Manche Engel sterben früh - Margarete van Marvik - E-Book

Manche Engel sterben früh E-Book

Margarete van Marvik

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Beschreibung

Manche Engel sterben früh von Margarete van Marvik Als Ruths Mutter ein zweites Mal heiratet, erfährt Ruth durch ihren Stiefvater Liebe und Zuneigung. Dann bekommt sie jedoch ein Schwesterchen und von einem Tag auf den anderen verändert sich das Leben der sechsjährigen Ruth drastisch. Ihre Eltern haben nur noch Augen für "Engelchen Christin", Ruth existiert lediglich am Rande. Ruths seelisches und körperliches Leiden nimmt gefährliche Ausmaße an, sie bekommt Ausschläge, fängt an sich zu ritzen, säuft sich ins Koma … Am Ende der siebten Klasse bricht Ruth die Hauptschule ab und nimmt Gelegenheitsjobs an. Sie fasst einen Entschluss: Sie wird zu ihrer Tante Odette nach Berlin ziehen, die ihr angeboten hat, bei ihr zu wohnen, und ihr dort auch eine Arbeit verschaffen kann. Ruth legt regelmäßig Geld beiseite, um ihren "Rettungsplan" zu realisieren. Eines Tages ist es so weit: Ihre Flucht gelingt und sie fährt mit dem Zug nach Berlin, wo sie von ihrer Tante herzlich willkommen geheißen wird und mit deren Hilfe Fuß fasst. Mit der Zeit schafft sie es sogar, eine eigene kleine Wohnung zu mieten. Ruth spürt, sie kommt ihrer inneren Mitte immer näher … bis eines Tages die verhasste Halbschwester Christin vor der Tür steht … Mit ihrem neuen Roman ist es Margarete van Marvik mal wieder einmalig gelungen, durch und durch menschliche Themen wie die brennende Sehnsucht nach Liebe, Liebesentzug, Ungerechtigkeit, Verzweiflung, Gefühllosigkeit, Hass und Rache ganz individuell zu schildern – unverblümt und lebensecht, erschütternd und ergreifend.

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Margarete van Marvik

Mein besonderer Dank gilt

Lektorat, Korrektur

Alexandra Eryiğit-Klos

www.fast-it.net

Inhaltsverzeichnis

Manche Engel sterben früh

Rückblick

Ruths Geburtstag

Wegzug aus Heidelberg

Ruths Zuhause

Die Einschulung

Bittere Worte

Die Schulzeit

Das erschütternde Erlebnis

Tiefe Trauer um Silke

Flegeljahre

Bittere Erkenntnis

Auf dem Weg nach Berlin

Eine neue Perspektive

Eine eigene kleine Wohnung!

Gustav und Christin

Die Familie zerbricht

Gustavs Vergangenheit

Ankunft in Heidelberg

Eine trostlose Zukunft

Christin in Berlin, 28.Juli 1964

Christins Tagebuch

Tagebucheintrag 10.August 1963

Tagebucheintrag 16.August 1963

Tagebucheintrag 15.September 1963

Tagebucheintrag 20.September 1963

Tagebucheintrag 29.September 1963

Tagebucheintrag 04.Oktober 1963

Tagebucheintrag 13.Oktober 1963

Tagebucheintrag 16. Oktober 1963

Tagebucheintrag 20. Oktober 1963

Tagebucheintrag 22. Oktober 1963

Tagebucheintrag 08. November 1963

Tagebucheintrag 15. Dezember 1963

Tagebucheintrag 19. Dezember 1963

Tagebucheintrag 22. Dezember 1963

Tagebucheintrag Februar 1964

Tagebucheintrag April 1964

Tagebucheintrag 04. Mai 1964

Tagebucheintrag 15. Mai 1964

Tagebucheintrag Juni 1964

Tagebucheintrag Ende Juni 1964

Tagebucheintrag Anfang Juli

Tagebucheintrag Mitte Juli 1964

Tagebucheintrag Juli 1964

Tagebucheintrag 26. Juli

Letzter Tagebucheintrag 01. August 1964

Ruth ist zurück in der Gegenwart

Ruths Seelenpein

Zurück zu den Wurzeln

Karlsruhe

Mutter

Walter

Gustav

Das Wiedersehen

Die gnadenlose Wahrheit

Vater im Krankenhaus

Der unendliche Schmerz

Brief an Gudrun

Die Überführung

Der Abschied

Auge um Auge

Der nächtliche Besuch

Margarete van Marvik

Abriss „Albtraum“

Manche Engel sterben früh

Fünfzehnter August 1964

Ruth spürt die Kälte, die ihre Muskeln lähmen, nicht. Jegliches Leben ist aus ihren Adern gewichen. Sie fühlt nicht die Nässe in ihrer Kleidung, die den gesamten Körper erzittern lässt. Sie schaut ins Leere ‒ in ein tiefes schwarzes Loch.

