Albtraum - Margarete van Marvik - E-Book

Albtraum E-Book

Margarete van Marvik

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Beschreibung

Franziska wird im September 1957 unter unmenschlichen Voraussetzungen auf der schwäbischen Alb in Münsingen geboren. Schon im Mutterleib kämpft sie um das nackte Überleben. Alle Versuche sie im Mutterleib zu töten scheitern. Franziska überlebt und wird geboren. Kaum hat sie sich von den Strapazen und Misshandlungen der Mutter erholt, muss sie um ihr Sein und um ein wenig Zuneigung kämpfen. Ihr Trauma ist es, ihre Existenz gegenüber sich selbst und den Behörden nicht beweisen zu können. Es gelingt ihr mit viel Disziplin, starkem Willen und Glück zu überleben. Dieser Roman beruht hauptsächlich auf wahren Begebenheiten. Schonungslos wird das Leben von Franziska Schwarz beschrieben.

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Danken möchte ich Marianne Tittel und Wolfgang Metz, die das Manuskript kritisch und wunderbar konstruktiv testgelesen haben.

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah

Im Schlaf- und Aufenthaltsraum

Nach dem Mord

Flucht zurück auf die Straße

Die Nacht auf der Straße

Die unheimliche Begegnung

Ruhe vor dem Sturm

Martha

Franziskas Kindheit

Franziskas Erlösung

Aufenthalt im Augusta-Kinderheim

Anna wird verurteilt

Franziskas körperliche und seelische Entwick

Anna taucht auf

Franziska, das Straßenkind

Ruth

Ein Abend voller ungeahnter Harmonie

Das Jugendgericht

Im Jugendgefängnis

Die Gruppenaufseherin Marlis Berber

Franziska plant ihre Flucht

Zurück in der Gegenwart

Martha blickt zurück in ihre Vergangenheit

Unerwarteter Besuch

Horst

Gestörte Seele

Im Krankenhaus

In der Zwischenzeit

Schwester Gertrud

Auf dem Amt

Zurück im Kloster

Besuch im Kinderheim

Franziskas erste eigene Wohnung

In der Wohnung

Ankunft bei Martha

Erste Anzeichen einer Paranoia

Franziskas Reise zu ihren Wurzeln

Zurück in Bruchsal

Der psychische Kollaps

Schwester Gertrud

Psychiatrische Klinik

Die Beweislast gegen Horst Groß

Schwester Gertruds Besuche in der Klinik

Franziska verweigert die Nahrung

Rückblick auf Martha Groß

Zurück in die eigene Wohnung

Gerichtsverhandlung ihrer Mutter Anna

Gerichtstermin Schwarz . /. gegen Schwarz 20. April 1976, 11 h, Gerichtssaal Nr. 10

Im Gerichtssaal

Die Gerichtsverhandlung gegen Horst Groß

Das Urteil

Die Gerichtsverhandlung: Horst Groß . / . Franziska Schwarz

Martha Groß macht ihre Aussage

Die Geburt

Aufenthalt in Heidelberg

Martha

Manche Engel sterben früh

Rückblick

Albtraum

Du hattest deinen Spaß und ich wurde geboren, dafür sollst du für ewig in der Hölle schmoren.

Deine Seele hast du schon verloren, mit dem Tag, an dem ich wurde geboren.

Dunkle Mächte dich ständig umgeben, du kannst ohne Hass einfach nicht leben.

Schatten der Dunkelheit sind deine Begleiter, Tagsüber sind sie für dich der Blitzableiter.

Deine schwarze Seele wird dich begleiten und mit dir in der Hölle verweilen.

Brennen sollst du all die Tage, ich werde zusehen und mich daran laben.

Franziska rennt um ihr Leben. Sie rennt und stolpert, schaut nicht zurück. Die Lunge brennt wie Feuer; sie glaubt, dass ihre Beine jeden Moment versagen werden.

