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András Forgách

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Beschreibung

Die unglaubliche Entdeckung, dass die eigene Mutter eine Spionin war Nach dem Tod der Mutter erhält András Forgách Akten vom Geheimdienst, die sein Leben auf den Kopf stellen. Er hing zärtlich an seiner Mutter und hatte ihre Lebensgeschichte rekonstruiert: eine ungarische Jüdin, die aus Tel Aviv nach Budapest zurückkehrte, weil sie Lenin über alles liebte und dem Werben eines Journalisten erlag. Sie lebten in London, Paris, in Budapest. Stets war sie der Mittelpunkt des turbulenten Freundeskreises, der Anker der Familie. Und doch hatte sie alle, sogar die Söhne, bespitzelt und verraten. So steht es in den Akten. Wohin jetzt mit der Liebe, wo nichts im Leben mehr stimmt? Verrat ist die Signatur des letzten Jahrhunderts, und selten wurde von ihr mit so viel Empathie und psychologischer Klugheit, mit Witz und Charme erzählt – die Geschichte einer unmöglichen Liebe und eines verlorenen Lebens.

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András Forgách

Akte geschlossen

Meine Mutter, die Spionin

 

Aus dem Ungarischen von Terézia Mora

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nach dem Tod der Mutter erhält András Forgách Akten vom Geheimdienst, die sein Leben auf den Kopf stellen. Er hing zärtlich an seiner Mutter und hatte ihre Lebensgeschichte rekonstruiert: eine ungarische Jüdin, die aus Tel Aviv nach Budapest zurückkehrte, weil sie Lenin über alles liebte und dem Werben eines Journalisten erlag. Sie lebten in London, Paris, in Budapest. Stets war sie der Mittelpunkt des turbulenten Freundeskreises, der Anker der Familie. Und doch hatte sie alle, sogar die Söhne, bespitzelt und verraten. So steht es in den Akten. Wohin jetzt mit der Liebe, wo nichts im Leben mehr stimmt?

 

Verrat ist die Signatur des letzten Jahrhunderts, und selten wurde von ihr mit so viel Empathie und psychologischer Klugheit, mit Witz und Charme erzählt – die Geschichte einer unmöglichen Liebe und eines verlorenen Lebens.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

András Forgách, geboren 1952, gehört zu den prägenden Gestalten des kulturellen Lebens in Ungarn. Der mehrfach preisgekrönte, vielseitige Autor verfasste zahlreiche Theaterstücke, inszenierte an verschiedenen Theatern, schrieb die Drehbücher zu mehreren Filmen, und ist Übersetzer literarischer Werke aus dem Englischen, Französischen und Deutschen. András Forgách lebt in Budapest.

 

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Ungarischen.

Ein jegliches hat seine Zeit

… schweigen und reden …

(Prediger 3,7)

IFrau Pápai

Der Geburtstag

Zum Treffen erschien Frau Pápai pünktlich. Die Herren verspäteten sich um ein Viertelstündchen, wofür sie sich mehrmals demütigst entschuldigten, um Frau Pápai anschließend einen Blumenstrauß anlässlich ihres 60. Geburtstags zu überreichen. Dies trug sich auf dem Batthyány-Platz zu. Die Herren waren noch dabei, sich eifrig zu rechtfertigen, aber Frau Pápai verscheuchte mit einer ungeduldigen Bewegung jedes weitere überflüssige Wort und sagte, begleitet von einem charmanten, betörenden Lächeln, mit ihrem unverkennbaren Akzent und der singenden Melodie ihrer Stimme, die die Wirkung der Aussage noch erhöhte, inmitten rieselnden Schneefalls – den der Bericht allerdings zu erwähnen vergaß –, nur so viel: »Das soll unser größtes Problem sein, meine Herren.« Eigentlich sagte sie »Genossen«; aber bleiben wir im Interesse der Ernsthaftigkeit der Erzählung beim Ausdruck »Meine Herren«, was den galanten Komplimenten der Herren, die mit der Übergabe des Blumenstraußes einhergingen, doch besser entspricht. Die kleine Gesellschaft machte sich – einer vorangegangenen Vereinbarung folgend – auf den Weg zur Konditorei am Rande des Platzes, die sich neben oder hinter der Kirche (eine Frage der Interpretation) befand und deren Lage im Souterrain noch an die Zeiten vor den großen Überschwemmungen erinnerte. Als sie das perlende Lachen Frau Pápais hörten, erhellten sich selbst die grauen Wellen des Flusses für einen Augenblick, und ja, sogar Hokusai hätte neidisch werden können bei dem wunderbaren Bild, das die auf das grau-silberne Wasser schräg einfallenden riesigen Schneeflocken abgaben. In diesem Moment fuhr von der Endhaltestelle hinter dem Metroausgang, selbst Frau Pápais Lachen übertönend, mit ohrenbetäubendem Gerassel die Straßenbahn Nummer 19 Richtung Kettenbrücke los.[1]

Frau Pápai sah nicht auffallend elegant aus, sie trug eine bunte Strickmütze tief in die Stirn gezogen, und auch ihren gefütterten beigefarbenen Mantel konnte man nicht als den letzten Schrei bezeichnen, er stammte aus der Werkstatt der KRO, der Kleiderfabrik Roter Oktober, sie trug einfache Schuhe mit flachen Absätzen, ihr einziger Schmuck waren ihre wundervoll funkelnden jaspisgrünen Augen mit den grauen und blauen Einsprengseln. Als hätte sie sich absichtlich nicht um ihr Äußeres gekümmert. »Wichtig ist nicht, wie man aussieht, meine Herren, ach, nicht die Kleider machen die Leute!«, hätte sie gesagt, wenn man sie dazu befragt hätte. Die unauffällige Erscheinung war diesmal übrigens ausgesprochen vorteilhaft. Dass sie heute Geburtstag hatte, wussten die Herren auch nicht von ihr persönlich, denn Frau Pápai legte extra Wert darauf, dass ihr Umfeld »keinen Wirbel« um diesen Tag herum veranstaltete, sie mochte Zeremonien und unnötige Feiereien nicht. »Ach, es gibt doch so viele Dinge auf dieser Welt, die viel, viel wichtiger sind, Menschen hungern, sie haben keine Schuhe, sie werden von Krankheiten und Kriegen dezimiert.« Abgesehen davon, gab es tatsächlich eine kleine Unsicherheit, was den Geburtstermin von Frau Pápai anging, aber davon konnten die drei Herren wirklich nichts wissen. Frau Pápais Geburtstag fiel nämlich, der Ordnung der Dinge entsprechend, von Zeit zu Zeit auf den Tag eines berühmten beweglichen Feiertags, und in ihrer Kindheit feierte ihre die Vorschriften des Glaubens noch streng einhaltende Familie, je nach Stimmung, an diesem Feiertag, an diesem doppelten Feiertag, den Geburtstag von Frau Pápai mitunter über mehrere Tage lang, denn das Lichterfest dauert, wie allgemein bekannt, acht Tage lang. Also gaben die Eltern ihren spielerischen künstlerischen Neigungen nach und wichen vom ursprünglichen, nüchternen Datum ab, denn die Geburt des Mädchens, die im Übrigen auf den 3. Dezember fiel, bedeutete ihnen genauso viel Freude wie das Fest selbst. Wegen des Feiertages konnte es auch passieren, dass Frau Pápais Mutter, eine für ihren Hang zu Flirtereien berühmte, leidenschaftliche Frau mit einem schlechten Gedächtnis, bei den verschiedenen Kolonial- und anderen Ämtern, von denen es wegen der doppelten Administration ärgerlich viele gab, was das Leben der Einwanderer unnötig erschwerte, manchmal abweichende Daten angab, da sie sich auf die Schnelle nur noch daran erinnerte, dass der Geburtstag ihrer Tochter mit Chanukka zusammenfiel, und so konnte es vorkommen, dass in verschiedenen Dokumenten unterschiedliche Tage auftauchten, so zum Beispiel der 1. Dezember, der 2. Dezember, der 3. Dezember – einmal sogar der 6. Dezember! –, was natürlich Frau Pápais »Gleichgültigkeit«, mehr noch, ihre als überzeugt Ungläubige maßlose Aversion ihrem eigenen Geburtstag gegenüber erklärt. Wenn man nicht wissen konnte, an welchem Tag man in Wirklichkeit geboren wurde, dann war es wirklich absurd, sich auf einen bestimmten Tag zu fokussieren. All das konnten die Herren jedoch nicht ahnen.

