Alavatar - Die Reise des Wasserspeiers - Xenon Sychiles - E-Book

Alavatar - Die Reise des Wasserspeiers E-Book

Xenon Sychiles

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Beschreibung

Ein namenloser Wasserspeicher erwacht urplötzlich zum Leben. Ohne jegliche Erinnerungen an ein früheres Leben, aber überzogen davon, dass dieser ihm fremde Körper nicht sein eigener sein kann, zieht er hinaus in eine für ihn komplett neue Welt. Dort schliesst er Freundschaften mit Wichteln, trifft sprechende Hunde, rettet eine kleine Echse vor zornigen Nymphen und erforscht uralte, mächtige Pyramiden und geheimnisumwitterte Bibliotheken. Letzten Endes führen ihn alle Wege zu Kaiser Alavatar, dem mysteriösen Herrscher der Drachen. Der Reisende aus Stein nimmt den Namen Claydatoo an und begibt sich auf eine kontemplative und meditative Reise ins Reich des Hochkaisers, um endlich sinnstiftende Antworten auf seine Fragen zu finden. Denn es gilt das Geheimnis seiner eigenartigen Existenz zu lüften.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alavatar - Die Reise des Wasserspeiers

Von Xenon Sychiles

Widmung

Dieses Buch widme ich all Jenen, deren Träume unerreichbar scheinen und die sich von der chaotischen Struktur unserer Welt besiegt fühlen.

