Alchemised - SenLinYu - E-Book

Alchemised E-Book

SenLinYu

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Beschreibung

"Wen glaubst du zu beschützen? Der Krieg ist vorbei. Holdfast ist tot. Die Ewige Flamme ist erloschen. Es gibt niemanden mehr, den du retten kannst." Helena Marino ist die letzte Überlebende des Widerstands, vergessen in Gefangenschaft. Bis sie durch einen Zufall in die Hände von Kaine Ferron gerät, dem erbarmungslosen High Reeve. Eingesperrt auf seinem eisernen Anwesen, will Helena die letzten Geheimnisse des Widerstands wahren, während Kaine versucht, mit alchemistischer Gewalt in ihren Kopf einzudringen. Denn Helena erinnert sich nicht an die letzten Jahre des Krieges. War sie wirklich nur eine einfache Heilerin in den Reihen der Ewigen Flamme? Helena ringt um ihr Überleben – und beginnt zu ahnen, dass Kaine und sie weit mehr verbindet, als ihre Feinde je erfahren dürfen …  Alchemised ist eine düstere Fantasy mit einer epischen Liebesgeschichte.

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Seitenzahl: 1693

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alchemised

SenLinYu wuchs an der US-Nordpazifikküste auf und lebt in Portland. Sen hat Classical Liberal Arts and Culture studiert und fing mit dem Schreiben von Fanfiction an, während ihr Baby schlief. Sen erlangte auf Archive of Our Own internationale Bekanntheit, und ihre gesammelten Werke wurden über 20 Millionen Mal heruntergeladen und in 23 Sprachen übersetzt. Alchemised ist ihr erster Roman.

Christiane Sipeer studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und überträgt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, unter anderem von Esther Perel und Kate Young. Sie lebt in Leipzig.

Karen Gerwig studierte Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften in Germersheim und Rennes. Seit 2004 arbeitet sie hauptberuflich als Literaturübersetzerin für Französisch und Englisch und wurde für ihre Arbeit mit diversen Stipendien ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören Meena Kandasamy, Melissa Broder, Hiromi Goto und Cherie Jones.

Lisa Kögeböhn studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Strasbourg. Seit 2010 übersetzt sie Romane und Sachbücher aus dem Englischen, darunter Autorinnen wie Coco Mellors, Megan Nolan und Jenny Mustard. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Sybille Uplegger studierte englische und amerikanische Literaturwissenschaft und Philosophie in Bamberg und Seattle, ehe sie nach Berlin zog, um dort als freie Übersetzerin zu arbeiten. In ihrer Freizeit erkundet die sportbegeisterte Mutter eines Sohnes verschiedene Laufstrecken rund um die Hauptstadt oder ist mit ihrem Bogen auf dem Schießplatz anzutreffen.

„Wen glaubst du zu beschützen? Der Krieg ist vorbei. Holdfast ist tot. Die Ewige Flamme ist erloschen. Es gibt niemanden mehr, den du retten kannst.“

Helena Marino ist die letzte Überlebende des Widerstands, vergessen in Gefangenschaft. Bis sie durch einen Zufall in die Hände von Kaine Ferron gerät, dem erbarmungslosen High Reeve. Eingesperrt auf seinem eisernen Anwesen, will Helena die letzten Geheimnisse des Widerstands wahren, während Kaine versucht, mit alchemistischer Gewalt in ihren Kopf einzudringen. Denn Helena erinnert sich nicht an die letzten Jahre des Krieges. War sie wirklich nur eine einfache Heilerin in den Reihen der Ewigen Flamme? Helena ringt um ihr Überleben – und beginnt zu ahnen, dass Kaine und sie weit mehr verbindet, als ihre Feinde je erfahren dürfen … 

Alchemised ist eine düstere Fantasy mit einer epischen Liebesgeschichte.

SenLinYu

Alchemised

Roman

Aus dem Englischen

Forever by Ullsteinwww.ullstein.de

www.ullstein.deForever by Ullstein

© 2025 by SenLinYu© der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected] auf Seite 1222: © AvendellUmschlaggestaltung: zero-media.net, Münchennach einem Design von Regina FlathUmschlagabbildung: © Eva Eller / FinePic®, MünchenAutorinnenfoto: © Katy WeaverE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-98978-068-2

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil I

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil

II

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Teil

III

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Epilog

Anhang

Danksagung

Hinweise zum Inhalt

Wichtige Figuren

Glossar

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil I

Widmung

Für Jame, weil Du mich gefunden hast.

Anmerkung: Dies ist ein fiktives Werk, das sich mit den finstersten Aspekten von Krieg und Überleben auseinandersetzt. Lesende sollten nach eigenem Ermessen verfahren. Weitere Einzelheiten sind in den Hinweisen zum Inhalt auf Seite 1226 zu finden. Hinten im Buch befinden sich zudem eine Liste der wichtigsten Figuren sowie ein Glossar.

Teil I

Prolog

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Helena fragte sich manchmal, ob sie noch Augen hatte. Die Dunkelheit, die sie umgab, war unendlich. Anfangs dachte sie, wenn sie nur lange genug wartete, würde irgendein Lichtschimmer auftauchen, oder es würde jemand kommen. Aber solange sie auch wartete, nichts geschah.

Nichts als endlose Dunkelheit.

Sie hatte einen Körper, sie spürte ihn um sich wie einen Käfig, aber keine Anstrengung oder Entschlossenheit der Welt konnte ihn in Bewegung versetzen. Er schwebte reglos und starr vor sich hin, wenn er nicht unter den Stößen heftig zusammenzuckte – elektrische Impulse, die sie vom Nacken her durchfuhren und jeden Muskel sich verkrampfen ließen. So schnell sie kamen, verschwanden sie auch wieder. Sie waren der einzige Hinweis, dass Zeit verging.

Sie dienten dazu, ihre Muskulatur nicht vollends verkümmern zu lassen, während sie sich im Zustand der Stasis befand. An dieses Detail konnte Helena sich erinnern. Und daran, dass sie als Gefangene dort gelandet war und konserviert wurde, bis sie eines Tages wieder herausgeholt würde.

Zuerst hatte sie die Zeit zwischen den Stößen gemessen, um ihre Frequenz zu berechnen. Sekunde für Sekunde gezählt. Zehntausendachthundert. Alle drei Stunden, ohne Ausnahme. Dann hatte sie die Stöße gezählt, aber als die Zahl immer höher wurde, hatte sie aufgehört. Sie wollte es nicht wissen.

Sie zwang sich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Nicht auf das Warten. Nicht auf die Endlosigkeit. Nicht auf die Dunkelheit. Sie musste warten, also verschaffte sie sich eine Routine, um ihren Geist lebendig zu halten. Fantasiespaziergänge. Klippen und Himmel. Sie suchte alle Orte auf, an denen sie je gewesen war. Alle Bücher, die sie gelesen hatte.

Sie musste ausharren. Auf der Hut bleiben. Dann wäre sie bereit. Sie musste unbedingt bereit sein.

Sie würde nicht zulassen, dass sie wegdämmerte.

Kapitel 1

Das plötzliche Licht riss Helenas Gehirn beinahe entzwei.

Schreie ertönten.

»Scheiße! Wieso ist die hier wach?« Eine Stimme durchbrach die qualvollen Sinneseindrücke.

Das Licht durchbohrte sie. Wie ein Speer, durch die Augen in den Schädel gerammt.

Götter, ihre Augen.

Sie wand sich. Die Helligkeit ließ alles verschwimmen, brachte sie ins Schlingern. Flüssigkeit schoss ihr brennend die Kehle hinab. In ihren Ohren dröhnte es.

Glitschige Finger packten sie am Arm, an den Knochen, und zerrten sie hoch. Luft drang in ihre Lunge, und sie zog sich zusammen, stieß die Flüssigkeit wieder aus.

»Verdammt, das Stasis-Gel. Ich bekomme sie kaum zu fassen. Sie soll die Klappe halten! Sie ertränkt sich noch.«

Sie schlug mit dem Kopf auf, als sie fallen gelassen wurde. Schürfte sich an rauem Stein die Hände auf. Sie tastete blind umher, versuchte, sich aufzurichten. Obwohl sie die Augen zukniff, steckte das Licht noch immer als Messer in ihrem Schädel. Ein harter Gegenstand wurde von ihrem Nacken gerissen, und etwas Warmes, Nasses lief ihr über die Haut.

»Wieso zum Teufel ist sie wach? Da muss jemand die Dosis verhauen haben. Lasst sie nicht wegkriechen.«

Wieder wurde sie an den Armen gepackt und hochgehievt.

Sie befreite sich aus dem Griff und riss die Augen auf. Aber sie sah nur blendendes Weiß. Sie stürzte sich darauf.

»Miststück, du hast mich geschnitten!«

Sie spürte einen explosionsartigen Schmerz am Hinterkopf.

Es war immer noch hell, als sie wieder zu sich kam.

Doch die Helligkeit brach schleichend herein, als würde sie unter Wasser langsam auf eine gekräuselte Oberfläche zuschwimmen, während ihr Bewusstsein erwachte. Sie hatte die Augen geschlossen, das Licht war direkt davor. Es tat jetzt schon weh.

Sie lag auf etwas Hartem. Ein kalter Tisch, sie spürte das träge Metall unter den Fingern.

