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Ein junger Raumfahrttechniker sieht seinen Traum zum Greifen nah: einmal selbst die Erde von oben zu betrachten. Doch ein Routineflug verwandelt sich in ein atemberaubendes Abenteuer jenseits aller Vorstellungskraft. Plötzlich findet er sich in einer Welt wieder, die ihm zugleich vertraut und vollkommen fremd ist und steht vor der größten Herausforderung seines Lebens. Ein spannender Roman über Mut, Glaube und die Frage, was Gott von uns will.
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Seitenzahl: 627
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Manchmal fällt ein Licht vom Himmel, das nicht in unsere Zeit gehört. Es gibt Orte in der Geschichte, an denen das Unmögliche möglich schien – Städte, in denen die Künste blühten, während anderswo Bücher verbrannten. Völker, die sich verständigten, während anderswo Mauern wuchsen. Epochen, in denen Glaube und Wissenschaft sich nicht bekämpften, sondern nebeneinander atmeten.
Einer dieser Orte war Al-Andalus.
Ein Name für ein verschwundenes Land – und vielleicht mehr als das. Eine Idee. Nicht alles war dort friedlich, nicht alles gerecht.
Aber für einen Moment in der Geschichte leuchtete dort ein anderes Europa auf: offen, lernbegierig, widersprüchlich und lebendig. Ein Stern am Rande der bekannten Welt – und ein Schatten auf der Karte des Vergessens.
Diese Geschichte beginnt nicht dort. Und doch ist Al-Andalus ihr heimlicher Mittelpunkt. Denn sie erzählt von einem jungen Mann aus einer Zukunft, die selbst schon Legende ist – und von einer Vergangenheit, die ihn weder erwartet noch versteht.
Von Technologie, die als Magie gilt.
Von Wahrheit, die gefährlicher ist als Lüge.
Und von der Frage: Was bleibt, wenn du alles verlierst – außer dir selbst? Möge der Leser diesen Irrstern begleiten – durch Himmel und Zeit, durch Schuld und Erkenntnis.
Vielleicht erkennt er darin etwas Eigenes.
Oder etwas, das wir verloren haben.
Im zentralen Kontrollzentrum des Raumfahrtzentrums Kourou, dem elektronischen „Nervensystem“ des europäischen Weltraumbahnhofs, herrschte am 04. Mai 2025 geschäftige Betriebsamkeit – die letzten Vorbereitungen für den Start des Raumgleiters Hermes V-3 liefen auf Hochtouren.
Das Ingenieurteam, verantwortlich für die bordeigene Avionik, überprüfte sorgfältig die Schaltkreise des autonomen Navigationssystems. Dieses hochmoderne System war entscheidend für eventuelle Kurskorrekturen während der Umlaufbahnmanöver.
Auch das Automatisierungsmodul „Delta“, ein spezialisierter Start- und Flugkontrollroboter, zuständig für Stufentrennung und Telemetrie Überwachung, wurde einem finalen Systemcheck unterzogen.
Das E-Koordinationssystem „Epsilon“, verantwortlich für die Auswertung aller Radarechos und gleichzeitig zentrale Steuerstelle für die fernbedienten Infrarot-Überwachungskameras, zeigte erwartungsgemäß stabile Leistungsdaten. Die letzten Abgleichrechnungen wichen in keiner Dezimalstelle vom Sollwert ab.
Die drei Hauptmodule der Start- und Fernsteuerungselektronik wurden abschließend vom leitenden Ingenieur freigegeben – alles war bereit für den Countdown.
Ich hatte meinen Posten an der Überwachungseinheit eingenommen, kontrollierte die Anzeigen und wartete darauf, die Zeitanzeige am Hauptmonitor rückwärts laufen zu sehen. Ich war schon ein wenig stolz darauf, nach meinem abgeschlossenen Ingenieurstudium und meinen gerade einmal dreiundzwanzig Jahren, hier in Kourou dabei sein zu können. Hatte ich meine Bewerbung an die ESA doch eher pro forma abgeschickt und mir keine allzu großen Hoffnungen gemacht. Doch aus irgendeinem mir bis heute unbekannten Grund, dauerte es keine vier Wochen und sie schickten mich direkt nach Südamerika. Hatte Gott meine Gebete erhört? Als gläubiger Katholik betete ich regelmäßig, wenn auch nicht besonders oft. Natürlich war es mein großer Traum, einmal selbst in einer Hermes V zu sitzen und den Weltraum mit eigenen Augen zu sehen. Die Tauglichkeit zur Astronautenausbildung hatten sie mir bestätigt, nachdem meine leichte Kurzsichtigkeit durch eine Laserbehandlung behoben war. Ich war jung und topfit. Sogar Testflüge im Simulator hatte ich schon erfolgreich absolviert. Doch vorerst musste ich mich noch in Geduld üben. Dachte ich jedenfalls.
„Hey Jimmy, was ist. Wieso geht’s nicht los?“
Jimmy saß mir gegenüber auf der anderen Seite der Kontrolleinheit. Eigentlich hieß er Steve La Grange, doch wegen seiner schwarzen Haut und seinem stupsnasigen Gesicht erinnerte er mehr an Jim Knopf und Lukas, den Lokomotivführer, also nannten wir ihn alle nur Jimmy.
„Keine Ahnung, technisch ist alles ok.“
Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es sich um eine technische Verzögerung handelte. Nachdem der Raumgleiter Hermes Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, waren Raumflüge fast schon zur Routine geworden. Unsere Gleiter, die auf der Spitze einer Ariane 6 stehend gestartet wurden, landeten auf ganz normalen Landebahnen. Sie konnten ohne Probleme auch auf Verkehrsflugplätzen oder sogar Autobahnen landen. Die Gleiter der fünften Generation wurden in unterschiedlichen Größen produziert. Der V-3, der zum Start bereit stand, flog eigentlich komplett ferngesteuert. Nur zur Sicherheit waren zwei Besatzungsmitglieder vorgesehen, wobei der Copilot wiederum den Piloten ersetzen sollte, falls dieser ausfiel. Naja. Ich starrte weiter auf die Bildschirme vor mir, während sich das leise Summen der Kühlsysteme und das rhythmische Klicken der Kontrollleuchten wie ein beruhigender Herzschlag durch den Raum zog. Die Atmosphäre im Kontrollzentrum hatte sich verändert – nicht hektisch, aber gespannt. So, als würde jeder im Raum den Atem anhalten.
„Countdown verzögert“, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund, sachlich, fast beiläufig. „Wettercheck in der oberen Troposphäre, mögliche Scherwinde über Startsektor 2.“
Ein kollektives Nicken ging durch den Raum, verbunden mit einem leisen Aufstöhnen der Ungeduld. Kein echter Rückschlag – eher eine Erinnerung daran, dass der Himmel zwar erreichbar, aber immer noch unberechenbar war.
Ich nutzte die Gelegenheit, um einen Moment innezuhalten. Durch die verglaste Seitenwand des Kontrollzentrums konnte man den Startkomplex 39 sehen. Dort stand der Gleiter Hermes V-3, stolz aufgerichtet auf seiner Ariane-Trägerrakete, als wäre er bereit, jederzeit die Erde zu verlassen. Das Licht der Morgendämmerung tauchte ihn in ein rötliches Glühen – als hätte der Himmel selbst schon das Startsignal gegeben.
„Weißt du eigentlich“, flüsterte Jimmy plötzlich, „dass mein Großvater noch an der Original-Hermes mitgearbeitet hat? Anfang der Neunziger. Damals wurde sie nie geflogen.“
Ich schaute auf. „Echt jetzt?“
Er nickte. „Er hat immer gesagt: ‚Mein Schiff hat nie den Himmel gesehen. Aber du wirst es tun.‘“ Er grinste schief. „Und jetzt sitz ich hier und starre drauf, wie's wirklich fliegt.“
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Also schwieg ich – beeindruckt. Die Geschichte der Raumfahrt war voll von Träumen, die nie abhoben. Aber auch von denen, die es irgendwann doch schafften.
Die Uhr stand immer noch.
Dann bekam ich den Anruf vom LI. Der leitende Ingenieur, Samuel Beckes, war verantwortlich für diesen Flug.
„Berg, zu mir. Beeilen Sie sich.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Jimmy schaute mich fragend an.
„Der LI will mich sehen.“
„Hast du dich irgendwo verrechnet?“ – Jimmy grinste übers ganze Gesicht.
Ich erwiderte sein Grinsen nicht. Irgendetwas in der Stimme von Beckes hatte mich alarmiert. Zu ruhig. Zu direkt. Kein Platz für Plauderei. Ich sprang auf, streifte mir das Headset ab und hastete durch die Seitentür aus dem Kontrollraum hinaus in den Verbindungsgang. Die Neonlichter warfen flache Schatten auf den Boden, das entfernte Brummen der Energieversorgung vibrierte in den Wänden.
Beckes erwartete mich am Ende des Gangs, vor dem Zugang zu seinem Büro – einem gläsernen, abhörsicheren Raum, den alle nur das „Aquarium“ nannten. Als er mich sah, winkte er mich mit einer schnellen Handbewegung hinein. Ich trat ein. Die Tür schloss sich lautlos hinter mir.
„Setzen Sie sich, Berg“, sagte er ohne Umschweife, aber ich blieb stehen.
„Was ist los, Sir?“
Er sah mich mit einem Ausdruck an, der irgendwo zwischen Anspannung und Entschlossenheit lag. Dann ließ er sich in seinen Stuhl sinken, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte: „Wir haben ein Problem. Die Besatzung für den V-3 ist ausgefallen.“
Ich starrte ihn an, unfähig, das Gesagte sofort zu begreifen.