Ihr Gesicht ist geschwollen von den vielen Tränen der Ratlosigkeit. Das Tagebuch ihrer kleinen Schwester hält sie, eingewickelt in eine Plastiktüte, so fest in ihrer Hand, dass die Knöchel an ihren Fingern weiß hervortreten. Sie fühlt sich ausgebrannt und murmelt immerzu: „Hätte ich die Tragödie wirklich verhindern können? Bin ich alleine schuld an ihrem Tod?“

Erneut wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie fühlt sich schuldig, schuldig am Tod ihrer kleinen Schwester.

Die vorbeilaufenden Menschen sehen mitleidvoll auf die junge zierliche rothaarige Frau mit dem Pagenkopf.

Ruth sitzt zusammengesackt auf einer Bank, unmittelbar an dem Tor zum Friedhofsgelände. Fröstelnd presst sie ihre Arme, die Plastiktüte fest in der rechten Hand haltend, an ihren Körper.

Die verwischte Schminke läuft in schwarzer und hellblauer Farbe von ihren Wimpern an ihren Wangen herunter. Geistesabwesend wischt sie die verlaufene Farbe mit dem linken nassen Ärmel ihrer hellen leichten Jacke aus dem Gesicht. Die tröstenden Worte einer fremden Frau, die neben ihr stehen geblieben ist, hört sie nicht. Alles um sie herum wirkt beklagenswert und öde. Selbst der Himmel mit seinen tief hängenden Wolken scheint in diesem Moment ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit zuzustimmen.

Nichts, aber auch gar nichts spürt sie von dem warmen Sommerregen am fünfzehnten August 1964, ihrem Lieblingsmonat.

Ruth ist abgetaucht in die Vergangenheit, in einen Abschnitt ihres jungen Lebens, den sie so gerne hinter sich gelassen hätte. Mit brachialer Gewalt, wie ein Bumerang, kommt ihre Kindheit zu ihr zurück. Der warme Sommerregen, der unaufhaltsam an ihrer leichten Sommerjacke herunterprasselt, stört sie nicht. In Gedanken reist sie zurück in ihre Kindheit.

Rückblick

Ruth ist am achtzehnten Juli 1943 in Heidelberg geboren und es sind nur noch zehn Tage bis zu ihrem siebten Geburtstag. Ihren richtigen Vater kennt sie nicht; er ist vor ihrer Geburt im Krieg gefallen. Ihren Stiefvater himmelt sie an, denn er ist groß, blond und stark.

Der 8. Juli 1950 ist ein wundervoller warmer Sommertag. Ruth freut sich auf diesen Nachmittag, denn sie wird mit ihrem Papa ins Schwimmbad gehen. Seit vier Wochen streicht sie jeden Abend auf ihrem eigens hierfür gebastelten Kalender einen Tag ab.

Den heutigen und letzten Tag des Wartens hat sie mit einem ganz dicken schwarzen Stift durchgestrichen. Ihre Badesachen sind schon seit Tagen gepackt, sodass sie die Tasche nur noch greifen muss.

Ruth ist ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Ihre roten, leicht welligen Haare, die sie schulterlang trägt, lassen sie wie einen kleinen Engel erscheinen. Aus ihren grünen Augen sprüht der pure Schabernack.

An diesem Tag stürmt Ruth in die Wohnküche; sie will direkt in Papas Arme fliegen, da … Jäh bleibt sie an der Türschwelle stehen, als sie erkennt, dass er nicht wie sonst in der Küche steht, wenn sie sich etwas vorgenommen haben.

Eine beklemmende Stille breitet sich im Raum aus. Zum ersten Mal hört sie das laute Ticken der uralten Küchenuhr, die sie überhaupt nicht leiden mag. Zutiefst enttäuscht, dass sie ihrem Dad nicht in die Arme fliegen kann, sieht sie sich wütend um und spricht trotzig mit sich selbst: „Er ist nicht da!“ Anklagend zieht sie ihre Schultern nach oben und lässt sie mit einem Ruck wieder nach unten fallen. Ihre gute Laune ist dahin und zornig ruft sie: „Dad, wo bist du? Sag doch etwas! Hast du vergessen, dass wir heute schwimmen gehen wollen?“ Demonstrativ steht sie in der Küche und wartet mit verschränkten Armen auf eine Antwort.

Doch nicht ihr Dad antwortet ‒ nein ‒ ein Babygeschrei aus dem angrenzenden Schlafzimmer dringt unüberhörbar zur Küche herüber.

Kritisch sieht sie sich um und hält die Luft an.Habe ich richtiggehört?,denkt sie verstört.Skeptisch legt sie den Kopf zur Seite und geht, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Schlafzimmer. Die Tür ist nur angelehnt; leise tastet sie sich näher heran und schiebt die Tür einen Spalt auf. Was sie sieht, raubt ihr den Atem!

Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund geht sie, mechanisch von einer unsichtbaren Hand gezogen, auf das Bett ihrer Mutter zu. In diesem Augenblick versteht und registriert sie in ihrem kleinen Kopf, wer ihren schönen Sommertag im Schwimmbad mit ihrem Dad zerstört hat.

Es ist das Baby im Arm ihres Vaters!

