Alaskafüchse - Wolfgang Schreyer - E-Book

Alaskafüchse E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

Es war siebzehn Uhr fünf, als das Triebwerk Nr. 1 in Brand geriet. Die Feuerentdeckungsanlage meldete es. Keiner von ihnen sah die Flammen, denn Nr. 1 hing weit draußen unterhalb der Tragfläche, und der Löschschaum wurde im Handumdrehen damit fertig. Aber das Triebwerk stand still. 'Devil's Dream' kippte ab und verlor, eine Rauchspur nachschleppend, schnell an Höhe. Wie ein weitgeschleuderter Stein stürzte sie vom Gipfel ihrer Bahn herab, jagte abwärts, trudelte und fiel auf den Schafwollteppich zu, der die Erdoberfläche bedeckte. Es war ein Sturz ohne Ende." - Devil's Dream flog 65 000 Fuß hoch, und sie flog im besonderen Auftrag... Captain Leslie - von Frankreich auf den Stützpunkt Icy Cape in die Arktis strafversetzt, weil er ein Mädchen liebte, das der amerikanischen Geheimpolizei nicht genehm war - fängt die Maschine noch ab und kann auf einer driftenden Eisscholle notlanden. Aber sein Copilot Bob Harris hat sich lebensgefährlich verletzt. Sowjetische Polarstationen sind in der Nähe, sie würden Besatzung und Maschine Hilfe leisten, doch Leslie darf sie nicht rufen, Colonel Reed hat es durch Befehl verboten - das kann für Harris das Todesurteil sein. So treiben sie Tage im Eis, Leslie muss zusehen, wie der Freund stirbt, oder er wird „Verräter an der amerikanischen Sache". Das spannende Buch erschien erstmals 1959 beim Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung in Berlin. Die DEFA verfilmte das Buch 1964 mit Armin Müller-Stahl und Hans-Peter Minetti.

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Alaskafüchse

ISBN 978-3-86394-089-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1959 beim Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Die zweimotorige Maschine des Military Air Transport Service war gegen siebzehn Uhr von Portland abgeflogen, als die Sonne noch hoch über dem Pazifik stand. Sie strahlte erbarmungslos zu den Backbordfenstern herein. In diesem Flugzeug gab es wenig Komfort. Die Passagiere – zwanzig Soldaten, zwei Zivilisten – saßen beengt, in dumpfe Wärme eingehüllt, umgeben von Gerüchen. Drei endlose Stunden lang zog die kanadische Westküste unter ihnen dahin, mit ihren wild zerklüfteten Inseln, blassgrünen Nadelwäldern, verträumten Fjorden und den rotbraunen Felsen, an die der Stille Ozean brandete. Weiße Schaumketten säumten das Land.

Keiner der Reisenden sah hinab. Es war eine Versammlung hartgesottener Männer, sie kannten die Welt aus der Vogelschau, und das Motorengebrumm schläferte sie ein. Nur etwas zog ihre Blicke gelegentlich an: die Frau in der zweiten Reihe auf Backbord. Denn sie war so jung und so blond, ihre Haut so pfirsichfarben und zart, wie es sich Soldaten wünschen. Der Corporal, der hinter ihr saß, beugte sich ein paar Mal vor, schnupperte verstohlen an ihrem Haar und blies ihr schließlich in den Nacken. "Erfrischt es Sie?", fragte er.

"So nicht", antwortete Brenda Reed. "Vielleicht, wenn Sie die Zeitung nehmen."

"Ihr gehorsamster Sklave", sagte der Corporal und begann, die träge Luft zu fächeln. Dabei blinzelte er seinen Kameraden zu; alle sollten es sehen – sie hatte mit ihm gesprochen!

Über dem Queen-Charlotte-Sund sagte Mr. Gray: "Komm auf meinen Platz, Brenda, da sitzt du im Schatten."

"Gut, Gordon... Wenn's dir nichts ausmacht?" Sie vertauschte den heißen Fenstersitz mit einem Sessel am Gang. Er war so aufmerksam, so besorgt um sie. Beim Platzwechsel streiften sie sich; Brenda Reed roch den Rauch teurer Zigarren, der immer an seinen Anzügen haftete, und den herben Duft einer Creme, mit der sich ihr Verlobter nach dem Rasieren einrieb. Doch der kleine Schauer, der sie in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft überlief, wenn er in ihre Nähe kam, blieb aus. Warum nur, warum? Er war ein vorbildlicher Partner, ein großer, kräftiger, eleganter Mann... Ihr Gordon!

Sie bemerkte, wie er sich umwandte und den Corporal fragte: "Wohl lange kein Mädel mehr gesehen, wie?"

"Gesehen schon, aber nicht gehabt."

Grays Lippen wurden schmal. Es war offenkundig, dass die Soldaten ringsum grinsten. "Sind eben nicht alle zu haben, mein Junge", sagte er und sah den anderen durchbohrend an.

Der Corporal verstummte.

Brenda runzelte die Stirn. "Was ist los mit dir, Gordon", flüsterte sie, "eifersüchtig?"

"Nicht auf diese armen Teufel."

"Dann lass sie doch in Ruhe."

"Gern, wenn sie aufhören wollten, dich anzustarren."

"Sie gucken mich dir nicht weg, Liebling."

"Nein", antwortete er zärtlich. "Wer das je versuchen würde, Brenda, der hätte auch nichts zu lachen."

