, der eben noch ins Zimmer gefallen ist, ist verschwunden. Die Schwärze umgibt mich nun von allen Seiten.

Kurz höre ich das Trappeln von Günthers Pfoten, danach wird es wieder beklemmend still. Mit der rechten Hand taste ich nach meiner Waffe, die – dem Himmel sei Dank – im Holster steckt. Ohne viel nachzudenken, nehme ich eine geduckte Haltung ein, während ich die Pistole vor meiner Brust ausrichte und entsichere.

Klack – bei dieser Totenstille gewinnt selbst das kleinste Geräusch an Bedeutung. Was immer dort in der Dunkelheit auf mich wartet, es ist nichts Erfreuliches, schwant mir. Mit der freien Hand taste ich nach hinten und trete einen Schritt zurück. Die Wand kann nicht weit entfernt sein. Tatsächlich treffen meine Fingerspitzen auf etwas Hartes. In der Nähe, ein Stückchen weiter rechts, muss der Lichtschalter zu finden sein. Meine Hand wandert suchend über den rauen Putz.

»Wolfgang, was ist hier los?«, presse ich mit gedämpfter Stimme hervor. Keine Antwort. Ich vernehme leises Atmen. »Wolfgang?«, versuche ich es erneut. Ohne Erfolg.

Eine andere Sache lenkt mich ab. Meine Finger ertasten etwas Glattes. Einen Vorsprung.

Aha, endlich: Das ist der Kippschalter.

Ruhig bleiben und nichts überstürzen, ermahne ich mich. Das Überraschungsmoment sollte man in brenzligen Situationen zu nutzen wissen, hatte man mir während der Ausbildung zur Polizeibeamtin beigebracht. Der kleinste Zeitvorsprung kann in heiklen Momenten entscheidend für Erfolg oder Misserfolg sein.

Mit der Waffe im Anschlag lege ich den Schalter um – ich bin zu allem bereit.

Der Raum füllt sich mit Licht.

»Überra…«, tönt es.

Dem nachfolgenden »…schung« fehlt es an Elan. Ein Umstand, der leicht zu erklären ist. Den meisten Menschen dürfte es beim Blick in den Lauf einer entsicherten Heckler & Koch P10 an Euphorie fehlen. Selbst denjenigen, die durch den Polizeidienst abgehärtet sind. Das zumindest zeigt mir in dieser Sekunde der Praxistest.

Peinlich berührt senke ich meinen Arm und versuche mich an einem Lächeln. Es bleibt still in der Schar meiner Kollegen. Möglicherweise sollte ich etwas sagen, um die angespannte Situation zu entschärfen. Etwas Erheiterndes vielleicht: »Moin. Keine Angst. Meine Trefferquote beim Schießen ist hundsmiserabel«, fällt mir da lediglich ein. Die Pistole lasse ich im Holster verschwinden.

Zur allgemeinen Aufheiterung kann mein Spruch nicht beitragen. Dafür wirken die etwa 40 Personen im Raum zu geschockt. Immerhin aber haben die meisten ihre Münder wieder geschlossen.

Ich schaue in die Runde. Gleich vorn stehen Chris und Eliza von der Spurensicherung und daneben Mira, die mit mir vor vielen Jahren die Polizeischule absolviert hat. Sogar Sigrid aus der Rechtsmedizin ist da. Direkt hinter ihr steht Lodi van der Pütten. Die Hundetrainerin aus dem hohen Norden wirkt amüsiert. Für ihren speziellen Humor ist sie auf der ganzen Wache bekannt, und meine leidige Einlage war vermutlich genau nach ihrem Geschmack, denke ich, da tippt mir jemand auf die Schulter. Ich wende den Kopf. Oh, Burkhard, unser Dezernatsleiter. »Sie auch?«, stelle ich eine rein rhetorische Frage.

»Unsere Frau Kuppertz, wie immer im Dienst«, entgegnet Burkhard und hält mir eines der beiden Sektgläser in seinen Händen entgegen. In diesem Moment kommt Leben in den Rest der Truppe. Ein Tablett mit Sekt wird durch die Reihen gereicht. Als alle versorgt sind, lässt es sich die komplette Mannschaft nicht nehmen, ein Ständchen anzustimmen.

»Zum Geburtstag viel Glück«, tönt es, und ich fühle mich aufs Neue peinlich berührt. Gut, sage ich mir. Gut, dass niemand die Gedanken hinter meinem stoischen Grinsen lesen kann. Im Normalfall mache ich einen großen Bogen um solche Veranstaltungen. Die Ausrede »Sorry, hab verdammt viel zu erledigen«, die sonst fast immer zieht, ist gegenwärtig allerdings keine Option. Was soll’s, tröste ich mich. Die Nummer ist beinahe überstanden. Schlimmeres als ein Geburtstagsständchen haben die Gäste sicher nicht auf Lager.

»… liebe Toooooni, zum Geburtstag viel Glück.« Es ist vollbracht. Die Stimmen verhallen. Der Chor spendet sich selbst Applaus.

Der Chef ergreift sogleich das Wort und richtet sich an mich: »Liebe Frau Kuppertz, wissen Sie eigentlich, dass Sie dieses Jahr nicht nur Ihren 35. Geburtstag feiern? Es steht noch ein weiteres bedeutsames Jubiläum an.«

Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung, wovon Burkhard spricht.

»35. Geburtstag. 15 Jahre bei der Polizei und fast auf den Tag genau fünf Jahre Dienst bei der Kripo«, zählt der Chef auf und hält erneut sein Sektglas in die Höhe. »Mal ehrlich, Freunde, wenn das kein Grund zum Anstoßen ist.«

Die Gäste klatschen. Manche pfeifen sogar auf ihren Fingern. Das und obendrein das kleine Büfett, das die Kollegen vorbereitet haben, zerstören all meine Hoffnungen, in Kürze zu einem normalen Arbeitstag überzugehen. Es wird gekichert und gelacht. Manche geben Geschichten von meinen ersten Tagen auf der Wache zum Besten, wiederum andere gehen dazu über, mir einzeln zu gratulieren. Sie stellen sich in einer Schlange auf, so ähnlich wie bei einer Beerdigung, wenn die Trauergäste den Verwandten ihr Beileid aussprechen. Man nimmt mich in den Arm, klopft mir auf die Schultern, und einige drücken mir sogar einen Kuss auf die Wange. Ehe ich mich versehe, steht mir Jan-Alexander gegenüber. Jan-Alexander Dannhäuser vom SEK. Schöner Mist!

Mit dem hatte ich seit guten drei Wochen keinen Kontakt mehr. Zugegeben, manchmal habe ich ihn in der Ferne entdeckt, aber es ist mir jedes Mal gelungen, ihm zu entkommen. Die Kantine meide ich seit diesem seltsamen Abend im Kino, und Whatsapp habe ich stumm geschaltet. Medienfasten oder so ähnlich nennt man das heute. Das soll gut fürs Gemüt sein. Bei mir funktioniert es. Ohnehin gab es nichts Erzählenswertes zu berichten, und außerdem war dienstlich eine Menge los. Für Privates blieb kaum Zeit.