Panische Angst, im Erdreich zu versinken und von Wurzeln umschlungen zu werden, macht sich breit. Tränen der Wut und des Ekels laufen ihr über das Gesicht. Sie will nur noch fort, weit, weit fort.

Was bisher geschah

Franziska kommt nach vielen Tagen des Trampens in der Unterkunft für Wohnungslose in Bruchsal an. Sie ist so froh, dass sie für einige Nächte einen Schlafplatz gefunden hat.

Es ist zwar nicht das, wovon sie träumt, aber immer noch besser, als wieder unter Brücken oder in irgendwelchen Ecken von Rohbauten zu schlafen.

Sie betrachtet resigniert den großen Schlafraum und Aufenthaltsraum, der mit bunter hässlicher Tapete beklebt ist. Düster und trostlos fühlt sich der Raum für Franziska an. Seitlich stehen rechts und links Stockbetten; darauf liegt jeweils eine einfache graue Wolldecke.

Dies alles hebt nicht unbedingt ihre finstere Stimmung, in der sie sich befindet. Die Flure zu den einzelnen Räumen, wie Küche und Versorgungsraum, vermitteln Kälte und Unbehagen. Die Unterkunft ist einfach nur öde und kaum ein Fleckchen persönlicher Intimität ist vorhanden.

Franziska schüttelt sich innerlich und ihr Brustkorb zieht sich zusammen. Hier in diesen Räumen ist nicht erkennbar, ob draußen freundliches und sonniges Wetter ist. Sie tröstet sich damit, wenigstens für einige Tage eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf zu haben.

An diesem Abend im September 1975 betritt sie als Erste den Saal und hofft, ein einigermaßen bequemes Bett zu ergattern.

Bevor sie in den Waschraum geht, nimmt sie die Decke vom Bett und zerknüllt sie. So signalisiert Franziska den anderen, dass dieses Bett bereits belegt ist. Das Gesetz der Straße kennt sie aus der Vergangenheit. So hat sie die Möglichkeit, sich vorher in Ruhe und ohne Zuschauer in den Waschräumen den Schmutz der Straße abzuwaschen. Zügig geht sie in den Waschraum für Frauen und ist überglücklich, eine Dusche darin zu finden. Damit hat sie wahrhaftig nicht gerechnet. Freudig springt sie unter die Brause und wäscht ihre langen dunkelbraunen Haare gründlich.

Heute ist alles perfekt! , denkt sie und wischt mit dem Handtuch über den beschlagenen Spiegel. Sie betrachtet ihr Gesicht mit den großen rehbraunen Augen, die von dichten Wimpern umrandet sind. Franziska steht auf Zehenspitzen, denn für sie ist der Spiegel sehr weit oben angebracht. Sie lächelt in sich hinein, als sie sich fragt, von wem sie wohl ihre vollen anziehenden Lippen und die gerade Nase geerbt hat. Laut seufzt sie auf und grübelt weiter, während sie im Spiegel ihre langen Haare mit dem Handtuch trocken zu rubbeln versucht.

Das Grübchen an meinem Kinn hasse ich; das habe ich bestimmt von meiner Mutter geerbt, denkt sie. »Hm, und nun?«, murmelt sie laut vor sich hin. »Jetzt bin ich geduscht und muss wieder in die stinkigen Klamotten steigen.« Sie resigniert bei dem Gedanken und schüttelt sich innerlich. Angeekelt schlüpft sie erneut in die schmutzige und teils verschlissene Kleidung. Franziska ist sehr klein und schmal. Sie hat eine knabenhafte Figur und ist nur ein Meter achtundfünfzig groß. Sie wirkt mit ihren fast achtzehn Jahren wie ein kleines Mädchen.

Trotz der vielen Rückschläge, die sie bereits überstanden hat, versucht sie immer wieder kämpferisch und voller Trotz ihr persönliches Ziel zu erreichen. Franziska kann und will nicht einsehen, dass das Leben, das sie gerade durchwandert, alles sein soll.

Sie glaubt ganz fest an ihre persönliche Zeit, die noch kommen wird. Ihr Glaube daran macht sie stark und kämpferisch.