Später glitt Frau Pápai in galanter Begleitung der drei Herren (Miklós Beider, Polizeioberstleutnant, Überbringer, Dr. József Dóra, Polizeioberleutnant, Empfänger, sowie János Szakadáti, Polizeioberstleutnant, Unterabteilungsleiter)[2] über die steile Treppe zur Konditorei Angelika hinunter. Dass das nicht zum Einzug einer Operettenprimadonna wurde, war nur der Tatsache zu verdanken, dass zwei der Herren, Dóra und Szakadáti, sich, den Regeln der Konspiration entsprechend, etwas zurückfallen ließen. Aber der Überraschungen war noch kein Ende in Sicht. Die Gruppe saß schon unten, in einer der lauschigen Nischen des Kaffeehauses, und nachdem die drei Herren miteinander darum gewetteifert hatten, wer Frau Pápai aus dem Wintermantel helfen durfte, erwies sich schließlich Miklós als der Geschickteste. Sobald der Mantel von ihren Schultern entfernt war, ruhten die Blicke der drei Herren auf den Hüften und dem üppigen Busen, die die ehemalige Schönheit dieses nicht mehr jungen und nicht besonders hochgewachsenen Frauenkörpers erahnen ließen, der in seiner vollen Pracht übrigens nur auf den den drei Herren unbekannten Strandaufnahmen zu sehen war – besonders gut erkennbar auf Fotos bei Sonnenuntergang, wenn die Silhouette stark betont wurde, und auf denen auch das Profil des Gesichts hervorstach, das seine Schönheit zum Teil den perfekten Proportionen und zum anderen Teil der aus seinen Zügen scheinenden Fröhlichkeit und der bedingungslosen Liebe zum Leben verdankte. Dass jene alten, exotischen Aufnahmen am Meeresstrand im Zuge eines konspirativen Treffens entstanden waren, hätte die drei Herren sicher elektrisiert, wenn das denn zur Sprache gekommen wäre, aber die Unterhaltung drehte sich nicht um Meeresbuchten im Schatten von Libanonzedern, wo Herren und Damen der verschiedensten Nationalitäten und Religionen badeten und flirteten; wo sie sich in Gesellschaft von Eselchen, mit Wasserfällen und dem Mittelmeer fotografieren ließen und die dringlichsten Aufgaben der lokalen Parteiorganisation besprachen, während nördlich von ihnen der Weltkrieg tobte. Nun, nachdem sie alle vier in der Nische Platz genommen und die Speisekarte studiert hatten, bestellten die drei Herren, wie aus einem Munde, schwarzen Kaffee, Frau Pápai jedoch bestellte einen Earl Grey, der damals als Luxus schlechthin galt, aber auf Kuchen verzichtete sie, sich auf ihre vollschlanke Taille berufend, obwohl ihr der dienstälteste Herr Miklós mit seiner warmen Baritonstimme zusprach: »Die französische Cremeschnitte ist hier vorzüglich, von Weltrang«, versicherte er, »mein Enkelkind isst zwei davon in einem Rutsch, und auch die Mohnteilchen …« (»Aha, die Flódni!, das ist doch irgend so eine jüdische Sache, nicht wahr?«, fiel Genosse Szakadáti ein, doch als er die missbilligenden Blicke von Miklós und József bemerkte, verstummte er sofort.) Miklós, der Frau Pápai von den dreien am längsten kannte, redete so lange auf Frau Pápai ein und pries so lange die weithin berühmten Mehlspeisen der Konditorei Angelika, bis sich Frau Pápai nach langem Ringen doch noch dazu überreden ließ, einen Windbeutel zu sich zu nehmen, was später, infolge eines Krieges zwischen der Dessertgabel und dem Windbeutel, der zu feinen Schaumresten an Frau Pápais Lippenrand führte, die sie mit lautem Lachen ableckte, zu zahlreichen scherzhaften Bemerkungen seitens der Herren Anlass gab. Die Herren, selbst wenn sie vielleicht auch Lust auf eine Mehlspeise hatten, waren sich über die Kostendimension[3] des Treffens im Klaren, denn zwar hatte ihnen das Amt diesbezüglich freie Hand gelassen, doch sie wussten, dass ein wenig Zurückhaltung auf lange Sicht nicht schaden konnte. Noch vor Eintreffen des Windbeutels, in der in vertrauter Runde oft entstehenden Stille, wenn jeder spürt, dass man nach den vorangegangenen nichtssagenden und allgemeinen Sätzen nunmehr auf den Punkt kommen müsste, bereitete József Frau Pápai eine große Freude, als er unerwartet eine mit wunderschönen volkstümlichen Motiven bestickte Tischdecke aus seiner Aktentasche hervorzauberte.[4] Die Decke war in Seidenpapier eingeschlagen und mit einer rosaroten Schleife zusammengebunden, und alle drei Herren, Miklós, János und József, wünschten Frau Pápai noch einmal wie aus einem Munde einen frohen 60. Geburtstag, denn Frau Pápai war, wie bereits erwähnt, am Tage dieser Übergabe und Entgegennahme gerade sechzig Jahre alt geworden.