»Hallo, Toni«, sagt Jan-Alexander zaghaft und beugt sich leicht vor. »Schön, dich zu sehen.« Er wirkt unentschlossen. Er will mir doch wohl keinen Kuss geben, geht mir durch den Kopf. Zum Glück besinnt er sich und streckt lediglich seine Hand aus. Prima, finde ich, wir sind uns einig, was unsere Beziehung angeht. Für heute ist mir schon ein Übermaß an Intimität zuteilgeworden. Abstand kommt mir sehr gelegen.

Unser sonderbares Date, wenn man es überhaupt Date nennen will, war an einem Sonntag. Wir waren zusammen im Saarbrücker Passage-Kino.

»Hast du Lust auf den neuen Avatar? Der soll gut sein«, hat Jan-Alexander mich zuvor gefragt. Er hat mich schon unzählige Male eingeladen, diesmal habe ich unvernünftigerweise »Ja« gesagt. Der Film war nicht schlecht, nur danach mit Dannhäuser durch die Saarbrücker Altstadt zu ziehen, hat sich als Riesendummheit erwiesen. Normalerweise lasse ich die Finger vom Alkohol, keine Ahnung, was an dem Abend mit mir los war. Jedenfalls bin ich mit ihm gegangen, als er mich gefragt hat, ob ich mir noch seine Wohnung ansehen möchte. Seien wir ehrlich, das war ein Fehler, doch keiner, den man nicht wieder ausbügeln könnte. Um uns beiden eine hochpeinliche Aussprache zu ersparen, habe ich in der Nacht, ohne ihn zu wecken, meine Kleider zusammengesammelt und mich davongemacht. Das ist nichts, worauf man stolz sein kann. Ich habe es verpatzt, und wenn es möglich wäre, würde ich die ganze Angelegenheit sofort rückgängig machen. Aber leider geht das nicht.

»Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag, Toni.« Es klingt aufrichtig. Er scheint nicht sauer zu sein. Großartig, denke ich. Wir sind uns einig, tun, als sei nie etwas gewesen, und sind wieder einzig und allein Kollegen. So wie früher.

»Danke.« Ich lege meine Hand in seine. Kurz. Formalitäten muss man nicht unnötig in die Länge ziehen. Als das erledigt ist, richte ich den Blick auf Dannhäusers Hintermann. Oha, Bernhard, unser Hausmeister, hat sich extra Zeit für mich genommen.

Doch Jan-Alexander macht keine Anstalten, zur Seite zu treten. Er druckst herum. Für einen viel zu langen Augenblick stehen wir uns stumm gegenüber. Ich habe den Geruch seines Aftershaves in der Nase. Es ist das gleiche wie an jenem Sonntag.

»Darf ich dich noch was fragen?«, beginnt er.

Weiter kommt er nicht. Jemand greift mich am Ellenbogen und zieht mich fort.

Es ist Burkhard. Er wendet sich an die Gäste. »So, liebe Kollegin, wir sind noch längst nicht fertig. Wir haben etwas richtig Bombiges für Sie vorbereitet«, kündigt er an.

Etwas richtig Bombiges – diese Worte jagen mir Angst ein.

»Ich verspreche Ihnen, liebe Frau Kuppertz, Sie werden Augen machen«, fährt er fort.

Die mache ich jetzt schon. Ich mag keine Überraschungen, ganz gleich welcher Art.

Burkhard beweist zwischenzeitlich wahre Showmasterqualitäten, er stellt sich auf einen Stuhl, und von dort aus spricht er in bestem Jahrmarkt-»Berg- und Talbahn«-Slang weiter: »Leute, ich benötige eure Unterstützung. Was braucht es an einem Geburtstag unbedingt für ein Geburtstagskind?«

»Geschenke«, ist die einhellige Meinung der Gäste.

»Ach Unsinn«, starte ich einen Interventionsversuch. »Dass ihr gekommen seid, reicht mir völlig.«

Wie sinnlos, keiner hört mir zu. Die Augen aller sind auf Burkhard gerichtet. »Richtig: Geschenke! Mal schauen, was wir für unsere Frau Kuppertz herbeizaubern können.« Burkhard greift in die Innentasche seines Sakkos und holt ein Kuvert hervor. Es ist mit einer breiten grünen Schleife verziert.

Ich lege den Kopf schief. Die Buchstaben darauf können der Schrift nach nur von meinem Kollegen Wolfgang stammen. »Für unsere liebe Toni«, steht auf der Vorderseite.

»Moment, jetzt kommt mein Part«, meldet sich eine dunkle Stimme aus der Menge zu Wort. Wolfgang drängt sich an den Gästen vorbei nach vorn und nimmt den vom Chef hingehaltenen Umschlag entgegen. »Das Geschenk ist schließlich für meine Lieblingskollegin«, kündigt Wolfgang an. Er vollführt einen seltsamen Armschwung und einen recht uneleganten Knicks, was wohl eine Art Verbeugung sein soll, und hält mir das Kuvert hin. »Bitte sehr. Für die weltbeste Partnerin. Ich hoffe, du freust dich.«

Das hoffe ich auch. »Danke schön«, antworte ich brav. Nur mit der Ruhe, sage ich mir. Vermutlich ist es ein Gutschein für irgendein Geschäft – Media Markt, Saturn oder womöglich einen Sportladen. Das kann man immer brauchen.

Ich öffne unter den Blicken der Kollegen das Kuvert. Spannung liegt in der Luft, es fehlt nur noch dramatische Musik oder ein Tusch. Burkhard flüstert Wolfgang etwas zu. Sie nicken und grinsen sich komplizenhaft an.

Ich hole eine Karte aus dem Umschlag und beginne zu lesen. »Eine unvergessliche Woche in einer wunderschönen Landschaft zusammen mit anderen Menschen …«, heißt es da. »Wir gratulieren Ihnen herzlich und wünschen außergewöhnlich schöne Tage beim Heimat-Tanken auf dem Saar-Hunsrück-Steig.«

 

Ich hangele mich an fett gedruckten Worten wie »für den Weitertransport Ihrer Koffer ist gesorgt«, »wir haben die besten Unterkünfte auf der Strecke für Sie gebucht« und »ein fachkundiger Tourguide steht Ihnen zur Seite« entlang und erschließe mir dabei Stück für Stück, um was für eine Art von Geschenk es sich handelt. Das Bild von diesem Kunstwerk am Erbeskopf, auf dem man laufen kann, hilft mir zusätzlich auf die Sprünge. Ich kann es nicht glauben – oder besser gesagt ich will es nicht: Das ist ein Gutschein für einen Wanderurlaub.