Inhalt

Widmung

Kapitel 1: Das Erwachen

Kapitel 2: Die Bauernfamilie

Kapitel 3: Fliegen will gelernt sein

Kapitel 4: Seraphima Smaragdina

Kapitel 5: Der Dämon auf der Brücke

Kapitel 6: Die grosse Stadt

Kapitel 7: Der Luftschiffpilot

Kapitel 8: Die Luftpiraten

Kapitel 9: Der Winterpalast des Kaisers

Kapitel 10: Das Attentat

Kapitel 11: Die schwarze Pyramide

Kapitel 12: Tamunatras Vater

Kapitel 13: Alavatar und Septimus

Kapitel 14: Die Stimme des Vaters

Kapitel 15: Die Rückkehr

Das Erwachen

Langsam und zaghaft drang Licht in die alles bedeckende Dunkelheit. Es war wie das Auftauchen aus einem schier unendlich tiefen Ozean, wobei sich die Finsternis erst langsam verzieht. Erst bei einer gewissen Höhe drang das Sonnenlicht durch die Wasserschicht. Das zuvor noch gefrorene und steife Fleisch begann nun aus seinem Schlummer zu erwachen. Des Wesens Qualia erblühte erneut. Sein Verstand war schwummerig aber wurde langsam klarer, ebenso lichtete sich sein Augenlicht und er erkannte Licht und Formen anstelle von dunklen Schatten und Grauschattierungen. Der über alle Massen träge Geist regte sich wieder, nach einer scheinbar unendlich langen Periode der Ruhe und der Schläfer spürte, wie die Kraft und Macht seiner Seele die Kontrolle über den schlaffen Leib übernahm. Endlich durchströmte vitalstes Leben wieder den Rumpf. Das Geschöpf erhob sich aus der engen, sarggleichen Kammer und taumelte über den unebenen, steinernen Boden, während Tropfen einer mysteriösen (und ihm unbekannten) violetten Flüssigkeit auf den Boden aufklatschten und eine wässerige Spur hinterliessen. Sein Gang war steif und unbeholfen, scheinbar waren dies Nachwirkungen des langen Schlafes. Wie lange mochte er wohl geruht haben? Stunden? Tage? Wochen? Jahre? Es musste eine gefühlte Ewigkeit gewesen sein, fast schien es ihm so, als habe er sich schon immer in diesem tiefen Schlaf befunden. War dies womöglich das erste Mal, dass er diese neue Welt in Augenschein nahm? Das Wachsein erschien so einzigartig und diese Welt schien völlig unerforscht zu sein. Jedenfalls war ihm unklar, welche Gesetze diese Welt hier beherrschten. Er fühlte sich wie ein leeres Gefäss, in welchem sich nur ein schaler Satz befand, gerade genug, damit er wusste, wie man sich in der Wildnis zurechtfand. Da waren ebenfalls einige Grundkenntnisse über das, was offenbar seine Muttersprache zu sein schien. Bei jedem gedachten Satz erschien ihm derselbe in einem geschnörkeltem Runentext, offenbar war dies die geschriebene Version seiner Zunge. Da er denken und fühlen konnte, musste es auch andere geben, welche ihm zumindest in diesem Bereich ähnlich waren, denn keine Einzelperson verfügt über eine komplette Sprache oder Schrift, da war er sich sicher. Die tiefblauen, aquafarbenen Augen inspizierten den unbekannten Raum. Es handelte sich um ein riesiges aus gossen, gehärteten Lehmziegeln erbautes Rundgewölbe, in welchem er verweilte und entsprach eher der Krypta eines Tempels oder einer alten Gruft als dem erwarteten Gemach, Krankenlager oder Lazarett. Die Ausmasse der Anlage waren gewaltig und der Raum schien seine besten Tage weit hinter sich zu haben, die meisten der monumentalen, stützenden Säulen waren entweder stark verkrümmt oder inzwischen eingestürzt und die Bögen hatten einen nicht unerheblichen Teil ihrer ofengebrannten Bausteine an die Herrschaft der Schwerkraft verloren. Einige lagen auf einem Haufen in der Ecke, wobei weit über ihnen ein Loch in der Decke klaffte. Die einst schmuckvollen Ornamente an den Wänden und an der Decke waren völlig verfallen und die Bilder zwischenzeitlich unerkenntlich geworden. Lediglich die goldenen Symbole, welche sich überall befanden, waren noch deutlich sichtbar, selbst hier im Halbdunkeln. Allerdings konnte das Wesen diese mysteriösen, aus simplen geometrischen Formen bestehenden Runen nicht lesen, die keiner Schrift entsprachen, welche er jemals zuvor gesehen hatte. Waren dies überhaupt Buchstaben oder Zahlen? Waren es überhaupt Schriftzeichen? Was wenn es sich um magische Segensymbole und Formeln handelte, die kein geschriebenes Abbild einer Lautsprache waren? Was wenn es mathematische Gleichungen oder astrologische Zeichen handelte? Ebenso gut konnte es sich um die flehenden Gebete der Erbauer handeln, welche in abstrakten Hieroglyphen ihre göttlichen Erschaffer um die Langlebigkeit des Gebäudes erbeten hatten. Der Erwachte sah sich um und erblickte seine ehemalige Ruhestätte: einen an einen Sarkophag erinnernden Kasten, welcher scheinbar in einem Stück aus einem einzigen Stück Fels gehauen worden war und in welchem er die Reste einer zäh-wässrigen violetten Flüssigkeit fand. Abscheu überkam ihn. Wie war er nur hierhergekommen? War dies seine Heimat? Sein Geburtsort? War er ein Toter, welcher vielleicht mithilfe eines langen Marsches durch das Jenseits ins Leben zurückgekehrt war? Hatte man ihn durch dunkelsten Nutzen der Nekromantie zurück ins Leben getrieben? War dies womöglich sogar das Jenseits? Da war wenig Brauchbares in seinen Erinnerungen, er entsann sich an so gut wie gar nichts. Bruchstücke von verblasten Eindrücken und Geräuschen sowie einprägsame Gerüche (meistens von Speisen) poppten an und ab in seinem verwirrten Verstand auf. Waren dies Teile seines Gedächtnisses aus seinem früheren Leben? Oder handelte es doch nur Fetzen von langen vergangenen längst beendeten Träumen? Dort waren Gedanken und Erinnerungen an Feuer und an schier endlose Wälder sowie an ein körperloses, schnelles aber dennoch entspanntes Gleiten über exotische und fremdartig anmutende, exotische Landschaften. Da! Eine Erinnerung über ein seltsames, weinendes Kind im Regen klaffte auf. Dieses Bild kam aus seinem tiefsten Innersten. Ein seltsamer Einfall entstand in seinem konfusen Geist, eine wage Befürchtung, welcher er unbedingt auf den Grund gehen musste. Seine Hände waren überaus seltsam und viel zu gross, zumindest empfand er sie als zu gross und klobig. Sie entsprachen zwar im grossen und ganzen den kraftvollen Händen eines starken jungen Menschen, waren jedoch seltsamerweise grau und besassen überaus grosse und lange, krallenartige Fingernägel. Nein, es handelte sich nicht wirklich um Fingernägel, denn er besass gar keine. Bei genauerem Hinblicken entdeckte er, dass seine Finger selbst lang und spitzig wie geschärfte Dolche waren. Eine ganze Weile starrte er auf seine seltsamen, klauenartigen Finger, bevor er nach unten sah und erschrak: zwei kraftvolle, graue, echsenartige Beine sowie an jedem grossen Fuss drei grosse Zehen, aus welchen jeweils ein dornenartiger Zehennagel ragten. Dies waren beileibe keine Fussnägel, es waren eher die todbringenden Krallen eines wilden Tieres aus dem Dschungel. Dies konnten keine menschlichen Extremitäten sein. Zunehmend wurde es dem Amnesie-kranken Wesen mulmig. Was war er? Zweifellos war er kein Mensch, obwohl er sich wie einer fühlte. Er erinnerte sich weder daran, graue Beine noch jemals solche krallenartigen Auswüchse an seinen Füssen gehabt zu haben, ebenfalls fühlte er sich irgendwie „grösser“. Die Dinge zu überschauen fühlte sich leichter an. Jetzt entdeckte er zu seinem Kummer noch etwas, was aus seinem Hinterteil ragte und sich rhythmisch hinter ihm bewegte. Hatte er schon immer einen kraftstrotzenden Schwanz besessen? Der an das Ende einer Schlange erinnernde Wedel ging hinter ihm auf und ab und erinnerte nicht an die bescheidene Rute eines Hundes sondern an die einer riesigen Echse. Kummer überkam ihn. Zu seinem Trost waren seine Genitalien wenigstens durch und durch menschlich. Grau aber klar menschlich, das Glied war in einer langen Vorhaut verborgen. In dem Chaos und Stress war es schön, wenigstens etwas Bekanntes zu sehen und in sich einen wenigstens sichtbar menschlichen Teil wiederzuerkennen. Zwei Flügel. Erst jetzt bemerkte er die beiden riesigen, zusammengefalteten Schwingen, welche sich an seinem Rücken befanden und welche er bis jetzt für einen Mantel gehalten hatte. Es handelte sich um fledermausartige Flügel, die in ihrer eingeklappten Form erschreckend an einen schützenden Umhang erinnerten. Nach und nach machte sich grosser Unmut breit. Das mysteriöse Wesen hatte diese Gefühle zunächst stark unterdrückt, aber nach und nach fühlte er sich wie ein Dampfkessel auf der Feuerflamme und er fühlte, wie er durch den tödlichen Cocktail von Verdruss, Zorn und Angst innerlich kochte und bebte. Der natürliche Fluchtinstinkt aller Lebewesen setzte ein, obwohl er den ihm fremden Leib mehr als den Raum fürchtete.