Die Unterhaltung verlief, zur größten Verwunderung der Herren, nicht wie geplant. Und dafür konnte nicht nur der unerwartet auf den Marmortisch purzelnde obere Teil des Windbeutels etwas oder der Hauch verschmierter süßer Creme an Frau Pápais Lippenrand, auf den József (der als Empfänger Mut gefasst hatte) die Genossin mit einem jungenhaftem Lächeln hinwies. Nachdem man Frau Pápai die ihr übertragenen, recht komplexen Aufgaben detailliert auseinandergesetzt hatte und sie diese, beschwichtigend, wie eine Musterschülerin, noch dazu ohne sich Notizen zu machen, was von einem hervorragenden Gedächtnis zeugte, das sich im Übrigen schon im detailreichen, überbordend ausladendem Stil ihrer früheren Berichte gezeigt hatte, aufs genaueste wiedergegeben hatte,[5] beziehungsweise, nachdem Miklós Frau Pápai an József »übergeben« hatte, obwohl sie vor Ort diesen Vorgang nicht genau mit diesem Wort beschrieben, und während er als der Dienstälteste der Kellnerin wegen der Rechnung winkte und schon seine prall gefüllte Brieftasche hervorgeholt hatte, bemerkte Frau Pápai plötzlich, mit einer durchdringend scharfen Stimme, die am ehesten an den jaulenden Gesang eines Muezzins erinnerte und bei deren Klang alle drei Genossen die Ohren aufstellten, Folgendes: »Ich glaube, es lohnt sich für mich nicht mehr, das hier weiterhin zu machen, ich darf nicht mehr das weitermachen.« Die Luft um den Tisch herum fror daraufhin förmlich ein, so dass Frau Pápai etwas leiser, aber immer noch mit jener scharfen Kopfstimme hinzufügte: »Und nicht, weil ich etwa mit unseren gemeinsamen Zielen nicht einverstanden wäre, ganz und gar nicht.« Die drei Herren erstarrten vom plötzlichen Wechsel des Tons quasi zu Stein, und als die Kellnerin gerade in diesem Moment mit feierlichem Lächeln an den Tisch trat und sich anschickte, die gar nicht so bescheidene Rechnung vor Miklós abzulegen, stoppte der Polizeioberstleutnant sie mit seinem erhobenen rechten Zeigefinger mitten in der Bewegung. Erst wollte er die Kellnerin bitten, später noch einmal zu kommen, aber dann überblickte er mit hervorragenden Instinkten die Misslichkeit der Lage und erkannte, dass er damit – die ungeschriebenen Regeln der Konspiration verletzend – nur die Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Im nicht einmal halb besetzten Angelika erregte die fröhliche Runde zu dieser frühen nachmittäglichen Stunde zum Glück überhaupt keine Aufmerksamkeit, die Beamten aus der Umgebung kamen mit Vorliebe zu Mittag oder nach der Arbeit auf einen Kaffee oder ein Bier hierher, in der Ecke saß das unvermeidliche, knutschende Liebespaar, das damit beschäftigt war, zu schauen, wie sich ihr Schauen in den tiefen Augen des anderen spiegelte, doch Genosse Beider deutete mit dem Instinkt eines wahrhaftigen Feldherrn mit einem zwischen den Zähnen hervorgezischtem »Später« Frau Pápai gegenüber an, sie möge ihre Kavallerie von der Brücke zurückbeordern. Wir leugnen nicht, dass Frau Pápai etwas vor Miklós’ hart gewordenem Gesicht erschrak, das innerhalb eines Augenblicks seinen fröhlichen Ausdruck verloren hatte, sie glaubte sogar, das Knirschen seiner Zähne zu hören, gleichzeitig durchschaute sie, als gute Kommunistin, sofort, dass sie nun tief zu schweigen hatte, egal, wie sehr das schon seit langem, im Grunde schon seit 1975[6], in ihr wirbelnde, erstickende, bittere, üble Gefühl auch aus ihr herausbrechen wollte. Als die Kellnerin endlich weg war, sah Miklós Frau Pápai an, János und József taten es ihm gleich, erwartungsvoll und mit einiger Sorge. »Ich«, sagte Frau Pápai, »habe im Dienste der Volksdemokratie bisher nicht nur zahllose, überhaupt nicht einfache Bitten erfüllt, trotz meiner schweren privaten Problemen, ich habe sogar, und das nicht nur einmal, auch konkrete Vorschläge gemacht. Doch selbst wenn Sie auf meine Vorschläge sagten, ›großartig, vielen Dank, wunderbar, hervorragend, prächtig, joffi‹, selbst dann passierte nichts, überhaupt nichts. Mehr noch, trotz meiner so hochgelobten Vorschläge oder gerade wegen dieser, haben Sie mich in letzter Zeit überhaupt nicht mehr aufgesucht, als wäre ich gar nicht auf der Welt. Wie soll ich denn diese Arbeit für wichtig halten, wenn sich keiner dafür interessiert, wenn ich etwas sage oder vorschlage. Man tut nur so, aber wenn sie etwas wollen, dann soll ich gleich springen. Ich halte das unter Genossen, wie soll ich es sagen, für nicht sehr kollegial. Unter solchen Bedingungen sehe ich keinen Sinn in meiner Arbeit, und ich setze sie nur deswegen fort, weil ich darauf vertraue, dass die Veränderung neuen Schwung in die Tätigkeit bringt.« Angesichts dieses Ausbruchs saßen die Herren für einen Moment da wie drei zusammengestauchte Schüler, auf so etwas waren sie überhaupt nicht vorbereitet gewesen, es war nicht üblich, dass ein angeworbener Agent seine Führungsoffiziere belehrt, aber der erfahrene Miklós fand schnell wieder zu sich. »Teure Genossin Pápai«, sagte er diplomatisch klug, »gerade in letzter Zeit hatten wir sehr viele Aufgaben zu erledigen, auf anderen Gebieten, wenn Sie die Nachrichten aufmerksam verfolgt haben, können Sie sich vorstellen, mit welchen Problemen wir überall zu kämpfen haben, und da gibt es natürlich, verständlicherweise, gewisse Prioritäten …« Doch Frau Pápai konnte man nicht so leicht bezirzen, sie fiel Miklós frech ins Wort: »Wenn ich Artikel übersetzen muss, mit denen ich zutiefst nicht einverstanden bin, und mir verursacht das Lesen von widerwärtigen reaktionären Artikel, mit denen ich zutiefst nicht einverstanden bin, seelische Schmerzen, besonders, wenn ich sie wortwörtlich übersetzen muss, wovon sich mir der Magen umdreht, allein schon deswegen, weil ich es auf Ungarisch nicht gut wiedergeben kann und auf Hilfe angewiesen bin, aber ich bekomme sie von niemandem, außer vielleicht von meinem Sohn, aber seine Zeit kann ich auch nicht immer berauben, und ich möchte ihn da auch nicht hineinziehen«. Je länger und je erregter Frau Pápai sprach, umso mehr häuften sich die charmanten sprachlichen Fehler in ihrer Rede, das Vertauschen von Konsonanten, die Suffixe und Füllwörter, die ihr eigenes Leben begannen, was die Männer besonders amüsant fanden, und als Frau Pápai um Nachsicht bat, die Qual andeutend, die es ihr bereitete, ihre Berichte zu verfassen, des Nachts und per Hand, fiel Miklós ein: »Das sind winzige sprachliche Fehler, falsche Formulierungen, liebe Frau Pápai, sie machen den Bericht nur noch glaubhafter, ich gestehe, Ihre Berichte wirken im grauen Meer der üblichen, Kopfschmerzen verursachenden Sätze nahezu erfrischend. Ich kann mich erinnern, wie hervorragend Ihr erster Bericht war, Ihre Jungfernrede, sozusagen, vor sechs Jahren, als Sie mit Ihrem Sohn zu Ihrer Familie fuhren, eine richtige Bravournovelle, wie Sie im Hafen von Jaffa zurückgegangen sind, um Ihr Gepäck zu holen,[7] das haben Sie damals noch nicht für mich geschrieben, aber Genosse Mercz kam extra zu mir herein, um mir den Text vorzulesen, und ich bemerkte schon da, was für eine glänzende Beobachterin Sie sind, und ich vergesse auch nicht, wie goldig es war, als Sie zum Beispiel statt: ›Ich fragte, ob ich aufs Schiff zurückdarf, um das Gepäck zu holen‹ schrieben: ›Ich fragte mich aufs Schiff zurück, um meine Pakete zu holen.‹ Verstehen Sie: ›sich zurückfragen‹ und ›Pakete‹, statt ›Gepäck‹, da musste ich direkt loslachen, wie treffend das doch ist …« Doch Frau Pápai runzelte die Stirn, fiel Miklós erneut ins Wort und sagte: »Aber ich erfülle alle Bitten, so schwer es mir auch fällt, schreibe die Berichte, übersetze die Artikel, und zwar umgehend, lasse alles andere stehen und liegen und bin dann eine gute Genossin. Aber wenn ich um etwas bitte, dann bin ich natürlich nur eine kleine Maus, ein niedrigstes, im Staub kriechendes Dschuck.« »Dschuck?«, fragte Genosse Beider verwirrt. »Eine Schabe«, antwortete Frau Pápai herausfordernd. »Jetzt wollen Sie, dass ich meine Reise abkürze. Und wenn ich es tue, was ist der Dank dafür? Meine Warnungen werden in den Müllkorb geworfen. Meine Ideen sind keinen Pfifferling wert.« Hier sah der Polizeioberstleutnant kaum wahrnehmbar zu Polizeioberleutnant József Dóra, der Überbringer zum Empfänger, hier war die Gelegenheit, auf offener Bühne zu beweisen, dass er der Aufgabe würdig war, über das notwendige psychologische Feingefühl verfügte, um Frau Pápai entsprechend zu behandeln und anzuleiten, die in diesem Augenblick von allen drei Männern heimlich nur noch mehr bewundert wurde, denn der leidenschaftliche Ausbruch hatte sie richtiggehend verjüngt.

»Liebe Genossin Pápai«, sagte József da mit warmer Stimme, »mein Ziel ist es, und womöglich habe ich das bei diesem unseren Treffen auch schon tausendfach bewiesen, das Vertrauen zwischen uns wiederherzustellen. Ein Vertrauen, das gelegentliche Reibungen aushält. Schließlich haben wir das gleiche Ziel, den Kampf für die Wahrheit.« Auch auf die mit volkstümlichen Motiven bestickte Tischdecke wies er diskret hin, die er zwar nicht von seinem eigenen Geld gekauft hatte, aber es war ja schließlich auch keine Pflicht, eine sogenannte inoffizielle Mitarbeiterin mit einem Geschenk zu bestechen. Natürlich konnte Genosse Dóra nicht ahnen, dass Frau Pápai die Tischdecke weiterverschenken würde, sie wusste auch schon, an wen, die Decke würde ein tolles Geschenk abgeben, wenn sie ihre Familie in Tel Aviv besuchte, im Rahmen einer Reise, die ihr diese Auftraggeber bezahlen werden, deren Zielsetzungen, darüber war sich Frau Pápai im Klaren, ihre Möglichkeiten bei weitem überstiegen. Sie würde zwar bis zum Äußersten gehen und alles versuchen, aber sie hatte wohl kaum eine Chance, in den zionistischen Weltkongress hineinzukommen, worüber sie sich insgeheim freute, denn jede ihrer Zellen protestierte gegen dieses »nationalistische Gedöns«; aber wenigstens könnte sie dann in der Nähe ihrer Liebsten sein, denen man mit der Tischdecke mit ihren Matyó-Motiven eine große Freude bereiten konnte. Frau Pápai selbst machte sich nämlich überhaupt nichts aus Gegenständen. Und sie sah zu, dass sie diese bei der erstbesten Gelegenheit loswurde, oder wenn nicht, dann gingen die Sachen in den Tiefen irgendwelcher Bündel verloren, denn wegwerfen konnte sie auch nichts. Schon als Kind hatte sie von ihrer Mutter gelernt, dass man Dinge nicht fetischisieren durfte, ihre Mutter lud, obwohl sie selbst nicht reich waren, regelmäßig Straßenkinder ein und kochte ihnen Kakao mit Schlagsahne, und es kam nicht nur einmal vor, dass sie, von einer plötzlichen Aufwallung angetrieben, einem der Straßenkinder die Schuhe oder die Kleider ihrer Töchter schenkte, und wenn sie sah, dass ihre eigenen Kinder deswegen betrübt waren, hielt sie ihnen einen Vortrag über den bald über der gesamten Menschheit aufgehenden Kommunismus, für den sie mit gutem Beispiel vorangehen müssten. Nein, Frau Pápai maß Gegenständen keinen Wert bei, ihre glänzenden Augen, als sie das Geburtstagsgeschenk erblickte, galten, Etikette hin oder her, allein dem Gedanken, was für ein schönes Geschenk aus diesem Geschenk bald werden würde.