Sind die irre, frage ich mich.

»Schaut sie euch an, unsere Kuppertz, die ist platt wie eine Briefmarke vor Freude«, behauptet Burkhard und klopft mir zufrieden auf die Schulter. »Damit haben Sie nicht gerechnet, oder?«

Was den ersten Teil seiner Aussage anbelangt, stimme ich ihm zu. Platt bin ich, aber das mit der Freude würde ich nicht unterschreiben. Wandern, im Ernst? Und dann auch noch sieben Tage lang? Es hätte so viel gegeben, was man mir hätte schenken können. Ewig wünsche ich mir schon einen Trainingskurs zum Thema Profiling. Deeskalation wäre ebenfalls toll gewesen oder einfach ein Fachbuch zu Strategien im Polizeieinsatz oder Waffenkunde. Aber Wandern – boah! Und das obendrein mit einer wild zusammengewürfelten Gruppe. Wer weiß, welche Irren da zusammenkommen? Das ist wie Klassenfahrt, nur um Längen schlimmer.

Ich überlege fieberhaft, wie ich aus der Nummer herauskomme, ohne alle Anwesenden vor den Kopf zu stoßen.

Mit Blick auf die Karte in meiner Hand fällt mir etwas ein. Das könnte die Rettung sein: »Oh verdammt, das ist ja tatsächlich schon übernächste Woche«, sage ich und gebe mir Mühe, so zerknirscht wie nur möglich zu wirken. »In der Zeit bin ich leider bei der Fortbildung ›Strategie und Taktik bei Einsatzlagen‹. Die Wanderung kann man doch bestimmt stornieren? Oder vielleicht will jemand anderes an meiner Stelle …«

»Ach, die Fortbildung«, sagt Burkhard. Er zieht grinsend mit dem Zeigefinger sein Unterlid nach unten. »Das waren echte Fake News, wir wollten sichergehen, dass unser Plan aufgeht. Sie hätten nie im Leben erwartet, dass wir so durchtrieben sind – nicht wahr?«

Ich schüttle den Kopf. Da hat er so was von recht.

»Was meinen Sie, was wir im Hintergrund alles angestellt haben, um Ihnen die Auszeit möglich zu machen?«, zeigt sich Burkhard weiter erfreut und gibt Wolfgang einen Stups mit dem Ellenbogen. Anscheinend soll mein lieber Kollege nun auch mal die Karten auf den Tisch legen.

Der steigt prompt ein. »Wir haben uns erlaubt, die Unterlagen …«, Wolfgang stoppt, um diesen Moment voll auszukosten, »… ein wenig zu frisieren. Nur so konnten wir sicher sein, dass du in der Woche nichts planst.«

Wolfgangs selbstzufriedenes Gesicht weckt in mir Aggressionen. Was hat er sich nur dabei gedacht? Er müsste mich doch am besten von allen kennen.

»Ich muss noch etwas loswerden«, kündigt er an und lässt sich nicht lange bitten. »Als kleines Extra, liebe Toni, habe ich noch eine besondere Überraschung für dich.«

Die eine reicht mir vollkommen, denke ich. Wenn Wolfgang ein weiteres Mal derart gut meinen Geschmack getroffen hat, stelle ich sofort einen Antrag auf Versetzung.

»Du sollst natürlich nicht allein gehen. Deshalb stellen wir dir einen männlichen Beschützer zur Seite«, redet mein Kollege weiter.

Beschützer? Ich bin Polizistin, bisher bin ich der Meinung gewesen, mich selbst recht gut verteidigen zu können. Das wird doch wohl nicht Jan-Alexander sein? Falls ja, bin ich augenblicklich hier weg. Was für ein höllischer Tag – wer hat sich so eine sinnfreie Tradition wie Geburtstagsgeschenke überhaupt ausgedacht?

Ein bisschen dankbarer könnte Toni schon sein

Landespolizeipräsidium Saarland in Saarbrücken 26.05.2023 Günther, der Dackel

Wow, das ist echt ein Ding, wie viel Aufhebens die Kollegen um Tonis Geburtstag machen. Zu meinem letzten Wiegenfest gab es lediglich einen Viertelring Lyoner von Wolfgang. Das war’s! Gleich darauf ging es ab zur Arbeit. Ein stinknormaler Arbeitstag ist das damals gewesen.

Und dann heute Morgen voll das Kontrastprogramm. In aller Herrgottsfrühe findet ein Mega-Abriss um Toni statt. Eine Überraschung jagt die nächste, und das Büfett ist eine einzige Pracht. Ich bin bestimmt nicht neidisch, ganz und gar nicht, aber wie Toni sich anstellt, finde ich unmöglich. Die komplette Mannschaft macht ein Riesentrara um sie, obendrein bekommt sie auch noch einen Urlaub geschenkt, und statt sich zu freuen, steht sie da wie ein Häufchen Elend. Dankbarkeit sieht anders aus.

Ganz besonders Wolfgang gibt sich die größte Mühe. Gerade erzählt er von der nächsten Überraschung, die bei Toni hundertpro wieder keinen Anklang finden wird. Ich würde wetten, dieser SEKler, der Dannhäuser, ist der ominöse »Beschützer«, der Toni auf der Wandertour begleiten soll. Der Kerl stellt Toni schon seit Jahren erfolglos nach.

»Liebe Toni«, fährt mein Freund Wolfgang fort. »Die Wahl des Begleiters wird dir gefallen. Es ist jemand, den du seit Langem kennst.«

Aha, freue ich mich. Habe ich richtig getippt, es ist der SEKler.

»… ein hübscher, treuer Kerl …«

Na ja, jetzt romantisiert mein Kollege, kommt mir in den Sinn, da bringt Wolfgang den Satz zu Ende: »… es handelt sich um unseren lieben Günther.«

Mir fällt fast die Kinnlade herunter. Ich?

»Das ist ja mal eine süße Idee«, begeistert sich Sigrid von der Rechtsmedizin, die neben mir steht, für diesen Wahnsinnseinfall.

»Wo ist denn unser Held?«, erkundigt sich Wolfgang.

»Ei, hier«, verrät mich Sigrid und beugt sich in meine Richtung. Wegducken hilft nicht. Sie packt mich und bringt mich im Geiselgriff nach vorn. Ich trete mit meinen Hinterbeinen wie wild ins Leere. »Wie schön, er freut sich. Das Güntherlein würde wohl am liebsten sofort losdackeln«, interpretiert Sigrid meinen aussichtslosen Fluchtversuch völlig falsch.

Für jemanden wie Toni ist so ein Wanderausflug wirklich eine Top-Idee. Aber ich bin in diesem Präsidium unabkömmlich. Wie konnte Burkhard das nach den vielen gemeinsamen Jahren und bei der hohen Aufklärungsrate, bei all den Fällen, in die ich meine untrügliche Nase hineinsteckte, überhaupt in Betracht ziehen? Das ist, als hätte die Polizei für die Kriminellen im Saarland eine Woche lang Anarchie ausgerufen.