Sie vernahm Stimmen, gedämpft, aber in der Nähe.

»Also?« Eine Frauenstimme. »Waren da noch mehr?«

»Nein.« Eine Männerstimme. Die von vorhin. »Wir haben alle rausgezogen. Nur die hier war falsch gelagert.«

»Und sie war bei Bewusstsein, als Sie den Tank geöffnet haben?«

»Und ob. Hat angefangen zu schreien, als wir den Deckel abgenommen und sie rausgeholt haben. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, das kann ich Ihnen sagen. Willems war so erschrocken, dass er sie um ein Haar ertränkt hätte, und als sie draußen war, hat sie sich aufgeführt wie ein wildes Tier. Hat mich wie von Sinnen gekratzt, bis wir sie k. o. geschlagen haben. Der intravenöse Zugang war zwar noch drin, aber die Sedierung war abgeschaltet. Da muss jemand dran gewesen sein.«

»Das erklärt nicht, warum es keine Unterlagen über sie gibt«, erwiderte die Frau. »Schon merkwürdig.«

»Wahrscheinlich musste es schnell gehen. Die kann noch nicht lange hier gewesen sein. Selbst die korrekt Gelagerten sind größtenteils tot. In den meisten Tanks ist nur noch Knochensuppe.« Der Mann lachte nervös.

»Das finden wir raus, wenn ich sie in der Zentrale habe.« Die Frau klang desinteressiert. »Gut, dass Sie es gemeldet haben. Das ist abnormal. Geben Sie mir Bescheid, wie viele von den anderen aufwachen. Die Leichen, die intakt genug zur Wiedererweckung sind, kommen in die Minen. Den lebenden Bestand schicken wir an den Außenposten.«

»Sehr wohl. Und Sie werden doch ein gutes Wort für mich einlegen, oder? Von Ihnen würde das viel bedeuten.« Der Mann klang hoffnungsvoll und sein Lachen gezwungen. »Werde ja auch nicht jünger, wissen Sie.«

»Der High Necromancer erhält viele Anfragen. Ihre Dienste werden nicht vergessen. Machen Sie einen Wagen zum Transport fertig.«

Darauf entfernten sich Schritte, gefolgt von einem verärgerten Seufzen.

»Du brauchst gar nicht bewusstlos tun. Ich weiß, dass du wach bist. Augen auf«, sagte die Frau. »Ich habe deine Sinne modifiziert, das Licht sollte also erträglich sein.«

Helena spähte vorsichtig durch die Wimpern.

Die Welt ringsum dämmerte grünlich, alle Formen wirkten schattenhaft. Eine verschwommene Gestalt bewegte sich zu ihrer Rechten.

Sie folgte ihr mit schwerfälligem Blick.

»Gut. Du befolgst Anweisungen und kannst Bewegung erfassen.«

Helena wollte etwas sagen, stieß aber nur ein leises Keuchen aus.

Ein Stift klickte, und Papier raschelte.

»Also, bist du Gefangene Nummer 1273 oder Nummer 19819? Du hast zwei Häftlingsnummern, und in dieser Einrichtung gibt es zu keiner von beiden eine Aufzeichnung. Hast du zufälligerweise einen Namen?«

Helena schwieg. Nun, da die Vorstellung von Licht allein sie nicht mehr in Angst und Schrecken versetzte, konnte sie ein wenig nachdenken. Sie war immer noch eine Gefangene.

Die Frau schnaubte ungeduldig. »Verstehst du mich?«

Helena gab keine Antwort.

»Tja, anscheinend darf ich hier nicht viel erwarten. Wir werden es ohnehin bald erfahren. Na los, bringt sie rüber.«

Die Gestalt entfernte sich, und neue tauchten auf. Sie spürte kalte Finger an ihren Handgelenken. Der Gestank nach chemischen Konservierungsmitteln und gammelndem Fleisch brannte ihr in der Nase. Leibeigene. Sie versuchte, Gesichter zu erkennen, aber ihre Augen wollten sie nicht recht erfassen, ihr Blick blieb unscharf.

Der Tisch vibrierte, als er über Steinboden gerollt wurde, und sie spürte die Erschütterung durch den Schädel bis in die Zähne.

Dann war es so hell, als würden ihr Nadeln in die Netzhaut gestochen. Sie schrie leise auf und kniff wieder die Augen zu.

Eine ruckartige Aufwärtsbewegung, von der ihr schlecht wurde. Dann herrschte wieder Dunkelheit, und irgendwo unter ihr erwachte ein Motor zum Leben.

Sie musste entkommen. Als sie versuchte, sich zu bewegen, schepperte Metall.

»Bleib liegen.« Die Frauenstimme war plötzlich wieder da. Ganz nahe.

Helena zuckte zurück, rang nach Luft und riss mit Händen und Füßen an ihren Fesseln. Sie musste fliehen. Sie musste …

»Mach es mir nicht noch schwerer«, sagte die Frau in eisigem Ton.

Helena spürte Finger am Hinterkopf, und ein Energiestoß durchflutete ihr Gehirn.

Erneute Dunkelheit.

Jähe Qualen und plötzliche Angst schreckten Helena aus der Bewusstlosigkeit.

Sie fuhr hoch, riss die Augen auf und sah gerade noch, wie eine Spritze fortgezogen wurde. Eine Kette spannte sich straff, und sie fiel wieder nach hinten, ihr Herz raste, jeder Schlag so schmerzhaft, als sei es durchbohrt worden.

»Na, na.« Die Spritze fiel klappernd auf ein Metalltablett rechts von ihr. »Damit solltest du wieder klar und gesprächig werden.«

Es war die Frau von vorhin.

Helena lag nicht mehr auf dem Metalltisch. Sie spürte unter sich eine harte Matratze, und überall roch es streng nach Desinfektionsmitteln.

Über ihr wölbte sich eine dunkle, graue Decke.

Trotz der Schmerzen strömte plötzlich Energie durch ihre Adern, wuchs zu brodelnder Hitze an, die in ihren Händen glühte, als sie sie bewegte. Sie merkte, wie ihr Bewusstsein sich schärfte, alles wurde heller, klarer. Sie wand sich, und Metall schnitt in ihre Handgelenke.

»Nichts da. Du brichst dir eher die Knochen, als dass du die Handschellen aufbekommst. Beantworte meine Fragen, und ich lasse dich vielleicht aufstehen, bevor die Wirkung nachlässt. Andernfalls soll das nämlich ganz schön schmerzhaft sein.«

Helena konnte sich nicht rühren, dafür lief ihr Verstand auf Hochtouren. Eine Injektion, irgendein starkes Stimulans. Weil die Energie sonst nirgends hinkonnte, strömte sie in ihr Gehirn, und ihre wirren, panischen Gedanken bündelten sich kristallklar.

»Helena Marino. Du«, sie hörte Papier rascheln, »solltest laut deiner Akte mit der Nummer 1273 tot sein. Du warst als Ausschuss markiert, wegen nicht näher bezeichneter ›massiver Verletzungen‹. Die Akte mit der Nummer 19819 besagt hingegen, du seist für die Stasis ausgewählt worden.« Wieder Rascheln. »Allerdings gibt es keine Aufzeichnungen darüber, dass du je dort angekommen oder abgefertigt worden wärst.« Die Frau biss sich nachdenklich auf die Lippe. »In unseren Akten existierst du seit Augustus letzten Jahres überhaupt nicht mehr. Seit vierzehn Monaten. Und jetzt entdecken wir dich in genau der Stasis-Lagerhalle, in der du nie angekommen bist. Wie kann das sein?«

Helena blinzelte langsam und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Vierzehn Monate?

»Offensichtlich kann niemand so lange in Stasis überleben. Selbst ein halbes Jahr ist unter optimalen Bedingungen so gut wie unmöglich, und du warst ja nicht mal korrekt verwahrt. Also, wo kommst du her? Wer hat dich dort hingebracht?«

Helena wandte den Kopf ab und weigerte sich, zu antworten.

Die Frau brummte vor sich hin und trat näher heran. »Du bist nicht in Schwierigkeiten. Sag mir einfach die Wahrheit, dann ist das alles hier vorbei. Wo warst du, bevor du in Stasis versetzt wurdest?«

Sie betonte jedes Wort der Frage.

Helena erwiderte nichts, obwohl ihr Kiefer sich nach Bewegung sehnte. Sie fing an, am ganzen Körper zu zittern, als ihr Herzschlag die Droge weiter durch ihre Adern pumpte.

Da war niemand mehr, den sie beschützen konnte, aber sie weigerte sich, mit ihren Peinigern zu kooperieren. Ihnen irgendetwas zu erleichtern, und sei es bloß ihre Buchführung.

Außerdem war sie nirgends sonst gewesen.

»Wo. Warst. Du. Vor der Stasis?« Die Frau sprach nun lauter.

Helenas Kehle schnürte sich zu, sie wollte nicht einmal an die Antwort denken, weil die Erinnerung sie zerriss.

Vorher war sie mit all den anderen gefangen genommen und in Käfige vor dem Alchemieturm gesperrt worden, wo sie den »Feierlichkeiten« zum Kriegsende zusehen mussten.