Das Mädchen verzog den Mund. Kleine Szenen dieser Art häuften sich in den letzten Wochen. Seine Worte verstimmten sie, denn sie zeigten ihr die Grenzen ihrer Handlungsfreiheit. Aber all das änderte nichts. Sie bewunderte ihn. Er war so energisch, so erfahren. Er war ein Mann, der seiner Sache sicher war und seine Rechte zu wahren wusste. Er nahm es hier mit zwanzig Soldaten auf, es war ihm völlig gleich, ob sie ihn hassten. Obwohl man es ihm nicht ansah, war er Ende dreißig, siebzehn Jahre älter als sie und stark genug, um sie in jeder Lage zu beschützen. Ein bisschen fühlte sie sich dabei als sein persönliches Eigentum, aber war das so schlimm? Die Entscheidungen wurden ihr abgenommen – wie angenehm; an Gordons Seite konnte sie gelassen durchs Leben gehen. Es würde nicht besonders aufregend sein, dieses Leben, ohne Höhen oder Tiefen, wie man sie im Film mit ansieht; dafür vernünftig und gesichert. Nichts konnte ihr zustoßen, wenn sie bei ihm blieb, gar nichts.

Überm Alexander-Archipel begann die Maschine zu sinken; der Pilot steuerte die Flottenbasis Sitka auf der Baranoff-Insel an. Brenda Reed spürte ein Kitzeln oberhalb des Magens, sie schloss die Augen. War es das, was sie wollte? Ein Leben in Ruhe und Geborgenheit, ein glänzendes Leben, gewiss. Gordon Gray war nicht gerade reich, doch er bekleidete einen hohen Regierungsposten. Im Gegensatz zu ihrem Vater, dem Colonel Reed, hatte er eine staunenswerte Karriere hinter sich, und viele Türen standen ihm noch offen. Im Stillen verglich Brenda oft die Leistungen und Schicksale dieser beiden Männer – der einzigen, die sie wirklich kannte. Ihr Vater, Tony Reed, war vor fünfzehn Jahren, ein paar Monate nach Pearl Harbour, als Fliegermajor auf den Philippinen in japanische Hand gefallen, verwundet und krank. Er hatte die Leiden der Gefangenschaft zwar überstanden, aber die große Beförderungschance des zweiten Weltkrieges verpasst. Seine gleichaltrigen Kameraden waren längst General; ihn hatte das Luftwaffenkommando an den Rand des Eismeers versetzt, und er wusste, dass er seine Laufbahn als Colonel beschließen würde. Flugplatzkommandant in Nord-Alaska, dies bedeutet das Ende aller ehrgeizigen Träume.

Gordon Gray dagegen, ein sehr viel jüngerer Mann, nahm eine Stellung ein, die seinen Jahren durchaus nicht entsprach. Sein Gehalt war dreimal so hoch wie das ihres Vaters. Er hatte sich durchgesetzt, sein Wort galt etwas im Senatsausschuss, die Republikanische Partei unterstützte seine Pläne. Jetzt war er Sonderbeauftragter für Atom- und Sicherheitsfragen beim Chef der Zivilverteidigung; so, wie sie ihn kannte, gab er sich damit nicht lange zufrieden. Er war ein Organisator von solcher Durchschlagskraft, dass man ihm nie auf die Dauer den Weg verlegen konnte. Sie glaubte, er würde immer höher steigen; vielleicht wählte man ihn eines Tages zum Gouverneur von Oregon, Utah oder Nevada... Frau Gouverneur Brenda Gray.

Da setzte die Maschine auf.

"Uff", machte Gray, "das ist Sitka. Wir klappern die Militärstationen ab. Ein paar von den Boys werden 'rausklettern, andere steigen zu. Bedeutende Leute sind nicht zu erwarten, die fliegen in eigenen Maschinen."

"Bloß du nicht, Gordon."

"Hab's doch versucht, Baby. Mein Pilot hat abgelehnt. Er könnte sich da oben leicht verfliegen."

"Verfliegen?"

"Ja, hinterm Polarkreis ist die Navigation nicht mehr so einfach. Den Kompass kannst du da ruhig über Bord werfen, er nützt dir dort ziemlich wenig."

"Nicht nur der Kompass", sagte ein Lieutenant, der auf Steuerbord seine Sachen packte. "Ganz schön mutig von der jungen Dame, wenn sie da hinauf will. Und wo soll's hingehen?"

Gray schwieg; er sah den Frager kalt an.

"Nach Icy Cape Air Force Base", antwortete Brenda.

"Himmel – haben Sie Icy Cape gesagt?"

"Ist das noch weit?"

"Nein, zwölfhundert Meilen... Mein Gott, nach Icy Cape."

"Lieutenant", sagte Gray, "vergessen Sie nicht auszusteigen."

Der andere nickte, er sah dabei die beiden Zivilisten an, als hielte er sie für krank oder irre. "Ist ja nicht meine Sache", brummte er, indem er sein Gepäck zusammenraffte und sich dem Ausgang zuwandte. "Bloß, ich war auch mal dort oben, und freiwillig ginge ich nie wieder dahin zurück."

"Was wollte er damit sagen?", fragte Brenda.

"Der wollte sich wichtig machen; weiter nichts. Icy Cape ist ein Luftwaffenstützpunkt wie jeder andere auch... Nur weiter im Norden, ein bisschen kleiner als die anderen, ein bisschen gottverlassen, wie das eben in der Arktis ist."

"Kleiner als die anderen, sagst du?" Armer Pa! Ihr Herz zog sich zusammen. Sie hatten ihm einen Flugplatz gegeben, der offenkundig so ziemlich das Letzte war, worüber die Air Force verfügte. Brenda seufzte. Sie war auf einmal nicht mehr sicher, ihrem Vater mit diesem ersten überraschenden Besuch eine Freude zu machen. Ein bisschen klein, ein bisschen gottverlassen... Er würde sich genieren, ihr sein armseliges Reich zu zeigen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er immer versucht, seine persönliche Misere vor ihr zu verbergen.