Wie vom Blitz getroffen starrt sie auf dieses schreiende Etwas in Papas Armen. Immer noch geschockt fragt sie ihren Vater stotternd: „W-wann gehen wir ins Schwimmbad? D-du hast doch versprochen, heute mit mir schwimmen zu gehen!“ Ihr Dad hört ihre Frage jedoch gar nicht, er ist völlig hin und weg vom Anblick seines Kindes.

Stattdessen ruft die Mutter ihr zu: „Sieh mal, das ist deine kleine Schwester; willst du sie nicht auf unserer Welt willkommen heißen?“Willkommen heißen?!Widerwillig bewegt sich Ruth einen Schritt vorwärts zum Bett ihrer Mutter und muss zusehen, wie ihr Dad mit verklärtem Blick das Baby umschlungen hält. Verständnislos wandert ihr Blick zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater und zuletzt zu dem Baby. Ruth fühlt sich restlos verraten von ihrem Dad, der wegen eines Babys die gemeinsame Verabredung hat platzen lassen.

Und was soll an diesem hässlichen Etwas mit knallrotem Kopf gefälligst schön sein?, geht es ihr durch den Kopf.Außerdem sind da, wo die Augen sein sollen, nur eitrige Schlitze zu sehen. Und sabbern tut die auch noch ‒ igittigitt!

Völlig aufgebracht, dass man ihr einfach so eine Schwester präsentiert, verschränkt sie trotzig die Arme. Um ihrer Empörung Nachdruck zu verleihen, stampft sie mit ihren kleinen Füßen mit aller Kraft auf den Boden.

Die Gedanken in Ruths kleinem Gehirn wirbeln wild durcheinander.Ich will doch gar keine Schwester; ich bin glücklich so, wie es ist, und das soll sich auch nicht ändern!

Mit gewaltiger Wucht wird ihr plötzlich klar, dass der kleine Störenfried ihr Leben verändern wird. Verzweifelt schreit sie: „Was ist auf einmal los mit euch, warum habt ihr mir nichts davon gesagt? Was habe ich falsch gemacht? Ihr wollt mich nicht mehr, deshalb habt ihr euch noch ein Baby gemacht, gebt es zu! Wir haben bisher doch so viel Spaß gehabt, auch ohne das Baby! Was habe ich euch denn getan?“

Ruth schluchzt vor innerer Zerrissenheit laut auf. Sie versteht ihre Eltern nicht mehr und glaubt mit einem Mal zu wissen, dass sie nicht mehr der Liebling ihres Vaters sein wird.

Sichtlich beherrscht zischt ihre Mama, die nun ebenfalls zornig geworden ist und offensichtlich kein Verständnis für Ruths seelischen Ausbruch hat, zurück: „Das verstehst du nicht Ruth, dafür bist du noch viel zu klein. Christin ist jetzt deine kleine Schwester. ‒ Basta! ‒ Keine Widerrede mehr, geh auf dein Zimmer.“

Vor lauter Zorn und Hilflosigkeit rennt Ruth weinend aus dem Schlafzimmer. Chaotische Gedanken schlagen in ihrem winzigen Kopf Purzelbäume und sie fragt sich immerzu:Was habe ich falsch gemacht? Warum wollen die plötzlich ein anderes Baby haben? Bin ich nicht mehr hübsch genug? Genüge ich ihnen nicht mehr zum Liebhaben? Warum haben sie mir nicht gesagt, dass Mama ein Baby im Bauch hat?

Ruths Geburtstag

Ruth erholt sich relativ schnell von ihrem ersten Schock. Seit ihre Schwester Christin auf der Welt ist, verbringt sie die meisten Tage bei ihrer Freundin Silke. Gemeinsam planen sie Ruths Geburtstagsparty, so wie jedes Jahr. Ruth wird ihren siebten Geburtstag feiern und freut sich auf die Einschulung Ende August. Letztes Jahr war sie durch eine Lungenentzündung ans Bett gefesselt gewesen. Die Einschulung ist daraufhin auf dieses Jahr verschoben worden. Darüber ist sie sehr traurig und enttäuscht gewesen.

Die Tage bis zu ihrem Geburtstag vergehen wie im Flug. Ruth glaubt ganz fest daran, dass ihre gemeinsame Mutter Gudrun, wie in den Jahren zuvor, die Feier ausrichten wird. Traurig ist sie allerdings, dass ihr Vater an ihrem Ehrentag keine Zeit für sie haben wird. Zwei Tage zuvor hat sie noch auf seinem Schoß gesessen, als er ihr entschuldigend erklärt hat: „Weißt du, als Polizist darf ich nicht einfach meinen Dienstplan ändern, außerdem muss ich Sonderschichten einlegen, damit ich euch ernähren kann, und überdies wollen wir doch aus diesem Loch hier raus. Das geht nur, wenn wir genügend Geld gespart haben. Du weißt, deine kleine Schwester Christin braucht noch zusätzlich Windeln, Milch und vieles mehr. Das muss alles erst verdient werden.