Verzweifelt suchte er also den Raum nach einem Ausgang ab, bis er das beruhigende Geräusch von Plätschern vernahm. Nach ausgiebiger Suche entdeckte er ein kleines etwa handgrosses Loch in der Wand, durch welches langsam aber beständig Wasser in den Raum hineintröpfelte und sich in einer Lache am Boden sammelte. Eilig kniete er sich hin, um von der erquickenden Flüssigkeit zu trinken, doch da erspähte er blitzschnell etwas zutiefst Verstörendes. Ruckartig und ohne Warnung warf sich das seltsame Wesen zu Boden und starrte in das gespenstische Antlitz, welches sich vor ihm in der Lache spiegelte. Dieses tierische Gesicht, es konnte niemals sein eigenes sein! Von der Wasserfläche dort sah ihn die lebendig gewordene Fratze eines Wasserspeiers an! Zwei tiefblaue Augen schienen sich ihm förmlich in die Seele zu bohren. Sein Gesicht hatte eine fratzenartig aber rudimentär menschliche Erscheinung sowie – im Vergleich zu seinem Kopf – grosse Augen und spitzige Ohren, ebenso wie stachelig anmutende Haare, welche alle nach oben und hinten gerichtet waren. Er drehte den Kopf auf alle Seiten und konnte kaum fassen, was er da sah. Sein Herz schlug schneller und schneller, er öffnete seinen Mund, wobei ihn ein ganzes Gebiss voller grosser, ausgesprochen scharfer und spitziger Zähne entgegenkam. Er zog an den Mundwinkeln, um grosse Fangzähne zu erblicken. Sein Gebiss ähnelte eher dem eines Wolfes denn dem eines Menschen. Überwältigt von diesem Anblick liess er sich schwer atmend neben der Lache zu Boden gleiten und litt immer noch unter massivem, stresserzeugtem Herzrasen. Sein ganzer Körper vibrierte und er fühlte das gleichmässige aber rasche Pochen durch seinen ganzen Körper. War dies eine Panikattacke? Es fühlte sich jedenfalls an wie eine. Es störte ihn noch nicht einmal, wie überaus fröstelnd der eiskalte und feuchte Steinboden war. Was war er? Er wirkte wie eine krude Mischung aus einem Menschen und einer Echse, jedoch waren seine Proportionen durchaus menschenähnlich. Offenbar war er die lebendige Version eines Wasserspeiers, eine Art von Gargoyle, wie man sie an den Wänden von alten Schlössern oder als Zierde auf den Dächern und Fassaden von Kirchen und Tempeln fand. Der schiere Horror packte ihn. War er in etwa ein Dämon? Ein übernatürliches Wesen? Auf einmal horchte sein Geist jedoch jäh auf. Woher wusste er überhaupt was Wasserspeier und Dämonen waren? Woher hatte er überhaupt Kenntnisse über irgendwelche Dinge und wieso konnte er sprechen und war sich seiner selbst bewusst? Tiere hatten keine komplexen Gedankengänge noch begriffen sie wie Gegenstände oder metaphysische Konzepte. Sein geistiges Innenleben entsprach also dem mentalen Innenleben eines Menschen. Er sprach und verstand offenbar eine Sprache, denn immerhin konnte er komplexe Ideen und Argumente in ebendieser Sprache präzise formulieren, daher konnte er nicht schon immer hier gewesen sein, denn irgendwo musste er dieses Wissen schlussendlich erworben haben. Oder war er mit der Fähigkeit zu sprechen und denken geschaffen worden? Vielleicht gab sein Volk seine Sprache und das Allgemeinwissen durch das Blut weiter, was ihn womöglich zu einem Neugeborenen machte. Was wenn ihn ein Zauberer aus Stein gehauen hatte und ihm diese Eigenschaften durch mystische Kräfte verliehen hatte? Vielleicht hatte der Schöpfer ihm die Informationen von Lexika und Wörterbüchern eingegeben und irgendwie diese in seinem Geist als Grunderkenntnisse verankert. Aber wenn er aus Stein geschaffen worden war, warum fühlte sich dann seine dennoch Haut weich und warm an? Warum konnte er das Pochen seines Herzens vernehmen und die Luft beim ein und Ausatmen spüren? Er besass trotz seines Aussehens ebenfalls einen Bauchnabel, welchen Reptilien und Amphibien nicht hatten. Warum erinnerte er sich an Dinge, welche er niemals hätte erlebt haben können? Die sich bewegenden Bilder über das Fliegen über einen Wald konnte er nicht dem Text einer Fibel entnommen haben. Nach und nach zogen seine Gedanken immer grössere Bahnen, bis er die innere Fragenkette mit einem Schlag durchbrach. Alle diese Gedanken und Fragestellungen waren letztendlich nur sinnloses Hirnen und das meiste davon waren sowie derzeit unbelegbare Theorien. Philosophische Überlegungen waren gut, aber direkte Belege und praktische Beweise waren ihm lieber als die blanken Theorien. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich aus der schützenden Krypta zu wagen und nach Jemandem zu suchen, vielleicht nach Einheimischen, welche ihm womöglich weiterhelfen konnten. Aber völlig nackt in die Welt hinauszuziehen war natürlich unsinnig. Ein nacktes Monster, welches die Leute überfällt, nein, einen solchen ersten Eindruck wollte er unbedingt verhindern. Das Wesen malte sich das Geschrei und die Hysterie aus, welchen er bei dem Aufeinandertreffen mit Menschen erleiden würde.