Sie roch immer noch den Qualm und das Blut in der Sommerhitze, hörte den lautstarken Jubel, als die Anführer des Widerstands starben, hörte ihre Schreie verstummen. Sie hatte sie sterben sehen und dennoch gewusst, dass es nicht vorbei war, immer noch nicht.

Denn jedes Mal war irgendein Nekromant aus der Menge nach vorn geeilt, hatte sich unbedingt beweisen wollen, und nur Sekunden später war die Leiche wieder aufgestanden. Menschen, denen Helena vertraut oder gedient hatte, wurden wiedererweckt. Leibeigene, leere Automatenleichen. Sie wurden aufgeschlitzt, ihre Haut hing in Fetzen, die Organe herausgeschnitten, die Augen leer und das Gesicht erschlafft, dann nutzte man sie, um den nächsten »Verräter« auf noch brutalere Weise zu töten.

Die Hinrichtungen dauerten an, bis die Luft von einem roten Blutnebel erfüllt war.

General Titus Bayards Leiche wurde dazu eingesetzt, seine Frau zu töten. Ganz langsam. Er musste die Stücke essen, die er aus ihr herausschnitt.

Jeder Tod hatte Helena etwas genommen, bis ihre Brust eine leere Höhle der Trauer war. Als niemand mehr übrig war, der einer öffentlichen Hinrichtung wert war, hatte man sie in den Stasis-Tank gesteckt.

Die anderen Gefangenen waren bewusstlos gewesen, als man sie lähmte, ihnen Nadeln in die Venen stach, Schläuche in die Nase schob und Beatmungsmasken vors Gesicht schnallte. Helena nicht.

Sie hatte man wach gehalten, damit sie sich des klaustrophobischen Grauens bewusst war, während sie in ihrem eigenen Körper eingeschlossen und der Dunkelheit überlassen wurde. Darauf warten musste, dass jemand sie befreite.

Was einfach nicht passierte.

Ein Fingerschnippen vor Helenas Gesicht riss sie aus ihren Erinnerungen. Die Frau starrte sie an.

»Ich lasse mir von einer fehlerhaften Akte nicht den Ruf versauen. Wenn du nicht antwortest, war es das mit der sanften Methode.«

Helena zuckte zusammen.

»Na, siehst du? Du verstehst mich also doch.«

Ihr Magen verkrampfte sich, aber sie biss fest die Zähne zusammen.

Die Frau trat näher. Helena musterte sie angestrengt. Ein kantiges Gesicht mit ungeduldig geschürzten Lippen. Arztkittel.

»Vielleicht sollte ich dir mal ein Beispiel geben.« Die Frau drückte Helena die Hand gegen den Hals. Helena sog scharf die Luft ein, als brennend kalte Energie durch ihr Rückgrat schoss.

Es war kein elektrischer Stoß wie im Tank, nein, es bohrte sich wie eine Nadel von der Hand der Frau in Helenas Körper. Der Energiestrom klang in ihr nach wie eine Stimmgabel, bis beide auf derselben Wellenlänge schwangen.

Die Frau krümmte die Finger. Schmerz erfasste jeden Nerv in Helenas Körper. Sie schrie atemlos und krächzend auf, verkrampfte sich und zerrte an ihren Handschellen.

»Halt still.«

Ein Schnippen, und Helena erschlaffte. Unterhalb der Brust spürte sie nichts mehr. Als wäre ihre Wirbelsäule durchtrennt worden. Ihr Blut kochte vor lauter Panik.

Die Frau machte eine Handbewegung, und die leere Taubheit verschwand wieder.

Seifenraue Finger strichen gefährlich über Helenas Arm.

»Verstehst du nun?«

Die Resonanz der Frau durchströmte sie immer noch, eine körperliche Warnung. Helena gelang es, schwach zu nicken. Es hätte ihr klar sein müssen: Die Frau war Vivimantin. Der Spiegelzwilling der Nekromantie, eingesetzt bei den Lebenden statt bei den Toten.

»Ich wusste, dass du es begreifen würdest. Versuchen wir es noch mal.«

Helenas Kehle wurde eng, ihre Augen brannten, jeder einzelne Nerv zuckte, ihr Blut rauschte in den Ohren. War es so schlimm, wenn sie antwortete?

»Woher kommst du?«

»Wa… im La…hausss.« Helena kämpfte mit ihrer Zunge.

»Hör auf mit dem fremden Kauderwelsch. Sprich Paladianisch«, fuhr die Frau sie an.

Es gab keine paladianische Sprache; die Frau sprach nördlichen Dialekt. Das hätte Helena gern erwidert, hielt es aber nicht für hilfreich. Sie schluckte und setzte erneut an, doch ihre Zunge ließ sie wieder die Silben verschlucken.

Die Frau seufzte. »Wieso müsst ihr Widerstandskämpfer immer meine Zeit vergeuden? Vielleicht sollten wir deinem Gehirn einen Schock verpassen, damit du wieder anständig sprechen kannst.«

Diesmal packte sie Helena am Kopf. Von beiden Seiten durchfuhr sie eine Resonanzwelle, als hätte man zwei Becken aneinandergeschlagen.

Alles wurde rot. Aus Helenas Kehle löste sich ein animalischer Schrei.

Die Hände wurden wieder weggerissen. »Was in aller Welt?«

Helena wusste nicht genau, ob die Frau im Kreis lief oder ob der Raum sich drehte.

»Was ist das? Wer hat das mit dir angestellt?«

Helena schaute benommen nach oben, während das Rot wieder aus ihrem Sichtfeld verblasste. Ihre Hände zuckten und verkrampften sich, rüttelten wie von selbst wild an den Ketten. Sie wusste nicht, was mit der Frage gemeint war.

»In deinem Kopf wurde etwas gemacht.« Die Frau klang perplex, aber auch seltsam aufgeregt. »Eine Art Transmutation. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Das muss ich melden. Ich brauche einen Spezialisten. Du hast …« Sie unterbrach sich. »Dafür gibt es keinen Namen! Ich muss mir einen ausdenken …«

Sie schien in erster Linie mit sich selbst zu sprechen. »Transmutationsbarrieren in einem Gehirn. Wie ist das möglich? Ich habe noch nie … Dadrin sind … Muster.«

Sie berührte Helena erneut. Helena schrak zusammen, aber diesmal war die Resonanz nicht als Folter gedacht, nur ein Energieschauer in ihrem Gehirn, der alles wieder entsetzlich rot färbte.

»Das ist ausgefeilte, wunderschöne, professionelle Arbeit. Ein Vivimant hat dein Bewusstsein von Hand neu vernetzt.«

Helena lag da und verstand kein Wort.

Das Gesicht der Frau kam ihr so nahe, dass sie tiefe Fältchen rund um die blauen Augen und am Mund ausmachen konnte. Sie starrte Helena mit gieriger Faszination an.

»Wenn Bennet noch da wäre, würde er staunen, wie präzise die Arbeit ist.« Resonanz streifte so spürbar durch Helenas Geist, als würden Finger ihren Schädel von innen abtasten. Die hellen Augen der Frau blickten ins Leere, während sie weitermachte. »Ein klitzekleiner Fehler irgendwo, und du wärst nicht mehr zu gebrauchen, doch wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat dich beinahe völlig unversehrt gelassen. Einfach genial.«

»Waa…ss?« Endlich bekam Helena ein ganzes Wort heraus.

»Ich frage mich … wie es wohl aussieht?« Die Frau entfernte sich und kehrte kurz darauf mit einer Glasscheibe in der Hand zurück.

Helena kniff die Augen zusammen und erkannte den Gegenstand. Ein Resonanzschirm. Solche kamen regelmäßig bei akademischen Vorführungen und alchemistischen Medizinbehandlungen zum Einsatz. Das Gas darin spiegelte mithilfe reaktiver Partikel die Form und das Muster eines Resonanzkanals wider.

Die Frau hielt die Scheibe nach oben, die andere Hand legte sie Helena auf die Stirn und lenkte Resonanz in ihren Schädel. Wieder sah Helena Rot, doch sie spähte hindurch und sah zu, wie die trübe Wolke zwischen den Glasschichten die Form eines menschlichen Gehirns annahm und schließlich ein unbegreifliches Spinnennetz aus Linien bildete, die sich in alle Richtungen verzweigten.

»Ich bezweifle zwar, dass du irgendetwas davon verstehst, aber stell dir deinen Verstand als eine Art … Stadt vor. Deine Gedanken wandeln durch verschiedene Straßen, um ihr Ziel zu erreichen. Diese Linien da zeigen, dass deine Straßen umgeleitet wurden. Es gibt Barrieren, geschaffen durch Transmutation, also hat jemand, um die natürlichen Wege zu umgehen, alternative Strecken durch dein Gehirn angelegt. Manche Bereiche sind gänzlich abgeschnitten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was das für Fähigkeiten voraussetzen würde …«

Die Frau verstummte, legte den Resonanzschirm beiseite und sah Helena prüfend an.

»Wer hat an dir gearbeitet?« Die Frage stellte sie laut, langsam und überdeutlich.

Helena schüttelte bloß den Kopf.

Die Miene der Frau versteinerte bedrohlich, aber dann schien sie es sich anders zu überlegen. »Woher solltest du das auch wissen, bei dem Zustand, in dem dein Gehirn ist. Wahrscheinlich kannst du froh sein, wenn du deinen Namen noch kennst. Du warst Alchemieschülerin, nehme ich an.« Sie tippte beiläufig auf die Metallfessel an Helenas Handgelenk.