Seit einer Weile rutschte auch Genosse Szakadáti auf seinem Stuhl hin und her, auch er hätte gerne etwas gesagt. Genosse Beider drückte zwar sanft das Knie seines Kollegen unter dem Tisch, was Genosse Szakadáti unbewusst missverstand, da er es als eine Ermutigung auffasste, dabei sollte es das Gegenteil sein. Genosse Beider zeigte auf diese inoffizielle Weise nämlich eigentlich das Ende des viel zu lang gewordenen Treffens an, doch Szakadáti, vielleicht weil er sich viel zu lange hatte zurückhalten müssen, schließlich schwieg er die ganze Zeit über, während sich seine beiden Kollegen mal jovial, mal wie zwei strenge Professoren bei einer Prüfung, mit Frau Pápai unterhielten, konnte nicht mehr an sich halten, es brach (nomen es omen)[8] förmlich aus ihm heraus, und er erinnerte Frau Pápai mit beinahe pennälerhafter Heftigkeit an die vertraute und warme Atmosphäre ihrer ersten Treffen. Denn dieser zweiundvierzigjährige, geschiedene und abgesehen von ziemlich jämmerlichen gelegentlichen Exzessen einsame Mann hatte in einem gewissen Moment Frau Pápais auffallende Spontaneität missverstanden, als diese sich schon während ihres ersten Treffens entschuldigt und gesagt hatte, sie würde sich, wenn sie könne, mit jedermann duzen. Das gefiel Szakadáti außerordentlich, und auch wenn er das Dutzen untersagen musste und sie wieder zum Sie übergingen, das ja auch seine eigene Erotik hat, hoffte Genosse Szakadáti damals und noch eine gewisse Zeit lang – obwohl das jedes Reglement streng verbot – töricht auf eine etwas intimere Beziehung, da er ein Verehrer reiferer Damen war. Inzwischen wissend, dass ihre Treffen zukünftig rarer werden oder gar ganz abreißen würden, denn Genosse Dóra würde die Betreuung der Frau Pápai von Genossen Beider übernehmen und von nun an würde auch die Bearbeitung von Frau Pápais Materialien ausschließlich in den Kompetenzbereich des Genossen Dóra fallen, wurde Szakadáti richtiggehend betrübt. Obwohl er sich nicht darüber beklagte, dass er etwa zu wenig Arbeit hätte, nachdem der ganze Nahe Osten mit allem Drum und Dran zu seinen Aufgaben gehörte, obwohl er weder Arabisch noch Hebräisch konnte und auch seine Englischkenntnisse sehr bescheiden waren, und obwohl er zwar die Sprachprüfung vor einer auffallend wohlwollenden Kommission abgelegt hatte, bedeutete die Lage eine erhebliche Belastung für ihn, besonders in den gegenwärtigen, Schießpulver geschwängerten Zeiten. Die immer noch akute Sehnsucht in seiner Stimme kaum unterdrückend, erinnerte er Frau Pápai an ihre mitreißende Fähigkeit, Vertrauen zu gewinnen, des Weiteren erinnerte er sie an jene Perspektiven, die die gemeinsame Arbeit und der Kampf gegen den internationalen Zionismus in der nicht allzu fernen Zukunft eröffnen würden. Und er fügte, ein wenig übertreibend, auch noch hinzu, dass die Arbeit von Frau Pápai von unschätzbarem Wert für die Volksrepublik sei, in Anbetracht ihrer außergewöhnlichen Sprachkenntnisse und ihres abenteuerlichen Lebens, ihm entfuhr auch noch, dass selbst hochrangige sowjetische Genossen sich lobend über jenes Material äußerten, das er und seine Kollegen aus Frau Pápais Zusammenfassungen hergestellt hatten – hier begnügte sich Beider nicht mehr mit sanftem Kniedrücken, sondern trat (während er Frau Pápai anlächelte) Szakadáti geradewegs gegen den Knöchel.

»Die Rabot ruft!«, verkündete Miklós mit einem entschuldigenden, säuerlichen Lächeln, blickte betont auf seine Uhr und stand auf. Er sprach das Wort Rabot mit leicht russischer Betonung wie Rabjot aus. Aber er erhob sich gar nicht wegen der Rabot so plötzlich vom Tisch. Um die Wahrheit zu sagen, erschrak er, und zwar in dem Augenblick, als er sah, dass ein für seine oppositionelle Einstellung bekannter und sich auch im Westen großer Anerkennung erfreuender Schriftsteller das Angelika betrat, mit einem irrsinnig hübschen jungen Mädchen an seiner Seite, Beider wusste nämlich aus anderen Berichten, die ihn regelmäßig erreichten und die gerade Frau Pápais Verlässlichkeit wenn auch nicht in Frage stellten, sondern, formulieren wir es so, auf der Agenda hielten, dass die Kinder von Frau Pápai einen engen Kontakt zu gewissen Kreisen Budapester Intellektueller pflegten, und er befürchtete, Frau Pápai könnte den Schriftsteller ebenfalls bemerken. Er musste um jeden Preis verhindern, dass die beiden sich grüßten, er verfluchte sich, dass sie ausgerechnet ins Angelika gekommen waren, das, wie allgemein bekannt, das konnte er in zahlreichen Berichten nachlesen, wegen seiner nahegelegenen Wohnung einen beliebten Treffpunkt für den Schriftsteller darstellte. Er sprang also militärisch vom Tisch auf und sah entschlossen auf seine Uhr. Was für einen amüsanten Anblick boten nun diese drei Kavaliere, denn sie sprangen alle, tatsächlich wie drei Roboter, gleichzeitig auf und starrten auf ihre Uhren. Es war zehn Minuten nach vier.[9]

Frau Pápai band sich ihren Seidenschal um den Hals, schloss im rieselnden Schneefall sorgfältig die Knöpfe ihres Mantels, zog die Strickmütze tief in ihre Stirn und ging über die leicht ansteigende Batthyány-Straße Richtung Moszkva-Platz beziehungsweise Richtung Ferenc-Rózsa-Veteranenheim, wo im winzigen gemeinsamen Zimmer ihr wahnsinnig gewordener Mann auf sie wartete, der ehemalige Pápai, mit gekrümmtem Rücken in der Tür stehend, von üblen Vorahnungen geplagt, irre zitternd vor Sorge.

Fußnoten

[1]

Melde, am 3. Dezember 1982 in der Konditorei Angelika IM FRAU PÁPAI getroffen zu haben. Am Treffen nahmen auch die Genossen P. Oberstleutnant János Szakadáti und P. Oberstleut. Miklós Beider teil.

Zum Treffen kamen wir zehn Minuten zu spät. Frau Pápai wartete auf dem Batthyány-Platz auf uns. Nachdem ich ihr vorgestellt worden war, gratulierte ich ihr herzlich zum 60. Geburtstag, und neben unseren guten Wünschen überreichte ich auch unser Geschenk, eine Tischdecke mit volkstümlichen Motiven, die ihr sehr gefiel, dazu noch einen Strauß Blumen.

[2]

BESCHLUSS

 

Das B-1-, M-1-Dossier Nr. 2959 für … (geb. in, am, Name der Mutter …), Deckname »FRAU PÁPAI«, habe ich am heutigen Tag zum Zwecke weiterer Überprüfung bzw. Weiterbeschäftigung eines inoffiziellen Mitarbeiters an Genossen József DÓRA (genaue Bezeichnung des Organs III/1-3) übergeben, bzw. habe ich es von Genossen RUDOLF RÓNAI übernommen.

Bp. … Okt. 1982

Rudolf Rónai

Überbringer

 

József Dóra

Empfänger

[3]

Die Kosten des Treffens beliefen sich auf 386 Forint.

[4]

VORSCHLAG

Budapest, 1. Dezember 1982

 

Die Geheime Mitarbeiterin FRAU PÁPAI feiert ihren 60. Geburtstag am 3. Dezember 1982.

Sie steht seit 1976 in operativer Beziehung mit der Gruppenleitung III/I. und lieferte während dieser Zeit mehrere wertvolle Informationen über die israelische politisch-operative Lage sowie über die Bestrebungen der zionistischen Bewegung. Sie brachte uns Originalmaterial vom 29. zionistischen Weltkongress, und wir planen, sie auch zum 30. zionistischen Weltkongress operativ reisen zu lassen.