Besondere Vorlieben erkennt sie an sich selbst nicht. Bisher hat sie keine Möglichkeit bekommen, herauszufinden, was sie mag und was sie nicht mag. Franziska ist überzeugt davon, dass sich ihr noch die Gelegenheit bieten wird, das herauszufinden.

Erfrischt und voller Elan geht sie zurück in den großen Schlaf- und Aufenthaltsraum.

In der Mitte des Raumes steht ein großer runder Tisch für mindestens fünfzehn Personen. Darüber hängt ein schwerer Kronleuchter. Hoch motiviert geht Franziska forschen Schrittes auf den Tisch zu. Die Zeitschrift, die sie ins Auge gefasst hat, will sie sich gerade vom Tisch schnappen. Sie möchte wissen, was in der großen Welt passiert.

Abrupt bleibt sie stehen und ihr geheimer Wunsch wird schlagartig unterbrochen.

Im Schlaf- und Aufenthaltsraum

Drei Kerle betreten mit großen Schritten den Saal und marschieren zielstrebig auf den großen Tisch zu. Alle drei tragen Knobelbecher und stoßen mit Wucht die Stühle zur Seite. Sie setzen sich, ziehen die Stühle mit ihren Füßen zurück an den Tisch und fangen an lautstark zu diskutieren.

Der Erste, der sich Sven nennt, hat eiskalte Augen, die lauernd auf den anderen ruhen.

Den Zweiten, den sie Karl rufen, schätzt Franziska auf etwa dreiundvierzig Jahre. Er hat ein rundes, gerötetes Gesicht und es sieht aus, als ob er wahnsinnige Angst vor seinen beiden Kumpels hat. Ständig kratzt er sich an seinem schmutzigen Kinn.

»Ob der Flöhe hat? «, flüstert Franziska leise in sich hinein und findet den Gedanken lustig. Sie muss sich bei der Vorstellung die Hand vor den Mund halten, damit sie nicht laut loslacht.

Beim Betrachten der letzten dunklen Gestalt bekommt sie eine Gänsehaut und setzt sich leise, um nicht aufzufallen, auf die obere Etage eines der Stockbetten.

Gerne würde sie diesen ungehobelten Kerlen die Meinung geigen, doch das getraut sie sich nicht. So viel Courage besitzt Franziska in diesem Moment nicht; die Angst ist einfach stärker.

Sie verharrt still auf der Bettkante und wartet auf die Dinge, die da noch kommen werden.

Der Dritte im Bunde ist offensichtlich der Boss der anderen beiden. Er hat ein blasses, eckiges Gesicht mit einer langen dunklen Narbe auf der linken Gesichtshälfte. Seine Augen scheinen Franziska anzustarren. Die schmalen zusammengekniffenen Lippen und die dicken Augenbrauen blicken düster drein. Das volle ungepflegte mittelblonde Haar hängt fettig herunter.

Er sieht einfach nur zum Fürchten aus. Die Tätowierung, eine Rose mit Tautropfen am linken Unterarm, und der Ohrring im rechten Ohr vermitteln nicht gerade einen seriösen Eindruck.

Sie rufen ihn Horst.

Es schaudert Franziska bei dem Gedanken, diesen drei Typen nachts zu begegnen. Außer diesen drei Individuen wagt sich niemand, an dem runden Tisch Platz zu nehmen. Stillschweigend suchen die Übrigen ihre Betten auf.

Die Burschen fetzen sich lautstark wie die Kesselflicker, dabei schlägt der, den sie Horst nennen, mit der Faust so stark auf den Tisch, dass die Tischplatte vibriert.

Urplötzlich und ohne weitere Vorwarnung schnappen die beiden den, den sie Karl nennen, und nehmen ihn in die Zange.

Karl schreit hysterisch: »Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht, so glaubt mir doch endlich, es ist ein Unfall gewesen. Aus diesem Grunde bin ich damals freigesprochen worden.«

Ohne dass die beiden Männer antworten, ziehen sie Karl blitzschnell auf den Tisch. Horst zieht ein gezacktes Brotmesser aus seinem Hosenbund.