„Was... wie ausgefallen?“
„Der Pilot hat akute Herzrhythmusstörungen. Vor einer Stunde aufgetreten. Er ist im Medlab. Und der Copilot – dessen Frau hatte vor wenigen Minuten einen schweren Autounfall. Er ist mit dem nächsten Heli zum Festland unterwegs.“
Ich schluckte trocken. „Aber... das Schiff ist doch ferngesteuert. Die Besatzung ist doch nur eine Absicherung.“
Beckes lehnte sich vor. „Normalerweise ja. Aber wir haben heute einen experimentellen Flug. Neue Manöver. Neu programmierte Rückführungslogik. Die oberste Leitung will jemanden an Bord – menschliche Kontrolle, falls die KI aussteigt. Es muss jemand mit Flugerfahrung sein. Und...“ – er ließ den Satz wirken – „...jemand, der eingewiesen ist. Jemand, der den Gleiter im Simulator geflogen ist. Jemand, dessen psychologische und körperliche Tauglichkeit bereits bestätigt wurde.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber ich bin Techniker. Bodenpersonal.“
„Sie sind Astronautenanwärter, Berg. Voll zertifiziert. Und Sie haben die letzten zwei Monate jeden Tag im V-3-Simulator verbracht. Niemand kennt das neue Interface besser als Sie.“
Ich suchte nach Worten, fand keine. Nur das Klopfen meines Herzens, laut und heftig in meinen Ohren.
‚Flugerfahrung‘ dachte ich mir. Beckes wusste ganz genau, dass ich bislang nur Segelflüge gemacht hatte. In meinem Heimatverein in Deutschland. Aber so war das halt in dieser schönen neuen Welt. Den Start abzubrechen hätte ein kleines Vermögen gekostet und Beckes hätte sich dafür rechtfertigen müssen. Eine zweite Besatzung stand aus Kostengründen nicht zur Verfügung und Vorschrift ist Vorschrift. Ergo schicken wir einen rauf, den man im schlimmsten Fall am günstigsten ersetzen konnte. Es war mir klar, dass ich auf diesem Flug nichts anderes als ein lebender Dummy sein sollte. Wäre ich ein genauso kalt und logisch berechnender Mensch gewesen wie Beckes, hätte ich abgelehnt. Doch ich sah die Chance. Die Astronautenausbildung war hart. Nur die wenigsten schafften es tatsächlich, am Ende eine Fluglizenz in der Tasche zu haben. Wenn ich jetzt ablehnte, würde ich vielleicht niemals in einem Gleiter sitzen.
Ich atmete tief durch. Nicht, weil ich es musste, sondern weil es das Einzige war, was ich im Moment noch selbst steuern konnte. Alles andere hatte sich plötzlich verselbständigt – wie ein Zug, der anrollt, und du kannst nur entscheiden, ob du aufspringst oder am Bahnsteig stehen bleibst und ihm für den Rest deines Lebens hinterherstarrst.
„Wie viel Zeit habe ich?“, fragte ich.
Beckes sah auf seine Armbanduhr. „Noch achtzehn Minuten bis T-10. Das Wetterfenster ist eng. Wenn wir’s heute nicht schaffen, verzögert sich der Start um mindestens sechsunddreißig Stunden.
Und das bringt alles durcheinander – Satellitenbahnen, Bodenstationen, internationale Koordination.“
Er sagte das nicht, um Druck zu machen. Er sagte es, weil es Fakt war. Und weil er wusste, dass ich die Fakten verstand.
Ich nickte. Nur ein einziges Mal. „Ich fliege.“
Beckes stand auf. Sein Blick war für einen Moment fast väterlich.
Dann wurde er wieder professionell, als er zum „Du“ überging.
„Gut. Fliegeranzug liegt bereit. Du bekommst den Standardanzug Typ 7B mit Notfallsystem, Druckausgleich und Flüssignahrung für 48 Stunden. Die Bord-KI ist auf dich registriert – Codename Echo 9. Du brauchst nur den Handschuhscan, dann öffnet sich der Zugang.“
„Bin ich allein?“, fragte ich, während wir bereits Richtung Hangar liefen.
„Wir haben entschieden, den Flug solo durchzuführen. Du bist allein an Bord. Volle Kontrolle, volles Risiko. Die KI übernimmt, solange sie funktioniert. Danach... tja.“
Keine psychologische Betreuung, kein Protokollgespräch. Nur diese eine, kurze Mitteilung – und dann stand ich da, vor dem modernsten Raumfahrzeug Europas, bereit, meinen ersten Flug nicht im Simulator, sondern in der Realität zu absolvieren.
Die Einstiegsluke glitt zischend auf, erkannte meinen Scan. Ich trat ein – und spürte mit jedem Schritt durch den engen Gang ins Cockpit, wie der Ernst der Situation sich langsam, aber unaufhaltsam in meine Gedanken grub.
Der Pilotensitz wartete auf mich. Hochgeklappt, starr, fast abweisend – als müsste ich mir erst das Recht verdienen, darin Platz zu nehmen. Ich schlüpfte hinein, ließ mich von den Gurten umschließen. Die Systeme erwachten. Displays flackerten auf, Kontrollleuchten blinkten auf grün.
„Pilot erkannt. Sekundärzugriffsprotokoll aktiviert. Willkommen, Armin von Berg. Missionsprofil: Alleinflug. Sekundärbesatzung:
entfallen.“
Die Stimme der Bord-KI Echo 9 war sachlich, klar, nicht unfreundlich – aber völlig emotionslos. Kein Hauch von Trost in dieser Maschine, nur Funktion.
Ich bestätigte jede Eingabe, jede Anzeige. Routiniert, so als hätte ich es unzählige Male getan – was ich im Simulator ja auch hatte.
Nur war da draußen nie die echte Erde gewesen.
„T minus 6 Minuten.“
Draußen: Stille. Die doppelwandigen Scheiben des Cockpits schirmten mich von der Welt ab – keine Geräusche, kein Wind, kein Funken Leben. Nur der Gleiter. Nur ich.
Ich sah kurz auf meine Hände. Sie zitterten nicht. Noch nicht. Ich umfasste das Steuer, prüfte das Drucksystem meines Anzugs, spürte die Kühlung über den Rücken laufen.
„T minus 5 Minuten. Bordstrom vollständig autonom.
Brennstoffzufuhr aktiviert. Sekundärsysteme im Bereitschaftsmodus.“
Ein letzter Blick auf die Kamera: In der Ferne das Kontrollzentrum, ein winziger Kubus aus Glas und Stahl.
Irgendwo dort saß Jimmy und verfolgte meinen Puls, meine Atemfrequenz, meine Flugbahn. Und Beckes – der wohl schon jetzt damit beschäftigt war, in irgendeinem Protokoll das Wort „Notlösung“ mit einem Sternchen zu versehen.
„T minus 3 Minuten.“
Ich atmete tief durch. Kein Zurück mehr.
Dann flackerte plötzlich der Bildschirm auf. Eine letzte Textnachricht vom Boden:
„Tu es nicht nur für uns. Tu es für dich.“ – S. Beckes Ich lächelte. Ganz leicht. Dann drückte ich die letzte Freigabe.
„Zündung in 10… 9… 8…“ Die Triebwerke unter mir begannen zu beben – nicht laut, nicht brutal, sondern wie ein tiefes Grollen unter der Haut. Die Hermes spannte sich wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung.
„…3… 2… 1… Start!“
Zündung.
Ein Donnerschlag unter mir – dumpf, gewaltig, als hätte jemand die Welt kurz angehalten, um sie dann mit einem Faustschlag neu anzustoßen. Die Triebwerke der Ariane 6X setzten ein, erst als Vibrieren, dann als stetig wachsender Druck, der sich durch den Rumpf des Raumgleiters in meinen Körper fraß.
Ich wurde in den Sitz gepresst.
Zuerst mit Nachdruck, dann mit Gewalt. Die Welt hinter dem Cockpitfenster wurde zu einem flackernden Kaleidoskop aus Licht, Nebel und Hitze. Der Himmel über Kourou war klar – aber ich sah ihn kaum. Alles, was ich spürte, war Beschleunigung. Die G-Kräfte wuchsen rasch auf 2, dann 3, dann über 4 G.
Ich schnappte nach Luft – nicht, weil ich atmen musste, sondern weil jeder Atemzug wie eine Entscheidung war. Mein Körper wurde schwer, mein Kopf fühlte sich an wie ein Bleigewicht. Die automatische Telemetrie ratterte durch das Bordsystem:
„T+00:38 – Max Q erreicht. Aerodynamische Belastung im Toleranzbereich.“
Die Max Q – der Moment maximaler struktureller Belastung durch Luftwiderstand – bedeutete den heiklen Punkt in jedem Start.
Doch die Hermes hielt. Keine Vibrationen, kein Knarzen. Die Ingenieure hatten gute Arbeit geleistet.
Die Booster trennten sich bei T+2:07. Ich hörte das charakteristische Zischen, als die seitlichen Feststofftriebwerke abfielen. Kurz darauf ein ruckartiger Impuls – das Haupttriebwerk zündete für die zweite Phase.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Musste nur die Anzeigen im Blick halten. Puls: 138. Sauerstoffsättigung: 96 %. Ich konzentrierte mich auf die Stimme von Echo 9, die mich wie ein digitaler Copilot begleitete.
„T+6:42 – Apogäum erreicht.
Triebwerksabschaltung in 5… 4… 3…“
Ein letztes Brüllen. Dann Stille.
Absolute, perfekte Stille.
Die Triebwerke verstummten. Mein Körper hob sich für einen winzigen Moment ganz leicht vom Sitz – nicht viel, kaum merklich.
Doch ich spürte es sofort: Ich war schwerelos.
Ich schwebte. Nicht metaphorisch, nicht träumerisch – sondern wirklich. Der Gurt hielt mich noch fest, aber ich spürte, wie mein Körper kein Eigengewicht mehr hatte. Nur Bewegung. Nur Richtung. Nur Impuls.
Ich löste langsam die Arretierung, glitt halb aus dem Sitz, drehte mich leicht um die eigene Achse. Der Blick durch das Hauptfenster: die Erde.
Majestätisch.
Bläulich leuchtend, von einem feinen atmosphärischen Dunst umgeben, schwebte sie unter mir wie ein lebendiges Juwel.
Wolkenwirbel, Ozeane, Kontinente. Ich konnte den Amazonasbogen sehen. Und über der Küste, ganz winzig: Kourou.
Mir wurde heiß. Tränen stiegen mir in die Augen – was in der Schwerelosigkeit nicht besonders angenehm ist. Sie blieben einfach an Ort und Stelle, wie kleine, glitzernde Linsen.
Ich hatte es geschafft. Ich war im Orbit.
Die Anzeigen bestätigten es: stabiler Umlauf in 302 Kilometern Höhe. Bahnparameter nominal. Primärmission eingeleitet.