 

Angesichts ihrer bisherigen Arbeit

SCHLAGE ICH VOR,

FRAU PÁPAI anlässlich ihres 60. Geburtstages ein Sachgeschenk im Wert von 1000 Forint zu überreichen.

Dr. József Dóra P. Lt.

[5]

Wir setzten das Gespräch mit dem Fragenkomplex der Reise nach Jerusalem fort.

Frau Pápai erzählte, ihre Verwandten drängten auf einen Besuch und hätten sich bereiterklärt, die Kosten ihres Aufenthaltes dort zu tragen. Es gibt allerdings das Problem, dass die Verwandten möchten, dass sie mindestens zwei Monate bei ihnen bleibt.

Genosse Szakadáti bat Frau Pápai, sie möge versuchen, die Dauer ihres Aufenthaltes zu verkürzen, da wir ziemlich frisches Material benötigen würden. Sie schlug vor, ihre Verwandten anzurufen und deren Bereitschaft, sie zu empfangen, zu konkretisieren. Für die Telefonkosten überreichte ich Frau Pápai gegen Quittung 500 Forint.

[6]

ZUSAMMENFASSENDER BERICHT

Budapest, 1. November 1982

 

I. M. »FRAU PÁPAI« wurde 1975 von den Mitarbeitern der ehemaligen Abteilung III/I-4 verpflichtet. Im Grunde übernahm sie das »Erbe« ihres Mannes, der schon seit den fünfziger Jahren in Verbindung mit der Dienststelle stand, aber gegenwärtig an einer schweren depressiven Erkrankung leidet und nicht mehr geeignet ist, seine Aufgaben zu erfüllen.

»FRAU PÁPAI«s Verpflichtung erfolgt aus Überzeugung, auf patriotischer Grundlage, sie steht politisch auf solidem Fundament und ist eine überzeugte Anhängerin unserer Gesellschaftsordnung.

[7]

Interessant, dass sie trotz der strengen polizeilichen Kontrolle nichts dagegen hatten, dass ich meine Pakete selber hole, nachdem die Mehrheit der zur Zollkontrolle Aufgereihten vergebens auf ihre Koffer wartete. Die Hafenarbeiter legten sich nämlich, nachdem sie einen kleinen Teil der Koffer ausgeladen hatten, im Schiffsbauch auf die Koffer und fingen zu frühstücken an. Kein Mensch konnte sie dazu bewegen, sich mit dem Ausladen zu beeilen und erst danach zu Ende essen. Ich verließ den großen Saal des Hafens und fragte mich leicht aufs Schiff zurück und lud meine Pakete selber herunter. Die anderen warteten noch stundenlang, bis sie fertig waren mit der Zolluntersuchung. Die Zolluntersuchung verlief sehr streng gegenüber einigen jungen Amerikanern, die schon einmal freiwillige Arbeit in einem Kibuz geleistet hatten und jetzt zum gleichen Ziel wiederkehrten. Wahrscheinlich suchte man bei ihnen nach Heroin, denn ihre Sachen wurden von oben nach unten geräumt und ganz genau untersucht. Die Zolluntersuchung in meinem Fall war bei der Ein- und auch bei der Ausreise sehr oberflächlich. Sie haben meine Pakete gar nicht geöffnet. Der Zollfragebogen war wie üblich.

[8]

Anm.d.Ü.: szakad, ung.: reißen, hervorbrechen.

[9]

Das Kennenlernen endete um 16:10 Uhr. Wir besprachen, dass wir uns am 6., um 15:00 Uhr, erneut treffen würden in der Caféteria der Ordination des Kútvölgyi-Krankenhauses.

Der Versuch

Die beiden Jungs saßen schon seit gut einer halben Stunde draußen im Flur herum. Sie waren mit dem Lift in die dritte Etage gefahren. Hinter den gepolsterten Türen hörte man das emsige Klopfen von Schreibmaschinen, offenbar fand ein reges Büroleben statt, Sekretärinnen huschten über den holzverkleideten Flur, auf unvermeidlichen Pfennigabsätzen, mit zu unterschreibenden Papieren in der Hand, ab und zu trabte auch der eine oder andere schlechtgekleidete Mann mit Plauze, in Anzug und Krawatte an ihnen vorbei, dicke Dossiers unterm Arm, und von Zeit zu Zeit tauchte auch jemand in Militäruniform mit einer Pistolentasche an der Seite auf – sie alle kamen und gingen, taten ihre Arbeit, als würden sie die beiden Jungs gar nicht bemerken. Niemand sonst wartete auf diesem vermutlich nicht für’s Warten ausgelegten, holzverkleideten Flur, was ziemlich merkwürdig war, und sie hatten unabhängig von allem das möglicherweise unbegründete Gefühl, dass sie beobachtet wurden, dass dieses Gewusel nur ein für sie inszeniertes Theaterstück war und die lange Wartezeit nur dazu diente, sie zu beobachten, auch wenn sie diesen Gedanken vertrieben und sogar darüber lachten, denn Warten war ja schließlich der normale Gang der Dinge, dafür ist ein Amt schließlich ein Amt. Dennoch erwachte in ihnen dieser leise Verdacht, als ein stark erkahlender junger Mann schon das zweite Mal an ihnen vorbeiging, und während sie so taten, als würden sie außerhalb und über diesem Ganzen stehen, schlug das, auf Ungarisch gibt es kein gutes Wort dafür, unheimliche Gefühl in ihnen Wurzeln, dass das ganze Gebäude sie beobachtete. Aber vielleicht beobachtete man sie auch gar nicht, sondern wollte bloß, dass sie sich so fühlten, als würden sie beobachtet. Schließlich waren sie, obwohl sie getrennt voneinander angekommen waren, pünktlich, und man kann zwar von einem Beamten, der Tag für Tag so viel Arbeit zu erledigen hat, Unmengen an administrativen Aufgaben, nicht erwarten, dass er einen jeden sofort empfängt, der von der Straße hereinkommt, aber wenn dies ein Amt war, in das sie zu einem konkreten Zeitpunkt einbestellt worden waren, wozu dann die Warterei?

 