Gordon Gray beobachtete sie. Es war seine Stärke, Stimmung und Gedanken seiner Mitmenschen bis zu einem gewissen Grade zu erfassen. "Ich glaube, du irrst dich", sagte er. "Icy Cape ist mehr wert, als du denkst."

2. Kapitel

Diesem Tag folgte keine Nacht. Als sie gegen einundzwanzig Uhr über der Insel Baranoff aufstiegen, ging gerade die Sonne unter, aber finster wurde es nicht. Am nordwestlichen Horizont blieb ein orangefarbener Schimmer. Aus den Tälern der Rocky Mountains krochen Schatten, Dämmerung breitete sich aus, doch erreichte sie nur den Punkt, an dem ein Autofahrer überlegt, ob er die Scheinwerfer schon einschalten soll oder noch nicht.

Die Maschine kletterte unablässig, sie hatte hinter dem Cross-Sund die Viertausender der St. Elias Alps zu überwinden, später den Sechstausender des Mt. Logan, den zweithöchsten Gipfel des nordamerikanischen Kontinents. Eine Zeitlang glaubte Brenda, die andauernde Aufwärtsbewegung verzögere den Einbruch der Nacht, weil man im selben Maße stieg, wie die Sonne sank. Dann aber besann sie sich, dass es Ende Mai war. Pa hatte geschrieben, bei ihm sei ununterbrochen Tag. Von März bis September, so hatte sie es auch in der Schule gelernt, schien nördlich des Polarkreises die arktische Sonne; dann folgte ein halbes Jahr immerwährende Nacht.

Auf der anderen Gangseite, wo zuvor der Lieutenant gesessen hatte, der Icy Cape zu hassen schien, saß nun ein schlanker Air-Force-Captain. Sie sah, wie er in einem Magazin blätterte, doch es musste ihn langweilen, denn er beugte sich über die Armlehne. "Sie könnten den Gürtel abmachen", sagte er zu ihr. "Vermutlich besteht keine Gefahr mehr."

Brenda blickte weg, sie antwortete nicht. Sie war es schon gewöhnt, dass die Soldaten versuchten, mit ihr anzubändeln; ihr machte das nichts aus, zumal wenn es so muntere Jungs waren wie dieser Captain, aber sie dachte an Gordon und schwieg. Langsam nestelte sie den Sicherheitsgurt los.

"Fliegen Sie nur bis Fairbanks?", fragte der Captain. Sie schüttelte stumm den Kopf, aber das war schon falsch. Vom Hals her stieg ihr leichte Röte ins Gesicht. Er schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ein Gespräch anzufangen, und sie ahnte, es würde ihr schwer fallen, ihn davon abzubringen. Er war ein netter Kerl von höchstens dreißig Jahren. Das wenige, was sie von seinem Profil erkannte, wenn sie wohlerzogen an ihm vorbei sah, genügte nicht, um sich von seiner Persönlichkeit ein Bild zu machen. Sie hatte den Eindruck, dass er dichtes, welliges Haar, zu große Ohren und struppige Brauen hatte und dass seine oberen Schneidezähne ein wenig auseinander standen. Was sie wirklich berührte, war der Klang seiner Stimme. Sie hoffte, er würde noch etwas sagen.

Da sagte Gray: "Komm auf meinen Platz, Brenda, hier siehst du besser."

"Danke, es ist schon zu dunkel draußen, Gordon."

Aber er stand auf. "Wird wieder heller. Unten sind die St. Elias Alps, du hast das noch nie gesehen."

Er hatte recht. Am Nordhorizont, dort, wo Alaska lag, lohte ein Feuerstreif. Unter ihnen, auf den gewaltigen Gletschern der Coast Range, lag ein rötlicher Hauch. Selbst die Tragflächen schimmerten rosa. Er hatte recht. Sie verspürte zum ersten Mal einen leichten Widerwillen gegen seine klugen Vorschläge. "Sehr hübsch, nicht?", sagte sie. "Das kann ich auch von hier aus sehen."

"Nicht so gut."

"Wirklich, es ist von hier aus dasselbe."

Gray lächelte. "Wie du willst, Brenda", sagte er. Er setzte sich. Sie war noch ein Kind; man musste sie lenken, vermied jedoch besser, ihr offen zu widersprechen. Auch ein Kind handelt gern selbständig, es liebt seine Freiheit.

"Auf Steuerbord kann man fast bis nach Klondike gucken", sagte der Air-Force-Captain, "wo sie damals das viele Gold gefunden haben. Und den Alaska-Highway sehen Sie auch. Den haben wir zweiundvierzig gebaut, als die Japse auf den Alëuten landeten. Erstklassige Autobahn, läuft bis Fairbanks."

"Wollen Sie nach Fairbanks?", fragte Brenda.

"Nein, nach einem Stützpunkt im hohen Norden."

"Wie heißt er?"

"Ich glaube, Ice Cream Air Force Base."

"Icy Cape?"

"Das dürfte der Name sein."

Zu ihrer Verwirrung spürte Brenda bei seinen Worten einen jähen Stich in der Brust. Sie hatten dasselbe Ziel, und da der Flugplatz klein war, würde man sich in den Tagen ihres Aufenthalts begegnen. Sie faltete die Hände im Schoß, lehnte sich gegen das unbequeme Polster und lauschte dem Summen der Motoren. Es durchflutete sie warm; sie fühlte ihre Glieder leichter werden.