Helena nickte vorsichtig.

»Und aus dem Ausland. Eindeutig.« Sie musterte Helena von oben bis unten.

Helena schluckte. »Etras.«

»Ach, ganz schön weit fort von zu Hause. Erinnerst du dich noch an dein Resonanzrepertoire?«

»Di…vers.«

»Hmm.« Die Frau zog die Brauen zusammen und betrachtete Helena noch eingehender. »Moment. Ich habe schon von dir gehört. Du bist das kleine Genie, das die Holdfasts unter ihre Fittiche genommen haben. Das muss über zehn Jahre her sein, also bist du jetzt wie alt? Anfang zwanzig?«

Helenas Augen brannten, und sie nickte steif.

Die Frau zog eine Augenbraue hoch. »Weißt du noch, was mit deinem Förderer passiert ist, Prinzipat Apollo?«

»Ermordet.«

»Mhmm. Und der Krieg. An den erinnerst du dich bestimmt auch. Hast du dem Holdfast-Jungen geholfen, die Stadt niederzubrennen? Euer liebster Luc, so habt ihr ihn doch alle genannt, oder?«

Helenas Kehle wurde eng. »Ich habe nicht … gekämpft.«

Die Frau gab ein Geräusch der Überraschung von sich, und ihre Augen wurden schmal. »Aber die Endschlacht? An die musst du dich doch erinnern?«

Helena klappte mehrmals den Mund auf, versuchte, ihre Zunge unter Kontrolle zu bringen. »Wir … Der … der Widerstand hat verloren. Es gab … Hinrichtungen. M-morrough kam … ganz am Schluss. Er … er hatte Luc. Hat ihn dort … getötet. Dann … dann haben sie … haben sie mich in die Lagerhalle gebracht.«

»Wer sind ›sie‹?«

Helena schluckte schwer. »Die Lichs.«

Die Frau lachte vor sich hin. »Dieses Wort hat sich schon lange niemand mehr auszusprechen getraut. Die Todeslosen, welche Gestalt sie auch haben mögen, sind die hochrangigsten Anhänger des High Necromancers. Ihre Unsterblichkeit ist der Lohn für ihre Leistung. In dieser neuen Welt holt der Tod nur die Unwürdigen. Egal, wie beleidigend du wirst, deine Freunde sind diejenigen, die nur noch Asche und bald vergessen sind.«

Sie tippte Helena gegen die Stirn. »Du scheinst allerdings ziemlich intakt zu sein. Wieso der ganze Aufwand? Und wer könnte überhaupt …?« Die Frau nahm den Resonanzschirm, warf noch einen Blick darauf und verschwand hinter einem Vorhang.

Helena war erleichtert, dass sie fort war.

Ihre Erinnerung oder ihr Verstand waren verändert worden?

Das hätte sie für eine Lüge gehalten, hätte sie nicht den Resonanzschirm gesehen. Sie wusste, wie ein Gehirn aussehen sollte. Es bräuchte hochgradig spezialisierte und umfassende Vivimantie, um einen Geist in diesen Zustand zu transmutieren.

Das würde man nicht vergessen, wenn es einem passiert wäre.

Doch sie hatte nicht das Gefühl, etwas vergessen zu haben, abgesehen von der massiven Verletzung, die in ihrer Akte erwähnt wurde.

Sie erinnerte sich an keine Verletzung, bloß an Schock, Trauer und Grauen.

Sie schluckte und blinzelte heftig, wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Sie sah sich um und versuchte, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Was auch immer man ihr injiziert hatte, war ein gnadenlos wirksames Mittel. Auf ihrer Brust bildete sich ein deutlicher Bluterguss, dort, wo die Nadel in ihr Herz eingedrungen war. Es tat bei jedem Schlag weh.

Sie blickte nach unten. Das Bett hatte an beiden Seiten Stangen, an denen ihre Handschellen befestigt waren. Ihre Haut war gereizt und mit blauen Flecken übersät, und unter den Handschellen war an jedem Handgelenk ein grünlicher Metallring zu erkennen.

Diese Ringe waren ihr zumindest vertraut. Sie waren während der Feierlichkeiten um ihre Handgelenke gelegt worden.

Im Dunkeln, unter all dem Blut, beim schwachen Licht der Fackeln und dicht an die anderen im Käfig gedrängt hatte sie sie zwar kaum sehen können, aber sie erinnerte sich daran.

Im Stasis-Tank war ihr die ganze Zeit über bewusst gewesen, wie die Ringe ihre Handgelenke umschlossen. Ihre Existenz war am Rand ihres Bewusstseins präsent geblieben, hatte unentrinnbar ihre Resonanz unterdrückt und jede Form der Transmutation verhindert, mit deren Hilfe sie vielleicht hätte entkommen können.

Selbst im Tank hatte sie das Lumithium in ihrem Inneren gespürt.

Lumithium konnte von Natur aus die vier Elemente miteinander verbinden – Luft, Wasser, Erde und Feuer –, und aus dieser Verbindung entstand Resonanz.

Dem Glauben zufolge war die Resonanz ein Geschenk Sols, der Gottheit der elementaren Quintessenz, das die Menschheit aufwerten sollte. Resonanz war in vielen Teilen der Welt eine seltene Fähigkeit, aber nicht in der von Sol auserwählten Nation Paladia. Eine Erhebung vor dem Krieg hatte ergeben, dass beinahe ein Fünftel der Bevölkerung einen messbaren Grad an Resonanz aufwies. Diese Zahl sollte sich mit der nächsten Generation weiter erhöhen.

Normalerweise wurde Resonanz in der Alchemie von Metallen und anorganischen Verbindungen genutzt, wodurch es zur Transmutation oder Alchemisierung kam. Doch eine schadhafte Seele, die sich gegen Sols Naturgesetze auflehnte, konnte die Resonanz korrumpieren und Vivimantie ausüben – wie die Frau sie an Helena angewandt hatte – oder Nekromantie, mit der die Leibeigenen erschaffen wurden.

Als Element der Resonanz konnte Lumithium diese in inerten, trägen Objekten verstärken oder sogar erzeugen, wenn sie damit in Berührung kamen, und sie somit alchemistisch formbar machen. Reines Lumithium war jedoch zu heilig für Sterbliche; übermäßiger Kontakt führte zu zehrender Krankheit und bei Personen mit Resonanz zu starken, metallischen Nervenschmerzen.

Das Lumithium in den Fesseln schien Helena nicht krank zu machen, also war es irgendwie abgewandelt worden. Die schneidende Energie war auf ihre Resonanz gerichtet, aber statt sie zu reizen, betäubte sie ihre Sinne. Sie spürte ihre Resonanz, doch wenn sie sie steuern wollte, verursachten die Fesseln eine Art Nervenrauschen. Wie sehr sie es auch versuchte, sie konnte es nicht überwinden.

Sie wusste nur eins: Solange sie diese Fesseln trug, war sie keine Alchemistin mehr.

Kapitel 2

Irgendwo in der Nähe war ein Leibeigener. Weil Helena allein war und sich konzentrieren konnte, roch sie das verwesende Fleisch und die chemischen Konservierungsmittel. Die Todeslosen benutzten die Toten wie Marionetten und ließen sie unangenehme körperliche Arbeiten verrichten. Helena fragte sich, welchem Zweck dieser diente, und hielt nach Schatten hinter den Vorhängen Ausschau.

»Marino?«

Ihr Name wurde so sacht geflüstert, es hätte auch ein Windhauch sein können.

Als Helena sich umdrehte, sah sie jemanden durch den Spalt lugen. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte gerade so ein blasses Gesicht und helles Haar.

»Marino, bist du das?«

Helena nickte, obwohl sie immer noch nicht wusste, wer es war.

»Ich bin es, Grace. Ich war Helferin im Hospital.« Die junge Frau schob sich durch die Vorhänge. Sie sprach mit deutlich nördlichem Akzent, der die Konsonanten besonders hart klingen ließ.

»Tut mir leid, ich bin … desorientiert«, antwortete Helena.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.« Grace kam näher, und ihre jugendlichen, aber eingefallenen Züge lösten sich aus der Dunkelheit. Sie wirkte verängstigt und neugierig zugleich.

Helena riss die Augen auf.

Grace’ Gesicht war durch Narben entstellt, lange Schnitte zerfurchten ihr Wangen, Kinn und Nase. Nicht wie nach einem Unfall. Die Verletzungen waren mit Absicht zugefügt worden.

Helena wollte die Hand heben, doch die Ketten an ihren Handschellen waren zu kurz. »Was ist passiert?«

Grace sah verwirrt aus, folgte Helenas Blick und berührte ihr Gesicht. »Ach, die Schnitte? Die haben wir alle.«

»Was? Wieso sollten die Lichs …«

Grace schüttelte energisch den Kopf. »Nicht so laut.« Sie schaute sich hastig um und schnüffelte, dann sah sie Helena mit ärgerlichem Ausdruck an. »Sie lassen die Grauen manchmal lauschen. Hier drin ist auch einer, riechst du das nicht? Du kannst die Todeslosen nicht einfach Lichs nennen.« Sie flüsterte das Wort. »Wenn sie das hören, dann gibt es … Konsequenzen.«

Helena nickte rasch, weil sie befürchtete, Grace könnte weglaufen, wenn sie nicht aufpasste.