Er rammt Karl dieses, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, gnadenlos und brutal in den Oberbauch.

Nach dieser kaltblütigen Tat nutzen die beiden die Starre der übrigen Bewohner dieses Raumes und drehen sich wie abgesprochen vom Tisch weg.

Schnellen Schrittes verlassen sie den Saal des Grauens. Keiner der Anwesenden ist in der Lage zu reagieren.

Franziska spürt, wie Schweißperlen ihren Weg von der Stirn im Zeitlupentempo entlang der Nasenspitze zu ihren Lippen suchen. Sie glaubt zu spüren, wie eine Schweißperle überdimensional ihre Stirn verlässt und sich klatschend Richtung Boden verabschieden will. Automatisch streckt sie ihre Zunge raus, um so die Perle aufzuhalten. Auch sie, Franziska, sitzt, wie zu einer Salzsäule erstarrt, auf ihrer Bettkante.

Ohne weitere Vorankündigung versteift sich ihr Körper vor Zorn und sie schüttelt ungläubig den Kopf über so viel Unverfrorenheit, die sich gerade abgespielt hat. Sie kann es nicht fassen, dass es jemand wagt, diese Tat vor den Augen so vieler Menschen, die schon genug eigene Probleme haben, durchzuziehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit spürt sie endlich wieder das Hämmern ihres Pulses an ihren Schläfen. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Sie vernimmt ihre eigene Stimme, die vor Wut und Empörung schreit!

»Einen Arzt, einen Arzt, verdammt noch mal, holt endlich einen Arzt! Seht ihr denn nicht, dass der Mann verblutet!«

Eine unangenehme Stille beherrscht den Saal. Keiner bewegt sich, alle starren gebannt auf den Tisch zu dem Mann mit dem Messer im Bauch.

Franziska springt, nachdem ihr erster Schock überwunden ist, ohne nachzudenken vom Bett. Sie schreit plötzlich vor Schmerz und Wut auf. Beim Sprung hat sie sich aufgrund ihrer geringen Größe auch noch einen Knöchel verstaucht.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht und humpelnd läuft sie selbstlos zu dem Typen, der sich das Messer eigenständig aus dem Leib gerissen hat. Sie fühlt seinen Puls und versucht leise auf ihn einzureden, spricht tröstende Worte. Schnell nimmt sie die dünne graue Decke, die sie noch vor lauter Schreck in der Hand gehalten hat, und drückt diese in die offene Wunde des Mannes.

Planlos und völlig desorientiert greift das im Sterben liegende Monster mit der anderen Hand nach Franziskas Hals.

Erbarmungslos und mit eiserner Kraft drückt er zu! Seine Augen treten hervor wie die eines Gockels, dem gerade der Hals umgedreht worden ist. Er röchelt und eine rotbraune Flüssigkeit verlässt seinen Mund, als er flüstert:

»Dich nehme ich mit in die Hölle; kein Mensch dieser Erde hat es verdient, auf dieser beschissenen Welt zu leben.«

Franziska steht starr vor Schreck und ist nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie begreift nicht, was gerade um sie herum geschieht. Sie spürt, wie das Blut aus ihren Adern schwindet. Benommen starrt sie in die hasserfüllten, blutunterlaufenen Augen des sterbenden Mannes.

Innerhalb von Sekunden läuft ihr bisheriges junges Leben wie an einem seidenen Faden an ihr vorüber. Voller Panik muss sie erkennen, dass der Albtraum, der sie seit ihrer Geburt begleitet, nie zu Ende gehen wird.

Um sie herum wird es schwarz und sie sieht, wie grinsend ein dunkler Schatten mit einer Sichel auf sie zukommt und mit seinen langen schwarzen Armen nach ihr greifen will. Eisige Kälte läuft ihr über den Rücken. Mit übermenschlichem Willen zwingt sie sich, nicht in Ohnmacht zu fallen. Ihre Augen verfolgen, ohne dass sie es selbst wahrnimmt, den Sozialarbeiter, der aufgrund ihres Hilfeschreies und der mittlerweile lautstarken Unruhe im Saal hereingestürmt kommt.