Ich war allein.
Aber ich war da.
* * *
„Kourou an Hermes V-3. Bitte bestätigen.“ Die Stimme knackte kurz in meinem Headset – dann war sie da, klar und vertraut.
Jimmy.
„Hermes V-3, Pilot Armin von Berg, Bestätigung.“ Ich versuchte, ruhig zu klingen, aber ein leichtes Zittern lag in meiner Stimme.
Nicht vor Angst – vor Ehrfurcht.
„Wir empfangen dich glasklar, Armin.“ Kurze Pause. Dann, mit einem hörbaren Grinsen: „Du fliegst, Alter. Du fliegst wirklich.“
Ich musste lachen – laut, erleichtert, halb ungläubig. „Ja, Mann.
Und weißt du was? Es fühlt sich verdammt gut an.“
„Beckes sagt, du hast uns gerade ein paar Millionen gespart.“
„Sag Beckes, er schuldet mir was.“
„Wird notiert. Genieß den Ausblick, V-3. Kourou Ende.“
Ich war dankbar, dass Jimmy die Kommunikation übernommen hatte. Noch hatte ich mir keine Gedanken über den Flug gemacht und wie die Mission konkret aussehen sollte. Beckes hat etwas von einem experimentellen Flug gesagt.
Ich lehnte mich zurück, soweit es der Sitz erlaubte, und ließ den Blick noch einmal über die Instrumente schweifen. Alles im grünen Bereich. Echo 9 meldete, „Kursstabilität bestätigt. Geschwindigkeit 7,82 Kilometer pro Sekunde. Orbit Verlängerung eingeleitet.“
Der Flugplan sah vor, den Gleiter in eine ausgedehnte elliptische Bahn zu bringen – bis weit hinter die geostationäre Umlaufbahn.
Test der Lebenserhaltungssysteme, KI-Reaktion auf tiefe Raumflugdynamik, Strahlungsabschirmung. Entfernung zur Erde:
138.000 Kilometer, dann Umkehrpunkt. Der höchste Punkt der Parabel, bevor die Rückkehr begann. Es sollte simuliert werden, wie bei einem Flug zum Mond ein ungeplanter Abbruch verlaufen könnte. Falls so etwas wie Apollo 13 noch einmal geschehen würde.
T+6 Stunden, 03 Minuten. Ich hatte den Umkehrpunkt erreicht.
Die Hermes V-3 schwebte stabil am höchsten Punkt ihrer elliptischen Bahn. 138.000 Kilometer von der Erde entfernt – so weit draußen, dass unser Planet nur noch ein leuchtender Marmor war, der im tiefen Schwarz des Alls lag. Die Sonne stand blendend hell über dem Rand des Cockpitfensters. Ich aktivierte die Abschirmfilter.
Echo 9 meldete, „Flugbahn nominal. Energieversorgung stabil.
Apogäum erreicht.“
Ich ließ mich für einen Moment treiben. Selbst angeschnallt spürte ich das sanfte Schweben – das Gefühl völliger Freiheit, losgelöst von Schwerkraft, Alltag, Geschichte.
Dann ein kurzes Zischen im Funk.
„Kourou an Hermes V-3. Bitte sofortige Systembereitstellung für neue Lageeinschätzung.“
Die Stimme war diesmal nicht Jimmy. Es war Beckes. Und er klang... anders. Angespannter.
„V-3 bereit. Was liegt vor?“
„Armin, du bekommst gleich die Datenübertragung.
Raumwetterdienst hat eine Sonnenprotuberanz gemeldet. Klasse X2. Sie ging vor 16 Minuten auf der südöstlichen Sonnenseite hoch.“
Ich blinzelte. Eine Sonnenprotuberanz. Das war kein gewöhnliches Weltraumwetter – das war der große Hammer.
„Koronaler Massenauswurf?“, fragte ich ruhig.
„Bestätigt. Und leider ziemlich direkt auf dich ausgerichtet. Du bist außerhalb der Magnetosphäre – keine Erdabschirmung. Echo 9 hat eine Prognose?“
Echo schaltete sich sofort ein: „Partikelanflug in circa 48 Minuten.
Geschätzte Protonendichte kritisch. Strahlenschutzsystem aktiv, jedoch nicht für volle Dauer geeignet.“
Ich spürte, wie mir der Magen flau wurde – nicht vor Angst, sondern vor Klarheit. Wenn diese Sonneneruption mich traf, bevor ich wieder unterhalb von 1.000 Kilometern war, war mein Strahlenkonto für dieses Leben voll.
„Verfluchte Sch…,“ hörte ich Beckes im Lautsprecher. „Ist an diesem Flug denn gar nichts normal?“
„Beckes,“ sagte ich, „ist ok… ist ok! Ich habe die Entscheidung getroffen, nicht Sie.“
„Tut mir leid Junge, das wollte ich nicht.“
Ich hörte ihm seine Betroffenheit an. Das wahr ehrlich gemeint.
Aus meiner jetzigen Position konnte ich das rettende Magnetfeld der Erde unmöglich rechtzeitig erreichen. Die Strahlung wird mich mit voller Wucht treffen. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken. Bei einem koronalen Massenauswurf wusste man nie genau, was da im Einzelnen auf einen zukam. Meine erste Sorge galt der Energieversorgung. Wenn sie zusammenbrach, war es aus mit mir. Wenn sie durchhielt, würde ich zwar die Erde wieder erreichen können, doch was die Strahlung mit meinem Körper anrichten würde… ich wollte nicht darüber nachdenken.
Ich schnallte mich los und ließ mich in den hinteren Teil des Cockpits treiben. Dort befanden sich die Fächer mit der Notfallausrüstung. Seit der Zunahme der weltpolitischen Spannungen hatte man an alles gedacht. Isolationsdecken, Wundversorgung und auch eine Glock 9mm lagen bereit.
Schließlich wusste man nie, wo man eventuell notlanden musste.
In meinem Kopf jagte ein Gedanke den nächsten. Sollte die Energieversorgung ausfallen, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor, würde mir wenigstens das Erfrieren erspart bleiben. Ich faltete die Aluminiumdecken auseinander und wickelte sie um meinen Körper. Nicht wirklich ein ausreichender Schutz, aber immerhin.
„Echo 9: Partikelanflug?“
„Partikelanflug in 36 Minuten.“
Ich richtete mich langsam auf, die Aluminiumdecken raschelten um meine Schultern. Es fühlte sich lächerlich an – als würde ich versuchen, mit einem Regenschirm einen Vulkanausbruch aufzuhalten. Und doch... es war alles, was ich hatte.
Ich griff zum Notfallkit, riss die Strahlenschutzinjektion aus ihrer Halterung. Es war ein experimentelles Medikament, entwickelt für den Fall der Fälle – ein chemischer Cocktail, der DNA-Schäden begrenzen und die Zellteilung verlangsamen sollte. In Langzeitstudien getestet, nie im Ernstfall angewendet.
Ich betrachtete die Ampulle. „Besser als nichts.“
Mit einem kurzen Stich jagte ich mir den Inhalt in den Oberschenkel. Der Schmerz war kaum spürbar. Die Wirkung? Wer wusste das schon.
„Echo 9, Strahlenabschirmung überprüfen.“
„Sekundäre Abschirmklappen in Position. Kabinenwandung aktiviert. Elektromagnetisches Feld bei 63 Prozent Effektivität.“
63 Prozent. Nicht genug. Aber besser als offen zu fliegen. Ich begann, das Cockpit so gut es ging zu „verschließen“. Die Schlafzelle im hinteren Modul bot die dickste Wandung. Ich zog die zweiteilige Pilotensitzverkleidung heraus, steckte sie vor das Kabinenfenster, befestigte sie notdürftig mit den Klettgurten.
Alles, was Strahlung dämpfen konnte, kam zum Einsatz – Wasserbehälter, Ersatz Akkus, sogar die Notfall-Toiletteneinheit.
Ich baute mir einen kleinen Bunker aus Restmasse.
Noch 28 Minuten.
Ich kroch in die Schlafzelle, zog die Aluminiumdecken um mich, so eng es ging. Der Helm blieb auf. Die Notlichtfunktion schaltete ich ab – ich wollte nichts mehr sehen, das mir den Puls hochtreiben konnte.
„Echo 9, verbleibende Zeit bis maximaler Partikeldichte?“
„22 Minuten. Strahlungsspitze voraus. Empfehlung: minimale Aktivität. Muskeltonus senken. Blutfluss verlangsamen.“
Ich schloss die Augen. Versuchte, meinen Atem zu kontrollieren.
Lang, flach, regelmäßig. Ich stellte mir den Dom von Speyer vor.
Die alten Steine, das kalte Licht, den stillen Altar. Ich begann zu beten. Nicht aus Angst – sondern um mich zu fokussieren. Um meinem Geist einen Anker zu geben, während draußen das Unsichtbare tobte.
„Echo 9, melde dich bei Veränderung der Dosisrate.“
„Verstanden. Automatisches Monitoring aktiviert.“
Dann war da nur noch Stille. Keine Motoren. Kein Funk. Nur das leise Surren der internen Systeme – und mein eigener Herzschlag.
Ich wusste, dass in wenigen Minuten ein Sturm aus geladenen Teilchen die Hermes V-3 treffen würde. Kein Feuerball. Kein Licht. Nur unsichtbare Gewalt, gegen die ich nichts weiter tun konnte, als mich zu verkriechen und zu hoffen, dass all das, was ich gelernt und vorbereitet hatte, ausreichen würde.
„Armin?“
Die Stimme über Funk war schwach, verrauscht. Jimmy.