Eins ist sicher: Ich kann meine kostbare Zeit unmöglich mit Wandern verschwenden.

»Da macht ihr zwei aber Augen«, sagt Wolfgang und nimmt mich in Empfang. Er reiht sich wieder neben seinem Kumpan für diesen Komplott ein. Fast synchron ziehen Wolfgang und Burkhard ihre Augenbrauen in die Höhe und grinsen Toni und mich an. So wie zwei Schuljungs, die eine Eins mit nach Hause gebracht haben und nun mit Lob rechnen.

Toni schüttelt den Kopf. Von mir erwartet zum Glück niemand eine ehrliche Antwort. Warum nur hat es mich erwischt, frage ich mich.

»Ich bin mal gespannt, wie sich der Günther beim Wandern anstellt. Vielleicht nimmt er ein, zwei Kilochen ab. Das könnte nicht schaden«, haut mich nun auch noch mein »Partner« vor allen in die Pfanne und sorgt damit für allgemeine Belustigung.

Unterste Schublade, denke ich. Doch genau dieser Spruch von Wolfgang bringt mich auf eine Fährte. Ich ahne, warum ich an diesem Wandertrip teilnehmen soll. So uneigennützig und großzügig ist Wolfgangs Geschenk überhaupt nicht. Mir schwant, dass seine hirnrissige Idee etwas mit unserem Besuch vorgesternbei Frau Dr. Altmüller, dieser Schlange, zu tun hat.

»Da schau mal an, unser Güntherlein«, gab sich die Tierärztin zuerst noch entzückt über meinen hübschen Anblick, als sie die Tür zum Behandlungsraum öffnete.

»Guten Morgen«, übernahm mein zweibeiniger Kollege Wolfgang das Antworten. Er hatte mich bereits auf dem Behandlungstisch abgesetzt. Vermutlich wollte er, genau wie ich, die Routineangelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen. Faktisch war die halbjährliche Untersuchung im Rahmen meiner Ausbildung zum Polizeihund für die Katz und reine Steuerverschwendung. Ich bin kerngesund, so etwas spürt ein hochsensibler Hund wie ich. Aber Vorschrift ist Vorschrift, und so hoffte ich, dass die Angelegenheit rasch erledigt wäre.

Den Untersuchungsablauf hatte ich bereits im Kopf: Den leidigen Teil mit dem Gesundheitscheck würden wir im Eiltempo hinter uns bringen und ohne Zeitverzug das zweite Etappenziel ansteuern, das aus einer ordentlichen Portion Belohnungsleckerlis und Streicheleinheiten bestehen dürfte. Während ich mich dem Genuss hingeben würde, könnten sich Wolfgang und die Ärztin über meine zahlreichen Heldentaten im Polizeidienst austauschen.

Ein toller Plan, den die Frau Dr. Altmüller allerdings zu durchkreuzen wusste. »Kommt es mir nur so vor oder hat unser kleiner Freund ein bisschen zugelegt?« Mit dem Spruch begann der ganze Ärger.

Wahrscheinlich habe ich mich verhört, dachte ich zu Beginn noch.

Auch bei Wolfgangs Antwort »Ernsthaft, zugenommen? Finden Sie wirklich?« schwang Verwunderung mit.

»Na gut, Sie haben recht«, sah die Altmüller ein. »Ich korrigiere mich. ›Ein bisschen‹ trifft es nicht so wirklich. Das Kerlchen ist aufgegangen wie eine Dampfnudel.« Bei den Worten zuckte ich unter den Händen der Tierärztin zusammen. Hallo – hat die einen an der Murmel, fragte ich mich.

»Dackel sind von Natur aus ein bisschen stämmiger gebaut«, ging Wolfgang in die Verteidigung.

Richtig so, pflichtete ich ihm in Gedanken bei. An Gewicht zugelegt habe ich bestimmt nicht. Wie auch? Mein Essverhalten hat sich seit der Welpenzeit kaum verändert. Ich folge den drei goldenen Regeln, die ich in meiner Jugend selbst festgelegt habe: Erstens verzehre ich auf keinen Fall Dosenfraß, schon allein wegen der vielen Konservierungsstoffe. Zweitens ist Trockenfutter für mich tabu, denn eins ist klar: So etwas Staubtrockenes kann unmöglich gesund sein. Drittens und das ist der wichtigste Punkt: Ich lasse meine Speisen immer auf Verträglichkeit vorkosten, und was Zweibeiner degustieren, wurde ja bereits einer sicheren Probe unterzogen. Deshalb ernähre ich mich ausschließlich vom Tisch. Bei der Auswahl der Produkte bin ich nicht pingelig: Ich esse durch die Bank weg alles, was gut schmeckt.

Mit Vernunft war der Frau Dr. Altmüller allerdings schwer beizukommen. »Dass Dackel grundsätzlich stämmiger sind, wäre mir neu. Vielleicht bin ich auch nicht wirklich der Profi, was das Thema angeht.« Sie sah Wolfgang herausfordernd an.

Uiuiui, der Ton war spitz. Sie war auf Krawall gebürstet. Wolfgang sparte sich eine Antwort, während die Altmüller sich ihrem Computerbildschirm widmete und etwas eintippte.

»Aha! Da haben wir es: Beim letzten Mal wog unser Günther stolze 12,5 Kilo. Das ist für seine Größe hart an der Grenze.« Sie wandte sich vom Bildschirm ab. »Schauen wir mal, mein Schatz, wie es heute aussieht.« Frau Dr. Altmüller stand auf und ging auf die überdimensionale Tierwaage in der Ecke des Raumes zu.

»Bringen Sie ihn mal her«, befehligte die Altmüller dem weit weniger Standhaften unseres Teams und hatte prompt Erfolg. Wolfgang, der pure Befehlsausführer, machte, was ihm aufgetragen wurde. Er setzte mich auf der Waage ab. Eiskalt war die Oberfläche, doch längst nicht so frostig wie das Herz dieser Altmüller.

»Jetzt kommt die Stunde der Wahrheit«, ließ die Ärztin verlauten. Sie schob ihre Lesebrille auf der Nase nach oben und warf einen Blick auf die mechanische Anzeige. »Alter Schwede.« Gut hörbar zog sie Luft ein.

Ha, danebengelegen, freute ich mich über die Fassungslosigkeit der Tierärztin. Jetzt durfte die Quacksalberin Abbitte leisten.

»Der Hammer. Fast 15 Kilo«, sagte die Altmüller.

Mir wurde komisch.

»Du hast ordentlich was verputzt in der letzten Zeit, was? Na, dann darfst du wieder runter von der Waage, du Pummelchen.«

Ging nicht! Ich befand mich in Schockstarre. 15 Kilo, das lag außerhalb des Bereichs des Möglichen. Ob das alte Ding von Waage in den letzten 30 Jahren überhaupt mal geeicht worden ist, fragte ich mich nicht zu Unrecht.