Verzweifelt versucht er die Hand des Mannes von Franziskas Hals zu nehmen. Wie eine Kralle aus Stahl umklammert diese Pranke ihren Hals. Sie spürt, wie der große stabile Mann versucht, Finger für Finger des Sterbenden von ihrer Kehle zu lösen.

Für Franziska fühlt es sich an wie ein halbes gelebtes Leben, bis alle Finger dieses Kerls von ihrem Hals entfernt worden sind. Die wenigen Sekunden der Todesangst kommen ihr wie Stunden vor.

Franziska wird schlagartig klar, in welche Gefahr sie sich ohne Not begeben hat. Dieser Mann liegt im Sterben und er hat danach getrachtet, sie mit in die Hölle zu nehmen.

Die beiden anderen zwielichtigen Gestalten sind zu diesem Zeitpunkt längst verschwunden.

Franziska wird speiübel und kleine bunte Punkte kreisen vor ihren Augen. Sie ist nicht fähig, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. In ihrem Kopf hallen ihre eigenen grausamen Worte, wie ein wiederkehrendes Echo!

Werde ich meine eisernen Ketten, die mich mein bisheriges Leben begleiten, etwa niemals lösen können?

Ihr wird schlagartig bewusst, dass sie dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gehopst ist. Ohne dass sie sich wehren kann, nimmt ihr Körper sich das, was er in diesem Augenblick braucht, einfach nur Ruhe.

Wie ein nasser Sack fällt sie in sich zusammen und wohltuende Dunkelheit umgibt sie.

Nach dem Mord

Den Tumult und das Durcheinander der Insassen bekommt Franziska nur schemenhaft mit.

Langsam und vorsichtig öffnet sie ihre rehbraunen Augen und hofft, dass das, was sie vor wenigen Minuten erlebt hat, nur ein böser Traum gewesen ist.

Sie dreht sich vorsichtig mit ihrem Körper auf die andere Seite und registriert aus dem Augenwinkel, dass die Polizei inzwischen eingetroffen ist und Fragen über das Geschehene stellt. Schnell stellt sie sich wieder schlafend; sie will keine Rede und Antwort stehen. Unmittelbar nach diesem Gedanken spürt sie wieder ein tiefes Loch, in das sie hineinzufallen droht.

Sie zieht sich die Decke über den Kopf, damit sie die Möglichkeit hat, durch tiefes Durchatmen ihren Angstanfall zu überwinden. Sie darf einfach nicht gefunden werden, also tut sie so, als ob sie noch schläft, und wartet beharrlich ab, bis der Polizist endlich den Saal verlassen hat.

Nachdem das Gewusel von Polizisten und der Spurensicherung vorbei ist, hört sie, wie vorne in der Anmeldung gesagt wird, dass Frau Franziska Schwarz unbedingt am folgenden Tag bei der Kripo erscheinen muss. Man will sie aufgrund des Geschehenen und den verabreichten Beruhigungstabletten heute nicht mehr belästigen. Zufriedenstellend ist diese Anweisung des Sozialarbeiters für die Polizei nicht. Sie hört wie der Leiter der Kommission, Herr Clausen, resignierend zu seinem Kollegen sagt: »Es ist unfassbar, dass nicht ein Einziger in der Lage ist, eine Beschreibung eines der beiden Täter wiederzugeben.«

Er schüttelt dermaßen heftig seinen Kopf, dass ihm fast seine dunkelbraune Hornbrille von der Nase rutscht. Franziska beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. Es ist ein kleiner schmächtiger Mann mittleren Alters. Ein Schnäuzer ziert sein Gesicht. Schweißperlen stehen ihm von der Wärme dieses Raumes auf der Stirn. Er spricht weiter und Franziska fällt auf, dass er ständig das R rollt.