Grace schlich näher heran.

»Das waren nicht die Todeslosen.« Sie deutete auf ihr Gesicht. »Das waren wir selbst. Die Todeslosen können mit uns machen, was sie wollen – mit allen, von denen es heißt, dass sie zum Widerstand gehörten. Heutzutage hält man sich Graue statt Personal. Aber manchmal … wollen sie auch einfach etwas zum Spielen. Für Partys … oder die Nacht danach.« Sie verzog das Gesicht. »Niemand tut was dagegen. Selbst diejenigen, die weder Todeslose sind noch zu einer Gilde gehören, machen mit, weil sie sich davon bessere Chance versprechen, selber Unsterblichkeit zu erlangen.«

Grace zuckte knapp und hölzern mit den Schultern. »Aber wenn man kaputt aussieht, behalten sie einen nicht lange.« Sie holte stockend Luft und sah Helena an. »Wo bist du gewesen?«

Helena schüttelte den Kopf und versuchte zu verarbeiten, was Grace gesagt hatte. »Sie haben mich in eine Lagerhalle gebracht, nachdem …«

Grace verengte die Augen.

Helena suchte in ihrem Gesicht nach einer Antwort. »Ist die Ewige Flamme noch …«

»Nein.« Grace schüttelte heftig den Kopf, und ihre Miene verfinsterte sich. »Sie sind alle tot. Jeder Einzelne. Nachdem Luc ermordet wurde, haben sie den Rest von uns zum Fabrikaußenposten unter dem Staudamm geschickt. Die meisten dürfen ihn nicht verlassen. Erst nach Monaten guter Führung kann man die Erlaubnis bekommen, und wir müssen die hier tragen.« Sie hielt das Handgelenk hoch, um das ein Kupferring gelegt war, heller und enger als Helenas. »Wir müssen uns jeden Morgen und Abend melden und abends rechtzeitig zurück sein. Wenn jemand länger als vierundzwanzig Stunden abwesend ist …« Grace schluckte. »Wenn Gefangene nicht wiederkommen, wird der High Reeve losgeschickt, um sie aufzuspüren, und wenn er sie zurückbringt, sind sie immer tot. Die Aufseherin hängt sie gern auf, lässt sie manchmal tagelang hängen, und wenn sie anfangen zu verwesen, erweckt sie sie wieder, und sie müssen eine Weile bei uns ›arbeiten‹, dann werden sie in die Minen geschickt. Damit wir die Regeln nicht vergessen.«

»Wer …?« Helena zwang sich, die Frage zu stellen, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte.

Grace zögerte, ihr Blick wurde weicher. »Lila Bayard war die Erste, die er eingefangen hat.«

Grace sprach weiter, aber Helena hörte sie nicht mehr. Sie hörte nur »Lila Bayard war die Erste« in Endlosschleife.

Nicht Lila …

Grace’ Stimme drang langsam wieder in ihr Bewusstsein. »Die Aufseherin ließ sie in eine paladianische Rüstung stecken und am Tor postieren. Da war sie schon eine Weile tot. Sie muss weit gekommen sein. Ihr Gesicht war zum größten Teil weg, und die Beinprothese hatte sie auch nicht mehr, also haben sie eine Stahlstange angeschweißt, damit sie aufrecht stehen bleibt. Sie … Sie kann sich kaum bewegen. Steht einfach da. Wir kommen jeden Tag an ihr vorbei.« Grace schien Helenas Gesichtsausdruck endlich zu bemerken und senkte den Blick. »Sie ist nur noch ein Skelett. Die Aufseherin findet es … lustig.«

Helena schüttelte den Kopf, wollte es nicht glauben, aber natürlich war Lila tot. Damit sie Luc gefangen nehmen und töten konnten, mussten sie seine Paladine beseitigen, denn diese hatten einen Schwur geleistet, für den Prinzipaten zu sterben.

Helena schluckte heftig. »Aber irgendwo müssen doch … Der Widerstand …«

»Es gibt keinen Widerstand!«, flüsterte Grace eindringlich. »Meinst du, wir Übrigen hätten weitergekämpft, nachdem alle von der Ewigen Flamme tot waren? Es hat keinen Zweck. Der High Reeve tötet jeden. Der kleinste Hinweis, ein Raunen genügt schon, und man wird umgebracht. Er hat ein … ein Monster für die Jagd. Es hat keinen Sinn, wegzulaufen oder Widerstand zu leisten oder sich zu organisieren, es sei denn, du willst die nächste Leiche sein.«

Helena schwieg. Grace betrachtete sie argwöhnisch, zappelte vor sich hin und schien bereit, jeden Moment loszurennen.

»Wer ist der High Reeve?« Helena hoffte, zumindest diese Frage könne sie gefahrlos stellen. Sie hatte keinerlei Erinnerung an den Titel.

Grace schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er trägt immer noch einen Helm, wie die Todeslosen während des Krieges. Der High Necromancer ist zu wichtig, um öffentlich aufzutreten, also schickt er stattdessen den High Reeve. Er ist eine Art Vivimant, aber nicht so wie die anderen. Er tötet Menschen, ohne sie auch nur zu berühren.«

»So funktioniert Resonanz nicht.« Helena korrigierte sie reflexartig. »Wenn es kein Schema gibt, muss durch direkten Kontakt ein stabiler Kanal erzeugt werden, dann …«

»Ich weiß, wie Resonanz funktioniert«, fiel Grace ihr ins Wort. »Aber ich habe es selbst gesehen. Letzte Woche …« Grace’ Stimme versagte, sie schluckte mehrfach. »Es gab einen Schmugglerring. Wegen der Getreideknappheit. Das meiste, was wir am Außenposten bekommen, ist verdorben. Ein paar Leute haben zusätzliche Lebensmittel organisiert. Es war nicht mal viel, aber der Aufseherin ist zu Ohren gekommen, dass die Gefangenen zusammenarbeiten. Zehn insgesamt. Öffentliche Hinrichtung. Der High Reeve hat alle gleichzeitig erledigt. Und zwar ›sauber‹, damit sie in den Lumithium-Minen länger durchhalten.«

Grace schien beim Sprechen zu schrumpfen, als würde die Erinnerung sie lähmen. »Jetzt geht es nur noch ums Überleben. Nur darauf kommt es an.« Den letzten Satz flüsterte sie vor sich hin.

»Was machst du hier, Grace?«, fragte Helena und sah sich halb blind um. »Das ist nicht … Wir sind hier nicht am Außenposten, oder?«

Grace schüttelte den Kopf. »Nein. Das hier nennen sie jetzt ›Zentrale‹. Hier finden die ganzen Experimente der Todeslosen statt. Ich …« Sie stockte. »Ich habe drei kleine Brüder. Alle noch zu jung, um sich zu verpflichten, also standen sie nicht auf der Widerstandsliste. Mein Bruder Gid ist bald alt genug zum Arbeiten, dann kann er den Außenposten verlassen und echten Lohn verdienen. Wir … wir müssen nur bis dahin durchhalten.«

»Grace …«

»Sie zahlen richtig gut für Augen. Nur eins, und wir hätten genug für Monate.«

Helena sah sie entsetzt an. »Wozu brauchen sie Augen?«

Grace schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich will bloß das Geld.«

Wäre Helena nicht ans Bett gekettet gewesen, hätte sie die Hand nach Grace ausgestreckt.

»Grace, wenn du das tust … Das kann man nie wieder heilen …«

Grace lachte unvermittelt auf, fast wie von Sinnen. »Ich weiß, dass Augen nicht nachwachsen. Deswegen zahlen sie ja so gut.«

»Ja, aber …«

»Warum sollte ich sie behalten?« Grace klang beinahe hysterisch. »Damit ich mit beiden Augen zusehen kann, wie meine Brüder verhungern? Es gibt nichts zu essen!« Nun flüsterte sie nicht mehr. Die Narben in ihrem Gesicht röteten sich und traten noch deutlicher hervor. »Du weißt nicht … Du hast keine Ahnung, wie es jetzt ist. Wo warst du denn? Warum hast du Luc nicht gerettet? Es war deine Aufgabe. Er ist tot! Wir haben es alle mitangesehen. Und die Bayards sind auch tot. Alle von der Ewigen Flamme sind tot – außer dir. Und da soll ich mich um meine Augen scheren?«

Bevor Helena etwas erwidern konnte, näherten sich Schritte.

Grace machte ein verängstigtes Gesicht und ergriff die Flucht.

Die Vorhänge auf der anderen Seite teilten sich, und mehrere Gestalten wurden sichtbar. Als eine davon herantrat, erkannte Helena die Frau, die sie verhört hatte. Ihr Gesicht wirkte angespannt.

Die anderen konnte Helena nicht erkennen, aber sie waren so unnatürlich grau, dass sie sofort eine Gänsehaut bekam.

»Die hier ist es«, sagte die Frau. »Gut gesichert, wie ich Ihnen gesagt habe.« Sie warf den Gestalten, die sich im Kollektiv zu bewegen schienen, einen nervösen Blick zu.

Leibeigene. Alles Leibeigene.