Es tut mir leid, meine Große, aber es geht wirklich nicht. Ich verspreche dir aber ganz fest, gemeinsam mit dir und deiner Freundin Silke ins Kino zu gehen. Es läuft gerade dein LieblingsfilmDas doppelte Lottchen.“ Ruth nimmt an diesem Abend die Erklärung ihres Vaters mit Enttäuschung hin; innerlich kocht sie vor Wut und grummelt in sich hinein:Schon wieder steht die blöde Schwester dazwischen.Wegen ihr gibt es schon seit Tagen nur Margarine mit Zucker auf dem Brot oder Brotsuppe mit dem Rest der übrig gebliebenen Milch. Oh Mann, wie sehr ich das hasse, und das alles nur wegen der blöden Schwester.

Ruth schiebt ihre Rachegedanken, die sie gerade übermannen, zur Seite und versucht sich auf den Kinobesuch zu freuen. Es ist für sie und ihre Freundin eine Seltenheit, einen Film auf so einer großen Leinwand zu sehen, denn einen Fernseher besitzen sie nicht, lediglich ein altes Radio.

Neugierig springt sie an diesem für sie so wichtigen Geburtstag aus ihrem Bett. Gut gelaunt zieht sie ihren dunkelblauen Trägerrock mit der weißen Rüschenbluse an. Diese Farbkombination mag sie gern, es passt gut zu ihren roten Haaren. Kindlich dreht sie sich vor dem Spiegel um die eigene Achse. Sie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Ruth lächelt ihrem Spiegelbild zu und flüstert: „Heute binIchetwas Besonderes und nicht meine blöde Schwester Christin.“

Vor einigen Tagen hat sie im Traum ihr buntes Fahrrad vor ihrem Bett stehen sehen. Sie war restlos enttäuscht, dass es nur eine Illusion gewesen ist.

Ihrer Mutter hatte sie das bunte Fahrrad im Fahrradladen Schiller auf dem Weg zum Einkaufen gezeigt. Es ist ein wunderschönes gebrauchtes Rad, mit knallgelbem Sattel, gelben Schutzblechen und gelber Klingel. Der Rahmen ist blau-weiß gestrichen. Ruth hat sich restlos in dieses Rad im Schaufenster verliebt. Sie nutzt jede Möglichkeit, der Mutter zu erklären, warum sie sich dieses Vehikel so sehr wünscht. Einen Schulbus gibt es noch nicht. Ruth erschaudert schon allein bei dem Gedanken, bei Hitze, Regen oder Schnee den langen Schulweg mit einer schweren Schultasche laufen zu müssen.

Mit gemischten Gefühlen geht sie in die Wohnküche. Ihre Mutter ist bereits damit beschäftigt, Christin zu wickeln. Sie scheint ziemlich genervt zu sein, dass Ruth mit schleichendem Schritt die Küche betritt.

Argwöhnisch setzt sich Ruth an den Tisch und stützt ihren kleinen roten Lockenkopf mit ihren Händen ab. Mit den Augen sucht sie in der Küche nach dem Fahrrad; es steht aber kein Rad im Raum! Es ist mucksmäuschenstill, sodass sie überdimensional die verhasste alte Küchenuhr ticken hört. Mit bösem Blick sieht sie dem gigantisch großen Zeiger, der wie ein riesiges Zeitmonster unaufhaltsam Minute für Minute weiterläuft, zu. Es vergehen zwanzig Minuten und ihre Mutter macht noch immer keinerlei Anstalten, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Ruth schließt fest ihre Augen und wünscht sich inbrünstig, dass ein wohlwollender Geist ihr gewünschtes buntes Fahrrad mit dem knallgelben Sattel vor ihr abgestellt hat. Nach dieser inständigen Bitte öffnet sie vorsichtig ihre Augen und ist schrecklich enttäuscht.

Nichts – einfach nichts – passiert in diesen Minuten – kein Fahrrad – kein Kuss – keine Umarmung – kein liebes Wort – einfach nichts!

Ruth starrt unentwegt mit ihren stechenden grünen Augen ihre Mutter an, die mit der kleinen Monsterschwester beschäftigt ist.

Sie spürt, wie ihre kleine Kehle auszutrocknen droht. Sie wagt nicht nach Luft zu schnappen; unruhig rutscht sie mit ihrem Po auf dem Küchenstuhl hin und her. Sie fühlt, wie der Zorn in ihrem Bauch Richtung Kopf krabbelt. Sie spürt, wie die Glut der Wut ihren roten Schopf erreicht. Angst macht sich in ihr breit, als eine Stimme in ihrem Kopf flüstert: „Gleich fängst du an zu brennen, du hast einen knallroten Kopf, die Farbe in deinem Gesicht ist kaum von deinen Haaren zu unterscheiden. Wenn du nicht aufpasst, bringt dein Zorn deinen kleinen hübschen Kopf mit einem Donnerknall zum Platzen.“

Schonungslos muss Ruth zusehen, wie die gemeinsame Mutter Christin knuddelt und abknutscht und wiederholt voller Entzückung wispert: „Ach, was bist du doch für ein kleiner süßer blonder Engel.“

Es trifft sie wie ein Hammerschlag, dass Mama tatsächlich ihren so wichtigen Tag ignoriert. Sie ist zutiefst verzweifelt.