„Armin, hier ist Kourou. Wir bleiben bei dir. Gib uns ein Zeichen, wenn du kannst.“
Ich tastete blind nach dem Mikro und flüsterte:
„Noch da. In Deckung. Ich bleib ruhig.“
„Armin, da ist noch was, das ich dir sagen muss. Beckes will es dir nicht sagen, aber ich sage es dir.“
„Was meinst du?“
„Da ist noch was drin. In dem Teilchenstrom, da ist was drin, das wir nicht kennen.“
„Dunkle Materie oder sowas?“
„Keine Ahnung Alter, wir wissen es nicht. Dunkle Materie, dunkle Energie, nenn es wie du willst. Wir wissen nur, dass da noch etwas mit ausgeworfen wurde, das völlig unbekannt ist.“
„Danke, dass du es mir gesagt hast.“
„Hör zu, der Funk reißt gleich ab und ich… ich… ach scheiße, ich weiß auch nicht, was ich sagen soll.“
„Mach`s gut Jimmy.“
Ich schaltete den Funk ab und verkroch mich so tief wie nur irgend möglich in meinen selbstgebauten Bunker. Dann musste ich lachen. Im Jahr 2025 fliege ich in einem Raumschiff im Weltall zwischen Erde und Mond und verhalte mich wie ein Höhlenmensch. Dann begann ich zu beten:
‚Gütiger Vater, Du, der einzig wahre Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Du, der du das gesamte Universum geschaffen hast, …denk an mich!‘
Dann begannen die Instrumente verrückt zu spielen.
Warnleuchten flackerten. Displays flimmerten. Zuerst eine, dann alle. Echo 9 meldete sich, ihre Stimme digital verzerrt:
„Systemabweichung… Sektor 4B… Fehlerstrom erkannt… Kommunikationsarray instabil…“ Dann nur noch Rauschen. Funkstille. Die Hermes V-3 war in den Strahlungssturm eingetaucht.
Ein metallisches Knistern zog durch die Wände wie elektrischer Nebel. Es war, als würde das Schiff selbst ächzen unter der unsichtbaren Belastung. Ich konnte spüren, wie das elektromagnetische Feld schwankte – in den Knochen, nicht auf den Anzeigen. Alles kribbelte. Die Luft im Helm war trocken, zu trocken, fast metallisch im Geschmack.
Dann schlug eine Druckwelle durch die Struktur. Nicht wie ein Stoß – eher wie ein langsamer, durchdringender Widerhall. Das Wasser in den Vorratsbeuteln vibrierte. Die isolierten Aluminiumdecken knisterten wie Lagerfeuerfolie. Ich kauerte mich noch tiefer zusammen, hielt die Augen geschlossen, das Mikro stummgeschaltet.
Kein Licht. Kein Ton. Nur der Gedanke: „Ich bin nicht allein hier draußen.“
Ob es die Strahlung war, die in meine Sinne kroch, oder etwas anderes – ich weiß es nicht. Vielleicht war es Fieber, oder der Blutdruck, oder bloß Angst. Aber für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde die Raumkapsel sich dehnen. Als wäre Zeit… weich geworden.
Und dann – ein Flackern. Direkt hinter den geschlossenen Lidern.
Licht, das durch Schädelknochen drang. Wie bei Polarlichtern auf der Netzhaut, nur stärker. Klarer. Blitzartige, innere Farben. Ich öffnete die Augen.
Alles war dunkel. Aber dann – aus dem Nichts – ein einzelner, ruhiger Ton. Lang, konstant. Echo 9.
„Strahlungsspitze überschritten. Systemstatus instabil.
Lebenserhaltung bei 72 Prozent. Datenaufzeichnung läuft.“
Ich konnte es kaum glauben. Die KI war noch da. Nicht gut, aber funktional.
Ich tastete nach dem Notfallinterface, zog den Schirm herunter, der als Strahlendosimeter diente. Die Anzeige war hoch. Viel zu hoch. Ich hatte den Grenzwert überschritten. Wahrscheinlich mehrmals. Aber: Ich lebte.
Meine Stimme war heiser, meine Kehle trocken. „Echo 9, Status Pilot?“
„Körpersignale schwach, aber konstant. Keine unmittelbare vitale Gefährdung erkennbar. Kognitive Reaktion angemessen.“
Ich schloss die Augen. Ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
Ich war nicht tot. Noch nicht.
Langsam kroch ich aus meinem Bunker. Das Schiff war noch da.
Die Hermes hatte gehalten. Irgendwie. Irgendetwas in ihrer Hülle, in ihrer Technik, hatte genug Widerstand geleistet. Oder vielleicht… hatte da doch jemand meine Worte gehört.
Der Funk blieb stumm. Ich wusste nicht, ob Kourou mich noch empfing. Aber das war jetzt egal. Ich war durch.
Und nun war da nur noch eine Aufgabe: Heimkehren.
Zuerst brachte ich den Pilotensitz wieder in Ordnung. Dann setzte ich mich an die Instrumente.
„Echo 9 Kursbestimmung.“
„Kurs 2 Grad Abweichung.“
„Korrektur.“
Kurz aber heftig wurde ich in den Pilotensitz gedrückt, als das Triebwerk zur Kurskorrektur zündete.
Es funktioniert noch, dachte ich mir. Die Systemanzeigen hatten sich beruhigt und standen fast alle wieder auf normalen Werten.
Ich komme nach Hause, dachte ich mir. Ich komme nach Hause und mit diesem Gedanken kehrte auch die Fröhlichkeit in mir zurück. Die KI hatte den Kurs bestimmt. Sanft wie eine Feder würde ich in die Erdatmosphäre eintauchen.
„Echo 9 Strahlungsdosis, Systemwerte.“
„Strahlung auf Normalwerte gesunken. System stabil, Lebenserhaltungssysteme 88 Prozent.“
Ich jubelte innerlich und dankte Gott. Jetzt war es Zeit, mich zuhause anzumelden.
„Kourou, hier Hermes V-3, Pilot Armin von Berg, Bestätigung.“
Der Lautsprecher blieb stumm.
„Kourou, hier Hermes V-3, Pilot Armin von Berg, Bestätigung.“
Doch auch diesmal erhielt ich keine Antwort.
„Echo 9 Systemüberprüfung Funkanlage.“
„Systemüberprüfung Funkanlage abgeschlossen. Keine Fehler.“
Was, zum Henker, war hier los?
„Kourou, hier Hermes V-3, Pilot Armin von Berg, Bestätigung.“
Doch auch diesmal erhielt ich keine Antwort. Kourou meldete sich nicht.
„Verdammt, Jimmy, Beckes, meldet euch. Hier Hermes V-3.
Bestätigung.“
Der Funk blieb still. Kein Ton war zu hören. Was war passiert?
War die Protuberanz so stark gewesen, dass die Fernmeldesatelliten beschädigt wurden? Auf keinen Fall konnte ich unter diesen Umständen den Kurs beibehalten. Bei der Landung musste ich die Erde mehrmals umrunden. Ohne internationale Koordination war das bei der derzeitigen Weltlage ein Risiko. Sollte ich diesen Sonnensturm überstanden haben, nur um dann von einer russischen oder chinesischen Flugabwehrrakete abgeschossen zu werden?
„Echo 9 Kurskorrektur. Erdorbit.“
Wieder zündete das Triebwerk für einen kurzen Moment. Mein Kurs brachte mich jetzt in eine stabile Erdumlaufbahn. Bevor ich nicht wusste, was passiert war, konnte ich die Landung nicht riskieren.
„Echo 9 Frequenzabtastung.“
Die KI begann damit, alle Funkfrequenzen abzutasten.
„Frequenzabtastung beendet. Keine Signale empfangen.“
Ich starrte auf die Anzeigen. Stille. Kein Rauschen, kein Klicken, kein Signal. Nur das sanfte, künstliche Brummen der Hermes V-3, die jetzt in einer stabilen Erdumlaufbahn kreiste. Alle Systeme liefen – und doch war ich allein.
„Echo 9, erweiterte Analyse – Ursprung der Funkstille?“
„Mögliche Ursachen:
1) Ausfall bodengestützter Sendeanlagen.
2) Satellitenübertragung unterbrochen.
3) Protokollbasierter globaler Kommunikationsausfall.
Keine Interferenz durch Bordtechnik festgestellt.“
Ein globaler Kommunikationsausfall? Ich fröstelte. Die Vorstellung, dass der Sonnensturm mehr als nur meinen Flug betroffen haben könnte, nagte an mir. Ich dachte an Jimmy. An Beckes. An das Team im Kontrollzentrum. Was, wenn Kourou nicht einfach offline war – sondern... verstummt?
Ich schüttelte den Gedanken ab. „Echo 9, Energieverbrauch minimieren. Orbit stabil halten. Notfallroutine aktivieren. Ich brauche Zeit.“
„Befehl bestätigt. Lebenserhaltung auf effizienten Zyklus umgestellt. Automatisierter Orbit für 12 Stunden gesichert.“
Ich lehnte mich zurück, atmete tief durch. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war ich der Einzige ohne Verbindung – oder alle waren es. Vielleicht hatte die Sonne uns für einen Moment aus der galaktischen Realität gedrängt. Vielleicht... war ich der einzige Mensch im Weltall mit Strom, Luft und einer funktionierenden Denkmaschine.
Ich versuchte zu schlafen, wenigstens ein bisschen. Keine leichte Aufgabe, wenn einem das Gefühl der Isolation wie eine zweite Haut anliegt. Doch irgendwann schloss ich die Augen. Ließ mich treiben.
T+14 Stunden, 12 Minuten. Ein leiser Piepton riss mich aus dem Dämmerzustand. Ich schoss hoch. Immerhin hatte ich einige Stunden geschlafen. Unter mir zog die Erde vorbei. Ich befand mich auf der Rückseite und konnte schwach die Kontinente erkennen. Das musste Asien sein. Die charakteristische Form Indiens war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen.
Dunkelheit?
Wie ein Blitz fuhr es durch mich durch. Der gesamte Kontinent war in absolute Dunkelheit gehüllt. Wo waren die großen Lichtpunkte der Metropolen. Neu-Delhi, Singapur, Hongkong, Bangkok. Absolute Dunkelheit. Hatte der Sonnensturm die globale Energieinfrastruktur zerstört?
Bei Gott, ich wollte das nicht wahrhaben. Ein globaler Blackout?
Das würde die Funkstille erklären und war doch zugleich ein Horrorszenario.
Langsam kam ich auf die Tagseite. Ich erkannte den amerikanischen Kontinent. Nordamerika, Südamerika, Panama.
Panama? Täuschte ich mich? Wo war der Kanal? Wo die großen Seen? Weiter überflog ich Kolumbien und hielt Ausschau nach der Hafenstadt Cartagena. Doch da war nichts zu sehen. Der Himmel war klar, ich hätte ihre Umrisse erkennen müssen. Ich schaute auf meine Treibstoffanzeige. Ich hatte noch genügend Treibstoff, um den Orbit zu ändern. Echo 9 korrigierte leicht den Kurs und ich flog über Europa. London, Paris, da war etwas, aber das waren doch nicht die Städte die ich kannte?