Die Frau sah Helena an. »Der High Necromancer verlangt nach dir. Er will deiner Untersuchung persönlich beiwohnen.«

Helenas Brust zog sich zusammen, und sie zerrte an ihren Fesseln. »Nein.«

Sie konnte ihm nicht gegenübertreten. Das einzige Mal, als sie den High Necromancer – Morrough – gesehen hatte, hatte er Luc getötet.

Luc, der ihr alles bedeutet hatte.

Helena hatte sich dem Widerstand angeschlossen und dem Orden der Ewigen Flamme die Treue geschworen – nicht aufgrund ihres Glaubens, sondern wegen Luc Holdfast. Denn auch wenn sie vielleicht nicht an die Götter glaubte, an ihn hatte sie geglaubt, daran, dass er gut und menschlich war und sich um andere sorgte.

Sie hatte geschworen, alles für ihn zu tun.

Doch er war vor ihren Augen gestorben.

Ihre Kehle schnürte sich fest zusammen. »Nein«, wiederholte sie, als ihr Bett sich ruckartig in Bewegung setzte und ihre Peiniger sie wegschoben, ohne sie zu beachten.

Bei den Aufzügen erkannte Helena ihre Umgebung wieder, verstand, was die Zentrale war. Die Kunstwerke waren verschwunden, ohne die Porträts und Vergoldungen blieben kahle, trostlose Wände zurück, aber das verzierte Metall der Aufzugstür war ihr vertraut.

Sie hatte es jeden Tag gesehen, seit sie zehn war.

Sie war im Alchemieturm. Im Herzen des Alchemistischen Instituts, das die Holdfasts gegründet hatten.

Hier war die Zentrale.

»Was habt ihr getan?« Ihre Stimme zitterte vor Trauer und Abscheu. »Was habt ihr getan?«

»Beruhig dich«, stieß die Frau zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und warf Helena einen missbilligenden Blick zu. Dann behielt sie wieder die Leibeigenen ringsum im Auge.

Helena konnte sich nicht beruhigen. Es war, als würde sie nach Hause kommen und feststellen, dass nichts mehr von der alten Behaglichkeit übrig war, die Schönheit ruiniert und alles Vertraute zugrunde gerichtet.

Helena war durch die halbe Welt gereist, um in diesem Turm zur Schule zu gehen. Luc war so stolz auf das Institut gewesen, das seine Familie errichtet hatte. Es war das Herz Paladias gewesen. Sie hatte es durch seine Augen betrachtet, seine Geschichte und Bedeutung erkannt. Nun war es geplündert und geschändet.

Lucs Verlust war unermesslich, aber um diesen Ort konnte sie trauern. Sie stieß ein lautes Schluchzen aus.

Helenas Hinterkopf wurde gepackt, sie spürte, wie sich Nägel in ihre Haut gruben.

Sie fiel in ein Loch. Immer tiefer.

Ein langer Tunnel. Taumelnde Dunkelheit.

Kalte, tote Hände und Verwesungsgeruch.

Sie kam langsam zu sich, als sie auf einen Untersuchungstisch geschnallt wurde. Über ihr strahlte grelles Licht, blendete sie so, dass sie den Raum nicht erkennen konnte.

Neben Helena stand ein kleiner Mann mit gerümpfter Nase, der ihr Gesicht unentwegt mit verschwitzten Fingerspitzen berührte, ihr zwischen den Augen, an den Schläfen und am Schädel herumtastete.

»Das ist … ein ziemliches Wunder menschlicher Transmutation, muss ich sagen.« Der Mann sprach schnell und mit hoher Stimme. Er hatte einen Akzent – nicht den nördlichen Dialekt, sondern etwas westländisch Klingendes. »Derart geschickte Vivimantie ist … ein Wunder. Sie hatten absolut recht, mich zu rufen.«

Darauf folgte langes, beklemmendes Schweigen.

Er hustete. »Aber das Problem ist … das hier ist … unmöglich. Es kann nicht sein.«

»Offensichtlich ist es doch möglich. Den Beweis haben wir hier vor uns«, widersprach die Frau energisch über Helena hinweg. Sie war im Schatten kaum zu erkennen.

»Ja, in der Tat, Doktor Stroud. Natürlich ist es so, wie Sie sagen. Doch der Einsatz von Vivimantie an einem Gehirn war schon immer eine äußerst heikle Angelegenheit. Eine Transmutation dieser Größenordnung und Komplexität liegt jenseits aller wissenschaftlichen Möglichkeiten. Das Gedächtnis ist sehr rätselhaft, sehr variabel und beweglich. Kein fester Ort, sondern … eine Reise des Geistes. Ein Pfad. Je wichtiger der Pfad, je öfter er beschritten wird, desto breiter ist er. Je weniger er passiert wird« – seine Finger flatterten – »desto eher verschwindet er.«

»Kommen Sie zur Sache«, sagte die Frau – Doktor Stroud.

»Gewiss. Im Gehirn gibt es Bereiche, die verändert werden können. Im Labor haben wir zahllose menschliche Gehirne viviseziert und auf verschiedene Weise wieder zusammengesetzt, teils mit Erfolg und teils … ohne. Diese Transmutation allerdings betrifft vielmehr … die Gedanken. D-d-die Erinnerung. Was hier gemacht wurde …« Etwas Nasses traf Helena im Gesicht, und sie begriff, dass der Schweiß des Mannes auf sie tropfte. »Dies ist eine Veränderung des Unveränderlichen. Jemand hat die Pfade ihres Geistes abgerissen und Umleitungen dafür gebaut. Wie war das möglich, ohne all ihre Gedanken und Erinnerungen zu kennen? Nein, nein. Das ist wissenschaftlich betrachtet unmöglich.«

»Ich dachte, der Verstand sei Ihr Spezialgebiet.« Eine tiefe, raue Stimme erklang aus der Dunkelheit.

Der Mann wimmerte und sah aus, als ob er gleich weinen würde. »Das … das Gehirn, Eure Eminenz.« Er verbeugte sich in Richtung der Schatten. »Aber diese Arbeit übersteigt mein Verständnis. Bennet und ich … Erinnert Ihr Euch an unseren Beitrag zu Eurer Sache? Ich hoffe es … Erinnerungen können nicht einfach nachgebildet werden; sie müssen vom Verstand, vom Geist geformt werden. Der Geist kann von außen nicht verändert werden … Das … das Fieber …«

»Kann man freilegen, was darin verborgen ist?«

Der Mann klappte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch und starrte in die Dunkelheit, als rechne er damit, von ihr verschlungen zu werden.

»Die Holdfasts sind tot.« Wieder die raue Stimme. »Die Ewige Flamme wurde ausgelöscht. Was hätten sie in ihrem Geist verstecken sollen?«

Die Frage erntete bloß Schweigen.

»Wer hat sie in die Lagerhalle gebracht?«

Stroud trat vor. »Den Akten zufolge hatte Mandl damals die Aufsicht. Das war kurz vor ihrem Aufstieg und der Versetzung an den Außenposten.«

»Lassen Sie sie holen.«

Stroud nickte und verschwand. Daraufhin rührten sich die Schatten.

Helena beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Morrough aus der Dunkelheit trat.

Der High Necromancer sah anders aus als in ihrer Erinnerung. Als er Luc getötet hatte, war er ein Mensch gewesen. Nun war er mutiert. Seine Gliedmaßen ragten auf unnatürliche Art hervor, und er war beinahe so groß wie zwei Männer.

Zuerst dachte sie, er trüge eine Maske. Während der Feier war der High Necromancer maskiert gewesen, hatte eine riesige goldene Sichel getragen, die sein halbes Gesicht verbarg wie eine Sonnenfinsternis.

Als er näher kam, erkannte sie jedoch, dass es keine Maske war. Morroughs Gesicht war wie ein Totenschädel, seine Züge so eingefallen und die Haut so durchscheinend bleich, dass sie die Knochen darunter sehen konnte.

Wo seine Augen hätten sein sollen, lagen zwei leere schwarze Höhlen, als wären sie ihm mit glühenden Kohlen herausgebrannt worden.

Trotzdem schien er Helena sehen zu können.

Er ging mit ausgestreckter Hand vorwärts, doch etwas daran stimmte nicht: Die Haut war eigenartig gespannt, die Hand wirkte zu gelenkig. Hatte zu viele Knochen. Noch bevor seine Finger ihre Haut berührten, schoss ihr seine Resonanz schmerzhaft durch den Schädel.

Ihr Sichtfeld färbte sich rot.

Schreie quälten ihre Trommelfelle und wollten nicht aufhören, während Erinnerungen in ihrem Kopf explodierten. Eine Flut an Bildern ergoss sich in ihrem Bewusstsein.

Wo sie auch hinsah, starben Menschen. Ihre Hände waren voller Blut. Überall lagen Leichen.

Sie kniete am Boden, hielt verzweifelt Oberkörper, Gesichter und Gliedmaßen fest, wollte sie wieder zusammensetzen, intakte Körper daraus machen. Wieder und wieder und wieder. Körper voller Verbrennungen, so verkohlt, dass sie keine Gesichter mehr erkannte.

Immer noch ein Körper und noch einer.

Die Resonanz drang immer tiefer vor, und das Schreien wurde lauter.

Sie sah Luc. So lebendig, als würde er vor ihr stehen. Sein wunderschönes Gesicht, die Augen so blau wie ein Sommerhimmel, in ihnen spiegelte sich goldenes Sonnenlicht.