Ihre Gedanken kreisen in ihrem schönen Kopf wild durcheinander:Bin ich zu einem Geist geworden? Sieht sie mich nicht am Küchentisch sitzen?Heimlich zwickt sie sich selbst, um auszukundschaften, ob sie noch lebendig ist. Die Spannung in ihrem kleinen Körper zerreißt ihr Herz und sie kann diesen emotionalen Stress nicht länger ertragen. Mit unbändiger Kraft stößt sie den Stuhl, auf dem sie sitzt, zur Seite. Es kracht so heftig, dass Christin anfängt zu schreien. Ruth ist es in diesem Augenblick völlig egal. Die abscheuliche Erfahrung der Missachtung durch ihre Mutter reißt ihr das Herz aus dem Körper. Schlagartig auftretende Bauchschmerzen lassen sie erschaudern. Ihr kleiner Brustkorb zieht sich zusammen, sie atmet schwer und glaubt ersticken zu müssen. Kleine bunte Kreise tanzen vor ihren Augenund wieder flüstert eine Stimme in ihrem Kopf:„Das tut dir richtig weh, so unendlich weh.“ Tränen kullern wie ein kleiner Wasserfall aus ihren katzengrünen schmalen Augen. Sie schreit ihren unsäglichen Zorn, den sie in diesen Moment fühlt und körperlich spürt, aus sich heraus: „Weißt du denn nicht, was für ein besonderer Tag heute für mich ist? Hä, weißt du’s wirklich nicht? Es ist mein Geburtstag!“ Bestürzt und mit unbeschreiblichem Hass kommen diese Worte aus Ruths kleinem Mund.

Nach diesem Gefühlsausbruch brennen ihre Hände so stark, als fasse sie ins offene Feuer. Ruth muss hilflos zusehen, wie an ihren Handoberflächen lauter kleine Pusteln entstehen, die anschließend zu eitern anfangen. Die Ärzte finden keine Erklärung für diese eitrigen Ausbrüche, die sich seit diesem Zeitpunkt wiederholen. Nach solchen Anfällen muss sie wochenlang Handschuhe tragen.

Ruth geht einen Schritt auf ihre herzlose Mutter zu und trommelt mit ihren zu Fäusten geballten kleinen Händen auf sie ein.

Die Mutter reagiert erbost und stößt sie ohne vorherige Warnung mit einer derartigen Wucht von sich, dass sie stolpert und unsanft auf dem Fußboden landet.

Augenblicklich wird es ruhig in der Küche, selbst das Baby hat das Schreien eingestellt. Wäre in diesem Moment eine Stecknadel auf den Boden gefallen, Ruth hätte sie gehört.

Perplex und fassungslos sieht sie ihre Mutter an, nicht fähig, auch nur ein Wort zu erwidern; sogar das Schluchzen bleibt ihr im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.

Die gemeinsame Mutter reagiert völlig emotionslos auf Ruths Wutanfall. Sie wendet sich wieder Christin zu und belehrt unterdessen Ruth tonlos: „Mein Kind, hast du immer noch nicht begriffen, dass ich momentan andere Sorgen habe, als an deinen blöden Geburtstag zu denken! Außerdem benötigen wir das Geld für das Baby und eine neue Wohnung. Das hat dir dein Vater doch vor ein paar Tagen erklärt. Hast du das etwa schon vergessen?“

Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen prasseln diese herzlosen Worte auf Ruth nieder.

Instinktiv duckt sie sich, wie ein verdroschener Hund.

Die gefühllose Reaktion ihrer Mutter reißt Ruth regelrecht den Boden unter den Füßen weg, die in ihren grellen gelben Socken stecken und die sie passend zu ihren Schuhen und in Erwartung des Fahrrades angezogen hat.

Wieder meldet sich die Stimme in ihrem Kopf und plappert unaufhörlich auf sie ein: „Was hast du nur getan, dass sie so sauer auf dich ist? Wieso hasst sie dich auf einmal so, dass sie dir nicht mal an deinem Geburtstag in den Arm nimmt?“,

Diese Gedanken bohren wie eine rotierende Bohrmaschine in ihrem Kopf.

Weinend rennt sie aus der Küche, knallt die Tür hinter sich zu und stürmt mit unsäglichem Zorn im Bauch die Treppen herunter, direkt auf die Straße.