Ich beugte mich nach vorn, presste das Visier meines Helms fast gegen die Scheibe. Der Orbit brachte mich jetzt über Mitteleuropa.
Ich überflog den Ärmelkanal – oder besser gesagt: das, was ich für den Ärmelkanal hielt. Die Küstenlinie passte, doch die Lichter… waren kaum da. Keine Lichtinseln. Kein Paris, keine Autobahnraster, keine Großflughäfen. Ich rieb mir die Augen.
Vielleicht war es der Strahlenschaden. Vielleicht eine Fehlfunktion im Optiksystem.
„Echo 9, optische Kalibrierung – bestätige Kamerastatus.“
„Kameras und Fensteroptik normal. Atmosphärische Klarheit bei 87 Prozent. Kein Nebel, keine Reflektionen. Anzeige realitätsgetreu.“
Ich presste die Lippen zusammen. Meine Gedanken jagten.
Und als selbst das Letzte an Denkbarem zerbrach, stand das Undenkbare vor mir – nackt, unumstößlich, wahr.
„Echo, überprüfe Sternenkonfiguration nach aktueller Zeit.“
„Bitte bestätigen: Analyse der Himmelspositionen zur Datierung?“
„Bestätigt. Berechne aus sichtbaren Sternbildern und deren Position zueinander die aktuelle Zeit.“
Es dauerte ungewöhnlich lang.
Dann meldete sich Echo 9 mit einer Stimme, die ich noch nie gehört hatte – gedämpft, fast… zögerlich: „Sternbildpositionen entsprechen nicht den Werten der Epoche 2000 bis 2100.
Präzessionsabweichung jenseits der Toleranz. Analyse abgeschlossen.“
„Und?“ Ich hörte mein Herz schlagen.
„Aktuelle Konstellationen entsprechen einer Sternenlage um das Jahr… 1225 nach Christus.“
Ich war still.
„Wiederhole das, Echo 9.“
„Astronomische Positionsanalyse ergibt: Jahr 1225. Präzession, Eigenbewegung von Sirius, Altair, Polaris sowie Sternwinkel der Ekliptik Achse weichen stark von bekannten Werten des 21.
Jahrhunderts ab. Beobachtete Konstellationen stimmen überein mit historischen Simulationen des 13. Jahrhunderts.“
Mir wurde kalt. Richtig kalt.
„Echo… ist Zeitreise theoretisch möglich durch extremen Strahlungsimpuls, gekoppelt mit… unbekannter Energieform?“
„Solche Theorien existieren in spekulativen Arbeiten, unter anderem Hawking, Alcubierre, Tipler. Experimentelle Nachweise:
keine. Beobachtungsdaten deuten auf unkontrollierte Zeitverschiebung hin. Ursache: unklar.“
Ich stand auf. Mein Blick fiel auf das ESA-Emblem auf dem Innenrand der Kanzel. Und plötzlich fühlte sich alles… fragil an.
Wie ein Stück Zukunft, das in ein Jahrhundert gefallen war, das es noch nicht kannte.
Ich war in der Vergangenheit.
Kein Kourou. Kein Jimmy. Kein Beckes. Kein Orbitallabor, keine ISS, keine Menschen mit Headsets, die meine Atemfrequenz überwachten. Kein 2025. Ich war über einer Erde, die mich nicht kannte – mit einem Flugzeug aus einer Zukunft, die hier noch nicht einmal geträumt wurde.
Ich sank zurück in den Sitz. „Echo… wie viele Stunden verbleiben bis Wiedereintritt möglich ist?“
„Drei Stunden, 41 Minuten. Aktueller Kurs führt über die Westküste Europas. Mögliche Landezonen identifiziert: Bretagne, Iberische Halbinsel, Nordafrika.“
Ich nickte langsam. „Berechne sicherste Flugbahn mit minimaler Sichtbarkeit und maximaler struktureller Integrität.“
„Befehl bestätigt. Wiedereintritt wird eingeleitet in T-minus 2:12:37.“
Ich blickte hinaus. Die Erde drehte sich unter mir. Eine Welt, die nicht meine war – und der ich dennoch in wenigen Stunden gegenüberstehen würde.
Hermes V-3 war bereit. Ich nicht. Aber das spielte keine Rolle mehr.
Ich musste landen. Ich musste überleben.
Und ich musste begreifen, was geschehen war.
* * *
Zwei Stunden bis zur Landung. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf. Auf keinen Fall durfte ich auffallen. Die Menschen des Mittelalters kannten keine Flugzeuge geschweige denn einen Raumgleiter. Wenn ich irgendwo auf einer flachen Ebene landen sollte, hielten sie mich vielleicht für einen Engel und erwarteten irgendwelche Wunder von mir.
Noch 24 Minuten bis zum Wiedereintritt.
Die Hermes V-3 lag ruhig im Sinkflug, das tiefe Brummen des Lageregelungssystems kaum hörbar. Ich hatte mich in die Notfallkleidung gehüllt – grober, grauer Stoff aus dem Überlebensset, der auf den ersten Blick wie ein Umhang wirkte.
Den Raumanzug hatte ich sorgfältig verstaut, alle technischen Elemente abgedeckt. Mein Ziel war klar: unauffällig bleiben.
„Echo 9, Standort der Wasserung?“
„Geplante Koordinaten: 48°34′N, 3°45′W. Küstenlinie Bretagne.
Tiefe bei Ebbe: unter 2 Meter. Strömung schwach.
Sichtverhältnisse: Dunkelheit.“
„Geht klar. Flacher Winkel, maximale Dämpfung bei Kontakt.“
„Flugbahn eingestellt. Aufsetzgeschwindigkeit: 104 Knoten.
Thermische Belastung: moderat. Sichtbarkeit: gering.“
Ich blickte hinaus. Vor mir der blaue Schimmer der Erdatmosphäre, flach und weit. Kein Licht auf der Oberfläche, keine Städte. Die Küste war schwarz wie Tinte, das Meer darunter ein glitzerndes Band unter dem Sternenhimmel. Und über mir – ein vertrauter Anblick, und doch seltsam fremd: die Sterne.
Und plötzlich sah ich, wie sie standen.
Orion – weiter nach Osten verschoben als gewohnt. Polaris – niedriger. Die Plejaden – intensiver, enger beieinander.
Mein Magen zog sich zusammen.
Echo hatte recht. Es war 1225. Und ich war gleich da.
T – 00:05:41 Die Hermes krümmte sich leicht in der Atmosphäre.
Die metallene Außenhülle vibrierte sanft. Kein Feuerball. Kein Grollen. Nur ein leises, tiefes Pfeifen.
„Echo, Klappensystem manuell bereit. Notabsprengung deaktivieren.“
„Bestätigt. Antrieb im Gleitflug. Wasserung eingeleitet.“
Ich hielt die Gurte fest.
„Gleich bin ich zu Hause. Irgendwo.“
T – 00:00:47 Dann der Moment.
Der Aufprall war nicht hart, aber schwer. Das Wasser schäumte über das Sichtfenster, die Kapsel tauchte ein, pflügte durch den seichten Küstenbereich und kam in der sandigen Brandung zum Stillstand. Das Geräusch war dumpf, erdig – wie das Ausatmen eines alten Tieres.
Ich atmete aus.
„Echo 9, Struktur?“
„Rumpf intakt. Minimaler Wassereinbruch. Ankerposition erreicht. Außenbedingungen: Nacht, keine Lichtquellen. Ebbe bestätigt. Aufsetzort: Watten Bereich, nordwestlich von Saint-Brieuc.“
Ich löste die Gurte und öffnete die Schleuse. Ein zischendes Geräusch, dann strömte mir die salzige Nacht entgegen. Kalt. Die Luft roch plötzlich... anders. Salzig. Roh. Lebendig. Kein steriler Sauerstoff, sondern echte, irdische Küstenluft.
Ich trat hinaus.
Die Hermes V-3 lag schräg im flachen Wasser, der Bug leicht auf einer Sandbank aufgesetzt. Um mich herum: völlige Dunkelheit.
Der Himmel war wolkenlos, die Sterne hell, das Meer flach wie ein Spiegel. Der Wind roch nach Tang, nach Muscheln, nach altem, lebendigem Atlantik.
Ich watete langsam durch das Wasser, spürte den nassen Sand unter meinen Füßen. Dann stand ich am Ufer.
Vor mir: eine dunkle Landschaft. Hügel. Schatten. Keine Straßen.
Keine Antennen. Keine Geräusche, außer dem Plätschern der Ebbe und dem Ruf eines nächtlichen Vogels.
Ich hatte es geschafft. Ich war auf der Erde. Nur nicht auf der meinen. Ich sah zurück zur Hermes, schwarz, glänzend, futuristisch. Ein Monument einer anderen Zeit, gestrandet wie ein Wal. Ich würde sie verstecken müssen. Vergraben. Tarnen. Denn in dieser Welt durfte sie niemand sehen.
Ich setzte mich auf einen Felsen. Der Mond war schmal, fast unsichtbar. Die Sterne über mir bewegten sich, wie sie es vor Jahrhunderten getan hatten – und ich war einer von ihnen geworden. Ein Irrstern.
Aber ich lebte. Und ich war angekommen.
Die Hermes, wie sollte ich sie verstecken? Keine noch so gute Tarnung hielt ewig. Früher oder später würden die Menschen sie finden. Sie würden sich fragen, was das ist und wer sie hergebracht hat. Das war alles viel zu riskant. Ich sah nur eine sinnvolle Lösung.