»Wir können nur hoffen, dass diese kleine schlafende Person«, er zeigt dabei auf Franziska, »eine ordentliche Beschreibung abgeben kann. Sie ist wohl die Einzige gewesen, die reagiert hat. Unfassbar, so etwas.« Kopfschüttelnd unterstreicht Kommissar Clausen das Gesagte. Endlich verlässt der letzte Mann der Spurensicherung den Saal.

Franziska atmet auf, denn sie will die paar Tage bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag nicht gefunden werden.

Flucht zurück auf die Straße

Panisch denkt sie an den letzten erlebten Vorfall zurück. Sie sieht vor ihrem geistigen Auge, wie sie am Vortag im Supermarkt ein Brot und ein Päckchen Wust in die Tasche gesteckt hat. Es schüttelt sie, als sie daran denkt. Das blöde Weib an der Kasse ist hysterisch geworden und hat ununterbrochen geschrien: »Haltet den Dieb, haltet das Mädchen.«

Mit knallrotem Kopf ist sie aus dem Laden gerannt. Aus dem Augenwinkel hat sie gesehen, wie der Hausdetektiv die Verkäuferin befragt hat. Sie ist sich nicht sicher, ob die Beschreibung der Verkäuferin so gut gewesen ist, dass der Detektiv sie wiedererkennen würde. Franziska will trotzdem das Risiko nicht eingehen, verhaftet und in eine Zelle gesperrt zu werden. Die Erinnerung daran ist noch sehr gegenwärtig und eine Gänsehaut läuft ihr über den Rücken. Sie hat nicht vorgehabt zu stehlen, aber der Hunger war mit Macht über sie hereingebrochen. Vor wenigen Tagen war ihr das letzte Geld von einem Busfahrer abgenommen worden.

Es war wie verhext; auf dem letzten Stück bis nach Bruchsal hatte sie einfach kein Auto mehr mitgenommen. Ihren so heiß geliebten achtzehnten Geburtstag hatte sie doch unbedingt in Bruchsal feiern wollen.

Blitzartig drängt sich eine höhnisch lachende Stimme in ihre Gedanken, die ihr zuflüstert:

»Und? Was ist, wenn du achtzehn wirst? Du bist doch allein auf dieser Welt. Wer soll dir schon das geben, worauf du bereits so lange sehnsüchtig wartest!«

Genervt verdrängt Franziska die höhnischen Worte aus ihrem Gehirn. Sie kann vor Müdigkeit ihre Augen nicht mehr offen halten und schläft noch einige Stunden tief und fest. Die Beruhigungstropfen haben etwas Gutes getan.

Mitten in der Nacht wacht Franziska auf; eine Stimme spukt in ihrem Kopf, die unaufhörlich wie eine Endlosschleife flüstert:

»Verlass diesen Saal des Schreckens so schnell es dir möglich ist. Hier bist du ganz bestimmt nicht mehr sicher.«

Franziska steht mit wackligen Beinen auf, nimmt die Flasche Wasser, die der Sozialarbeiter stehengelassen hat, und verlässt so leise wie möglich den Raum.

Ihr Schädel brummt und vorsichtig fasst sie sich an ihre Haare. Ihr Nacken brennt von der starren Haltung beim Liegen ohne Kopfkissen. Franziska bewegt sich im Zeitlupentempo den endlosen dunklen Flur entlang. Leise, um nicht bemerkt zu werden, setzt sie wie eine Marionette einen Schritt vor den nächsten.

Das Stück Korridor bis zum Ausgang des Saales kommt ihr ewig lang vor. Ihr Hals schmerzt und ihre Kehle brennt. Die Würgemale verursachen große Schmerzen. Nach und nach löst sich die innere Starre und sie fühlt wieder Leben in sich aufkeimen.

Auf dem Weg zum Ausgang bleibt sie immer wieder stehen und muss tief durchatmen.

Sie glaubt ersticken zu müssen. Mit innerer Gewalt zwingt sie sich auf dem kurzen Stück zu Ruhe und Besonnenheit.