Dort setzt sie sich, wie schon so viele Male in letzter Zeit, auf den Stufenabsatz vor den Hauseingang, während ihre Gedanken unaufhörlich weiterkreisen.Oh, wie sehr ich Christin hasse! Die ist an allem schuld! Wegen der wollen die mich nicht mehr haben! Ich bin denen doch nur noch lästig. Vielleicht sollte ich dieses abscheuliche Baby aus dem Fenster werfen oder lieber im Klo runterspülen. Besser ich gehe weg von hier. Was soll ich denn noch hier? Die werden nicht einmal merken, wenn ich fort bin.“

Zusammengekauert sitzt sie auf dem Treppenabsatz vor dem Haus undbetrachtet verzweifelt den uralten Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Traurig flüstert sie ihm zu: „Du lieber, armer Baum, du bist genauso traurig und einsam wie ich, weil niemand auf dir herumklettern will. Mich will auch niemand mehr haben.“

Um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, holt sie ihren bunten Peitschenkreisel aus der Tasche und peitscht verbissen auf den Kreisel ein. Dieser hüpft hin und her, sodass die bunten Farben immer schneller ineinanderlaufen. Ruth schwingt die kleine Peitsche schneller und schneller, als sei sie von Dämonenhand geführt.

Ihre unsägliche Enttäuschung, die Ohnmacht ihrer Hilflosigkeit und die Wut, die sich in ihr aufgestaut hat, all das überträgt sie auf den Kreisel.

Derart vertieft in ihrem Kreiselspiel hört sie nicht ihre Freundin Silke kommen. Silke ist ein Jahr jünger als sie und wohnt auf der anderen Straßenseite in einem Dreifamilienhaus. Silke ist fast einen Kopf größer als Ruth, dafür ein bisschen kräftiger in der Statur. Sie trägt ihre langen braunen Haare immer zu Zöpfen gebunden. Das deutlich gerötete und leicht rundliche Gesicht passt zu ihrer kleinen Augenform und ihren langen Zöpfen. Sie hat Silke direkt nach ihrem Zuzug nach Durlach kennengelernt, seitdem ist sie ihre beste Freundin.

Silke rüttelt Ruth an den Schultern. Sie erschrickt, ihre Freundin weinend und geistesabwesend mit ihrer Kreiselpeitsche in der Hand zu sehen.

Sie ist gekommen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

Silke bleibt stumm und nimmt Ruth tröstend in die Arme.

Schluchzend und empört, sich ständig an den Händen kratzend, stottert Ruth immer noch fassungslos vor sich hin:„Es gibt heute keine Geburtstagsparty; meine Mutter will mich nicht mehr haben, sie hat einen neuen Liebling, meinen Geburtstag hat sie extra vergessen.“

Stillschweigend und zutiefst erzürnt nimmt Silke Ruths Hand und zieht sie mit sich. Wortlos trippeln sie in Silkes Zimmer. Frau Mahler, Silkes Mutter, sieht fragend ihre Tochter an. Silke antwortet mit einem Schulterzucken.

Am Nachmittag, als Ruth sich ein bisschen beruhigt hat, erfährt Frau Mahler die traurige Geburtstagsgeschichte. Sie ist entsetzt und zornig über so viel Gefühlskälte und organisiert schnell Kuchen und Kakao, um Ruths Ehrentag gebührend zu feiern.

Es ist eine traurige Feier; Ruth und Silke kauen lustlos auf dem Kuchen herum. Jede ist mit ihren Gedanken auf einem anderen Schauplatz.

Alle Versuche, die beiden Mädels aufzumuntern, scheitern. Erst am Abend bringt Frau Mahler Ruth auf die andere Straßenseite bis vor die Wohnungstür.

Bestürzt stellt Ruth fest, dass sie nicht vermisst wird. Leise und geduckt, wie ein geschlagener Hund, schleicht sie in ihr Zimmer, welches sie in naher Zukunft mit ihrer verhassten Schwester wird teilen müssen. Ihr Vater ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Tränen schießen erneut in ihre Augen.

Verdrossen sieht sie sich in ihrem kleinen Zimmer um und fragt sich verzweifelt:Wo soll denn hier noch ein Schlafplatz hin? Es ist doch sowieso schon so eng. Lediglich ein Schrank und ein Bett finden in diesem Zimmer Platz.Unter dem kleinen Fenster hat vor einigen Tagen ihr Stiefvater einen Schreibtisch gebaut, damit sie demnächst ihre Schulaufgaben machen kann. Ruth denkt zurück an Heidelberg, das sie vor zwei Jahren für diesen kleinen Vorort von Karlsruhe verlassen musste.

Wegzug aus Heidelberg

Ich wollte überhaupt nicht weg aus Heidelberg, mit aller Macht habe ich mich dagegen gewehrt. So sehr habe ich mir gewünscht, in der Nähe meines Onkels zu bleiben. Onkel Fred, den Bruder meines Vaters, mochte ich sehr. Seine Geschichten liebte ich, die haben mich immer so gut abgelenkt, wenn ich traurig oder wütend gewesen bin. Mit seinen komischen Grimassen hat er mich so oft zum Lachen gebracht. Alles Bitten und Betteln, in Heidelberg bleiben zu können, hat nicht geholfen. Gnadenlos hat der Monstermöbelwagen alle Möbel, auch die aus meinem Zimmer, in seinem riesigen Bauch verschluckt.

Selbst mein Dad ist erbarmungslos geblieben und hat mich mit meinem Kummer allein gelassen.