Der Captain schwieg. Er griff wieder nach seinem Magazin, blätterte und las. Sie konnte nicht begreifen, was sie zu ihm hinzog. Sie hatte ihn ja nicht einmal richtig angesehen. Dennoch verstand sie genau, dass etwas ungeheuer Wichtiges geschehen war, als er sich vorhin herübergebeugt und nichts weiter gesagt hatte als: "Sie könnten den Gürtel abmachen, vermutlich besteht keine Gefahr mehr."

3. Kapitel

Kurz nach dreiundzwanzig Uhr zwanzig überflogen sie den Tanana River, auf dem grünliche Eisschollen trieben, und landeten bei Fairbanks, im Herzen von Alaska. Die Lichter im Flugzeug wurden gelöscht. Am Fenster war es so hell, dass man zur Not hätte schreiben können. Brenda stand auf, sie kletterte die Gangway hinunter, um sich auf dem Rollfeld etwas Bewegung zu machen.

Es war bitter kalt; sie vergrub ihre Hände in den Manteltaschen. Staunend bemerkte sie, wie der rotfeurige Streif im Norden an Leuchtkraft gewann. Milchweiße Wolken segelten in gespenstischer Schnelle dahin. Absonderliches Licht überschwemmte den Nachthimmel. Sie schlug den Pelzkragen hoch und kaufte an einem elektrisch getriebenen Erfrischungswagen heiße Frankfurter und ein Getränk, das wie Punsch schmeckte. Über die Betonbahnen jagten Böen. Der leere Pappbecher wirbelte davon. In ziemlicher Entfernung erblickte sie flache Häuser, ein paar zuckende Neonreklamen und einen Wald von Telegrafenmasten. Sie stellte sich vor, wie der Wind in den Drähten sang, eine verlorene Melodie. Und doch, dies war noch nicht Icy Cape. Armer, armer Pa.

"Frieren Sie jetzt schon?", fragte jemand hinter ihr; sie erkannte die Stimme sofort. "Ice Cream liegt noch gut fünf Grad weiter oben. Hier sind wir erst auf der Breite von Island. Dort ist's allerdings ein bisschen wärmer als hier."

"Woher wollen Sie das wissen?"

"Ich komme aus Europa. War zuletzt in Frankreich. Ich kann Ihnen sagen, das ist ein schlechter Tausch."

"Und warum schickt man Sie in die Verbannung?"

"Das ist eine lange Geschichte", sagte der Captain. "Ich glaube nicht, dass sie besonders unterhaltsam ist."

Sie stiegen die Treppe hinauf.

"Dachte mir gleich, dass Sie weiter wollen", fuhr er fort. "Bis Fairbanks hätten Sie nämlich auch mit 'nem Zivilflugzeug kommen können... Andererseits vermute ich, dass Sie auch keine Air-Force-Helferin sind."

"Sie machen sich zuviel Gedanken."

Auf der vorletzten Stufe warf sie ein eisiger Windstoß in seine Arme. Sie machte sich hastig frei. "Entschuldigung", stammelte sie.

"Nachdem wir uns um den Hals gefallen sind", sagte er, "muss ich mich wohl vorstellen. Jim Leslie heiße ich."

"Sehr erfreut, Captain Leslie", antwortete sie und versuchte ihren Sitz zu erreichen. Der Gang war zu schmal, als dass sie hätten nebeneinander gehen können. "Kann man gelegentlich auch Ihren Namen erfahren?", hörte sie ihn hinter sich fragen. Sie rettete sich mit letzter Kraft auf ihren Platz.

"Brenda, du zitterst ja", sagte Gray.

"Gott, was ist mir kalt", klagte sie. "Du machst dir gar keinen Begriff von dem Wind."

"Du hättest hier bleiben sollen. Wenn du irgendetwas brauchst, Baby, kann ich es dir immer besorgen."

"Ja, ich weiß."

"Komm, gib mir 'nen Kuss. Schlag den Kragen hoch, dann sieht's keiner."

Die Maschine startete um Mitternacht. Sie stieß durch die milchigen Wolken, und bald darauf tauchte ein greller Glutball aus dem Dunst. Sie überflog den Polarkreis in der Nähe des Yukon River.

Die Sonne rollte über den Horizont, ihre schrägen Strahlen fielen auf die schlafende Tundra, sie schufen eine seltsame Verteilung von Finsternis und Licht. Krumme Erlen und verkrüppelte Birken bogen sich im Nachtwind. Dann hörte jeglicher Baumwuchs auf. Schneefelder bedeckten die Hügel, deren Nordhänge grellweiß funkelten, während malvenfarbene Schatten die Täler bedeckten.

Über Moraste und zugefrorene Seen raste das Flugzeug hinweg. Gegen ein Uhr zwanzig erreichte es den Rand des Polarmeers und senkte sich auf sein Ziel herab. Niemand bemerkte es; die Reisenden schliefen. Auch in Icy Cape Air Force Base regte sich nichts. Nur eine Radarantenne drehte sich hektisch auf dem Turm, sie entbot ihren kalten Gruß.