Bisher hatte scheinbar noch niemand von meiner Ankunft Kenntnis genommen. Es war frühe Nacht. Ich nahm an, die Menschen im Mittelalter gingen mit Sonnenuntergang schlafen und standen bei Sonnenaufgang wieder auf. Ich hatte also noch ein wenig Zeit. Ich watete zurück zur Hermes. Das Notfallset war gut bestückt. In den politischen Spannungen meiner Zeit musste man bei einer Notlandung auf vieles vorbereitet sein. Ich schnürte mir aus der zweiten Notfalldecke einen Rucksack, den ich tragen konnte. Dann nahm ich das Reserveinterface aus seiner Halterung und steckte es ein. Dieses Interface war nicht viel größer als ein Laptop und war dafür gedacht, bei Ausfall der KI die Steuerung manuell übernehmen zu können. Trotzdem war sie ausgestattet mit allen relevanten Daten meiner Zeit, einschließlich einer kompletten Enzyklopädie. Ich überprüfte die Glock. Ich war nie ein Waffennarr – aber jetzt war ich dankbar dafür. Die Waffe war tadellos in Ordnung, ebenso die beiden Magazine mit je sechzehn Schuss Munition. Ich schaute auf meine Uhr. Meine Uhr, da musste ich grinsen. Mein Vater hatte sie mir geschenkt. Nicht besonders teuer, ein Lizenznachbau eines vollautomatischen Chronographen. Aber eben reine Mechanik. Kein elektronischer Schnickschnack – und keine Batterie. Doch selbst diese für mich eher altmodische Uhr konnte ich nicht tragen, die Menschen würden mich fragen was das ist und wo es herkommt. Ich nahm sie ab und steckte sie in meine Hosentasche.
GPS Tracker, Taschenlampe, Notstromaggregat.
In meiner Zeit wären sie hilfreich gewesen. Doch hier konnte mir all das gefährlich werden.
Mein Vater, schoss es mir durch den Kopf. Würde ich meine Familie jemals wieder sehen? Doch dann setzte sich mein Realitätssinn durch. Worüber machte ich mir Gedanken? Meine Eltern und alle anderen aus meiner Familie waren ja noch gar nicht geboren!
Ich packte noch die Proteinriegel ein, die konnte ich gebrauchen.
Daneben fand ich noch ein Röhrchen, angefüllt mit kleinen, runden Silber- und Goldplättchen ohne Prägung, um ihre Herkunft zu verschleiern. Nicht besonders wertvoll, aber als Tauschmittel hinter feindlichen Linien die optimale Lösung. Ich begann militärisch zu denken. Ich stellte mir vor, über feindlichem Gebiet abgeschossen worden zu sein. Jetzt galt es möglichst unsichtbar zu bleiben und… ja… und dann?
Ich verdrängte diese Gedanken. In diesem Moment zählte nur das Hier und Jetzt. Mein Entschluss stand fest. Ich überdachte noch einmal meine Kleidung, mit ein wenig Dreck im Gesicht und an den Schuhen konnte ich vielleicht als mittelalterlicher Pilger durchgehen. Zumindest fürs Erste. Dann setzte ich mich noch einmal in den Pilotensitz um Echo 9 meinen letzten Befehl zu geben.
Ich legte die Hand auf das Hauptinterface. Der Bildschirm erwachte mit einem matten, blauen Leuchten. Die Symbole tanzten ruhig, als wäre nichts geschehen. Doch ich wusste es besser. Dies war der letzte Moment mit Echo 9 – meinem einzigen Begleiter in den letzten Stunden, der letzten Verbindung zu meiner Welt. Und ich würde ihn zurücklassen.
„Echo 9,“ sagte ich.
„Systembefehl: Initiierung der Selbstzerstörungssequenz – Protokoll Stufe 3, Zeitverzögerung fünfzehn Minuten.“
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann ein kaum wahrnehmbares Summen. Die KI schien zu… überlegen.
„Armin, bitte bestätigen. Dieser Befehl ist irreversibel.“
„Bestätigt.“
Meine Stimme klang klarer, als ich sie erwartet hatte.
„Protokoll Stufe 3: thermische Zersetzung des Reaktorkerns, vollständige Desintegration der Struktur. Ziel:
Spurenvernichtung.“
„Ziel: Spurenvernichtung,“ wiederholte ich. Dann, nach einem Moment des Zögerns:
„Echo... danke. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
Die KI schwieg kurz. Dann kam eine Antwort – fast menschlich:
„Ich diene dem Überleben. Ich wünsche dir, dass deines fortbesteht, Armin.“
Ich schluckte hart. Ein Computerprogramm. Und doch... mehr.
Ich stand auf, schnallte mir den improvisierten Rucksack um. Ein letzter Blick auf die Cockpitkapsel, auf das ruhige Leuchten der Displays, auf den Sitz, in dem ich den Weltraum gesehen hatte.
Dann drehte ich mich um und trat hinaus in die Nacht.
Das Wasser reichte mir bis zu den Knöcheln, der Schlick sog leicht an meinen Stiefeln, während ich mich vom Gleiter entfernte.
Hinter mir ragte die Hermes V-3 still aus dem Watt – kein Licht, kein Geräusch, nur eine stumme Silhouette im Mondschein. In fünfzehn Minuten würde sie sich selbst auflösen – zu heißer Asche und Dampf. Ein Irrstern, verglüht.
Ich ging weiter, der dunkle Horizont vor mir, der Sand kalt unter den Sohlen. Der Wind roch nach Meer und Salbei. Ich hielt mich südöstlich, so hatte es Echo berechnet. Saint-Brieuc – oder was immer im Jahr 1225 dort stand – war mein Ziel. Ich musste Menschen finden. Sprache hören. Orientierung gewinnen. Vor mir lag die Dunkelheit einer Zeit, in der man für Licht betete, in der Bücher heilig waren und Wissen gefährlich. Ich hatte beides.
Und ich wusste: ab jetzt musste ich mehr sein als ein Pilot.
Ich musste jemand anderes werden.
Ich lief schneller um genügend Abstand zur Hermes zu bekommen.
Ich erreichte ein Waldstück und setzte mich auf einen umgefallenen Baum. Mit meinen Händen fasste ich in die feuchte Erde. Dann die Explosion. Echo 9 hatte meinen Befehl ausgeführt.
Der Reaktorkern war geschmolzen und hatte eine kleine, kontrollierte Atomexplosion ausgelöst. Die Druckwelle erfasste mich und ich warf mich hinter den Baumstamm. Als ich wieder aufblickte, konnte ich im fahlen Mondlicht einen schwachen Rauchpilz erkennen, der sich in den sternenklaren Himmel fraß.
Das war’s. Die Hermes V-3 und Echo 9 existierten nicht mehr. In diesem Augenblick fühlte ich mich als der einsamste Mensch der gesamten Welt.
Ich saß im feuchten Waldboden, während sich die Wärme der Druckwelle langsam verlor. Das Rauschen in meinen Ohren ließ nach, der metallische Geschmack auf der Zunge verschwand. Ein letzter, glimmender Rauchfaden zeichnete sich gegen das Sternenlicht ab – und dann war es vorbei. Stille.
Keine Hermes mehr. Kein Echo 9. Nur ich.
Ich blieb noch einige Minuten hinter dem Baumstamm hocken, als könnte ich dort Schutz finden – vor der Realität, vor der Zeit, in die ich gefallen war, vor dem Gewicht der letzten Entscheidung.
Dann stand ich langsam auf. Ich klopfte mir die Erde von den Knien und ging weiter.
Saint-Brieuc.
Ein Ort, der in meiner Zeit aus Karten, Verkehrsanalysen und Satellitenbildern bestand. Jetzt war er nur noch eine Idee.
Vielleicht ein Kloster. Vielleicht eine Ansammlung von Hütten und Schweinen. Vielleicht nur ein Name in einem Manuskript, das noch nicht geschrieben war.
Mit jedem Schritt durch das niedrige Unterholz wurden meine Gedanken absurder. Wahrscheinlich eine Reaktion auf die Überforderung. Mein Gehirn versuchte, irgendwie Ordnung zu schaffen – durch Unsinn.
Was, wenn ich einem Ritter begegne? Soll ich mich verbeugen?
Oder sagen: „Hi, ich bin nur abgestürzt, kein Grund zur Panik“?
Was, wenn sie mich für einen Ketzer halten? Sollte ich dann lügen und behaupten, ich sei ein verlorener Benediktinermönch auf Pilgerreise? Nur… warum sollte ein Benediktiner mit einem Taschenmesser, einer Pistole und Proteinriegeln durch den Wald schleichen?
Ich lachte leise. Eine Mischung aus Wahnsinn und Galgenhumor.
Was, wenn ich mir den Zeh stoße und an einer Infektion sterbe, weil es keine Antibiotika gibt? Immerhin hatte ich eine moderne Wundsalbe dabei. Vielleicht wurde ich zum lokalen Wunderheiler.
„Heiliger Armin, Retter des verfaulenden Fußes.“
Und wenn ich einem Mädchen aus dem Jahr 1225 begegne und mich verliebe? Was würde ich ihr sagen? „Ich komme aus einer Zeit, in der man dein Dorf auf Google Maps sieht und dein Dialekt automatisch übersetzt wird?“
Ich blieb stehen. Der Gedanke war plötzlich gar nicht mehr so lustig.
Was, wenn ich mich verliebe?
Was, wenn ich nie wieder zurückkomme?
Die Bäume wurden lichter. Irgendwo vor mir gluckerte Wasser.
Vielleicht ein Bach, ein kleiner Fluss. Ich konnte ihn nutzen, ihm folgen. Wasser bedeutete Leben. Und Leben bedeutete… Menschen.
Ich atmete tief durch.
Der Pfad wurde schmaler. Ich hatte den Bach erreicht und folgte ihm stromaufwärts. Das Wasser gluckerte leise, begleitet von einem leichten Wind, der durch die niedrigen Birken fuhr. Der Himmel war schon heller geworden – der Morgen kündigte sich an.
Ein fahles Grau legte sich über die Baumwipfel, und der Horizont begann zu glimmen. Ich musste aufpassen. Die Dunkelheit, die mich bisher geschützt hatte, schwand. Bald würde ich gesehen werden können.
Dann hörte ich Stimmen.
Gedämpft, rau, tief. Männerstimmen. Nicht weit entfernt. Ich blieb stehen, duckte mich hinter einen moosbedeckten Stein und spähte über den Rand.
Drei Gestalten. Männer mit langen Gewändern, grobem Stoff, dunklen Umhängen. Zwei führten einen kleinen Karren, der von einem müden Esel gezogen wurde. Der Dritte hatte eine Fackel, auch wenn das Licht kaum noch nötig war. Sie redeten miteinander – schnell, abgehackt, mit einem Klang, der mir seltsam bekannt vorkam… und doch vollkommen fremd war.