Der Wasserspeier suchte den Raum ausgiebig nach Kleidung ab, bis er neben dem steinernen Sarkophag fündig wurde: Dort lag Gewandung auf einem Sockel aus Stein für ihn bereitgestellt, alles war fein säuberlich zusammengelegt und geordnet worden. Eine dicke Patina aus Staub hatte sich darübergelegt, die davon kündete, wie viel Zeit vergangen sein musste, seitdem Jemand die Gewänder hinterlassen hatte. Er sah sich die Kleider näher an. Es handelte sich um einen x-förmigen Brustgurt, einen Lendenschurz mit zwei blattförmigen Klappen sowie einen Gürtel mit Taschen daran, welche aus demselben, offenbar ausgesprochen robusten braunen Leder gefertigt worden waren. Diese Kleider kamen ihm jedoch keineswegs bekannt vor. Hatte er jemals etwas in diesem Stil getragen? Unter dem Kleiderhaufen lagen ebenfalls ein schönes Paar stählerne Handschuhe, ein anderthalbhändiges Schwert sowie ein ausgesprochen grosser Schild aus dickem Stahl, wunderbar bemalt in einem Muster aus symmetrisch aufeinanderfolgenden blauen und gelben Streifen, ein Bild des Ozeans mit fliegenden Delfinen war mit Mosaiken in der Innenseite abgebildet worden. Das Wesen packte das Schwert an seinem Gehilz aus geschnitztem Knochen, dessen Pommel ein riesiger, blauer Saphir war und zog es aus seiner Scheide. Die etwa einen Meter lange, gleissende, funkelnde Klinge war wunderbar, geradezu makellos. Die Schneide war offenbar aus einer Art von durchsichtigem, blauem Kristall gefertigt worden, war dennoch deutlich leichter als eine gleich lange Klinge aus Stahl. Zum ersten Mal seitdem er erwacht war, fühlte er Verbundenheit zu etwas. Zwar konnte er es nicht durch Erinnerungen bestätigen, aber dieses zweischneidige Schwert kam ihm ausgesprochen vertraut vor. Diese Waffe war ein Teil von ihm, das konnte er nun ganz klar spüren. Der Wasserspeier konnte sich selbst in einem Spiegelbild auf der Klinge der edlen Waffe sehen, was der Grund war, warum er die Waffe schnell wieder senkte und einsteckte. Jener Anblick war ihm nach wie vor unerträglich. Er war nun zumindest gegen das Auftauchen von potenziellen Feinden geschützt. Die Zeit aufzubrechen war gekommen, er musste dringend so schnell wie möglich Licht ins Dunkel bringen. So verlor der Wasserspeier keine Zeit und band er sich den Lendenschurz mit dem gedrehten Strick (welches einem dicken Jute Seil entsprach) daran um die Hüften. Anschliessend gürtet er sich den grossen Mehrzweckgürtel mit der grossen Schnalle und den Taschen daran über den Lendenschurz. Zuletzt schlüpfte er in den Brustgurt und befestigte den Schild so an seinem Rücken (was sich zuerst aufgrund der Flügel als etwas schwierig erwies). Die Panzerhandschuhe bewahrte er in dem Beutel auf. Das edle Schwert verstaute er wieder in seiner metallenen Scheide und befestigte diese an einem Lederriemen, welcher von seinem dicken Gürtel hing. Er rieb zwei Mal liebevoll über den Griff seines Schwertes, ein Zeichen für den grossen Wert, welchen er der Waffe zukommen liess. Die Hieb-und Stichwaffe war das einzig bekannte, was er hatte und in gewisser Hinsicht fühlte sich der Gegenstand wie sein einziger Freund auf dieser Welt an. Das bereits zuvor entdeckte, triefende Loch zwar leider sehr eng, aber dennoch drang ganz klar schimmerndes Tageslicht hindurch in den düsteren Raum herein. Allerdings war der kleine Spalt kaum grösser als seine eigene Hand. An ein Durchsteigen war nicht zu denken. Scheinbar hatte es vor längerer Zeit einen erheblichen Einsturz gegeben und die ursprüngliche Toröffnung war durch heruntergestürzten Schutt verschlossen worden. Der Wasserspeier blickte auf seine kraftvollen Hände und beschloss, dass es an der Zeit für eine Demonstration seiner körperlichen Fähigkeiten war. Wie stark mochte er wohl sein? Konnte er mit diesen Grabschern etwa graben? Mit beiden Händen ergriff er einen besonders grossen Steinbrocken und beförderte ihn ohne grosse Anstrengungen aus dem Weg. Gut, zumindest brachte seine seltsame Kondition grössere Kräfte mit sich, meinte er selbstmotivierend zu sich selbst. Durch das nun etwas vergrösserte Loch konnte er leicht klettern und so seiner bisherigen Heimat entkommen. Er windete sich und streckte seine Arme aus, um so schneller bei der Aussenwelt anzukommen. Als er endlich Draussen war, traf ihn fast der Schlag: er erblickte vor sich eine dichte Nebelwand und bemerkte, dass die ganze erkennbare Landschaft völlig verschneit war. Bittere Kälte umfing ihn. Ein heftiger, eisiger Wind pfiff ihm um die Ohren, scheinbar zog eine kalte Bise von Norden her. Anstatt in der Nähe eines Dorfes oder einer Stadt befand er sich in einem Reich des Schnees und des Eises, er meinte sogar einige Gletscher erkannt zu haben. Der flockige Schneesegen rieselte immer noch sanft vom Himmel und bedeckte seine Haut mit einer dünnen Schicht aus kaltem Nass, was er jedoch kaum wahrnahm. Augenschlich befand er sich auf einem ausgenommen hohen Berg, die eingeatmete Luft war dementsprechend dünn und kühl und brannte feurig in den Atemwegen. An einen Blick in die Ferne war aufgrund der alles bedeckenden Nebelwand nicht zu denken. Nach einem kurzen Check der Utensilien überprüfte das Wesen seine nächste Umgebung. Es gab weder Wege noch Strassen, jedoch lagen einige Steine verteilt am Boden, was darauf hinwies, dass sich hier wahrscheinlich einmal vor Urzeiten eine Strasse befunden hatte, jedoch hatte der Zahn der Zeit fast alle Spuren davon bereits wieder durch Verfall und neu gewachsene Vegetation verschwinden lassen. Kurz daraufhin drehte er sich um und betrachtete seine frühere Heimat. Der Ort, an welchem er geruht hatte, war ein uralter, komplett in sich zusammengefallener Tempel, dessen vormals kuppelartiges Hauptgewölbe sowie die jeweils sechsseitigen, spitzen Türme umgefallen und sogar das gewaltige, achteckige Hauptdach des ersten Stockes eingestürzt waren. Lediglich einige der voluminösen Säulen standen im Vorhof des Tempels noch fest verankert, wobei ihnen die Witterung schlecht bekommen war und sich die höchste Schicht von roter Farbe gelöst hatte, dennoch hatten die Basen und Kapitelle ihre schwarze Farbe behalten. Einige der Nebenhäuser waren nur noch als bröckelnde Wände vorhanden. Ein Grossteil der augenscheinlich unterirdisch angelegten Anlage war in den Berg eingehauen worden und war wohl deshalb vom wesentlich schlimmeren Verfall des Aussenbereichs geschützt worden. Die erklärte ebenfalls, warum die unterirdische Krypta zumindest partiell intakt geblieben war. Einige schöne Steinmetzarbeiten waren vor dem völligen Verfall bewahrt worden, allerdings konnte der Wasserspeier mit den dargestellten Wesen wenig anfangen. Dort waren Sphinxe, welche mit seltsamen Rittern um den Sieg rangen, während sie von allerlei abstrakten Gestalten (die wie Insekten und Drachen anmuteten) angefeuert wurden. Der Anblick des verfallenen Gemäuers füllte das Herz des Wesens mit Trauer und einem Gefühl der Verzweiflung. Was wenn die letzte lebende Kreatur auf einer langen toten Welt war? Der letzte Abkömmling einer langen untergegangenen Hochkultur? Vielleicht hatte er den Untergang seines Volkes verschlafen und war nun dazu verdammt, in einer Welt voller vernunftloser Tiere und Pflanzen ein einsames Dasein zu fristen. Er spürte wie eine tiefe Ohnmacht in ihm aufkam, aber bevor es zum Äussersten kam, rief er seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Er musste die nahe Umgebung weiter absuchen, für Panik blieb später noch genügend Zeit. Seine Selbstkontrolle musste letztlich der Herr über das mentale Chaos bleiben. Wenn es irgendwo noch bewohnte Dörfer und Städte gab, dann war seine Angst sowieso unbegründet gewesen. Wie aus heiterem Himmel flog ihm unabsichtlich eine grosse Schneeflocke in sein rechtes Auge und er bemerkte erstaunt, dass er barfuss bis zu den Knien im Schnee stand. Obwohl es eiskalt sein musste, fror das seltsame Geschöpf nicht im Geringsten. Er nahm zwar die tiefen Temperaturen über seine Haut war, aber er zitterte nicht und fühlte sich auch nicht unterkühlt.