Doch den Fehler im System zu suchen, lag der Ärztin fern. Stattdessen rückte sie mir auf die Pelle und griff mit beiden Händen in mein Fell. Sie wanderte die Brust entlang in Bauchhöhe und weiter zu den Hüften. »Dachte ich mir, ich kann die Rippen kaum ertasten. Überall Fettpolster.« Mit geheuchelter Besorgnis wandte sie sich an Wolfgang, als ob der in unserer Zweiergemeinschaft die Hosen anhätte. »Wenn unser Günther nicht krank werden soll, müssen wir dringend etwas tun.«

»Klar«, sprang Wolfgang sofort darauf an. »Zukünftig sind alle Leckerlis gestrichen, und vom Tisch gibt es auch nichts mehr.«

Mir ging die Düse. Wieso machte der Sportsfreund, so völlig ohne Not, derart drastische Zugeständnisse? Das war, als ob Luke Skywalker einmal »Buh« gesagt hätte und Darth Vader würde ihm sofort die Pläne für den Todesstern in Großformat zustecken. Selten dämlich war das und zugleich unverantwortlich.

Doch selbst das stellte die Tierärztin nicht zufrieden. »Ich befürchte, ohne Diät und Bewegungsprogramm werden wir das nicht in den Griff bekommen.« Sie ging zurück an ihren Computer.

Jetzt lag es allein an Wolfgang, mich vor dem drohenden Unheil zu bewahren. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu.

»Oje, Diät, das wird dem Kleinen nicht schmecken. Es gibt nicht vieles, was Günther mehr mag als essen. Außerdem treiben wir Sport. Eigentlich täglich«, führte Wolfgang zu meiner Verteidigung an. Jedes Wort war wahr. Abends und morgens ein Viertelstündchen oder manchmal auch nur zehn Minuten spazieren gehen und die Gegend mit der Nase durchforsten – da bin ich sofort dabei. Danach heißt es ohne große Umwege in meinem weichen Körbchen neue Kräfte sammeln. Der Tag von zwei Helden ist eben eng getaktet.

»So wie ich das sehe, ist es für Sie beide nicht schlecht, etwas mehr Sport zu treiben.« Die Altmüller musterte meinen Partner von oben bis unten und verweilte dabei unhöflich lange auf Bauchhöhe. Die kannte kein Pardon.

Wolfgang kreuzte die Arme vor der Brust. »In den letzten Monaten war es stressig auf der Arbeit.«

Die Tierärztin beachtete ihn gar nicht, sondern tippte erneut auf ihrer Tastatur herum. »Ich stelle Ihnen einen Wochenplan zusammen. Feste Zeiten – das funktioniert bei einem Fall wie dem Ihren am besten.«

Was ist denn »ein Fall wie der unsere«, fragte ich mich empört, war mir allerdings nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.

»Also, da haben wir den Schlachtplan.« Die Formulierung erheiterte die Ärztin. »Täglich mindestens zwei Stunden Bewegung an der frischen Luft, und für den Hund bitte nur das Futter, das ich Ihnen notiert habe. Die halbe Menge, die auf der Packungsangabe vermerkt ist. Jeweils am Morgen und am Abend.«

Mir wurde flau. Womöglich konnte ich den zu erwartenden Hunger schon spüren.

»Okay, das krieg ich hin. Und was bekommt er zwischendurch?«, erkundigte sich Wolfgang berechtigterweise.

»Nichts. Das ist vielleicht auch eine Variante für Sie.«

Ich schluckte. Wolfgang ebenso. Der Drucker setzte sich in Gang.

»So, da ist es.« Frau Altmüller nahm das Blatt entgegen und reichte es an Wolfgang. »Kinderleicht, solange Sie sich an alle Vorgaben halten. In vier Wochen ist Ihr Kontrolltermin. Eins kann ich Ihnen versprechen: Wenn wir uns wiedersehen, werden Sie beide schwer erleichtert sein.«

Haha, dachte ich. Bei der Meisterschaft in der Kategorie erbärmliche Wortspiele würde die Frau Doktor den ersten Platz belegen.

Wolfgang verzog keine Miene. Er faltete das Papier in der Mitte und ließ es kommentarlos in der Innentasche seiner blauen Dienstjacke verschwinden. Die kann viel reden, urteilte ich. Daraus würde ohnehin nix werden. Spätestens nach zwei Tagen würde der Wochenplan begraben und vergessen sein, dafür würde ich Sorge tragen.

Die Ärztin allerdings schien Gedanken lesen zu können. »Herr Forsberg, wissen Sie, was einem Hund mit Übergewicht alles blühen kann?«

Wolfgang zuckte mit den Schultern, und die Altmüller holte zum nächsten Schlag aus. »Eine deutlich verkürzte Lebenserwartung, Gelenkerkrankungen wie Ar­throse, außerdem Diabetes …«

Ich schaute bange zu Wolfgang. Dass Hunde Diabetes bekommen können, war mir neu.

»… Bluthochdruck, Kurzatmigkeit bis hin zur Atemnot …«, zählte die Ärztin weiter auf. An Munition mangelte es ihr nicht.

Atemnot versetzte Wolfgang den Todesstoß. »Wir machen alles genau so, wie Sie es uns raten«, gab er klein bei.

Meine Beine zitterten. Es rauschte in beiden Ohren. Eine bisher nie gekannte Schwäche befiel meinen Körper, wanderte durch mich hindurch, bis das Gefühl der Mattigkeit mich völlig gefangen genommen hatte.

»Na, wunderbar. Dann sind wir uns einig.« Frau Dr. Altmüllers Frohmut war wie ein Schlag ins Gesicht. Trotzdem trat sie noch mit einem letzten klugen Spruch nach. »Ach, wer weiß, im besten Fall macht Ihnen die gemeinsame Auszeit in der Natur sogar Spaß.«

Die Betonung lag auf »gemeinsam«. Doch wie es aussieht, stiehlt sich Wolfgang aus der Verantwortung und überlässt mich allein meinem Schicksal. Schlimm, insbesondere da zu befürchten ist, dass Toni mehr als pedantisch bei der Umsetzung des Diätplanes sein könnte.

Meine letzte Hoffnung, der Wandertour zu entkommen, bleibt sie trotzdem. Sie sieht nicht erfreut aus. Ich rieche ihren Schweiß, der aus jeder Pore tritt. Sie ist gestresst. Vielleicht, weil sie genauso wenig Lust wie ich hat, sich diesem Wanderdiktat zu ergeben. Wenn Toni die Angelegenheit kippt, bin auch ich gerettet.