Altfranzösisch.
Ich verstand fast nichts.
Einzelne Worte blitzten auf – malade, froid, pèlerin. Krank. Kalt.
Pilger. Sie sprachen von jemandem, einem Kranken offenbar. Und von einem Weg, einem Kloster vielleicht. Ich erinnerte mich an das wenige Schulfranzösisch, das ich hatte – und an die altsprachlichen Fragmente aus der Astronautenausbildung zur Missionskultur. Mein Französisch war schlecht. Und das, was sie sprachen, war kein Französisch, wie ich es kannte. Es war ein Dialekt aus einer Zeit, in der Grammatik noch flüssig und Worte halbe Lieder waren.
Ich konnte nicht weglaufen. Sie hatten mich noch nicht gesehen, aber das würde sich ändern, sobald ich weiterging.
Ich holte tief Luft, trat aus dem Unterholz auf den schmalen Pfad.
Einer der Männer rief auf, erschrak, zog reflexartig ein Messer aus seinem Gürtel. Der Esel schnaubte. Die anderen blieben stehen.
Ich hob sofort beide Hände.
„Paix… paix!“ rief ich, so ruhig ich konnte. „Je ne veux… pas de mal.“ Sie musterten mich. Meine Kleidung, mein Rucksack, mein fremdes Gesicht. Ich konnte sehen, wie ihre Blicke zwischen Furcht und Misstrauen schwankten.
„Tu es pèlerin?“ fragte der Älteste, ein wettergegerbter Mann mit dünnem Bart und tiefliegenden Augen.
Ich nickte zögerlich. Dann – improvisiert, aber klar – sagte ich:
„Je suis… Medicus.“ Ich deutete auf meine Brust. „Je soigne les malades.“
Der Mann blinzelte. Wieder Stille. Dann flackerte etwas in seinem Gesicht – Hoffnung? Neugier? Misstrauen?
„Medicus?“ wiederholte er langsam, fast ehrfürchtig.
Ich nickte erneut. „Oui. De… très loin.“ Ich deutete vage hinter mich. „Très, très loin.“ Und dann, weil ich dachte, es könnte helfen: „Par la volonté de Dieu.“
Das wirkte. Der Mann machte das Kreuzzeichen. Der Jüngere ließ langsam das Messer sinken.
„Un des nôtres… malade,“ murmelte er. Dann sprach er schneller, der Dialekt wurde dichter, die Worte liefen ineinander. Ich verstand kaum etwas – aber ich hörte „fièvre“, „jambe“ und „rougeur“. Fieber, Bein, Rötung. Vielleicht eine Infektion.
Vielleicht eine Verletzung. Vielleicht etwas, das ich mit einem Verband und etwas Antibiotika aus meinem Set behandeln konnte.
Ich deutete auf meinen Beutel, auf mein mit Stoff umwickeltes Reserveinterface, das wie eine hölzerne Kiste wirkte. Dann auf mich.
„Je peux aider.“
Der Alte zögerte. Dann nickte er.
„Viens.“
Ich ging mit ihnen. Der Esel trottete weiter. Der Pfad führte über eine Hügelkuppe, und dort – in der Morgendämmerung – sah ich zum ersten Mal Rauch aufsteigen. Ein kleines Dorf. Reetgedeckte Dächer. Hölzerne Zäune. Hühner. Ein Hahn krähte irgendwo.
Hunde bellten.
Ich war angekommen. Und ich war ein Medicus.
Ein Lügner vielleicht – aber einer, der helfen konnte.
Der Weg ins Dorf war kurz, aber von starrenden Blicken gesäumt.
Frauen zogen ihre Kinder beiseite, Männer sahen mir mit vorsichtiger Skepsis nach. Ich senkte den Blick, ließ meinen „Pilgerumhang“ locker über die Schultern hängen und versuchte, meine moderne Kleidung so gut wie möglich zu verbergen. Der Mann mit der Fackel, offenbar der Wortführer, lief neben mir her, redete hastig mit einem Burschen, der dann vorauslief, ins Dorf hinein. Offenbar, um die Ankunft des „Medicus“ anzukündigen.
Wir erreichten einen größeren Hof, zweigeschossig, mit einem steinernen Unterbau und einem hölzernen Obergeschoss. Vor dem Eingang standen mehrere Pferde. Ein Knecht hielt eine brennende Laterne hoch, als wir eintraten.
Im Inneren war es warm, aber stickig. Der Geruch von feuchtem Heu, Rauch, Schweiß und altem Wein lag in der Luft. Der Boden war mit Stroh ausgelegt, über dem offenen Kamin hing ein Eisenkessel. Ein älterer Mann in gutem Leinenhemd und Pelzkragen stand auf, als ich eintrat. Um ihn versammelt: drei Männer in dunklen Roben, mit breiten Gürteln und schweren, in Leder gebundenen Büchern in der Hand.
Einer von ihnen sprach sofort auf mich ein. Schnell. Hochtrabend.
Ich verstand kaum ein Wort, nur Fragmente: "humeurs", "bile noire", "sang chaud". Sie sprachen über die Drei-Säfte-Lehre – Blut, Schleim und Galle. Ich nickte stumm, tat klug, ließ mich davon nicht beirren.
Der Kranke lag auf einem Strohlager, sein Gesicht glänzte vom Fieber. Die Haut war grau, schweißnass, die Augen halb geöffnet.
Als ich nähertrat, stieg mir sofort ein Geruch in die Nase, der keine Diskussion mehr zuließ: Eiter. Ich kniete mich neben ihn und bat mit einer Handbewegung um Ruhe.
Ich schlug die Decke zurück – vorsichtig, ohne Hast, als sei ich vertraut mit der Geste. Auf der Innenseite seines Oberschenkels wölbte sich eine handtellergroße, gerötete Beule. Pulsierend. Die Haut gespannt, glänzend, an der Spitze leicht geöffnet.
Ein Abszess. Offenbar seit Tagen unentdeckt oder ignoriert.
„Infection,“ murmelte ich – halb zu mir selbst.
Einer der Gelehrten tadelte mich mit einem Schnauben. „Excès de bile noire, évidemment.“ Ich antwortete nicht. Ich griff in meine Tasche, holte ein kleines Skalpell aus dem Notfallset, wickelte es in einem Stück Stoff ab und desinfizierte es unauffällig mit einem Tropfen aus der Notflasche.
Ich warf einen Blick auf den Mann. Er stöhnte leise.
„Tenez-le.“
„Haltet ihn fest.“
Zwei Knechte reagierten sofort. Ich setzte die Klinge an – ein schneller, sauberer Schnitt. Der Eiter schoss heraus, warm, dickflüssig, gelbgrün. Der Gestank war heftig. Die Gelehrten wichen instinktiv zurück. Einer schlug sich das Tuch vors Gesicht.
Ich drückte mit beiden Daumen die Wunde leicht aus, ließ die Flüssigkeit in einen bereitstehenden Holzbottich laufen. Dann legte ich einen Streifen Verbandstoff aus dem Set an, tränkte ihn mit einem antiseptischen Mittel, das nach Kräutern roch – ein moderner Auszug aus Thymian, Rosmarin und Alkohol. Vielleicht würde es in dieser Welt als Wunder durchgehen. Vielleicht auch nur als gut gemachter Sud.
„Le feu est sorti,“ sagte ich laut, improvisiert. „Das Feuer ist entwichen.“
Der Hausherr sank zurück, erschöpft – aber sichtbar erleichtert.
Seine Atmung wurde ruhiger. Die Spannung in den Schultern ließ nach. Ich griff in den Beutel und holte ein kleines Rehydratationspulver hervor, löste es in Wasser auf, reichte es ihm. Er trank.
Die Gelehrten schwiegen.
Zehn Minuten vergingen. Dann öffnete der Kranke die Augen – klarer jetzt, weniger glasig.
Er sagte nur ein Wort: „Merci.“
Ich nickte.
Der Mann erholte sich schneller, als ich es erwartet hatte. Bereits am nächsten Morgen saß er aufrecht, gestützt von Kissen, sein Gesicht war nicht mehr grau, sondern gerötet vom wiederkehrenden Kreislauf. Er ließ Brühe bringen, Brot, sogar ein kleines Stück Wildfleisch. Offenbar war er kein armer Bauer, sondern jemand mit Einfluss. Ein Gutsbesitzer, wie ich vermutet hatte.
Ich wurde wie ein Gast behandelt – mit Respekt, aber auch mit vorsichtiger Distanz. Vielleicht war es Ehrfurcht. Vielleicht Misstrauen. Oder beides. Die Gelehrten hielten sich zurück. Sie sprachen kaum noch mit mir, warfen mir aber Blicke zu, als versuchten sie, mich in irgendeine Schublade ihres Weltbildes zu pressen.
Am Abend wurde ich zur Feuerstelle gebeten. Der Hausherr – sein Name war Messire Toma de Quéménéven – wollte mich näher kennenlernen. Zwei Bedienstete gossen Wein in Holzbecher. Ich nippte nur. Der Wein war sauer, aber ehrlich.
„Ihr seid aus dem Süden, Messire?“ fragte er mit rauer Stimme.
„Euer Akzent… ist sonderbar.“
Ich nickte. „Ja, aus dem Süden. Weit. Vielleicht weiter, als Ihr denkt.“
Er lachte leise. „Weiter als Bordeaux? Weiter als Gascogne?“ Ich lächelte. „Viel weiter. Hinter den großen Bergen.“
Er schien zufrieden mit dieser Antwort. Dann wurde er ernst.
„Sagt mir, Herr Medicus…“ Er zögerte. „Wisst Ihr, welcher Tag heute ist? Ich war lange im Fieber, die Zeit verschwimmt.“
Ich musste diesen Moment nutzen.
Ich legte den Kopf leicht schräg, als müsse ich selbst überlegen.
„Ich… habe den Überblick verloren.“ Ich spielte den Pilger. „Seit ich aufgebrochen bin, habe ich nur die Sonne gezählt, nicht den Kalender.“ Er nickte verständnisvoll.
„Heute ist der neunte Tag im Monat Mars, im Jahre unseres Herrn 1225.“
Er sprach es mit Nachdruck, als wisse er um die Bedeutung der Worte.