„Ich bin also nicht nur stärker als ein normaler Mensch, ich bin offenbar auch weniger anfällig für die Kräfte des Wetters.“, murmelte er unter der Stimme zu sich selbst. Allerdings erschreckte ihn die Stimme, welche er hörte, denn es war die Stimme eines sehr jungen Mannes, eine hörbar menschliche Stimme. Aber wie konnte dies sein? Er besass ja noch nicht einmal einen menschlichen Mund und sein Kiefer glich eher dem Maul einer Echse als dem eines Menschen. Dies alles ergab wenig Sinn. Ohne ersichtlichen Grund teilte sich mit einem Male der Nebel und der Wasserspeier erkannte den Anfang eines dichten Tannenwaldes. Die fast komplett mit Schnee bedeckten Reifholzbäume waren ein willkommener Anblick, denn sie waren die ersten Lebewesen, denen er bisher begegnet war und trotz ihrer Stummheit fühlte er sich jetzt etwas weniger alleine. Er griff sich einen Tannenzapfen und massierte ihn in seiner Hand. Das war echt, da war er sich sicher. Wenigstens gab es in dieser Welt Pflanzen. Zuerst meinte der mysteriöse Reisende, dass er in das darunterliegende Tal fliegen könnte, diese Idee verwarf er jedoch schnell wieder. Er besass zwar Flügel, aber er war sich nicht im Klaren, ob diese überhaupt flugtauglich waren und er wollte schliesslich nicht die erstbeste Leiche sein, daher verliess er sich lieber auf seine offensichtlich gut funktionierenden Beine. Die Lokomotion durch den dichten Schnee gestaltete sich jedoch anfänglich schwieriger als gedacht. Der Wasserspeier stapfte mit krampfhaften Bewegungen schwerfällig durch die verschlingende Eismasse, welche sich unter ihm befand und kam kaum voran, fast schien es so, als ob sich die feuchte Kälte gegen ihn verschworen hatte und ihn unbedingt verzerren wollte. Stunden vergingen er kam nur langsam weiter, jeder weitere Meter war ein Kampf. Die Dunkelheit des Waldes und die scheinbare Absenz der Tiere waren ebenfalls nicht hilfreich. Die Tannen knackten und ein kühler Wind pfiff durch die Baumspitzen.

Das Unterholz und die Baumwipfel schienen schier endlos und der Anblick derselben ging scheinbar stundenlang weiter, bis der Reisende endlich tief genug von dem Berg hinuntergestiegen war und sich so lange durch Schnee und die starken Winde gekämpft hatte, so dass ihn grünes Grass auf einer Weide begrüsste. Der nach wie vor dichte Nebel hatte bei seinem Abstieg keinen Blick über das unten liegende Tal erlaubt, so dass er Wasserspeier sich nicht räumlich orientieren konnte und er auch keine nützlichen geographischen Erkenntnisse oder gar irgendeine Form von erhellender Übersicht über die Landschaft erhalten hatte. Das Klima des Landes, in welchem er sich befand, schien im Allgemeinen kalt zu sein, was ihn zumindest etwas beruhigte. Sein Leib war gemäss seinen Beobachtungen zwar in der Lage, ausgesprochen tiefe Temperaturen gut zu verkraften und sogar dem Frost mühelos stand zu halten, allerdings wusste er nicht, ob seine Unverwüstlichkeit auch für heissere Umweltverhältnisse galt. Seine native Kleidung schien auf ein warmes, tropisches Klima als Herkunftsort hinzudeuten, aber vielleicht war seine Bekleidung gerade deshalb so leicht, weil er keiner dichteren, schützender Kleidung bedurfte. „Ich verstehe meine eigenen Körper nicht“, murmelte er unter der Stimme zu sich selber. Der Ton war dabei so leise, dass er das Gesagte vor allem in seinem Geist hörte und seine Stimme nicht richtig wahrnahm. Hätte er dies getan, wäre er zweifellos über die Tonlage verstört gewesen.

Da er sich nicht immer noch nicht über seine Position im Klaren war, beschloss er weiter nach Norden zu gehen. Woher er das genaue Wissen über alle vier Himmelrichtungen und deren korrekte Lage hatte, konnte er sich allerdings selber nicht erklären. Verfügte er in etwa einen inneren Kompass? War er wie die Vögel, welche sich scheinbar überall zurechtfanden? So viel machte keinen Sinn für ihn. Da durchfuhr es ihn wie einen Blitz: er hatte unterbewusst erkannt, dass die Sonne von Osten heraufstieg, dann im Süden verblieb und später im Westen unterging, im Norden hingegen war sie nicht lokalisiert, zu keiner Zeit. Also setzte er seinen Müssiggang fort.

Selbst nach stundenlangem marschieren verspürte er kurioserweise immer noch keine Müdigkeit oder Hunger und seine Muskeln erschlafften ebenfalls nicht, ganz egal wie sehr er sich körperlich anstrengte, er war scheinbar unempfindlich gegenüber Kälte und sein Leib fühlte sich unbeschreiblich kraftvoll an, so als ob reine Stärke in energetischer Form durch seine Venen tanzen würde. Das Waten durch die kalte Schneemasse war zwar ausgesprochen nervtötend, aber es schien selbst nach gefühlten Stunden keinen erschöpfenden Effekt auf ihn zu haben. Er marschierte und stapfte wie ein unhaltbarer Ritter in einer Eisenrüstung durch das kalte Eis und es gab bei jedem seiner Schritte nach. Je mehr er darüber Kontemplation übte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass hier etwas ganz und gar stimmen konnte. Er hatte eine wage Erinnerung an bitteres frieren und stechenden Hunger, was letztlich bedeuten musste, dass er beides in der Vergangenheit erfahren haben musste. Da waren auch Empfindungen wie Erschöpfung. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich nach zwei Tagen Wachsein nach dem Nachtlager sehnte. Von diesem Leib, welcher ihm so unbekannt war, ging jedoch eine Macht aus, die ihm nicht vertraut erschien. Wenn dies immer schon sein Körper war, warum verspürte er dann so eine Fremdheit ihm gegenüber und wieso erinnerte er sich unterschwellig an ein „davor“? Das Wesen kannte sein Schwert und empfand sogar tiefgehende Sympathien für diese elegante Waffe. Wenn ihm die Klingenwaffe so vertraut war, weil es sich um sein altes Schwert handelte, welches jahrelang bei ihm in Gebrauch war, warum galt dann dasselbe nicht für seinen Körper? Vielleicht war er tot, vielleicht konnte er deshalb nicht ermüden. Womöglich war das Schwert - oder die Seele der Waffe – ihm in den Tod gefolgt und blieb nun treu an der Seite ihres Herrn. Er dachte nach. Aber warum würde das Leben nach dem Tod wie ein normaler Wald aussehen? Nein, tot konnte er nicht sein, denn er spürte seinen Herzschlag und kurz zuvor hatte er urinieren müssen. Tote hatten keine solchen körperlichen Funktionen, da war er sich sicher.