Jetzt wohnen wir in einem Monsterhaus mit feuchten Wänden. Der Putz bröckelt von der alten Fassade und hat eine grässliche bräunliche Farbe.

Meine Mutter hat entsetzt geschrien: „So eine Ruine! In diesem Nest ist nichts wiederaufgebaut worden!

Hier bekomme ich ja Depressionen!“

Mir selbst haben die Beine geschlottert, so sehr habe ich mich gefürchtet, dieses alte und morsche Haus zu betreten. Inder Hauseingangstür fehlt das Glas, es gibt nur noch den Rahmen. Das Treppenhaus empfinde ich wie einen großen schwarzenMüllschlucker, in dem ich jederzeit hineingeworfen werden kann. Nur mit einem sehr beklemmenden Gefühl betrete ich dieses düstere und grässliche Treppenhaus.

Die Angst, dass dieses Loch mit den knarrenden Stufen und dieser grässlichen Tapete alle darin lebenden Menschen fressen könnte, lässt mich bis heute nicht los.

Ruths Zuhause

Ruth schüttelt ihre Gedanken ab und überlegt, ob sie nicht doch noch einmal in die Küche gehen soll. Vor ihrem Zimmer bleibt sie jedoch stehen und betrachtet die Wohnung, in der sie zu Hause ist.

Die Wohnung ist sehr klein und besteht nur aus einer Küche, die gleichzeitig auch als Wohnzimmer dient. Der Wohnraum ist durch eine große alte Ledercouch getrennt. Der Kohlen- und Küchenherd mit dem Kaminrohr steht an der Wand zur Straßenseite. Nur dieser Herd beheizt die gesamte Wohnung. Neben dem Ofen steht die Zinkbadewanne, hier werden die Windeln der Schwester gewaschen. Einmal wöchentlich darf sie in der Wanne baden, aber erst nachdem ihre Eltern gebadet haben. Meist ist das Wasser schon recht kalt. Über dem Kohlenküchenherd hängen die Windeln von Christin auf der Leine. Ein Nierencouchtisch mit einem alten grünen Cocktailsessel in der rechten Ecke füllt diesen ebenfalls dunklen Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine rustikale Essecke untergestellt. Einen Fernseher haben sie noch nicht. Lediglich ein altes Radio dekoriert den kleinen Schrank in der gegenüberliegenden Ecke. Die Stehlampe mit der gelblichen kelchförmigen Lampenverkleidung bringt ein wenig zusätzliches Licht in das trübe Zimmer. Dicke bunte Blümchenübergardinen wärmen im Winter noch zusätzlich die Wohnküche. Das Elternschlafzimmer ist winzig und feucht. Sämtliche Ecken sind mit Utensilien des täglichen Gebrauchs, wie Handtücher, Bettwäsche und Reservedosen, zugestopft. Die Toilette, die mit mehreren Familien geteilt wird, liegt eine halbe Etage tiefer im Treppenhaus.

Ruth wischt die traurigen Bilder mit einer Handbewegung weg und geht wieder zurück in ihr Zimmer.

Diesen, ihren besonderen Tag hat sie sich wahrhaft freundlicher vorgestellt. Sie fühlt sich seit der Geburt ihrer Schwester einsam und allein gelassen. Traurig schläft sie in der darauffolgenden Zeit Abend für Abend ein.

Sie verwindet es nicht, dass ihr Geburtstag einfach weggewischt worden ist.

So als wäre sie nie geboren worden.

Die Einschulung

Die Tage bis zu ihrer Einschulung im September vergehen wie im Flug. Seit dem Tag ihres vergessenen Geburtstages ist sie fast täglich Gast bei ihrer Freundin Silke. Was soll sie auch noch zu Hause? Das Baby schreit den ganzen Tag und die Mutter wird immer launischer.

Ihren Vater sieht sie kaum noch, er legt seit der Geburt von Christin viele zusätzliche Sonderschichten bei der Kripo ein. Ruth fehlt ihr Papa sehr, oft denkt sie an die schöne Zeit, wenn er ihr vor dem Einschlafen Geschichten vorgelesen und sie liebevoll in den Arm genommen hat.

Sie liebt ihren großen blonden Stiefvater; sie vergleicht ihn immer mit dem großen alten Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Groß und ganz mächtig.

Oft setzt sie sich unter diesen Baum, der ihr ein guter Freund und stiller Vertrauter geworden ist.

Seit einigen Tagen bereitet Ruth ihr Frühstück selbst zu. Überwiegend geht sie jedoch nach dem Aufstehen zu ihrer Freundin. Nur noch zum Schlafen kommt sie zurück in die Wohnung ihrer Eltern. Ruth glaubt, dass es der Mutter angenehm ist, sie so selten zu sehen.

Der heiß ersehnte Tag der Einschulung rückt näher. Ruths Neugier auf die Schule wächst ins Unermessliche. Inständig hofft sie, eine Schultüte mit Buntstiften, Radiergummi und Spitzer, so wie ihre Freundin Silke, zu bekommen. Schließlich hat ihre Mutter etwas gutzumachen. Die Schiefertafel und den dazugehörigen Griffel hat ihr Onkel Fred vor einigen Wochen aus Heidelberg geschickt. Einen alten Schulranzen aus abgespecktem Leder hat sie von einer Nachbarin, deren Tochter die Schule bereits abgeschlossen hat, bekommen.