1225. Mars. Neunter Tag.
Ich nickte dankbar. „Ich danke Euch. Es hilft, sich zu verorten.“
Ich ließ das Wort verorten extra unschärfer klingen – in dieser Zeit war es ohnehin kaum gebräuchlich.
Der Hausherr hob den Becher. „Dann möge Eure Reise unter dem Auge des Herrn weitergehen.“
Ich hob den meinen.
„Und möge Eure Genesung weiter unter Seinem Schutz stehen.“
Unsere Becher stießen an.
Ich hatte es geschafft. Ich wusste nun sicher, wo – und wann – ich war.
Und ich hatte zumindest für den Moment einen Platz, Schutz, eine Rolle.
Die nächsten Tage nutzte ich, um mich vollständig in einen mittelalterlichen Pilger zu verwandeln.
Ich wusste, dass jede Bewegung, jedes Wort, jeder Blick beobachtet wurde. Selbst wenn man mich nicht direkt ansprach, verfolgten mich Blicke aus halboffenen Türen, hinter Zäunen, aus der Dunkelheit der Stallgassen. Misstrauen war eine Überlebensstrategie in dieser Welt. Fremde, die heilten, waren nützlich – aber auch gefährlich.
Ich begann mit der Kleidung.
Die moderne Funktionskleidung hatte ich so gut wie möglich unter dem grauen Stoff verborgen. Ich schnitt Ränder aus den Thermomaterialien, nähte sie in den groben Überwurf ein, damit sie wie Flicken wirkten. Die glänzenden, synthetischen Schnallen der Stiefel überzog ich mit dunklem Leinen. Den Rucksack tarnte ich mit einem alten Kartoffelsack, den mir ein schweigsamer Junge gab, nachdem ich seine verkrustete Wunde mit einem Antiseptikum behandelt hatte.
Meine „medizinische Kiste“ – das Reserveinterface – wickelte ich in Schichten aus Lederresten und Leinentüchern, sodass sie wie eine uralte Pilgerlade aussah. Ich ließ sie nie aus den Augen, sprach nie über sie, und wenn jemand fragte, sagte ich nur: „Notizen.
Kräuter. Bücher.“
Dann: mein Verhalten.
Ich beobachtete die anderen Pilger, die durchkamen. Die wenigen, die auf dem Weg nach Compostela hier Station machten. Ihr langsames Sprechen. Ihr gesenktes Haupt. Wie sie mit einem Lächeln Gaben entgegennahmen, aber nie gierig wirkten. Ich imitierte ihre Gangart – leicht schleppend, als trüge ich eine lange Reise in den Knochen.
Ich redete wenig. Nur, wenn man mich ansprach. Und wenn ich sprach, dann in kurzen Sätzen, in einfachem Französisch. Wenn ich etwas nicht verstand – was oft vorkam –, runzelte ich die Stirn, als hätte ich das Gehör eines alten Mannes.
Und ich lernte. Ich hörte zu. Namen. Begriffe. Gepflogenheiten.
Die Menschen begannen, mich weniger zu beobachten – und mich zu akzeptieren. Es sprach sich herum, dass ich einem Gutsbesitzer das Leben gerettet hatte. Dass ich schweigsam, aber hilfsbereit war. Dass ich Kräuter kannte, Salben mischte, Wunden versorgte, ohne nach Lohn zu fragen.
Sie begannen, mich nicht mehr fremd zu finden.
Ich betete mit ihnen in der Kapelle. Konnte die lateinischen Psalmen auswendig – ein Überbleibsel der katholischen Liturgien meiner Kindheit. Ich wusste, wann man das Haupt senkte, wann man sich bekreuzigte. All das gehörte jetzt zu mir. Es war nicht mehr nur Tarnung. Es war… mein Leben.
Am fünften Tag gab mir eine ältere Frau einen langen hölzernen Stab – krumm, mit eingeschnitzten Linien, abgegriffen vom Gebrauch.
„Jeder, der weit gereist ist, braucht einen Stab“, sagte sie.
Ich nahm ihn entgegen, verbeugte mich leicht. „Danke… Mutter.“
Sie lächelte, zahnlos, aber herzlich.
Die Menschen wurden zutraulicher. Sie begegneten mir nicht mehr mit Scheu und Misstrauen. Sie nannten mich nur noch Medicus und begannen, mich auf der Straße zu grüßen ganz so, als wäre ich schon immer hier gewesen. Stellenweise schnappte ich einige Worte auf, die von einem großen Donner in der Nacht sprachen.
Das war wohl der Hermes gewesen. Doch wie mir schien, machten sie sich keine großen Gedanken darüber. Auch ich wurde innerlich ruhiger. Offensichtlich machte sich niemand die Mühe, den Strand nach der Ursache des Donners abzusuchen. Mir konnte es nur recht sein. Ebbe und Flut würden den Rest erledigen und in einigen Wochen würde wirklich gar nichts mehr zu finden sein, das ihr Interesse noch hätte wecken können.
Nach wie vor übernachtete ich bei meinem Gutsherren. Es schien ihm nichts auszumachen. Doch ich wollte seine Dankbarkeit nicht überstrapazieren.
Es war kein konkreter Anlass, eher ein innerer Druck – die ständige Angst, entdeckt zu werden, oder schlimmer: durch einen kleinen Fehler Fragen zu wecken, auf die ich keine glaubwürdigen Antworten hatte.
Ich hatte begonnen, nachts über mögliche Routen zu grübeln. Nach Süden? Nach Osten? Vielleicht bis nach Tours oder gar ins Tal der Loire, wo Klöster Bücher sammelten, in denen ich Anhaltspunkte über mein Dilemma finden könnte – vielleicht sogar Hinweise auf andere... wie mich?
Am Morgen, als ich mich beim Hausherrn verabschieden wollte, hielt er mich mit einer Geste auf.
„Bleibt noch,“ sagte Messire Toma de Quéménéven mit ernster Stimme. „Nur wenige Tage. Ich werde ein Fest ausrichten – zu Ehren meiner Genesung. Und zu Eurer Ehre, Medicus. Die Leute sollen sehen, wer mich aus dem Fieber geholt hat. Ihr seid mein Gast, und ich lasse meine Retter nicht einfach ziehen.“
Ich zögerte. Wollte ablehnen. Doch etwas in seinem Blick ließ mich verstummen. Es war kein Befehl – es war ein ehrliches Bitten.
Ich nickte. „Noch ein paar Tage. Für das Fest.“
Er lächelte. „Gott wird es Euch vergelten.“
Die Vorbereitungen begannen sofort. Fackeln wurden aufgestellt, Fässer Wein herangerollt, Schweine geschlachtet. Bauern kamen aus den Nachbardörfern, Musikanten mit Dudelsäcken und Drehleiern tauchten auf. Sogar ein Gaukler aus Rennes war angereist, wie ich hörte. Der Innenhof wurde mit Tüchern geschmückt, Kränze aus Efeu und Holunder hingen an den Pfosten.
Am Abend des Festes war der Hof nicht mehr wiederzuerkennen.
Die Luft roch nach gebratenem Fleisch und frischem Brot, nach Gewürzen und Rauch. Lachen erfüllte den Hof. Kinder liefen barfuß über das Pflaster, junge Frauen in bunten Leinenkleidern tanzten, während Männer Becher hoben und Geschichten erzählten, laut und übertrieben.
Ich saß an der rechten Seite des Gutsherrn, als Ehrengast – ein Platz, der mich gleichermaßen mit Stolz und Unbehagen erfüllte.
Doch als die Musik begann, als die ersten Tänzer auftraten, ließ ich mich mitreißen.
Ein Bauernjunge schenkte mir Wein nach, so oft, dass ich nicht mehr wusste, ob ich lächelte, weil ich wollte oder weil ich nicht anders konnte. Der Gaukler machte Kunststücke mit Messern und spielte später auf einem Instrument, das halb Harfe, halb Teufelswerk war. Die Menschen johlten. Ein Hahn wurde verlost, ein Brot gebrochen, ein Fässchen kippte um und wurde trotzdem leergetrunken.
Und ich – ich lachte.
Ich lachte mit Menschen, die vor einer Woche noch vor mir zurückgewichen waren. Ich aß, was man mir gab. Ich stieß Becher an. Ich sah in Augen, die nichts von Computerbildschirmen oder Raumfahrt wussten – aber voll waren von Leben, Hoffnung, Gemeinschaft.
Eine junge Frau – Mirene hieß sie – tanzte vor dem Feuer und lächelte mir zu. Ihr Haar war wie frisch geschnittenes Heu, ihre Füße schwarz von der Erde. Ich lächelte zurück. Nur einen Moment.
Die Drehleier summte wie ein lebendiges Tier, begleitet vom Rhythmus der Rahmentrommel. Die Musiker hatten sich in einer Ecke des Hofes niedergelassen, unter einem aufgespannten Tuch, das im Wind flatterte. Das Feuer war mittlerweile so hoch, dass Funken in den sternklaren Nachthimmel stoben, als wollten sie zu den Sternen zurückkehren, die ich besser kannte als irgendjemand hier.
Ich stand abseits, mein Becher halbvoll, als ich spürte, wie sich jemand näherte.
„Ihr habt noch keinen Schritt getan, Medicus“, sagte eine helle Stimme neben mir.
Ich drehte mich um. Mirene.
Sie war schlicht gekleidet, aber mit einer Natürlichkeit, die sie heller strahlen ließ als jedes Stoffband, das andere Frauen im Haar trugen. Ihre Wangen glühten vom Wein, vom Tanzen – oder einfach vom Leben.
„Ich tanze selten“, sagte ich ausweichend. Sie lachte leise.
„Dann wird es Zeit, dass Ihr es tut, bevor Ihr noch als Heiliger davongeht.“
Bevor ich etwas erwidern konnte, nahm sie meine Hand. Ihre Finger waren warm, fest, ein wenig rau von der Arbeit – aber sicher. Ich ließ mich führen.
Der Kreis auf dem Hof war weit geworden, locker. Die Leute klatschten, lachten, johlten. Keiner achtete mehr darauf, wer wer war. Der Gutsherr trank wie ein einfacher Mann, seine Gelehrten standen halb beschwipst im Schatten. Und ich… war einfach einer von ihnen.