4. Kapitel

Nachdem Captain Leslie sein Gepäck abgestellt hatte, trat er in die verlassene Kantinenbaracke und ließ sich einen Topf Kaffee geben. Ein verschlafener Küchensergeant stellte den Trunk vor ihn hin. Schweigend schlürfte Leslie die heiße Flüssigkeit. Der einzige Lichtblick in der traurigen Affäre, die mit seiner Versetzung in die Arktis geendet hatte, war, dass er hier einen alten Bekannten zu treffen hoffte; einen Schulkameraden, den er später beim Strategic Air Command wieder gesehen, dann aber aus den Augen verloren hatte. Bob Harris war zeitweilig mit ihm in derselben Maschine geflogen, mal als Copilot, mal als Navigator, und sie hatten sich immer gut verstanden. – "Sergeant", fragte er, "ihr habt doch einen Lieutenant Harris hier, was?"

"Hatten, Sir. Bis vor vier Tagen."

"Was denn, ist er versetzt worden?"

"Das nicht; aber vermisst."

"Vermisst?!"

"Ja, er stieg auf... und kam nicht wieder."

"Aus welcher Gegend hat er sich zuletzt gemeldet?"

"Weiß der Himmel. Von irgendwo überm Eismeer."

"Hören Sie mal, Sergeant, ich möchte das ein bisschen genauer erfahren. Lieutenant Harris ist ein alter Freund von mir."

"Ich weiß nicht viel darüber, Sir. Es soll ja eine Suchaktion im Gange sein. Manchmal kommen die Vermissten zurück; das heißt, wenn die Hubschrauber sie im Packeis finden."

"Das kommt wohl öfter vor, dass euch eine Besatzung abhanden kommt?"

"Öfter? Wäre ein bisschen zuviel behauptet... Aber es kommt eben vor."

Die Gleichgültigkeit des Mannes brachte Leslie auf. Es war doch in jedem Fliegerhorst Tagesgespräch, wenn ein Pilot verunglückte, die Leute wussten genau Bescheid, auch das Küchenpersonal kannte die Einzelheiten. Weil jedem von ihnen dasselbe zustoßen konnte, hielten die Flieger zusammen, und das Schicksal einer vermissten Maschine beschäftigte monatelang alle Köpfe. Oder galten in Icy Cape andere Regeln? – "Was hatte Harris für einen Flugauftrag?", fragte er scharf.

"Denselben, den sie hier alle haben, Sir."

"Vielleicht drücken Sie sich mal ein bisschen deutlicher aus!"

"Wenn Sie nicht wissen, was hier los ist – ich darf es Ihnen auch nicht sagen, Captain."

"Schnell, kommen Sie heraus damit! Wohin habt ihr Lieutenant Harris geschickt? Machen Sie den Mund auf, oder ich werfe Ihnen die Kaffeemaschine an Ihren verdammten Dickschädel!"

Der Sergeant ging blitzschnell in Deckung. Er tauchte hinter der Theke weg und huschte auf allen vieren rückwärts ins Verpflegungsmagazin. Das Magazin zu betreten war anderen verboten. Leslie verließ den Kantinenraum. Er schleuderte die Tür so hart hinter sich zu, dass die Wandverschalung platzte und weißliche Isoliermasse aus dem Riss quoll. In seiner Erregung achtete er nicht auf die vereisten Stufen und schlug draußen lang hin.

Bob Harris! Bob Harris vermisst..., "irgendwo überm Eismeer". Es war eine Schande. Der Schmerz in Ellenbogen und Knien vereinte sich mit der würgenden Erkenntnis, dass sein alter Kamerad Bob – der einzige vertraute Mensch hier am Ende der Welt – wahrscheinlich nicht mehr am Leben war. Langsam stand Jim Leslie auf; er klopfte sich den Schnee von der Uniform. Ihm wurde in diesem Augenblick klar, dass er in Icy Cape nicht das letzte Mal am Boden gelegen hatte.

5. Kapitel

"Und eure Verlustrate, Tony?", fragte Gordon Gray.

"Die Verluste sind zu ertragen, aber doch höher als anderswo", antwortete Colonel Reed. Infolge einer beginnenden Schwerhörigkeit sprach er ziemlich laut. Der Frühlingswind riss ihm die Worte vom Mund, er trieb feinen Pulverschnee vor sich her, der ihnen wie Sand im Gesicht prickelte.

Gray schöpfte eine Handvoll aus einer Schneewehe und betrachtete die winzigen, harten Kristalle. Tatsächlich, in der Arktis sah der Schnee anders aus als in den gemäßigten Zonen. Wenn man das Zeug durch die Finger rinnen ließ, glich es eher dem Wüstensand von New Mexiko. "Das ist schlimm", sagte er.

"Jetzt stecken wieder ein paar meiner Jungs im Eis... Lieutenant Harris und zwei Mann. Sind nördlich der Wrangel-Insel heruntergekommen, und natürlich ging die Maschine zu Bruch. Gott sei Dank brachten sie den Notsender in Gang, und wir wissen, was los ist. Sie sitzen seit vier Tagen in der Gegend fest, wo De Long 1879 mit der 'Jeannette' eingefroren ist."

"Warum holt man sie nicht?"

"Wenn das so einfach wäre, Gordon. Um die Wrangel-Insel herum liegt meistens Nebel. Schicken wir einen Hubschrauber, kann's passieren, dass er auf russischem Gebiet landet und beschlagnahmt wird. Inzwischen treibt die Scholle ab, tiefer hinein in die Ostsibirische See, und die Rettungschancen werden besser."

Colonel Reed schob seine kurze Pfeife zwischen die Lippen und kaute darauf herum. Das Schicksal seiner Leute quälte ihn mehr, als er es merken lassen wollte. Er war ein fünfzigjähriger, weißhaariger Mann mit grobporiger brauner Lederhaut, der aussah wie ein Sechziger. Anfang 1942 war er mitsamt seinen Angehörigen in Gefangenschaft geraten und vier bittere Jahre hindurch auf den Philippinen festgehalten worden. Die meisten Runzeln in seinem Gesicht stammten aus dieser Zeit.