Vor lauter Aufregung kann Ruth in dieser Nacht nicht einschlafen und zählt das Schlagen jeder vollen Stunde der Kirchturmuhr, die am Ende der Straße steht. Um sechs Uhr früh hält sie es nicht mehr aus und schleicht in die Wohnküche.

Sicherlich ist hier meine Schultüte versteckt, hofft sie zuversichtlich und sucht jede kleine Ecke ab. Egal, wo sie nachschaut, ob unter der Couch oder hinter dem Schrank, hinter der Kommode, im Schrank oder in der Toilette, die eine halbe Etage tiefer liegt; sie findet nichts ‒ einfach nichts.

Niedergeschlagen geht sie zurück in ihre kleine Kammer, setzt sich auf ihr Bett und weint leise vor sich hin.

Ihre Gefühle fahren Achterbahn; erst ist sie traurig, anschließend siegt die aufkeimende Wut und sie schlägt unmotiviert auf ihr kleines Kissen ein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigt sie sich und tröstet sich damit, dass ihre Mutter die Tüte bestimmt aus einem der verschlossenen Schränke im Schlafzimmer zaubert.

Um acht Uhr hält sie es in ihrer Kammer nicht mehr aus. Eilig zieht sie ihr Lieblingskleid an und kämmt ihre roten mittellangen lockigen Haare, die heute widerspenstig sind und sich kaum kämmen lassen. Während sie in Richtung Wohnküche läuft, denkt sie, dass die Mutter an diesem besonders wichtigen Tag mit dem Frühstück auf sie warten wird. Sie glaubt ganz fest daran, dass sie gemeinsam zur Einschulung gehen werden.

Gut gelaunt in der Küche angekommen, erkennt sie, dass der Frühstückstisch nicht gedeckt und Mutter nirgends zu sehen ist. Frustriert setzt sie sich an den Tisch und trommelt ungeduldig mit ihren kleinen Fingern auf die Tischplatte. Sie begreift in diesem Augenblick nicht, warum nicht wenigstens ihr heiß geliebter Vater an solch einem wichtigen Tag bei ihr ist.Bestimmt hat auch das mit meiner Schwester zu tun,denkt sie bitterböse.

Schmerzlich lenkt Ruth ihre Gedanken in Richtung Küchenuhr, damit sie nicht völlig durchdreht. Die Uhr kann sie schon lesen, darauf ist sie sehr stolz. Jetzt wünscht sie sich, dass es nicht so wäre; gebannt starrt sie auf die übergroßen Zeiger. Der kleine Zeiger bewegt sich erbarmungslos und unaufhörlich weiter, ohne dass ihre Mutter zu sehen ist. Es wird halb zehn und der Minutenzeiger tickt kaltblütig Runde für Runde. Wie mit einem Donnerschlag schlägt die Uhr die zehnte Stunde am Morgen. Entgeistert schaut sie zur Tür und glaubt noch immer, dass ihre Mutter mit einer Schultüte im Arm in die Küche geschwebt kommt.

Doch nichts dergleichen geschieht! Weder wird eine Schultüte aus dem Schrank gezaubert noch taucht ihre Mutter in Sonntagskleidung auf, um sie zur Schule zu begleiten. Ruth wartet geduldig, doch nirgendwo ist etwas von ihr zu sehen oder zu hören.

Ruth spürt, wie es ihr heiß den Rücken herunterläuft und ein unbändiger Zorn in ihr aufsteigt. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen und ihr Kopf läuft von einer Sekunde zur anderen rot an. Sie stampft hart mit ihrem Bein auf den Boden und schreit, was ihre Kehle hergibt. Ruths Hände jucken schon wieder verdächtig und schlagartig erscheinen kleine Bläschen auf dem Handrücken.

Ihre Mutter hört dieses ständige Klopfen auf den Boden und das wütende Geschrei ihrer Tochter.

Entrüstet kommt sie in die Küche gestampft und brüllt Ruth erbost an: „Was ist denn in dich gefahren; merkst du nicht, dass deine kleine Schwester schläft? Willst du sie mit deinem Getrampel und Geschrei etwa aufwecken? Mich hast du schon geweckt, ein paar Stunden Schlaf hätte ich noch gebrauchen können. Deine Schwester hat fast die ganze Nacht geschrien.“

Ruth erstarrt bei diesen mürrischen Worten und kann ihre Empörung, ihren Seelenschutt und die bittere Enttäuschung nun nicht mehr für sich behalten. Sie schreit zurück:

„Meine Schwester soll sich zum Teufel scheren, sonst packe ich sie und werfe sie in den Müllschlucker. Vielleicht merkst du dann, dass ich auch noch da bin! Soll ich jetzt etwa von der Schule wegbleiben, wegen der blöden Kuh?! Willst du das wirklich?