Das grau verputzte oder vielleicht doch nur infolge der Verwahrlosung grau gewordene Eckgebäude löste eine undefinierbare Angst in ihnen aus, vor allem der Haupteingang, wo ein uniformierter Kerl sie nach ihrem Ausweis gefragt und ihre Daten in ein großes Portiersbuch eingetragen hatte, er hatte auch irgendwo angerufen und ihre Ankunft angekündigt. Im Eckgebäude befand sich, laut der neben dem Eingang an die Wand befestigten schwarzen Glastafel mit goldenen Buchstaben die Passabteilung des Ministeriums des Inneren, in der Rudas-László-Straße 45, in diesem abweisenden Gebäude, das wegen seiner Proportionen für einen Moment doch unerwartet schön erschien. Obwohl die besondere Symmetrie ihnen gar nicht auffiel: von der Straße, wenn man zu Fuß vom Lenin-Ring kam, war davon nichts zu sehen, nur das Grau, genauer gesagt, das Stahlgrau. Vielleicht war nur so viel geschehen in diesem Juni 1978, an einem nicht besonders heißen Sommertag. Es war ein Vorkriegsgebäude, das war sicher, die Proportionen zeigten es an, die Fenster, die beiden Rosetten über dem Haupteingang, die halb von einer Glaskonstruktion mit schmiedeeisernen Trägern über dem Tor verdeckt wurden. Auch dieses Gebäude war übertüncht von der für sämtliche Häuser der Gegend typischen verwahrlosten, schmutzigen Bedeutungslosigkeit, dennoch, wenn die beiden Jungs das Gebäude im Ganzen gesehen hätten, hätten sie vielleicht wahrgenommen, dass es aussah, als hätte man eine Kirche mit einem Amtsgebäude verschmolzen: links vom Eingang wurde der Risalit auf der Stirnseite als unerwartetes Element durch Säulen und Rundbogenfenster verziert, oben deutete ein Tympanon die Vielschichtigkeit der Innenräume an, und damit die Bedeutung des Risalits noch geheimnisvoller wurde, war unter dem Tympanon ein noch kleinerer Tympanon zu sehen. Die Sphinx auf dem Hausdach mit ihrem regungslosen Gesicht konnte endgültig nicht mehr ins Auge fallen, denn wer käme schon auf die Idee, auf die andere Seite der Rudas-László-Straße zu gehen, um von dort aus die Hauptstirnseite der Passabteilung des Ministeriums des Inneren sorgfältig zu betrachten? Vielleicht hätte man das Gebäude von jenseits der Bahnschienen, aus der Ferne, aus dem fünften Stock eines dortigen Hauses in seiner ganzen Pracht sehen können. So konnte man insbesondere die in den Tympanon geschriebene Jahreszahl MDCCCLXXXXVI nicht erkennen, die stolz verkündete, dass das Haus nicht einen, sondern zwei Kriege zuvor gebaut worden war, im Jahre des großen Aufschwungs und des tausendjährigen Bestehens des ungarischen Staates. Sorgsame Hände – oder Bomben oder eine gut gezielte Maschinengewehrsalve – hatten die halbnackten weiblichen Hermen heruntergeschlagen, die auf den Schlusssteinen des mit Bossenwerk versehenen Erdgeschosses zu sehen gewesen waren, schmucklose Romben nahmen jetzt ihre Plätze ein. Aber es gab auch Fehlstellen, die der listige Architekt eingeplant hatte: An der Ecke Rudas-László und Vörösmarty sah es so aus, als hätte man mit einem Tortenmesser ein Stück aus dem Haus herausgeschnitten, ein längliches, dreieckiges Stück, wodurch das Haus eigentlich gar keine Ecke mehr hatte. Als würde es eine Behauptung aufstellen und als hätte das Gebäude mit dieser kleinen Fläche die gesamte Einwohnerschaft der Stadt ansprechen wollen, gab es im zweiten Stock eine schmale, leer gebliebene Skulpturennische, wie ein Rednerpult, überdacht vom unerwarteten Schmuckelement eines durchbrochenen Baldachins, darüber ein absichtlich leer gelassenes Wappenschild – all das war in den Wirren des Weltkrieges abgefallen, und nichts verriet, dass die Jungs an diesem Freitagvormittag ein wenig schüchtern, von der durch die Junisonne beschienenen Straße aus, das ehemalige Gebäude der Symbolischen Großloge Ungarns betraten, das ehemalige Palais der Freimaurer. Es war ein klassisches kommunistisches Amt, wegen der Holzverkleidung vielleicht ein wenig eleganter als der Durchschnitt, und auch von der maßgeschneiderten ursprünglichen Möblierung war noch das eine oder andere Stück in den Büros verblieben. Laut der Wunschliste an den Architekten wurden im Gebäude drei Schreine und zwei Werkstätten geplant. Während früher die einzelnen Logen über ihre eigenen Räume verfügt hatten, wirkten hier der damaligen Gepflogenheit entsprechend mehrere Logen entlang eines bestimmten Zeit- und Raumplans. Es gab noch einen Speisesaal im Gebäude, wo man die launigen Unterhaltungen nach der Arbeit abhielt, sowie einen mietbaren Saal, eine Bibliothek, einen Gesellschaftsraum und ein Spielzimmer sowie die Amtsräume. Die wichtigsten Freimaurersymbole hatte man diskret an weniger sichtbaren Stellen des Gebäudes eingeplant. In den kleinen Tympanon, unter dem großen gelegen, kamen Blumensträuße, die Aedicula der Fenster in der Beletage waren von Rocaille geschmückt, die an den Wänden verstreuten Stuckverzierungen hatten keinerlei symbolische Bedeutung. Die Erklärung für das Fehlen von Inhalten konnte sein, dass die Freimaurer immer eine sehr große Zurückhaltung beim Vorzeigen ihrer Symbole pflegten. Nur die aufmerksamsten Passanten entdeckten die Dachverzierungen hinter den die Urnen und die Kegelbalustraden schmückenden Brüstungen. Neben der sich auf eine Erdkugel stützenden Sphinx war ein anderes Hauptzierelement des Gebäudes eine von vier Eulen gehaltene Himmelskugel, rundherum ausgestattet mit den Zeichen des Zodiaks. Auf dem Podest desselben befand sich das wichtigste Freimaurerzeichen, der übereinandergelegte Zirkel und der Winkel, gekrönt von dem die Gottheit symbolisierenden strahlenden Dreieck.

Der jüngere Junge betrat mit leichtem Magenflattern ein Amtszimmer mit unregelmäßigem Grundriss und einer recht niedrigen Decke. In der Mitte des Zimmers thronte ein riesiger Tisch, und der kleingewachsene Mann mit dem doppelten Doppelkinn, der die Uniform eines Oberstleutnants und eine Brille mit Goldrahmen trug und ihm herzlich einen Platz anbot, verschwand, als er sich selbst hinsetzte, für einen Moment fast hinter diesem Tisch. Wegen der unregelmäßigen Form – als hätte man es aus mehreren Räumen zusammengefügt – wirkte das Büro gleichzeitig überraschend groß, weitläufiger als gewohnt, aber durch den schmalen Schnitt auch eng und unbequem. Auf der linken Seite, neben der hinteren Wand, war eine kleine Einbuchtung zu sehen, deren Tiefe man nicht abschätzen konnte, vielleicht war es ein Durchgang, und es hätte sich ganz ruhig jemand dort aufhalten können, um das Gespräch, das im Zimmer geführt wurde, zu belauschen, denn wer das Zimmer vom Flur her betrat und mehrere Schritte in den Raum hinein gemacht hatte, könnte einen Lauscher nicht erkennen. Wegen der niedrigen abgehangenen Decke und besonders wegen der ungeschickt verdeckten Rundbogenfenster, die offensichtlich für einen viel größeren Innenraum geplant worden waren und die kaum Licht von der Straße hereinließen, musste man hier drinnen auch tagsüber das Licht brennen lassen, sonst hätte Halbdunkel geherrscht, so dass der Raum in manchen Augenblicken, entsprechend der Seelenlage der sich in ihm Aufhaltenden, ganz winzig und finster erschien. Noch seltsamer war, dass der Boden vor den Rundbogenfenstern, aus irgendeiner sonderbaren Überlegung heraus oder gezwungenermaßen, über eine Fläche von anderthalb Metern hinweg etwa zwanzig Zentimeter tiefer war als der Rest, und wenn jemand dort entlanggehen wollte, musste er unentwegt eine Stufe hoch- oder runtersteigen, als würde er hinken: deswegen blieb der Bewohner des Zimmers vermutlich eher in der türnahen Hälfte des Zimmers, wo wiederum der riesige Schreibtisch, der eigentlich aus zwei Möbelstücken von verschiedener Größe bestand, die Mitte des Raumes einnahm und jede Weitläufigkeit verschlang. Dadurch ähnelte das Büro einer engen Klosterzelle, die von hinten von einer unsichtbaren Wand abgeschlossen war, die vor der eigentlichen Wand stand. Wer weiß, vielleicht war das ja jene »dunkle Kammer«, in der sich der Freimaurer-Kandidat, bevor er in den Schrein geführt wurde, verschiedenen Proben unterziehen musste, wo er in der Einsamkeit nachsinnen und sein geistiges Testament schreiben konnte. Wer seinen Tag hier verbrachte, konnte sich gleichzeitig mächtig und winzig empfinden, als einen müden, ausgemergelten kleinen Beamten genauso wie als eine allmächtige, über das Schicksal der Menschen bestimmende graue Eminenz. Auf der rechten Seite standen zwei plumpe, mit hässlicher brauner Farbe bemalte Panzerschränke, der Schlüssel ragte aus ihrem glänzenden Schloss, daneben ein niedriges Stilmöbel im Rokokostil mit verglasten Türen, eine Art Aktenschrank, offensichtlich leer. Zur Linken ein runder Marmortisch mit zwei Thonet-Stühlen, als wäre man in einem Kaffeehaus, auf dem Tisch ein Spitzendeckchen, darauf ein Aschenbecher aus Bleikristall und ein Kaffeekocher aus glänzendem Metall, eine sogenannte Mokkamaschine, auf einer elektrischen Kochplatte, von der ein dickes schwarzes Kabel bis zur klobigen Steckdose in der Wand führte. Wenn man schnupperte, konnte man den Duft des frisch gerösteten Bohnenkaffees in der Luft wahrnehmen. Nachdem er sich höflich vorgestellt hatte, blickte der Oberstleutnant auf seine gut gepflegten Hände und schwieg ziemlich lange. Vor ihm auf dem Tisch lag ein knusprig frischer Reisepass, der demzufolge fertig war, man konnte seinen Duft förmlich spüren, und der Oberstleutnant legte, während er die Nägel an seiner Linken studierte, seine Rechte sanft auf diesen Reisepass, sein Blick streifte den Jungen, wie der Blick eines Raubtiers, das noch nicht entschieden hat, was es mit seinem Opfer anstellen soll, es sofort töten oder noch ein bisschen mit ihm spielen.