Die Erinnerung an die Tropenhölle von Mindanao folgte ihm, wohin er auch ging. Damals riss das japanische Militär die Familien auseinander; das Frauenlager war auf einer anderen Insel. Sie durften sich nicht schreiben. Louise ging daran zugrunde; er konnte nach der Kapitulation nicht viel mehr für sie tun, als sie noch ein paar Wochen zu pflegen und sie dann in der Heimaterde von Oregon zu begraben. Brenda kannte ihn nicht mehr. Er fand ein fremdes zehnjähriges, ausgedörrtes Mädchen wieder, das an Malariafieber litt, Läuse hatte, geistig und körperlich zurückgeblieben war. Sie lag lange apathisch im Hospital, und er hatte um sie gebangt. Später schickte man ihn in die Arktis, und sie wurden von neuem getrennt. Der Mann aber, der jetzt neben ihm ging, nahm sie ihm bald für immer weg.

"Dort ist das Lazarett", sagte er und wies auf ein paar helle Fertighäuser, die die Bauabteilung in einer Senke auf den gefrorenen Boden gesetzt hatte. "Wir lassen da von jeder heimkehrenden Besatzung Urinanalysen und Blutbilder machen. Doktor Frobisher, unser leitender Medizinmann, ist ganz tüchtig. Heute Vormittag hält er einen populärwissenschaftlichen Vortrag für das gesamte Bodenpersonal. Brenda wollte hingehen, es war unmöglich, sie davon abzubringen."

Gordon Gray blieb stehen, er lächelte. "Das ist ganz ihre Art", antwortete er. "Sie ist kolossal aktiv."

"In dieser Beziehung passt sie zu dir."

"Ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe, Tony... Wenn ich im Juli in Washington fertig bin und Urlaub mache, wollen wir heiraten."

Reed nahm die Pfeife aus dem Mund; er stand eine Weile unbeweglich und blinzelte in die böse gleißende Polarsonne. Sein Kinn bewegte sich mehrmals hin und her, aber er sagte nichts, und sie setzten ihren Weg schließlich fort.

6. Kapitel

"Wir müssen uns vor vier Typen von Strahlungen hüten", sagte Dr. Frobisher. "Da gibt es das große Alphateilchen; es kann glücklicherweise die Haut nicht durchdringen und ist nur gefährlich, wenn es auf anderem Wege in den Körper, vor allem ins Knochenmark, gelangt, wo es die blutbildenden Zellen zerstört. Ähnlich verhält es sich mit den kleinen, schnellen Betateilchen; auch sie haben geringe Durchschlagskraft und bedrohen uns vorwiegend von innen her. Bei Gammaquanten hingegen haben wir's mit ultrakurzen elektromagnetischen Wellen zu tun, die den Röntgenstrahlen verwandt sind und dank ihrer Energie sehr tief ins menschliche Gewebe vorstoßen. Neutronen in großen Mengen sind jedoch noch gefährlicher als Gammastrahlen. Erst mehrere Meter Wasser oder Zement können sie aufhalten. Ihre Wirkung auf die leichtgewichtigen Atome, aus denen sich unser Körper zusammensetzt, ist dieselbe, als wenn Sie mit Granaten auf papierne Zielscheiben schießen. Die meisten Strahlungsschäden in Japan 1945 beruhten auf Neutronenwirkung, denn die radioaktiven Zerfallsprodukte wurden von der wohlbekannten Wolke in die Stratosphäre hinaufgetragen. Dem Vernehmen nach sollen einige von Ihnen solchen Wolken schon mal begegnet sein."

An manchen Stellen des Vortrags wurde gelacht, oder die Zuhörer schnauften durch die Nase. Brenda saß in der drittletzten Reihe; die Ursache der sporadischen Heiterkeit blieb ihr unverständlich. Außer zwei Krankenschwestern und einer Nachrichtenhelferin war sie das einzige Mädchen in einem von Männern gefüllten Raum; ihre Anwesenheit erregte zweifellos Aufsehen. Da sich aber herumgesprochen hatte, dass sie die Tochter des Kommandanten war, wagte es niemand, ein Gespräch anzuknüpfen. Anders als gestern im Flugzeug rückte man lammfromm zur Seite, sah sie nur verstohlen an – genau wie sie selbst heimlich umherspähte. Kein Mensch war auf die Idee gekommen, sie mit "Hallo, Baby" zu empfangen. Doch auch so blieb es hier bedrückend genug... Wo mochte er bloß stecken?

"Die Schädigung lebenden Gewebes beim Durchgang radioaktiver Teilchen", sagte Dr. Frobisher, "beruht auf der Ionisierung, die diese erzeugen. Werden einige Atome im menschlichen Körper ionisiert, so wird das Molekül als Teil des lebendigen Organismus zerstört. Werden mehrere Moleküle geschädigt, stirbt die Zelle ab. Sterben genügend Zellen ab, geht der Organismus zugrunde. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?"

Wieder wurde gekichert. Der Doktor flocht kleine Scherze ein, er versprühte makabren Charme. Brenda sah sich gepeinigt um. Das Gelächter erschreckte sie. Die beiden Krankenschwestern vorn begannen ekelerregende Schaubilder von strahlungsgeschädigten Körperpartien an einem Kartenständer aufzuziehen. O Gott, sie war durchaus nicht gekommen, um etwas über die Spielarten des Atomtodes zu erfahren; sie wollte nur Captain Leslie wieder sehen. Doch nun konnte sie ihn nirgends entdecken. Wirklich, er war nicht da.