»Die letzten Jahre waren nicht einfach für dich«, rührt in der Sekunde Wolfgang in Tonis Vergangenheit herum. »Eine Menge Arbeit, die vielen Überstunden, der Tod deines Ex-Mannes …«

Menno, jetzt wird es aber echt melodramatisch, denke ich. Da könnte Rosamunde Pilcher neidisch werden. »Du springst immer ein, wenn Not am Mann ist. Wir dachten, eine Auszeit, um mal zur Ruhe zu kommen, dürfte genau das Richtige für dich sein. Die hast du dir verdient. Wir haben alle zusammengelegt und unser Büroschwein geschlachtet.«

Toni schaut betreten drein. Wolfgang macht es ihr nicht leicht, noch die Kurve zu bekommen und abzuspringen.

»Du freust dich doch?«, hakt er nach.

Toni streicht sich eine Strähne hinters Ohr, während die Gäste erwartungsvoll zu ihr blicken. Sie setzt an, etwas zu sagen. Los, Toni, sei einfach ehrlich, wünsche ich mir. Erkläre den Kollegen, dass Wandern furchtbar anstrengend, langweilig, unnötig und letztlich pure Ressourcenverschwendung ist. Eine ganze Woche lang durch die Landschaft stapfen – und das ohne ordentliche Verpflegung –, ist schlichtweg unverantwortlich!

»Das ist echt unglaublich nett von euch allen«, ergreift Toni das Wort. »Damit hätte ich nie im Leben gerechnet.«

Gleich kommt das »Aber«, da bin ich mir sicher.

»Aber …«, erklingt es tatsächlich aus Tonis Mund. Perfekt, freue ich mich. Sie stockt, dabei fehlt lediglich noch so was wie »Das kann ich nicht annehmen« plus irgendeine halbwegs plausible Ausrede, und wir sind raus aus der Nummer. Ich lasse sie nicht aus meinen Hundeaugen. Komm, Mädchen! Rette uns beide, flehe ich in Gedanken.

Tonis Blick wandert von einem zum nächsten. Und dann sprudelt es aus ihr heraus: »Aber das mit dem Urlaub ist so lieb von euch. Ich freu mich, ehrlich!« Sie macht dabei den Eindruck, als könnte sie nicht fassen, was sie gerade gesagt hat. Kein Wunder, mir geht es genauso.

Die Menge jubelt. Wolfgang nimmt Toni fest in den Arm, und Burkhard stößt ein weiteres Mal mit der van der Pütten an. So gut war die Stimmung früh am Morgen im Präsidium in Saarbrücken schon lange nicht mehr – zumindest bei den meisten.

Ich jedoch bin am Boden zerstört. Auch weil gegenwärtig ein zweiter Run auf das Buffet stattfindet, das für mich dank Frau Altmüller zur Tabuzone erklärt wurde.

Lodi van der Pütten, die Trainerin der Polizeihundestaffel, kommt mit einem bis in die letzten Winkel gefüllten Teller auf uns zu.

»Mensch, Lodi, ohne dich wäre die Überraschung nur halb so gut gelungen«, begrüßt sie Burkhard und klopft ihr auf die Schulter.

Ein winziges Trostpflaster in Form eines vegetarischen Mini-Wieners auf Pumpernickel garniert mit Lachscreme purzelt zu Boden. In der Not nimmt man, was man kriegen kann, entscheide ich und befreie mit einem Happs das alte Parkett von Altlasten.

»Ach Quatsch, nicht der Rede wert«, erwidert die van der Pütten währenddessen und schiebt die Leckereien auf ihrem Teller näher in Richtung Mitte. Sehr schade, finde ich.

»Jetzt aber keine falsche Bescheidenheit. Ohne dich hätten wir beim Thema Geburtstagsgeschenk alt ausgesehen. Die Idee mit der Wanderung war tipptopp«, pflichtet Wolfgang dem Chef bei und legt seinen Arm über die Schulter der Hundetrainerin.

Begeistert reiße ich meine Schnauze auf. Der Teller wackelt und gerät in Schieflage. Doch die van der Pütten reagiert diesmal zeitig und balanciert den Teller in ihrer Hand gerade noch so aus.

»’tschuldigung«, murmelt Wolfgang.

»Kein Problem. Alles gut gegangen«, findet die Trainerin.

Ich nicht. Was für ein rabenschwarzer Tag ist das heute! Dass die Militante von der Polizeihundestaffel für den ganzen Ärger mit dem Wanderurlaub verantwortlich sein soll, macht sie mir nicht sympathischer. Außerdem frage ich mich, wieso ausgerechnet unsere Hundetrainerin, die Toni eigentlich kaum kennt, diese Wahnsinnsüberraschung geplant hat.

Wat tut man nicht alles für die Lütten

Landespolizeipräsidium Saarland in Saarbrücken 26.05.2023 Lodi van der Pütten

Wat’n Schiet! Wolfgang und Burkhard heben mich in den Himmel, und ich könnte im Erdboden versinken. Schließlich habe ich ihnen den Wanderurlaub für Toni nur untergejubelt, um meine eigene Haut zu retten. Darauf bin ich nicht stolz. Aber mein Gott, was blieb mir anderes übrig? »450 Euro am Tag«, stand im Inserat. Das hat mich hellhörig werden lassen.

 

Mein Honorar als Hundetrainerin ist mager. Es reichte all die Jahre gerade so, um über die Runden zu kommen. Das endete jedoch damit, dass ich auf die olle Geschäftsidee meines Jüngsten reingefallen bin.

»Eine Biomasseanlage für Hundekot, damit werden wir reich, Mudder.« Mit dem Spruch ging es los.

»Aha! Von so etwas habe ich noch nie gehört«, gab ich Suntke zur Antwort.

»Genau dat macht doch auch eine gute Idee aus«, erwiderte mein Jüngster. »Die Vorteile liegen klar auf der Hand: Häufchen gibt es mehr als genug, und niemand will sie haben. Daraus Energie zu gewinnen, ist genial.«

Das klang logisch. Also investierte ich, damit der Suntke die Chance hat, endlich mal auf die Beine zu kommen. Die dafür nötige Summe überstieg meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem. Sprich: Es brauchte einen verdammt hohen Kredit. Da Suntkes Akte wegen ein paar Lappalien in der Jugend nicht ganz lupenrein war, musste meine kleine Eigentumswohnung als Sicherheit herhalten. Die Bank lieh mir das Geld, und ich gab es Suntke. Statt das Gelände für die Biomasseanlage zu kaufen, setzte sich das Früchtchen allerdings mit den Moneten ab.

Kein Sterbenswörtchen habe ich mehr von ihm gehört. Geblieben ist mir die Bank, die mir seitdem im Nacken sitzt. Ich war so ein Döskopp. Aber was tut man nicht alles für die Lütten.