So viel Brutalität und Hass, wie sie es an diesem Abend erlebt hat, macht sie beklommen. Spontan empfindet sie wieder den Schmerz, den ihr ihre Mutter mit grausiger Brutalität zugefügt hat.

Tränen der Hilflosigkeit und des Entsetzens laufen über ihr hübsches Gesicht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht Franziska erleichtert den Ausgang. Es muss inzwischen sehr spät geworden sein. Schnell humpelt sie einige Schritte um die nächste Ecke, damit sie von dem Betreuer der Unterkunft nicht mehr gesehen werden kann.

Sie sieht an sich herunter und stellt erschaudernd fest, dass ihre Jeans total zerrissen ist. Die hellgrüne Steppjacke ist auch fast völlig aufgelöst in seinen Nähten.

Resignierend murmelt sie vor sich hin: »Meine Güte, wieso habe ich immer so ein Pech?«

Durchatmend strafft sie ihre schmalen Schultern und fängt ohne Vorwarnung an zu schreien. Sie schlägt wild vor Wut und Zorn mit ihrer Faust an die Eckfassade vor sich.

Am liebsten würde sie aus ihrem eigenen Körper springen, um die Anspannung und den Stress, den sie vor einigen Stunden durchlebt hat, loszuwerden. Sie ist wahnsinnig zornig und entrüstet, dass ausgerechnet ihr so etwas Mistiges passieren muss.

Sie kann und will es nicht fassen und ist einfach nur wütend über sich selbst und den Rest der Welt.

Nach und nach beruhigt sie sich und versucht lange und gleichmäßig durchzuatmen. Ihre Knöchel an den Händen sind blutverschmiert. Ihre Gedanken schlagen während des Laufens Purzelbäume. Hat das alles sein müssen?, fragt sich Franziska immer wieder. Sie will doch nur noch die paar Tage bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag ohne Missgeschicke überstehen!

Die Nacht auf der Straße

Franziska betrachtet es als ein persönliches Geschenk, dass das Gesetz – die Herabsetzung der Volljährigkeit von einundzwanzig auf achtzehn Jahre – 1975 in Kraft getreten ist. Endlich besteht für sie die Möglichkeit, durch ihre Volljährigkeit in diesem Jahr ihre Geburtsurkunde selbst zu beschaffen.

Wieder wird sie wütend bei dem Gedanken, dass ihr so ein Trottel einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Allmählich lässt die Anspannung in ihrem Körper nach und die Gedanken bewegen sich in ruhigerem Fahrwasser. Im Gegenzug finden der Schmerz in ihren Gliedern und die erneute Müdigkeit den Weg in ihren Körper zurück. Jede Bewegung wird zur Qual und ihr Hals schwillt immer mehr an. Die Finger des Monstrums zeichnen sich extrem stark an ihrer Kehle ab. Das Atmen fällt ihr schwer; sie bekommt kaum noch Luft; ständig muss sie sich übergeben. Die Schmerzen im Kehlkopf wollen nicht nachlassen.

»Ich brauche dringend etwas zu trinken«, spricht sie zu sich selbst und humpelt mit entschlossenen Schritten weiter; wohin, ist ihr völlig egal. Nur weg von diesem grusligen Ort.

Ständig fragt Franziska sich, ob der brutale Horst schon von der Kripo gefasst worden ist. Hastig nimmt sie noch einen Schluck aus der mitgenommenen Flasche. Der lange grauenvolle Tag verabschiedet sich und die Nacht bricht endgültig herein.

Die Schatten der Laternen um die roten heruntergekommenen Backsteinhäuser sehen gespenstisch aus.