"Bakterien beobachten, wie Boxer im Kampf, immerhin noch feste Spielregeln", sagte Dr. Frobisher. "Es geht bei ihnen um eine direkte Invasion mit anerkannten Waffen. Die Wirkung der Radioaktivität dagegen beruht auf der unpersönlichen, mathematisch verlaufenden Erzeugung von Ionisation. Sie können mit Rechenschieber und Logarithmentafel herausbekommen, wie viel Neutronen erforderlich sind, um Ihre hübsche Sportsfigur kaputtzubombardieren."

Brenda wand sich auf ihrem Platz. Sie konnte weder mitten im Vortrag aufstehen und gehen noch sich die Augen und Ohren zuhalten. Das war die Strafe. Sie fand es abscheulich, aber geschah ihr nicht recht? Weshalb lief sie Jim Leslie nach, was war denn in sie gefahren? Sie wusste selbst nicht, was sie von dieser Begegnung erhoffte. Sie wusste nur, sie wollte und musste ihn wieder sehen.

"Vor elf Jahren bei Bikini, nach der Unterwasserexplosion", sagte Dr. Frobisher, "kam einer von uns auf die Idee, einen der kleinen Fische, die wir zu fangen pflegten, der Länge nach durchzuschlitzen, im Heißluftstrom zu trocknen und ihn dann mit der Schnittfläche auf eine Photoplatte zu legen. Die Platte wurde entwickelt, und was meinen Sie, was wir sahen? Das ganze Innenleben! Unser Bild zeigte deutlich die selektive Verteilung der Zerfallsprodukte in den verschiedenen Geweben. Man erkannte dunkel umrissen die Kiemen, durch die das radioaktive Wasser geströmt war, man sah den langen gewundenen Darm, in dem wahrscheinlich verseuchte Algen oder Korallensplitter gesteckt hatten; besonders hell hoben sich die Leber und die Geschlechtsorgane ab. Alle übrigen Teile des Fisches, wie Muskeln, Gräten, Schuppen, hatten nur geringfügige Spuren hinterlassen. Das war schlimm für ihn, für uns aber ein Glück. Ich hatte tags zuvor selbst ein paar dieser Fischlein gegessen."

7. Kapitel

Beim Essen sagte ein Ordonnanzoffizier zu Captain Leslie: "Sie sollen nachher zum Commander Gorrell kommen. Ich denke, er wird Ihnen eine Maschine geben. Sie sind B-47-Pilot, nicht wahr?"

"Stimmt", antwortete Leslie. "Habt ihr diese Hutnummer hier?"

"Sogar in Spezialausführung. Klettert vierundsechzigtausend Fuß hoch." – "Wozu das?"

"Wird Ihnen Major Gorrell wohl persönlich erklären."

"Wie kommt man mit ihm aus?"

"Ach, Sie kennen den Commander nicht?"

"Nein", brummte der Captain. "Bis nach Frankreich ist sein Ruf anscheinend noch nicht gedrungen."

"Nie von ihm gehört?"

Leslie schüttelte den Kopf. Er ließ das Messer sinken, sah seinen Nachbarn von der Seite an und hörte auf zu essen. "Wenn Sie mir 'nen Tipp geben wollen, dann lieber gleich", sagte er. "Nachher ist's vielleicht schon zu spät."

"Einen Tipp? Ich werde mich hüten. Ich könnte Ihnen höchstens eine Geschichte über Gorrell erzählen, die sowieso hier jeder kennt. Was Sie persönlich daraus für Schlüsse ziehen, ist ganz allein Ihre Angelegenheit. Ich gebe Ihnen nur die Tatsachen, ohne Kommentar."

"Um so besser."

"Schön, hören Sie zu", sagte der Ordonnanzoffizier, sah sich kurz um und dämpfte die Stimme. "Vor dreieinhalb Jahren gab es hier oben eine der Tragödien im Eis, von denen die Zeitungen in der Heimat niemals ein Sterbenswort berichten, weil sie sich am Polarmeer keine Reporter halten und jede amtliche Stelle sich hütet, sie zu informieren. Alles, was mit unseren Stützpunkten in dieser Ecke zu tun hat, ist top secret, das wissen Sie doch?"

"Kann mir's denken."

"Okay. Major Gorrell war damals mit einem neuen Versuchsflugzeug – Muster XB-47, wenn es Sie interessiert – irgendwo am 85. Breitengrad im Packeis gestrandet. An Bord befand sich außer ihm sein Copilot, Lieutenant Jolyon, den wir alle einigermaßen gern hatten, weil er prächtig Klavier spielen konnte und ein verdammt gescheiter Junge war. Im Kasino hämmerte er immer 'How long has this been going on' und 'I'm crazy 'bout my baby', aber er verstand sich auch auf Schubert oder Chopin. Na, das tut nichts zur Sache. Dann flog noch der Staff-Sergeant Hester als Navigator mit; auch kein schlechter Kerl. Die Maschine riss in großer Höhe auf, das Material der Druckkabine war noch nicht so stabil wie heute. Sie mussten die Kiste aufgeben und kamen eben noch heraus, ehe sie auseinanderbrach. Die Hälfte der Notlandeausrüstung ging verloren. Sie hatten ein Schlauchboot, das ihnen im Eis nichts nützte, ein heizbares Zelt, aber keinen Brennstoff, zwei Jagdflinten ohne Munition, einen Sack mit Haifisch-Abwehrpulver, für das ebenfalls keine Verwendung war, einen Kompass, Proviant für zehn Tage, eine Kiste mit Leuchtraketen und 'ne Bibel. Das Funkgerät war zum Teufel, ihnen blieb nur ein giftgrünes Zeug, mit dem sie ein paar hundert Quadratfuß auf dem Eis so färben konnten, dass auch hochfliegende Suchmaschinen den Fleck noch entdeckt hätten. Leider fiel bald Schnee darauf, und außerdem war's Mitte Oktober, am Pol eine verflucht finstere Zeit. Nur unter Mittag kriecht die Dämmerung so für zwei, drei Stunden über den Horizont; sonst ist es zappenduster."