Dann war Luc fort. Überall Blut. Sie sah nur noch rötliches Licht, gebrochen und zerfasert, verschwommen über ihr. Und da waren Schreie.

Ihre Schreie. Ihre Stimmbänder waren rau, ihre Lunge und ihr Hals schmerzten fürchterlich. Jeder keuchende Atemzug ein Stich durchs Herz.

Der Mann murmelte unaufhörlich vor sich hin: »Ich würde davon abraten …« Dabei hielt er sich schützend die Arme vor den Kopf.

Es klopfte an der Tür, und Stroud kehrte zurück. Sie würdigte Helena kaum eines Blickes.

»Mandl ist auf dem Weg. Und …« Sie zögerte. »Ich habe Shiseo mitgebracht. Ich dachte, vielleicht kann er uns etwas zu dieser Gefangenen sagen. Immerhin hatte er mit der Ewigen Flamme zu tun. Sie braucht ohnehin einen neuen Aufhebungssatz. Da dachte ich, den kann er vor seiner Abreise noch anbringen.«

Etwas raschelte leise im Dunkeln, und Helena verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf den Verräter zu erhaschen.

Ein Mann mit rundem Gesicht und dunklem Haar erschien. In der Hand hielt er ein kleines Etui. Er verbeugte sich ehrfürchtig vor dem High Necromancer.

Morrough bedeutete ihm, sich Helena zu nähern. »Welche Arten von Vivimantie hat die Ewige Flamme eingesetzt?«

Shiseo trat vor, und Helena erkannte, dass er aus dem Osten stammte. Und zwar aus dem fernen Osten. Er fing ihren vorwurfsvollen Blick nur kurz auf, dann schaute er weg.

»Entschuldigt«, er verbeugte sich erneut, »ich wurde nur hin und wieder wegen meiner metallurgischen Kenntnisse zurate gezogen.«

Helena atmete erleichtert auf.

»Irgendwas wissen Sie doch bestimmt, immerhin haben Sie in den Laboren des Widerstands gearbeitet«, gab Stroud ungeduldig zurück. »Erkennen Sie die Gefangene wenigstens?«

Shiseo sah Helena kaum an.

»Ich glaube, sie war Heilerin«, antwortete er leise und wandte sich wieder seinem Etui zu.

Helena verkniff sich ein Zucken.

Stroud sah sie streng an und verengte die Augen zu Schlitzen.

»Wirklich? Heilerin, sagen Sie?« Stroud klang gehässig. Dann räusperte sie sich und blickte in die Runde. »Mir war natürlich bekannt, dass es Vivimanten gab, die die Ewige Flamme unterstützt haben. Wohl in der Hoffnung, dass sie sich als Märtyrer Akzeptanz verschaffen könnten, obwohl der Glaube ihre Gabe als Frevel ansah.« Ihre Augen glühten zornig. »Mir war bloß nicht klar, dass das hier eine davon ist.«

Niemand sagte etwas. Stroud lief rot an. »Es wäre mir bestimmt aufgefallen, wenn ich Zeit gehabt hätte, ihre Widerstandsakten zu finden. Aber warum sollte man den Geist einer Heilerin transmutieren?«

Shiseo verbeugte sich nun vor Stroud. »Dazu kann ich nichts sagen.«

Im Raum machte sich wachsende Unruhe breit.

Morrough seufzte geräuschvoll. »Er weiß nichts. Er soll die Aufhebung anbringen und verschwinden.«

Shiseo verneigte sich, hob Helenas Hand so weit wie möglich an und untersuchte das Handgelenk und den Ring darum. Er hatte weiche Hände für einen Metallurgen.

»Das ist … ein sehr altes Modell. Es unterdrückt die Resonanz nicht vollständig.« Er schob die Fessel so weit wie möglich Helenas Unterarm hoch, und es kam ihr vor, als würde das Rauschen der Unterdrückung ebenfalls in Richtung ihres Gehirns geschoben.

Er griff nach ihrem Arm und ertastete geschickt die Kuhle unterhalb des Handgelenks zwischen den beiden Unterarmknochen.

Ihr Puls trommelte gegen seine Finger. Er fühlte ihn einen Augenblick, dann ließ er los, drückte noch einmal kurz zu und drehte sich zu Stroud um. »Genau hier.«

Stroud schlang die trockenen, festen Finger um Helenas Handgelenk. Sie spürte ein kurzes Kribbeln von Strouds Resonanz, dann verlor sie jegliches Gefühl von der Hand bis zum Ellbogen, und ihr ganzer Körper war gelähmt. Ohne Erklärung oder Warnung holte Stroud etwas aus dem Etui. Es glänzte im Licht, und Helena erkannte den knollenförmigen Griff und die spitze Nadel einer Ahle.

Mit geübter Leichtigkeit stach Stroud die Spitze mitten durch Helenas Handgelenk. Helena spürte zwar nichts, doch ihr Hals wurde eng, und ihr drehte sich der Magen um, als sie zusah, wie Stroud die Ahle langsam im Kreis drehte und zwischen den Knochen durchbohrte, bis sie auf der anderen Seite wieder herauskam.

Als Stroud sie wieder herauszog, hing ein Blutstropfen an der Spitze, und Helena hatte ein Loch im Unterarm. Die Wunde blutete nicht, die aufgerissene Haut, die Muskeln und die getroffenen Gefäße schlossen sich sofort wieder.

Stroud legte die Ahle zur Seite, bog Helenas Hand vor und zurück, prüfte die Beweglichkeit. Das Gefühl kehrte zurück, aber die Lähmung blieb.

»Nerven und Adern alle intakt.« Stroud ließ los.

Helena konnte nur hilflos zusehen, wie Shiseo zurückkam und ein kleines Röhrchen mit Kerben durch das Loch an ihrem Handgelenk steckte, sodass die Enden auf jeder Seite herausragten. Sobald das Röhrchen eingesetzt war, verschwand das schwache Empfinden von Resonanz in Helenas linker Hand vollständig.

Als wäre ihr einer ihrer Sinne entrissen worden.

Sie spürte das Röhrchen und die betäubende Trägheit, die davon ausging.

Shiseo holte ein Metallband heraus. Es war auf einer Seite glatt und glänzend und hatte auf der anderen eine tiefe Rille. Er schob die Rille über die Kerbe an einem Ende des Röhrchens, schlang das Band um ihr Handgelenk und ließ das Röhrchen auch auf der gegenüberliegenden Seite in der Rille einrasten, bevor er das Band noch ein paarmal um ihr Handgelenk wickelte.

Er prüfte, ob es auch richtig festsaß und die Schichten genau übereinanderlagen, dann verschmolz er sie mit einer raschen Bewegung der Finger zu einem soliden Metallring, der ihren Unterarm fest umschloss.

Kein Schloss, sodass man ihn nur mithilfe von Resonanz aufbekommen konnte.

Shiseo schob einen seltsam geformten Draht in ein kleines Loch des alten Rings. Der Mechanismus im Inneren klickte, und er fiel ab.

Er hob ihn auf wie ein bemerkenswertes antikes Stück und legte ihn in sein Etui, bevor er auf Helenas rechte Seite ging.

Helena klammerte sich verzweifelt an den letzten Funken ihrer verbleibenden Resonanz, versuchte, sich zu konzentrieren und das Gefühl zu bewahren, wer und was sie war, weil es in ein paar Minuten fort sein würde.

Shiseo entfernte gerade die zweite alte Fessel, als die Tür aufging und eine Wache eintrat.

»Warden Mandl.«

Eine Frau in Uniform kam schnellen, selbstsicheren Schrittes in den Raum, geriet allerdings ins Straucheln, als sie Helena erblickte.

Ihr breiter Mund klappte vor Schreck weit auf.

»Was haben Sie mit dieser Gefangenen gemacht, Mandl?«, wollte Morrough wissen. Er war wieder in einer dunklen Ecke verschwunden, aber seine Stimme klang nun noch bedrohlicher.

Mandl warf sich nieder und verschwand damit aus Helenas Sichtfeld.

»Eure Eminenz …«, erklang ihr Flehen vom Boden.

»Ich habe Sie vor den Holdfasts und dem Glauben gerettet, Mandl. Habe alle Nekromanten und Vivimanten wie Sie gerettet, die wegen ihrer ›unnatürlichen Gaben‹ wie Ratten in Angst vor der Strafe der Ewigen Flamme gelebt haben. Ich habe Sie über diejenigen aufsteigen lassen, die Sie unterdrücken wollten. Und jetzt muss ich hören, dass Sie mich verraten haben?«

»Nein! Das war kein Verrat! Ich bin loyal. Eurer Sache und Euch gegenüber! Es war mein törichter Wunsch nach Rache, das gestehe ich. Ich wollte sie leiden lassen. Aber ich würde Euch niemals verraten.«

»Erklären Sie das.«

Mandl richtete sich auf, blieb jedoch auf den Knien und neigte den Kopf. Ihre Stimme zitterte. »Sie hat die Vivimanten verraten! Sie hat mich gequält! Hat sich für etwas Besseres gehalten, weil sie am Institut der Holdfasts war und ihre Vivimantie von der Ewigen Flamme gesegnet war. Sie musste bestraft werden!«

Helena starrte die Frau fassungslos an.