So sehr er sich auch bemühte, nichts hiervon ergab für ihn irgendeinen Sinn. Er hob die grössten Steine auf, welche er auf seinem Weg im Schnee finden konnte, aber keiner war schwer, so schleuderte er sich mit der allergrössten Leichtigkeit mehrere Fuss weit durch die Luft. Die verzagt aufkeimende Hoffnung bestand nun darin, Jemanden zu finden, der Licht ins verzweifelnde Dunkel bringen konnte und der vielleicht wusste, wer oder was er war und woher er stammte. Letzten Endes war er wahrscheinlich einfach geistig verwirrt und die Erfahrung hatte an seinem Verstand wie an einem alten Lumpen gezerrt. Womöglich war er immer dieses komische Wesen gewesen und es gab Zeiten, in welchen auch dieser scheinbar unbezwingbare Körper eine Sehnsucht nach Ruhe und Hunger verspüren konnte. Vielleicht ass sein Volk nur sehr selten – so wie es die Schlangen halten, die nur einmal per Woche Nahrung zu sich nahmen - und war in der Lage, Frost zu trotzen, allerdings könnte es trotzdem Grenzen der Toleranz bezüglich extremer Temperaturen geben. Vielleicht empfand er Kälte erst als sehr unangenehm, wenn sie ein tiefes Niveau erreichten, welches die meisten normalen Lebewesen töten würde. Wie auch immer, nichts oder Niemand war bekannterweise absolut unbesiegbar oder unzerstörbar. Vielleicht schien seine Kraft lediglich unbezwingbar. Zumindest nichts, was aus fester Substanz bestand. Zu seinem grossen Glück liess der dichte, gespenstisch wirkende Nebel allmählich etwas nach und erlaubte einen eingeschränkten Blick in die Weite zu. Der Schläfer liess seinen Blick umherwandern, bis er etwas erspähte. Da, endlich! In einiger Distanz entdeckte er eine grau-weissliche Säule von aufsteigendem Rauche in einiger Ferne! Entweder gab es dort einen natürlich erzeugten Waldbrand, oder eine kleine Siedlung konnte nicht weit sein! Da die Rauchsäule jedoch klein und dünn war und sich nur an einem einzigen Ort wie ein Seidenfaden in die Höhe zog, was für Waldbrände untypisch war, ging er von letzterem aus und er beschloss, sich zu der aussichtsreichen Quelle des Feuers aufzumachen.

Die Bauernfamilie

Die Aussicht, endlich nach diesen vielen einsamen Stunden mit vernunftbegabten Wesen sprechen zu können und Antworten auf zumindest einen Teil seiner Fragen zu erhalten, liessen den Gargoyle das Wandertempo deutlich beschleunigen und den dichten, das Laufen behindernden Schnee vergessen. Sein Schwanz wirbelte hinter ihm her. Er fühlte geradezu, wie sich sein zielgerichteter Schritt freudig beschleunigte und das fröstelnde Eis und der schwere Schnee seinem Willen Platz machten und vor seinem festen Tritt fortwichen. Dann, endlich – nach einer gefühlten Ewigkeit im pludrigen Nass des schmelzenden Weiss - verliess er den dichten Wald und kam endlich zu einer Lichtung, auf welcher der Schnee wesentlich dünner war und sich mit dem Schlamm des feuchten Bodens vermischt hatte, nur um eine eisige, braune Oberfläche zu bilden. Dort floss ein possierliches Flüsslein durch das Wasserrad einer alten hölzernen Mühle, deren beste Tage bereits lange hinter ihr lagen. Das Strohdach war halb verfallen und die hölzernen Wände porös und voller Löcher, wobei die grössten mit einer Mischung aus Heu und Mörtel notdürftig geflickt worden waren. Ein dichtes Moss bedeckte einen Teil des Fundaments des Gebäudes. Neben der Mühle stand ein alter Bauernhof mit drei Scheunen und anliegenden Stallungen, welche offenbar neueren Baudatums waren. Eine Rauchsäule stieg aus dem ovalen, mit einem einfachen Ziegeldach bekleideten Wohnhaus auf, welches gegenüber der grössten Scheune befand, welche offenbar für seltsam zierliche Kühe oder Pferde angelegt worden war. Der frische Geruch von gekochtem Essen stieg dem Wasserspeier in die Nase, zweifellos handelte es sich um Nahrung, aber die exakte Speise schien ihm unbekannt zu sein. Vor dem Wohnhaus arbeitete ein älterer Mann angestrengt in einem kleinen Gemüsegarten. Er trug einen einfachen, an einem Kartoffelsack erinnernden Einteiler. Der Bauer befand sich auf seinen etwas dreckverschmierten Knien und war über das Blumenbeet gebückt. Offenbar bereitete ihm das Ausreisen von zähem Unkraut mit einer Hacke einige Probleme. Scheinbar machten ihm auch seine Gebrauchspflanzen Sorgen und er mühte sich nun dabei ab, die verdorrenden Knospen wiederzubeleben und den wuchernden Wildpflanzen Herr zu werden. Die Haut des Mannes war bräunlich-ledrig. Das Gesicht wirkte zerknittert und furchig, sein Körper war offensichtlich durch jahrelanges, körperlich sehr anstrengendes Arbeiten geformt und ausgezerrt worden, seine zerklüfteten Hände waren wie riesige Schaufeln. Ganz offensichtlich waren dies die Hände eines Mannes, der zweifellos kein luxuriöses Leben in verschwenderischer Pracht kannte.