Jedenfalls sah es verdammt schlecht für mich aus. Das Ultimatum der Bank liefe bald ab, ich musste endlich die ersten Raten überweisen. Mir war klar: Wenn kein Wunder geschehen würde, wäre die Wohnung weg und ich obdachlos. Als ich dann das Inserat in den Stellenanzeigen im Saarbrücker Morgenblatt entdeckt habe, war es, als ob mir jemand ein rettendes Seil zuwirft, während ich über einem tiefen Abgrund hänge und mich mit letzter Kraft an einem Felsvorsprung festklammere. Mal ehrlich: In dem Fall fragt niemand mehr, wer das Tau am anderen Ende hält. Da greift man einfach zu.

Also suchte ich meine alten Zeugnisse zusammen und bewarb mich. Nur einen Tag später saß ich in St. Ingbert in einem temporären Strategie-Office-Center. So jedenfalls nannte dieser aufgeblasene Geschäftsführer es. Angenehm war das Gespräch nicht.

»Und Sie trauen sich so was zu?«, wollte Brecht von mir wissen.

»Sicher! Wieso nicht? Wer ein Rudel Hundje nebst Hundjeführer im Griff hat, der kann doch wohl auch ein paar Leutchen durch den Wald schleusen.«

Mein Gegenüber musterte mich. Ungemein skeptisch, wie ich fand.

Dieser Brecht, der sich mir als einer der gefragtesten Berater des Deutschen Tourismusverbandes vorgestellt hat, war ein aalglatter smarter Schönling. Ein unangenehmer Bursche.

Während mir Brecht in beigem Leinenblazer, farblich passender Bundfaltenhose und einem kiwigrünen Hemd gegenübersaß, hatte ich für das Treffen ein legereres Outfit gewählt. Die wollen einen Coach für Wanderungen und keine Vorzimmerdame, hatte ich mir gesagt, deshalb war die Wahl auf ein schwarzes Wandershirt mit Fledermaus auf dem Rücken und meine gute alte Trekkinghose mit den abnehmbaren Beinen gefallen. Die hatte mich bereits durch die schottischen Highlands begleitet. Durch dichten Nebel, Platzregen und Sturm. Solche Geschichten konnte die Hose vom Brecht hundertpro nicht erzählen.

»Sie kennen sich gut in den regionalen Wäldern aus?«

»Alle schon durchwandert«, übertrieb ich hemmungslos. Genau genommen gehe ich sonntags höchstens mal eine Runde an der Saar spazieren.

»Sturmerprobt und krisenfest sind Sie, steht in Ihrem Lebenslauf«, fuhr Brecht fort.

»Jep. Unbedingt!« Was das Thema betraf, hatte ich mich auf meine langjährige Wacken-Festival-Erfahrung bezogen. Seit 94 stehe ich – egal, ob Unwetter oder Megahitze angekündigt sind – pünktlich auf der Matte. Das ist meines Erachtens mit Extrem-Survival gleichzusetzen.

»Ursprünglich sind Sie aus …« Er beugte sich vor, um in meinen Unterlagen nachzulesen.

»Aus Ostfriesland«, erklärte ich, »um genau zu sein aus Leer. Aber ich wohne seit fast zehn Jahren im Saarland. Eine überzeugte Wahlsaarländerin, wenn man das so sagen will.« Ich beendete den Satz mit einem Zahnputzlächeln. Eine positive Ausstrahlung ist bei einem Vorstellungsgespräch von großer Wichtigkeit, stand in einem Internetratgeber zum Thema Bewerbungen, und ich gab alles, um die Stelle zu bekommen.

Brecht verzog keine Miene. »Und Sie sind als Branchenfremde bereit, vorab an dem fünftägigen Fortbildungsprogramm ›Naturcoaching für Quereinsteiger‹ teilzunehmen?«

Mist, dachte ich. Mit meiner Arbeit als Hundetrainerin wäre das schwer vereinbar. Aber egal, irgendwie würde ich das hinbekommen. »Na, sicher! Ich freu mich schon drauf«, lautete meine Antwort. Erstes Ziel war es, den gut bezahlten Job an Land zu ziehen. Danach müsste man weitersehen.

»Nun, um Ihnen noch unser besonderes Projekt genauer vorzustellen …«

»Heimat-Tanken!«, versuchte ich, mit Wissen zu glänzen. Der Begriff ist mir von der Stellenanzeige im Gedächtnis geblieben. »Ehrlich gesagt finde ich den Namen …«, ich überlegte, wie ich meine Meinung höflich und halbwegs gebildet in Worte fassen könnte, »… retro. Ich könnte mir was mit mehr Wumms vorstellen. ›Heimat‹ – dat klingt so ungeheuer altbacken.«

Es tat sich etwas auf Brechts Gesicht. Die Augenbrauen neigten sich zueinander, die Lippen kräuselten sich.

»Obwohl retro eigentlich super ist«, beeilte ich mich zu sagen. Mensch, du Dummsnuut, schimpfte ich mich selbst. Ehrlichkeit sollte ich mir für die Freizeit aufsparen. Um den Job zu bekommen, brauchte es viel eher Diplomatie. »Im Moment stehen die Leute total auf die alten Zeiten«, ergänzte ich deshalb. Ich wollte den Job, und zwar unbedingt.

»450 Euro am Tag, das war der Strohhalm, an den ich mich klammerte. Mit dem Job als Coach könnte ich vielleicht gerade noch die Kurve kriegen, was die Bank und die ausstehenden Raten betrifft.

»Was planen Sie konkret?«, zeigte ich mich interessiert. Genau so, wie man sich einen zukünftigen Mitarbeiter wünscht.

»Nun, das Projekt wird den Tourismus in der Region auf ein völlig neues Level katapultieren. Mit einem gut durchdachten Konzept und klugen Investitionen könnte es in Saarland und Hunsrück bald zugehen wie in Bayern oder an der Ostsee. Touristen, so weit das Auge reicht. Eine derartige Kampagne muss man richtig aufziehen und – auch wollen. Nicht kleckern, sondern klotzen, sage ich immer.«

Brecht tippte auf eine Taste an seinem Laptop, und auf der überdimensionalen Leinwand vor uns leuchtete eine Präsentation auf. »Heimat-Tanken – die junge Art, Urlaub zu machen«, stand in dicken Lettern in der Mitte.

Mit einem Laserpointer wies Brecht auf die kleinformatigeren Worte, die um den Titel angeordnet waren. »Schwarmfinanzierung«, »touristisches Neupotenzial« und »Internationale Vermarktung« las ich.