Beide Jungs waren überrascht gewesen, als die Sekretärin, eine Matrone um die fünfzig mit gefärbtem Haar, die einen langen grauen Rock und eine weißen Bluse mit weiten Ärmeln trug, schließlich den jüngeren Bruder zuerst hineingebeten hatte. Jakob und Esau, die ewige Geschichte, Erstgeborener sein und die damit verbundenen Privilegien.[1]

Der Oberstleutnant hatte nun die Wahl zwischen zwei Wegen. Er übte sein Handwerk schon seit vielen Jahren aus, er könnte beide Wege mühelos verfolgen, jeder einzelne Satz war fertig und lag in der Schublade bereit, man musste die Variante nur hervorholen, die eine war unheilschwanger, die andere vielversprechend, bei der einen steckte Drohung zwischen den Sätzen, graue Sturmwolken in der Ferne, eventuell die Behinderung einer Karriere, die andere versprach hingegen prima Perspektiven und Sicherheit und rosarote Sonnenaufgänge am Horizont. Wie ein Virtuose hatte er sämtliche Formulierungen im kleinen Finger, sämtliche Drehbücher, und eigentlich hielt er diesen Moment, die Anwerbung, für die aufregendste, die inspirierendste von all seinen Aufgaben, diese genoss er am meisten, sie ähnelte am meisten dem, was er sich als Kind erträumt hatte, dem Theater; das war eine Rolle, die er gerne spielte, selbst wenn er wusste – denn er war kein dummer Mensch –, wie lächerlich klein diese Perspektive war, die er gerade im Begriff war dem jungen Mann vor sich darzulegen, der zwar nicht wissen konnte, was ihn erwartete, der aber, wie jeder Verdächtige, auch diejenigen, die man einer Sache beschuldigte, die sie ganz sicher nicht begangen hatten, am ganzen Körper vibrierte. Vielleicht hatte er auch Angst, aber so wie einer, der nicht weiß, dass er Angst hat, das zeigte sich an seiner vagen Aufgeregtheit, dem zum sichtbaren Luftholen geöffneten Mund, der leichten Röte der Haut, den glänzenden Augen und anderen, für den Laien kaum sichtbaren Anzeichen, an Anzeichen, die der Betroffene selbst gar nicht bemerkte, und obwohl er kein Verdächtiger war – warum hätte er einer sein sollen? –, musste man den günstigen Augenblick ausnutzen und ihn spüren lassen, natürlich nur dezent, dass die Machtverhältnisse ungleich waren, aber auf eine Weise, die ihn nicht verschreckte, das Wild nicht aufscheuchte: Ja, man musste ihn einkreisen, ihn in die Falle locken, und dazu reichte es meistens, selbst bei denen mit schärferem Intellekt als bei diesem Jungen, sanft auf die möglichen Umwege und Fallen einer Lebensbahn hinzuweisen. Dem Oberstleutnant war in Moskau während einer Fortbildung, in der Politikgeschichtsstunde, durch ein merkwürdiges Wunder ein zerlesenes Exemplar eines Talleyrand-Bandes zugefallen: Der geniale Oberstleutnant Wolkow hatte es ihm in die Hand gedrückt, als er seinen sehnsüchtigen Blick gesehen hatte, klopfte ihm kräftig auf die Schulter, und nachdem sich der junge Mann unter nicht unerheblichen Mühen ein französisch-ungarisches Wörterbuch besorgt hatte, konnte er das Buch auch endlich lesen, denn natürlich hatte er gelogen, dass er Französisch könne. Das Lügen sei nun einmal so eine Art Berufskrankheit, verkündete einmal sein Chef, als er über eine Frauengeschichte berichtete, »aber nennen wir das gar nicht Lügen«, hatte er hinzugefügt, »das ist lediglich Diplomatie!« Zweifellos verliebte sich der zukünftige Oberstleutnant damals lebenslang in den zum Revolutionär gewordenen Bischof Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord mit vollem Namen, er konnte seine besten Aphorismen auswendig, oder stammte etwa der Spruch »Ein Mann, der eine Ehefrau und Familie hat, ist für Geld zu allem bereit« nicht von ihm? Natürlich bekam man bei diesem Organ nicht so viel Geld, und Geld war auch nicht das Wesentliche, von Zeit zu Zeit musste man zwar zahlen, das Blutgeld, die Prämien, die kleineren Zuwendungen gehörten zur Sache dazu, Pfennigbeträge, aber ausreichend, um die Delinquenten noch mehr an sich zu ketten, wenn nicht anders, dann über das schlechte Gewissen, und war es nicht auch Talleyrand, der sagte, »Rede ist dazu da, die Gedanken zu verheimlichen«? Ah, wie gut auch das ist, der Oberstleutnant zermarterte sich sein Gehirn, um einen guten Spruch zu finden, er hätte gerne vor dem jungen Mann brilliert, der beim Theater arbeitete und von dem man sich erzählte, man es ihm auch ansah, dass er sehr gebildet und sehr klug war,[2] aber ihm fiel nichts ein, vielleicht würde sich das im Laufe des Gesprächs noch ändern, das Wesentliche war nur, dass nicht einmal der leiseste Verdacht eines Zwanges entsteht. Natürlich brauchte man im Falle Frau Pápais keinen Zwang, wobei man ihr auch nicht gesagt hat,[3] dass sie längst neu eingestuft worden war, das musste sie auch gar nicht wissen, nach vier Jahren reibungsloser Zusammenarbeit konnte sie ahnen, dass das hier kein Ringelpietz mehr ist, und überhaupt, was ist schon groß der Unterschied zwischen einer »Geheimen Informantin« und einer »Inoffiziellen Mitarbeiterin«? Im Grunde nur Nuancen, aber man muss auch die ethische Empfindlichkeit der Leute berücksichtigen, niemand würde sich aus freien Stücken Spitzel nennen lassen, und wenn doch, handelt es sich bei demjenigen um Lumpenpack, natürlich muss man sich auch um dieses kümmern, aber es wurde recht bald klar, dass Frau Pápai zwar ein Parteimitglied aus Überzeugung war, es gibt solche komischen Käuze auf der Welt, aber dass sie die immer häufigeren Reisen, die alles andere als ungefährlich waren, schließlich war Schin Bet der beste Geheimdienst der Welt, daran konnte es keinen Zweifel geben, nur deswegen auf sich nahm, um in der Nähe ihres geliebten Vaters sein zu können. Außerdem hatte sie ihren wahnsinnigen Mann am Hals, der im Übrigen früher recht unzuverlässig war, das wusste der Oberstleutnant, denn als Frau Pápais eventuelle Anwerbung ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, hatte er sich gewissenhaft auch durch dessen drei dicke Dossiers gewühlt, bis zu der Stelle, als der Mann eines schönen Tages wahnsinnig wurde, ein Mann mit guten Fähigkeiten, ohne Zweifel, er sprach sieben Sprachen fließend, aber war viel zu unordentlich und unberechenbar, der Großteil seiner Berichte hätte geradewegs im Papierkorb landen sollen, hätte man sie nicht in ein Arbeitsdossier abheften müssen. Noch dazu schrieb er, obwohl er Journalist war, kaum etwas auf, in der konspirativen Wohnung musste ihm der Führungsoffizier, wie er wiederholt berichtete, alles aus der Nase ziehen, er trug dieselbe Geschichte immer unterschiedlich vor. Solche Fälle gab es häufig, und als Frau Pápai von der Paranoia ihres Mannes berichtete, entfuhr dem Oberstleutnant fast das Bonmot à la Talleyrand, dass in diesem Fall wenigstens festzustellen sei, dass der subjektive Zustand von den objektiven Umständen bestätigt wird, die Basis bestimmte den Überbau. Natürlich ging es auch gar nicht darum, dass die Berichte immer brauchbar waren, man musste Berichte produzieren, diesen fabrikmäßigen Teil der Arbeit mochte er auch nicht, aber es gab da eine gewisse stillschweigende Norm, denn wenn der Betrieb kontinuierlich arbeitete, war der eine oder andere ernsthaftere Fang immer mal dabei, ganz zu schweigen davon, dass man den Informanten beschäftigen musste, man durfte ihn nicht vernachlässigen, er sollte spüren, dass sie ihn im Auge behielten, aber der sieben Sprachen beherrschende Pápai, der sich recht enthusiastisch zeigte, war auf seine eigene geschwätzige Weise ein miserabler Spitzel, er ließ sich von jedermann leicht in einen Streit verwickeln und war unfähig, mit denen zu kooperieren, mit denen er nicht auf einer politischen Plattform stand. Leider traf das zum Teil auch auf Frau Pápai zu, was Frau Pápai auch nur zu einem »einarmigen Banditen« machte, wie es Genosse István Berényi anlässlich einer Besprechung zynisch anmerkte, man müsse ihr abgewöhnen, ihre Überzeugungen über ihre Arbeit zu stellen, wenn das überhaupt möglich sei.[4] Aus ihrer Antipathie gegenüber dem jüdischen Staat hat sie nie einen Hehl gemacht, im Grunde war das ihre Motivation, man musste sie geduldig zu der Erkenntnis führen, dass diese Dinge voneinander zu trennen sind, die persönliche Überzeugung und der Dienst an der Sache, die Interessen des sozialistischen Lagers und die Meinung des inoffiziellen Mitarbeiters. Darüber sprach er nicht nur einmal sehr ernsthaft mit ihr, selbstverständlich ohne Frau Pápais festgefügte Weltanschauung in Frage zu stellen, was auch aus anthropologischer Sicht ein interessanter Gegenstand war, denn der Oberstleutnant traf selten einen Juden, der so vehement, fast schon wie in einer Karikatur, den jüdischen Staat hasste, der noch dazu sein Geburtsland war.[5] Frau Pápai verbesserte ihn jedes Mal sorgfältig, wenn der Oberstleutnant darauf hinwies, sie sei doch in Israel geboren worden: »Nicht in Israel, sondern in Palästina«, warf sie in solchen Fällen nervös ein, worüber der Oberstleutnant unwillkürlich schmunzeln musste, das wiederum berührte Frau Pápai unangenehm, aber diese steife und kindische Unterscheidung hielt der Oberstleutnant für nicht so wichtig. Einmal klopfte er sich zehn Minuten lang auf die Schenkel vor Lachen über einen Satz in Frau Pápais Bericht,[6] aber dann beschloss er, das Thema nicht zu forcieren und die inoffizielle Mitarbeiterin nicht einmal aus pädagogischen Gründen auf ihren logischen Purzelbaum hinzuweisen, aber er wäre doch neugierig gewesen, wie Frau Pápai auf die neckische Frage geantwortet hätte: »Woraus hat die Genossin abgeleitet, dass es vermutlich so ein Gefühl gibt?« Ein wenig konnte er Frau Pápai verstehen, schließlich konnte selbst ein Oberstleutnant arbeitsfremde Bedenken und fixe Ideen hegen, aber er könnte seine Arbeit nicht anständig machen, wenn er auf diese Sirenengesänge hören würde. Er musste jedoch feststellen, dass Frau Pápai trotz all ihrer Widersprüche und allzu großer Linientreue eine ideale »Klientin« war, die von ihren wüsten Geldsorgen und den problematischen weltanschaulichen Abweichungen ihrer Kinder – bzw. den Einreiseerleichterungen für ihre recht weit verzweigte israelische Verwandtschaft – unweigerlich in ihre Arme getrieben worden war. Natürlich sprachen sie über diese Dinge mit Frau Pápai nur am Rande, der Oberstleutnant fragte nie nach Familienangelegenheiten, er half, wenn es sein musste, bei der Beurteilung des einen oder anderen Visumantrags, wenn allerdings aus Frau Pápai eine Klage hervorbrach,[7] hörte er sich voller Verständnis an, was sie zu sagen hatte, und zerbrach sich währenddesen den Kopf darüber, wie er die vielen nutzlosen und nebensächlichen Informationen am Ende des Berichts in einem dichten, einheitlichen Satz zusammenfassen könnte und ob unter den Informationen irgendeine brauchbare Tatsache oder andere wichtige Kleinigkeit zu finden war. »Die Kleinigkeiten haben eine riesige Bedeutung«, hatte Oberstleutnant Wolkow in Moskau gesagt, aber Talleyrand hätte dasselbe sagen können, nichtsdestotrotz gab es während ihrer Treffen nur selten solche Ausflüge ins Private, im Allgemeinen konzentrierten sie sich auf die Aufgaben als inoffizielle Mitarbeiterin, die Frau Pápai mit dem größtmöglichen Eifer ausführte.