Unser etwas schüchterner Neuankömmling reagierte nervös und zaghaft, denn zweifellos würde der Mann bei seinem Anblick zu schreien anfangen und entweder rasch reisausnehmen oder sich aggressiv gegen ein Monster wie ihn zur Wehr stellen. Womöglich würde das hysterische Gebrüll das in den Scheuen und der Mühle befindliche Gesindel aufscheuchen und diese würden mit Waffen auffahren und ihn letztlich wie ein deformiertes Scheusal wegjagen. Eine Weile hielt er inne, bevor er sich dem Bauern weiter näherte. Letztlich kam er jedoch zur Ansicht, dass er dringen Hilfe bedurfte und ihm keine Alternative zur Verfügung stand. Also blieb ihm wenig anderes übrig als zu dem Alten zu sprechen, denn der verschlafene Bauernhof schien die einzige bewohnte Behausung weit und breit zu sein. Mit einem unbehaglichen Stechen in der Magengrube und verkrampftem Körper nahm er also seinen ganzen Mut zusammen und ging zu dem Farmer. Er stand vor den geknieten Mann hin, so dass er die Sonne im Rücken hatte und einen langen Schatten auf den Alten warf, in der Annahme, dass der Mann sein Gesicht so schlechter sehen könnte und er so eher verborgen blieb. Theatralisch räusperte er sich kurz – um dem Alten seine Ankunft mitzuteilen - bevor er zu sprechen begann: „Ich wünsche euch einen guten Tag, mein Herr. Sagt, könnt Ihr mir helfen? Ich habe mich verirrt und nun suche ich nach einem Ort, an welchem ich ruhen kann und mich über die Geschehnisse in der Welt informieren kann.“, die Tonlage war bewusst freundlich gewählt und die Sprechgeschwindigkeit langsam gehalten.

Der Mann hatte ihn offenbar nicht durch seine fast lautlosen Fussschritte kommen gehört und wirkte überrascht. Er kniff wegen dem starken Sonnenlicht die Augen zusammen sah nach oben, wo er die ihn überschattende Erscheinung des Wasserspeiers erblickte. Anstelle, dass er jedoch aufschrie und in eine wilde, chaotische Panik verfiel, verzog sich sein zerknautschtes Gesicht zu einem breiten, glücklichen Lächeln und er erhob sich langsam und in Ehrfurcht gerade so, als ob er etwas Heiliges erblickt hatte. Dies war nicht die Reaktion eines erschrockenen Landwirtes, es war die begeisterte Reaktion eines Gläubigen, dem ein Heiliger begegnet war. Er sprach offenbar in freudiger Ekstase etwas in einer dem Wasserspeier unbekannten Sprache, bevor er Hals über Kopf in sein Haus rannte und offenbar freudig nach Jemanden rief. Sein Gang wirkte dabei auffällig leichtfüssig, als ob sein Körper kaum Masse besass und eher ätherisch als massiv war. Der Wasserspeier blieb verdutzt an seinem Platz stehen und traute seinen Augen und Ohren kaum. Kurz darauf rannten eine Frau - in etwa demselben Alter wie der Mann – sowie drei jüngere Mädchen aus dem Haus. Aus der Scheune und der Mühle kamen die verschmutzt und verschwitzt wirkenden Knechte der Familie angerannt, die ebenfalls die freudigen Rufe des Alten vernommen hatten. Die Knechte trugen alte, abgehalfterte Arbeitsschürzen, wohingegen die jungen Mädchen offensichtlich teure und edel gegerbte Kleidchen sowie herabfallende Gürtel an den Leibern hatten. Eines der Mädchen – scheinbar das jüngste – zog ein kleines Buch hervor, aus welchem sie in einer fremden Sprache zu lesen und zu rezitieren begann, wobei die andere es ihr gleichtaten. Die gesamte Familie schien nun der Jüngsten zu folgen und in stimmte in dieselben Gesänge oder Gebete mit ein. Der durch die völlig unerwartete Situation überwältigte und irritierte Gargoyle blieb wie angewurzelt stehen, während ihn die Familie wie einen Gott behandelte und sich vor ihm verbeugte und mit verrenkten Körpern preiste. Nach einer Weile beendete die Familie diese seltsame Rituale und der Alte zog respektvoll seinen Hut und näherte sich zaghaft und überaus langsam dem nach wie vor unter Amnesie leidenden Fremdling.

„Tausendfache Vergebung! Bitte vergebt mir meine Unsitten, hochgeehrter Herr. Ich bin nur ein armseliger Wurm, ein armer, einfältiger Bauer, mit dem die Götter zum Glück Mitleid haben! Gundekar ist mein Name! Ich bin ein armer und kümmerlicher Bauer! Dies ist meine Frau Ismelinde und dies sind unsere Töchter Yulegrind, Hedwig und Gunthilda, die unser ganzer Stolz sind!“, Die Mädchen schmunzelten und grinsten bei diesem Kommentar. Gundekar fuhr fort und deutete auf seine Gehilfen: „Diese zwei prächtigen Knechte sind Piotr und Vedde und unsere treue und liebe Magd in der Küche wird Ilva gerufen. Sprecht einen Befehl aus und Euch wird gehorcht werden, Herr!“

Die Frau und Töchter des Bauern winkten ihm erfreut und verehrungsvoll zu, sprachen jedoch aus Respekt kein Wort, sondern überliessen die Worte dem Vater, dem offensichtlichen Kopf der Familie. Der ländliche Dialekt des Farmers war dem Wasserspeier fremd, aber er verstand dennoch den ungefähren Inhalt seiner Worte. Um seinen Respekt ebenfalls zu zollen, tat er sein Bestes, um sich gleichfalls würdewohl vorzustellen und er verbeugte sich freundlich zum Grusse.

„Ich danke vielmals für eure herzliche Begrüssung! Sehr geehrter Herr Gundekar, ich würde euch gerne meinen Namen nennen, jedoch kann ich mich an diesen nicht erinnern. Seitdem ich aus meinem tiefen Schlummer erwacht bin, kann ich mich an nichts betreffend meine Person mehr erinnern. Ich kenne noch nicht einmal mehr meine Eltern oder meinen Heimatort.“

Gundekar faltete eifrig die Hände und verbeugte sich ebenfalls.

„Oh hoher, gepriesener Herr! Ihr seid der grosse und überaus mächtige Claydatoo! Ich und meine Familie sind Eure treuen Diener!“, meinte Gundekar freudstrahlend und die Familie gab einige jauchzende Hintergrundtöne von sich, um die Worte des Vaters zu bestärken. Der Gargoyle war immer noch etwas überwältigt von der unerwartet überbordenden Freundlichkeit der Farmleute, aber er beschloss, die meisten seiner Gedanken vorerst für sich zu behalten und sich in der Diskussion vorsichtig voranzutasten.

„Claydatoo? Ich kann mich nicht an diesen Namen erinnern. Was bedeutet er?“, meinte er freundlich, aber etwas distanziert.

„Wartet bitte einen Augenblick, edler Herr! Ich habe etwas, was ich euch gerne zeigen würde!“, meinte Gundekar untertänig.