»Ein Wanderparadies mit luxuriösem Background – das wird unser Alleinstellungsmerkmal.« Brechts Stimme nahm einen feierlichen Klang an. Fast schon andächtig, als hielte er die Heilige Messe in der Kirche ab. »Ursprünglichkeit gepaart mit Komfort und Besonderheiten – dafür sind die Gäste bereit, tief in die Tasche zu greifen. Deutschland liegt als Urlaubsland voll im Trend. Da hat die Pandemie ein gutes Werk für uns getan.« Er stimmte ein Gelächter an. Es klang unangenehm. »Die Leute wollen dem Heimatgefühl nachspüren, die Natur erleben.« Er hob seinen Zeigefinger alarmierend in die Höhe. »Tagsüber natürlich nur. Wenn es Abend wird, will sich keiner auf eine alte Luftmatratze legen, mit Stechmücken kämpfen und Suppe aus der Kantine futtern.«

Er richtete sich an mich: »Haben Sie mal das Buch vom Kerkeling gelesen? Von seiner Zeit, als er auf dem Jakobsweg unterwegs war?«

Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal ein Buch in meinen Händen hielt. Muss Jahre her sein. »Ja. Na, klar«, erwiderte ich trotzdem.

»Dann wissen Sie, wo der Kerkeling übernachtet hat.«

Ne. Mir wird heiß. Ich nickte leicht, setzte ein Lächeln auf und gab mich der Hoffnung hin, dass das eine rhetorische Frage war. Bitte!

»Der Hape war klug und hat sich jeden Abend ein Hotelzimmer gegönnt«, gab sich Brecht selbst die Antwort. »Nach der Schinderei beim Wandern ließ er sich das nicht nehmen. Wer will schon freiwillig in irgendeiner Absteige nächtigen und sich mit 20 Fremden die Dusche teilen? Sie doch bestimmt auch nicht?«

»Nö«, bleibe ich diesmal bei der Wahrheit. Während des Wacken-Festivals spare ich mir das Duschen immer.

»Sehen Sie. Das ist der Trend von heute: Abenteuer und einmalige Erlebnisse gepaart mit allen nur denkbaren Annehmlichkeiten. Exakt bei diesen Wünschen setzen wir an … Wir wissen, wo der Hase langläuft.«

Wo läuft denn der Hase lang, fragte ich mich und rieb mir mit der Hand über den Unterarm.

Brecht war verstummt. Er beugte sich vor. Anscheinend war die Sache mit dem Hasen vertraulich und nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. »Ich mag die Natur, ehrlich, mir liegt unglaublich viel an Umweltschutz, Artenerhalt und all dem Kram.« Seine Stimme ist leiser geworden. »Aber wir wissen doch beide: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.«

»Aha. Verstehe.«

»Mir schwebt eine neue Form des Reisens vor. Wir bieten urwüchsige Erlebnisse, die sich mit individuell anpassbaren Dienstleistungen wie Spa und Wellness am Abend kombinieren lassen. Stellen Sie sich vor, Sie erwartet nach einer anstrengenden Etappe ein Panoramarestaurant auf den Gipfeln eines Berges. Sie nehmen auf der Terrasse mit schönster Weitsicht ein erholsames Bad in einem Jacuzzi und lassen den Abend bei einem Glas regionalen Wein mit Blick auf das Naturpanorama ausklingen.« Er wischte mit den Handflächen durch die Luft und lässt dem Bild Zeit zum Nachwirken. »Wir erschaffen 750 zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten genau dieser Art in Saarland und Hunsrück. Mir schweben neben Panoramagebäuden an den besonderen Blickpunkten zusätzlich auf alt getrimmte Ur-Waldsiedlungen vor – das klingt doch klasse, oder?«

Mein Einsatz war gefordert. »Aber so was von!«, urteilte ich.

»Angesiedelt werden sie fernab von Ortschaften und Städten mitten im Grünen«, ging es weiter. »Stets nach dem Motto: Draußen die Natur und drinnen der Komfort. Das werden Eins-a-Luxusappartements mit allem Drum und Dran. Außerdem werden unsere Gäste von den besten Köchen der Gegend verwöhnt. Es wird Personal geben, das die Teilnehmer nach der anstrengenden Tour massiert. Ihnen wird förmlich jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Und jetzt kommt der Clou an der Sache: Trotz all dieser Annehmlichkeiten fühlen sie sich, als wären sie inmitten der Natur. Dafür sorgen riesige Fensterfronten, durch die die Gäste stets den Wald betrachten und die Welt dort draußen beobachten können. Das ist genial. Einfach herrlich.« Er verstummte und richtete seine Augen erwartungsvoll auf mich.

»Ja, herrlich«, griff ich Brechts Worte auf. »Der Wahnsinn!« Richtig wohl war mir bei der Antwort nicht. Der Typ hat einen an der Waffel. Wer sollte das überhaupt alles finanzieren?

»Das Gesamtprojekt hat ein Kostenvolumen von 87 Millionen Euro«, fuhr Brecht fort, als hätte er meine Gedanken erraten. »Und das ist unter uns gesagt, Frau van der Pütten, verdammt viel Geld für diese verschlafene Region.«

»Das wird ganz großes Kino«, fiel mir dazu bloß ein.

»Wenn die Sache erst einmal unter Dach und Fach ist, ist das ein echter Glücksfall für die Leute hier«, ereiferte sich Brecht. »Mir liegt was an den Menschen aus der Gegend. Wissen Sie, ich bin selbst aus dieser Ecke.«

»Aha.« Das wunderte mich. Der Tourismusberater kam mir nicht wie der typische Saarländer vor. Wie auch immer der ausschauen sollte – Brecht passte für mich nicht ins Bild.

»Aber für einen Typen wie mich ist das Saarland einfach zu eng. Kaum das Abi in der Tasche, musste ich hinaus in die weite Welt.«

»Okay«, sagte ich lediglich, weil mir nicht mehr dazu einfiel. »Und wann soll die Sache losgehen?«, lenkte ich auf ein anderes Thema.

»So bald wie möglich. Mein Plan ist es, Anfang Juni mit einer ersten speziell ausgewählten Gruppe zu starten. Testweise. Jede Etappe wird genau geplant und dokumentiert. Auf diese Weise zeige ich meinem Auftraggeber die Chancen und natürlich auch das Verbesserungspotenzial der Region auf. Die fertige Präsentation wird schließlich den Investoren vorgelegt. Da der Deutsche Tourismusverband der größte Geldgeber sein soll, gilt es, den zu überzeugen. Dass das gelingen wird, steht außer Zweifel. Wenn alles in trockenen Tüchern ist, geht es Ende des Jahres richtig los. Dann werden die ersten Gebäude in Angriff genommen.«

»Ui.«

»Jaja, klotzen statt kleckern«, erinnerte Brecht mich an sein Motto. »Adrenalin Innovationsmanagement heißt meine Firma in Köln – der Name ist Programm. Als CEO habe ich mich in ganz Europa bewiesen. Mein Job ist es, die Kampagnen zum Laufen zu bringen. Ich bin der ›Schrittmacher‹, bis die Sache Fahrt aufnimmt und ich die Zügel mit gutem Gewissen an die Bremsklötze von den Tourismusverbänden abgeben kann. Denen fehlt es am Mumm, um so was konsequent auch mal gegen den Bürgerwillen und die vielen Grünchen, die die Welt retten wollen, durchzusetzen.«

»Okay. Ich verstehe.«