Leslie lauschte gespannt; diese Dinge waren ihm neu. Im Stillen verglich er Major Gorrells damalige Situation mit der Lage des Lieutenants Harris, die ihm um einiges günstiger vorkam. Soviel er inzwischen gehört hatte, stand Bob Harris in Funkverbindung mit Icy Cape, und er saß auf dem 72. Breitengrad, statt auf dem 85.; auch schien ihm die Mitternachtssonne, falls sie durch den Nebel drang, der um die Wrangel-Insel lag... Seine erste Befürchtung bestätigte sich nicht. Einer mutigen Rettungsmannschaft musste es gelingen, den alten Bob heil herauszuholen.

"Gorrell wartete vergebens. Die Patrouillenflugzeuge fanden ihn nicht. Mehrmals hörte er in der Ferne Motorengeräusch und jagte Raketen hoch, aber entweder waren sie zu weit ab, oder er bildete sich das alles bloß ein. Als nach einer Woche noch immer keine Hilfe kam und die Leuchtkugeln verschossen waren, gab er Befehl, nach Süden aufzubrechen. Man mag das heute Unfug nennen, denn bis Icy Cape waren's gut tausend Meilen, so weit wie von New York nach Florida; dabei schafft man im Eis nicht mehr als drei, vier Meilen am Tag. Sie hätten fast ein Jahr laufen müssen, bis sie ans Wasser gekommen wären, und noch einmal wochenlang durch das Treibeis paddeln bis her zur Küste. Aber in solch einer Lage muss der Mensch wohl ein Ziel haben, einfach was tun, sonst verzweifelt er. Also marschierten sie los: Voran Gorrell, ein Bärenkerl; dann Staff-Sergeant Hester, der unser bester Baseballspieler ist; als letzter Lieutenant Jolyon, der jüngste und zarteste von ihnen. Er blieb, wie es hieß, immer etwas zurück."

"Reden Sie weiter", sagte Leslie.

"Anfangs schleppten sie das Schlauchboot mit, weil sie wirklich hofften, einmal das offene Meer zu erreichen. Später ließen sie es liegen. Sie warfen nach und nach alles weg, was sie entbehren konnten. Sie hatten Mühe, sich selbst auf den Beinen zu halten. Ihr Gepäck wurde immer leichter, die Verpflegung war auch bald aufgezehrt. Anfang November machte der Commander die peinliche Entdeckung, dass sie gar nicht vorankamen. Als alter Polarfuchs wusste er, dass das Packeis von einer Meeresströmung und auch vom Wind langsam aus dem Gebiet nördlich der Beringstraße über den Nordpol hinweg auf Grönland zu bewegt wird, und er erkannte, dass sie nachts dasselbe Stück nach Norden drifteten, das sie am Tage nach Süden zurückgelegt hatten. Sie liefen wie Schauspieler auf einer rotierenden Drehbühne, die Kulissen wanderten ihnen entgegen, und sie blieben, wo sie waren. Gorrell verheimlichte das ein paar Tage, dann aber machte er seinem Herzen Luft. Daraufhin schoss sich, nach seiner Darstellung, Lieutenant Jolyon eine Kugel in den Mund."

"Gibt es noch eine andere Darstellung?"

"Nein. Jolyon vereiste nach wenigen Stunden; der Fleck, wo er lag, bewahrte noch eine Weile die Umrisse seines Körpers, doch über Nacht wurde ein glatter Eisblock daraus. Die zwei zogen weiter, das heißt, sie fuhren fort, auf der Stelle zu treten. Ich nehme an, dass sie halb wahnsinnig waren; besonders Hester. Ab und zu konnten sie einen Vogel mit dem Colt erlegen, sie fraßen ihn roh. Doch öfter schossen sie daneben, und die Pistolenmagazine wurden rasch leer. Von da an hungerten sie..."

Der Ordonnanzoffizier unterbrach sich. Er trank einen Schluck und fuhr mit dem Finger im Zickzack auf der Tischplatte hin und her, mitten durch einen Fleck verschütteten Biers; vor und zurück, vor und zurück. Es sah aus, als zeichnete er den Leidensweg der Besatzung nach. Im Hintergrund spülte ein Mann vom Küchendienst Gläser.

"Am 20. November landete in Point Barrow Air Force Base, hundertvierzig Meilen ostwärts von hier, ein RB-47-Luftaufklärer, der von einem Routineflug über der mittleren Arktis zurückkehrte. Die Besatzung hatte nichts gesichtet, denn es lag tiefe Winterdämmerung überm Eis. Aber auf einem der serienweise geschossenen Infrarotfotos fanden die Auswerter etwas sehr Bemerkenswertes. Das Bild war leider nicht besonders scharf, doch bei einiger Anstrengung konnte man darauf drei Männer erkennen, irgendwo hoch oben am 85. Breitengrad. Zwei standen aufrecht, der dritte lag."

"Der dritte? Es waren doch bloß noch zwei."