Der Alte eilte rasch in sein Haus und brachte kurz daraufhin eine fein säuberlich zusammengelegte Fahne her. Er bat die Mädchen, ihm bei der Ausbreitung der Flagge zu helfen, was diese auch prompt ohne Murren oder Knurren taten. Eine schöne, offenbar eine kraftvolle, gelbe Sonne darstellende Kugel schien ihre Strahlen auf einen nackten Wasserspeier zu werfen, welcher in der rechten Hand einen Speer hielt und mit der linken Hand auf einem hohen, stehenden Schild gestützt war. Das Abbild auf dem Bild entsprach tatsächlich seinem exotischen Aussehen. Allerdings konnte er den darunterliegenden Text nicht lesen.

„Seht ihr? Das seid ihr, unser heiliger Schutzpatron aus der alten Zeit! Claydatoo! Der Text ist sehr alt, aber er bedeutet wohl: „Die Götter senden uns unseren schützenden Patron Claydatoo, der für alle Zeiten unser Champion sein soll“!“, meinte Gundekar stolz und die Mädchen strahlten ebenfalls über beide Backen.

„Ich bin hier bekannt? Was ist ein Champion?“

Die Frage war mehr rhetorisch als dialektisch, aber Gundekar antwortete ihm trotzdem: „Die Götter wählen den Champion als Held und Beschützer eines Gebietes! Herr, ihr seid hier bekannt seit Urzeiten! Man spricht über euch seit vielen Generationen! Ihr wart stets ein stolzes Symbol der göttlichen Vorsehung und des heiligen Schutzes für unsere Vorfahren! Nicht wenige von uns haben ein Bildnis von Euch auf dem Hausaltar! Man bittet Euch traditionellerweise um Schutz vor bösen Kräften und Wesen!“

Der Wasserspeier wirkte verwirrt und musste sich gegen einen Aussenbalken des Bauernhauses stützen. Ein Gefühl von Übelkeit kam in ihm hoch, allerdings war der Grund Stress und Überforderung, nicht etwa der Genuss von verdorbener Nahrung. All das war zu viel für ihn gewesen. Er hatte sich nach Informationen und Antworten gesehnt, aber nun überflutete ihn diese Bauernfamilie so rasch, dass er ihnen kaum folgen konnte und er merkte, dass er mental alles andere als fit war. Sein Geist war nach wie vor schwach und sein Bewusstsein schien ihm getrübt, durch die lange Einsamkeit und die minimalen Sinneseindrücke im stillen Tannenwald hatte er sich selbst und seinen Zustand wohl überschätzt.

Die einfühlsame und sensible Ismelinde erkannte seine Ohnmacht und nahm seine Hand, die sie zärtlich rieb.

„Hoher Herr, bitte seine Sie heute unser erlauchter Gast! Wir werden Euch den besten Platz im Haus geben und das allerbeste Essen für Euch zubereiten! Das Beste, was wir haben, soll Euer sein! Erholt Euch bei uns von eurer anstrengenden Reise! Bitte, Ihr würdet uns damit einen grossen Segen erteilen!“

Gundekar nickte seiner Frau zu. „Meine Gattin hat recht, Herr. Bitte kommt mit ins Haus und ruht Euch bei uns aus! Ihr würdet uns damit die allergrösste Ehre bereiten! Ich werde Euch das beste Zimmer zur Verfügung stellen!“

Die Mädchen und Ismelinde führten den Wasserspeier an den Händen gemeinsam in ihr Wohnzimmer, wo sich einige gepolsterte Sitzbänke, ein Sofa sowie einige Sessel mit Kissen befanden. Im Kamin tanzte ein flackerndes Feuer auf einem Scheitel Holz und erhellte den ansonst so dunklen Raum mit einem gemütlichen und warmen Gelb. Es gab in dem Raum ebenfalls noch einen mit grünen Scheiben geplättelten Kacheloffen, der offenbar in den kalten Wintertagen der Mittelpunkt der Stube war.

Erst jetzt fiel dem Wasserspeier sein Körper auf, welchen er gegenüber von sich in einem grossen Spiegel erblickte, welcher sich neben dem Eingang befand. Es handelte sich trotz der offensichtlichen Fremdartigkeit um einen grossen, schlanken und ausgesprochen athletischen Körper, an dem alle Muskeln deutlich definiert waren. Er hatte einen monströsen, animalischen Leib anzutreffen erwartet, aber dies war erstaunlicherweise nicht der Fall. Sein Rumpf entsprach dem Rumpf eines dünnen Jünglings mit einem höchst attraktiven Körper, abgesehen von den scheinbar reptilischen Eigenschaften. Er wirkte absonderlich, wie die obskure Mischung eines gutaussehenden Athleten und eines steinernen Wasserspeiers. Während er sich im Spiegel musterte, berührte er sein ihm fremdartiges Gesicht und tastete es ab.

Die Bäuerin hatte ihn inzwischen mit ihren Töchtern alleine gelassen und hatte sich nach nebenan in die Küche zu ihrer Magd Ilva begeben. Dieser Akt alleine machte ihn nachdenklich. Anfangs war er zuerst noch davon ausgegangen, dass diese Wesen ihn verhöhnten oder womöglich austricksen wollten, aber nun begriff er, dass keine fürsorgliche Mutter ihre Kinder jemals alleine mit einem so seltsamen Wesen lassen würde, es sei denn, dass sie ihm vertraute und in ihm tatsächlich etwas Heiliges sah.

Trotz der Distanz konnte der Gargyole die Farmerin und die Köchin klar und deutlich im Nebenraum sprechen hören. Die riesigen, spitzigen Ohren schienen also ebenfalls perfekt zu funktionieren und sie waren feiner und empfindlicher als die Gehöre der meisten Menschen.

„Wir haben einen allerhöchsten Gast, Ilva! Den wahrscheinlich höchsten Gast, welchen wir jemals haben werden! Dieses Mal kannst und darfst du dir keine Schnitzer wie bei unserem letzten Gast erlauben! Salze die Speisen ja nicht zu stark!“, tadelte Ismelinde sie und schüttelte drohend ihren Zeigefinger. „Mach uns keine ja Schande!“

Ilva murrte zwar, unterwarf sich jedoch letztendlich dem Willen ihrer Herrin. „Ganz wie ihr wünscht, Herrin.“, knurrte sie. „Wer ist unser Gast? Der Bürgermeister? Der Kassenaufseher der Gemeinde? Hedwigs Freund, dieser naseweise Yukka?“

„Es ist der Heilige Claydatoo höchstselbst.“