»Sie haben eine Gefangene und ihre Akte manipuliert … und das aus Eifersucht?« Stroud schien verwundert. »Wieso haben Sie ihre Fähigkeiten nicht gemeldet?«

Mandl wich zurück. »Ich befürchtete, dass sie eine Vorzugsbehandlung bekäme. Dass Sie sie nützlich finden und nicht bestrafen würden, obwohl sie es verdient hat.«

Stroud beugte sich über Mandl. »Und was für eine Bestrafung verdiente sie Ihrer Meinung nach?«

Mandl schluckte nervös. »Ich … habe sie bei Bewusstsein gelassen … im Stasis-Tank. Ich wollte zurückkommen. Ich wollte, dass sie mitbekommt, dass sie gefangen ist, und sich ausmalt, was ich mit ihr anstellen werde, aber dann wurde ich an den Außenposten versetzt und für den Aufstieg auserwählt. Da fürchtete ich, mein vorübergehend beeinträchtigtes Urteilsvermögen wäre eine Enttäuschung, also behielt ich es für mich. Aber ich würde niemals unsere Sache verraten!«

»Sie war die ganzen vierzehn Monate seit Ihrer Versetzung in der Lagerhalle? Warum gibt es keine Aufzeichnungen darüber?« Stroud klang überaus skeptisch.

»Ich hatte vor, das zu erledigen, wenn ich … mit ihr fertig war. Als ich ging, nahm ich an, sie würde sterben und niemand würde je etwas herausfinden. Vergebt mir! Mehr habe ich nicht getan, ich schwöre es.« Mandl warf sich erneut auf den Boden.

»Offenbar bin ich viel zu großzügig gewesen«, sagte Morrough. Sein albtraumhaftes Gesicht mit den leeren Augenhöhlen löste sich aus dem Schatten. Er neigte den Kopf, als würde er auf Mandl herabschauen. »Sie hatten mein Geschenk nicht verdient.«

»Bitte! Eure Eminenz, ich flehe Euch an, gebt mir …«

Mandl verstummte, als sie von einer unsichtbaren Macht hochgezogen wurde. Ihre graue Uniform riss an der Vorderseite auf, als ihre Rippen sich unter einem Blutschwall nach außen bogen und ihr Brustkorb aufklaffte.

Helena bekam eine Gänsehaut, die Furcht kroch wie ein Wurm durch ihre Eingeweide. Der feuchtwarme Geruch frischen Bluts und freiliegender Organe erfüllte den Raum. In der Luft hing ein Summen, das sie bis in die Lunge spürte.

Aber Mandl war, obwohl sie von oben bis unten aufgerissen war, nicht tot.

Sie hob die Hände und wollte ihre Rippen mit der einen Hand wieder zudrücken, während sie mit der anderen Morrough fernzuhalten versuchte. Ihre entblößte Lunge pulsierte. »Noch eine Chance – bitte! Ich werde Euch nicht enttäuschen. Ich schwöre es. Ihr werdet es nicht bereuen.«

»Nein, Sie werden mich nicht noch einmal enttäuschen.« Morroughs raue Stimme klang beinahe zärtlich, als er in Mandls offenen Brustkorb griff, die Finger unter ihre Lungenflügel gleiten ließ und ein glänzendes Stück Metall aus der Nähe ihres Herzens vorzog. Kleine Ranken aus Eingeweiden waren darum geschlungen und blieben am ausgerissenen Metall und an Morroughs Fingern hängen.

Als es entfernt war, fiel Mandl um. Still. Tot.

Morrough seufzte leise und schien für einen Moment zu schrumpfen, während er mit dem Metallstück in der Hand dastand. Unter dem Blut hatte es einen hell leuchtenden Lumithiumschimmer.

Er gestikulierte mit der freien Hand. Eine Leibeigene kroch wie ein Tier aus der Dunkelheit hervor. Es war eine junge Frau im Frühstadium der Nekrose, die immer noch die zerfetzte Hospitaluniform der Ewigen Flamme trug. Ihr Gesicht war ausdruckslos, durch einen Riss in der Uniform war ein Geflecht schwarzer Adern an ihrer Brust zu erkennen.

Die Leiche blieb vor Morrough stehen, und er schob das Metallstück in ihren Körper. Das leise Knacken brechender Knochen war zu hören, und in ihrer Brust blieb ein Loch von violett verfärbtem, altem Blut.

Die Leichenfrau schauderte, dann veränderte sich ihre Mimik, die Leere verschwand.

Sie wankte und stieß ein kreischendes Stöhnen aus, als sie ihre schwarzen Finger und ihren verfallenden Körper sah.

»Nein! Bitte nicht … Es war nicht meine …«

»Enttäuschen Sie mich nicht noch mal, Mandl«, sagte Morrough. »Vielleicht gestatte ich Ihnen dann in Bälde ein besseres Gefäß. Möglicherweise das Original.«

Er deutete auf Mandls Leiche am Boden. Die Luft vibrierte wieder, als er die Finger krümmte und ihre Rippen sich schlossen. Mandls Körper stand auf. Ihre aufgerissene Uniform entblößte sie, und sie war blutüberströmt. Die Haut wuchs wieder zusammen, aber ihr Gesicht zeigte keine Regung. Die Leichenfrau warf sich jammernd und flehend nieder, kratzte an der nässenden Wunde an ihrer Brust, als wollte sie das Metallteil wieder herausreißen. Morrough ging zurück zu Helena.

Stroud versetzte Mandl einen Tritt. »Danken Sie dem High Necromancer für seine Gnade, Ihnen die Leiche einer Vivimantin zu überlassen. Und dann zurück an den Außenposten mit Ihnen, Aufseherin.«

Die Leichenfrau stöhnte ein letztes Mal kehlig auf und rappelte sich hoch.

»Danke, Eure Eminenz.« Sie stolperte aus dem Raum.

Stroud trat zu Morrough. Sie schien völlig unbeeindruckt von den Vorkommnissen.

»Ist es möglich, vierzehn Monate in Stasis zu überleben?«, fragte Stroud.

Morrough schwieg, aber der nervöse schwitzende Mann, der an der Wand kauerte, meldete sich zu Wort. »Eigen-eigentlich hat die Idee etwas für sich.« Er trat vor und wich sogleich wieder zurück, als Morrough ihm seine augenlose Aufmerksamkeit zuwandte.

Er zupfte mehrmals an seinem Hemdkragen. »Unser guter Freund aus dem Osten«, er deutete auf Shiseo, der damit beschäftigt war, seine Ahle zu reinigen, »sprach davon, ihre Unterdrückung sei ein altes Modell, das die Resonanz nicht vollständig blockieren konnte. Womöglich erklärt sich damit sowohl der Zustand ihres Geists – als auch ihr Überleben.«

Stroud kniff die Augen zusammen. »Inwiefern?«

»Kein anderer Mensch hätte diese Art Transmutation an ihr durchführen können. Die Erinnerungen sind zu tief in ihren Geist eingebettet. Wenn allerdings jemand mit solch komplexen Fähigkeiten … vielleicht eine Heilerin, wie unsere Freundin gewesen zu sein behauptet …«

»Sie wollen damit sagen, sie hätte das selbst getan?« Stroud zeigte entgeistert auf Helena.

Er verschluckte sich. »Nun, das scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung. Meiner Meinung nach.« Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.

Stroud biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Und wie hat sie überlebt?«

»Sie … hat selbst verhindert, dass sie stirbt. M-möglicherweise kann ein geringes Maß internalisierter Resonanz bei einer begabten Heilerin ausreichend Selbsterhaltung bewirken, wenn der Körper unter normalen Umständen verenden würde.«

»Das ist doch absurd!«, entgegnete Stroud heftig.

»Es ist unerheblich. Kommen wir an die Erinnerungen?«, wollte Morrough wissen. »Die Ewige Flamme würde keinen solchen Aufwand betreiben, wenn die Information nicht von immenser Bedeutung wäre.«

»Eure Eminenz«, sagte Stroud flehend, »der Orden der Ewigen Flamme existiert nicht mehr. Von seinen Anhängern ist nur noch Asche übrig.«

»Sie habe ich nicht gefragt.« Morrough wandte sich stattdessen an den Mann, der ungesund grün angelaufen war.

»Ich … glaube nicht …«

»Raus hier.« Die Luft vibrierte.

Der Mann wurde kreidebleich und verbeugte sich mehrfach, dankte Morrough für seine Gnade und Geduld und entfernte sich sichtlich erleichtert rückwärts aus dem Raum.

»Was verbirgst du?« Morrough ragte bedrohlich über Helena auf.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie wusste keine Antwort.

Stroud beugte sich ebenfalls vor und kniff taxierend die Augen zusammen. »Eure Eminenz, vielleicht können wir den vorderen Teil ihres Gehirns entfernen und so an die Erinnerungen gelangen, bevor das Fieber alles zunichtemacht.« Sie strich Helena nachdenklich über die Stirn. »Vielleicht ändern sich dadurch die Pfade genug, um alles rückgängig zu machen. Es wäre mir eine Ehre, ihre Vitalfunktionen zu erhalten, während Ihr die Vivisektion vornehmt.«

Helena bekam panische Angst, als Morrough nickte. Stroud trat zur Seite und richtete die Lampe über ihnen neu aus, als wollte sie direkt anfangen.