Ein 1951 entstandenes Schwarzweißbild legt Zeugnis davon ab, dass das Haus Nr. 45 in der Podmaniczky-Straße am 1. Mai, offenbar, um die Richtung Heldenplatz marschierenden Massen zu begrüßen, mit einer Festbeflaggung ausgestattet wurde, wo zwischen zwei kleineren und zwei größeren roten Fahnen die Aufschrift TRUPPENPARADE DER FÜR DEN FRIEDEN KÄMPFENDEN VÖLKER und darüber kleine, gerahmte Porträts von Lenin, Rákosi und Stalin zu sehen waren, wobei Rákosis Porträt um einige Zentimeter kleiner ausfiel als das seines russischen und georgischen Kollegen. 1978 besaß also das Ministerium des Inneren (anfangs die ÁVÓ, die ungarische Staatssicherheit) schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert das Eckhaus, und die Straße wurde 1951, gleichzeitig mit dem endgültigen Einzug der Dienststellen des Inneren, von »Podmaniczky« in »Rudas« umbenannt. Doch weder der Oberstleutnant noch der Junge wusste, dass ausgerechnet in jenem Zimmer im dritten Stock, wo ihr Gespräch in intimer Atmosphäre stattfand,[8] die Sekretärin von keinem Geringeren als Gyula Gömbös, die der Sekretärin des Oberstleutnants im Übrigen verblüffend ähnlich sah, fleißig die Reden des Präsidenten des Ungarischen Landeswehrvereins und späteren rechtsradikalen Ministerpräsidenten abzutippen pflegte. Der schmale Durchgang führte in den abgetrennten Bereich des großen Saals, wo das Gewölbe erhalten geblieben war, und in diesem weitläufigeren Raum hatte sich Gömbös eingerichtet, dessen Burschen oft genug Witze über die ägyptischen, ihrer Ansicht nach »durch und durch jüdischen« Fresken des Raumes gerissen hatten, welche Gömbös, wer weiß warum, weder entfernen noch abdecken ließ. Die Sekretärin erwischte ihn nicht nur einmal dabei, wie der Herr Präsident, tief in Gedanken versunken, die im Stile der Sezession an die Wände des Büros gemalten ägyptischen Binsen betrachtete. Als wäre er von der metaphysischen Kraft, die aus den uralten Bilden hervorstrahlte, berührt worden. In Wirklichkeit hatte man schon vor dem Weißen Terror, am 19. März 1919, angefangen, die Freimaurer aus dem Gebäude zu komplimentieren. Erst wurden einige Ladenlokale und Bürozimmer den Sozialdemokraten zugeteilt, dann, nach dem 21. März, beschlagnahmte die Regierung das gesamte Gebäude der Großloge. Gömbös’ spätere Rassenschutzpartei, die damals noch unter dem Namen »Ungarischer Landeswehrverein« lief, besetzte das Logenhaus am 14. Mai 1920, und am 18. Mai verbot Innenminister Mihály Dömötör das Logenleben. Im September 1923 wies Innenminister Rakovszky (Sohn des ehemaligen Großmeisters!) das Grundbuchamt an, das Gebäude dem Nationalen Beamtenhilfsfonds zu überschreiben. Die Grundstücksmafia war schon am Wirken. Gleichzeitig blieb Gömbös im Gebäude, mehr noch, der Landeswehrverein bekam 1926 einen Mietvertrag für sechzehn Jahre, und obwohl Miklós Horthy und sein Kreis alles unternahmen, um Gömbös aus der Politik hinauszudrängen, ließ der Verein das Gebäude später auf seinen Namen übertragen. Kurz darauf trat Gömbös aus der von ihm selbst gegründeten Organisation aus, aber seine Leute, aus deren Reihen zahlreiche prominente Pfeilkreuzler hervorgingen, blieben vor Ort und machten eine prima Basis für Streifzüge gegen die jüdische Bevölkerung daraus, und der Keller der Freimaurer wurde zu einem idealen Lager für die geraubte Beute. Dieser idyllische Zustand hielt bis zur Belagerung Budapests an. Im Februar 1945 war die Belagerung Budapests noch im Gange, als die aus den Luftschutzbunkern aufgetauchten Freimaurer ihren Anspruch auf das Gebäude gegenüber der Übergangsregierung geltend machten, und diese überließ ihnen in der großen Freiheitseuphorie nach dem Krieg das Gebäude auch wieder, aber empfahl, sie sollten sich mit der mittlerweile dort ansäßigen Nationalen Bauernpartei einigen. Die Position der Großloge wurde dadurch verbessert, dass eine Verordnung des Innenministeriums aus dem April 1945 das Betreiben der Loge wieder legalisierte. Das Netzwerk der Loge funktionierte hervorragend. Im Februar schloss die Großloge, bereits als Besitzerin, eine vorübergehende Vereinbarung mit der Nationalen Bauernpartei: Diese Vereinbarung erkannte den Anspruch der Bauernpartei auf die Nutzung