Franziska spürt die ersten Regentropfen auf ihrer Haut. Sie atmet auf und hofft, dass der Regen ihr zu einem klaren Verstand verhelfen wird. Ihre Augen suchen die Häuser nach einer brauchbaren dunklen Ecke ab. Sie glaubt so Schutz für die kommende Nacht zu finden. Der Hunger und der Durst werden unerträglich. Ihr Magen hört nicht mehr auf zu grummeln. Mit Bedacht trinkt sie den Rest aus der Wasserflasche, um so auch ihren knurrenden Magen zu beruhigen. Ihr fällt ein, dass sie noch einen Rest Senf in der Tasche aufgehoben hat. Schnell zieht sie die Tube aus ihrer Jackentasche und drückt den Rest des Senfes direkt in den Mund. Dort verteilt sie diesen geschickt mit ihrer Zunge gleichmäßig am Gaumen. Der Geschmack des Senfes nimmt ihr für einen kurzen Augenblick den Hunger.

In immer kürzer werdenden Intervallen überwältigt sie der Schwindel. Sie versucht sich mit irgendwelchen Gedanken, die ständig in ihrem Kopf spuken, vom Hunger abzulenken. Es ist ein innerlicher Kampf und Franziska muss viel Selbstdisziplin aufbringen, um diesen Kampf zu gewinnen.

Langsam und vorsichtig tastet sie sich an den Häuserwänden entlang. In welche Richtung sie gelaufen ist, weiß sie nicht zu sagen. Schemenhaft erkennt sie einen Torbogen und hofft, dort einen Innenhof zu finden.

Der Regen wird stärker und der Asphalt entwickelt sich vom Staub auf den Straßen zu einer Rutschpartie. Vorsichtig bewegt sie sich in der Dunkelheit weiter. Sie ist erleichtert; es ist tatsächlich ein Innenhof.

Achtsam schleicht sie durch den Hof und sieht sich blitzschnell um. Die Mülltonnen in der rechten Ecke quellen über und der Unrat verteilt sich großflächig um die Tonnen. Es stinkt trotz des frischen Regens bestialisch. Langsam dreht sie ihren Kopf in die andere Richtung. Lichter der einzelnen Fenster werfen einen leichten Schatten in den Hof. Das ist gut so; jetzt kann sie den gesamten Innenraum überblicken.

Es ist beängstigend; das Rascheln rund um die Mülltonnen hört nicht auf. Aus der dritten Etage eines Hauses brüllt eine Frau hysterisch und die Worte verhallen im Innenhof und prallen an den Mauern ab.

Franziska schüttelt sich vor Ekel und Frust. Immer mehr drückt sie sich in die kleine Ecke. Der Horror erfasst sie erneut; sie kennt solche Situationen nur zu gut. Trotzdem zuckt sie bei jedem Geräusch immer wieder zusammen.

Der Regen, der unaufhörlich auf die kaputten Dachrinnen prasselt, macht sie schier verrückt. Die grün karierte Steppjacke und die dünne Jeans, die sie trägt, sind völlig durchnässt. Die Kälte kriecht mit einer Erbarmungslosigkeit langsam, von den Fußsohlen bis zur Haarspitze, durch ihren Körper.

Die Nacht verabschiedet sich endgültig mit ihren düsteren Schatten und die Morgendämmerung bricht an.

Die unheimliche Begegnung

Auf einmal raschelt es erneut! Es ist ein anderes Rascheln, nicht das, welches sie vorhin vernommen hat. Instinktiv hört Franziska kurz auf zu atmen und versucht sich trotz der Kälte nicht zu bewegen.

Wild hämmernd drehen sich die Gedanken in ihrem Kopf, die ihr ständig zurufen:

»Die sind dir gefolgt! Die wollen dich jetzt auch abschlachten, wie den Mann in der Notunterkunft.«

Das Blut schießt ihr in den Kopf und schleichende Bestürzung lähmt ihre angespannten Muskeln. Allmählich kommen die Schatten unaufhaltsam auf sie zu.

Stocksteif, nicht mehr fähig, sich zu bewegen, steht sie in der Ecke. Hastig hält sie beide Hände vor ihren Mund, damit der Schrei ihre Kehle nicht verlässt. Im selben Augenblick trifft und blendet sie ein Lichtkegel erbarmungslos mitten in das Gesicht.