Alegonda - Die Entscheidung - Martina Schorb - E-Book

Alegonda - Die Entscheidung E-Book

Martina Schorb

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Beschreibung

Das ist ja schön und gut mit der alten Vereinbarung zwischen den Menschen und ihrer Dynastie, aber musste ausgerechnet sie diesen arroganten und groben Prinzen Barthalor als Herren erwischen? Nein, damit kann sich Alegonda nicht abfinden. Sie verspürt keine Lust, die von ihr erwartete Aufgabe anzutreten. Lieber flieht sie auf eine verlassene Burgruine und wartet dort auf bessere Zeiten. Aber dann steht ausgerechnet ER, mit betrügerischen Absichten, in ihrem Burghof. Glaubt Barthalor im Ernst, dass sie ihm alles verzeiht und einfach mit zurückkommt? Was hat eigentlich der Bauernjunge Leo mit der ganzen Sache zu tun? Und schon gerät das friedliche Idyll ihres Zufluchtsortes und dessen Umgebung ins Wanken. Alegonda muss erkennen, dass das Schicksal sich etwas ganz besonderes für sie und ihren zukünftigen Drachenreiter ausgedacht hat.

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Über die Autorin:

Martina Schorb, geboren 1963 in München, lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Stadt in Bayern. Nach dem Elektrotechnik-Studium und vielen Jahren beruflicher Tätigkeit widmete sie sich einige Zeit voll und ganz ihrer Familie. Damit der quirlige Nachwuchs bei allen möglichen Situationen stets bei guter Laune blieb, erzählte sie ihnen zur Ablenkung immer neue Geschichten. Nachdem die Kinder erwachsen sind, findet sie die Muße, ihre Gedanken aufzuschreiben.

Von der Autorin sind drei weitere Romane erschienen:Der gelbe Hut, Kriminalroman, 1. Band der Tobler-Reihe

Das königsblaue Kleid, Kriminalroman, 2. Band der Tobler-Reihe

Geheimes Spiel, Kriminalroman

Danksagung

Ohne den unermüdlichen Zuspruch meines Ehemanns, ohne seine Unterstützung bei der Überarbeitung und ohne seine zündende Idee für das Cover, wäre dieses Manuskript einfach in der Schublade verschwunden. Danke für alles!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Vergangenheit und Zukunft

Alegonda

Loreens Forderung

Eine Jagd zur Ablenkung

Badur

Barthalor

Die alte Drachin

Aufbruch zur Drachenjagd

Die Reise

Ein unerwünschter Besuch

Unruhe im Wald

Eine idyllische Abkühlung

Unerwartete Hilfe

Warten im Lager

Daheim

Unschöne Erinnerungen

Leo

Alegondas Beobachtung

Zur Drachenburg

Vorbereitungen im Lager

Das Vermächtnis der Drachen

Alegonda und Barthalor

Kampf vor der Ruine

Wiedersehen am Burghof

Barthalors Chance

Verspätete Einsicht

Drachenritt ins Unbekannte

Aufbruch der Reiter

Im Hidrall-Massiv

Badurs Zweifel

Ankunft am Schloss

Barthalors Rückkehr

Ein unerwarteter Empfang

Die Entscheidung

Eine Viertelstunde später

Epilog

Prolog

Es ist stockdunkel hier, im Inneren der alten, verfallenen Festung. Nur einige wenige dünne Lichtfäden dringen durch vereinzelte Risse in der Wand.

Die Luft ist modrig und feucht. Eine leichte Note von `Ratte´ durchzieht den Raum, und schwebt ganz deutlich zwischen dem Geruch nach nasser Erde und den Ausdünstungen der alten, verkohlten Knochen dort drüben in der Ecke.

Alegonda dreht sich um und sucht die Dunkelheit nach unerwünschten Bewegungen ab. Alles ruhig. So mag sie es am liebsten, wenn sie wieder einmal in ihren Erinnerungen gefangen ist. In den Erinnerungen an ihre Kindheit, an den Palast und an den Jungen, der sie aufgezogen hat ...

Es sind dunkle Gedanken, dunkel wie dieser Ort. Ihre Krallen trommeln auf die dicke Dreckschicht am Boden. Dann hebt sie die linke Klaue und beginnt, mit der mittleren Kralle Buchstaben in den Schmutz zu schreiben. Langsam entsteht ein Name:

BARTHALOR

Sie liest ihn und schnaubt verächtlich aus. Der Luftstoß lässt kleine Staubwölkchen im Dämmerlicht vom Boden emporsteigen.

Voller Zorn versetzt sie den Buchstaben einen heftigen Hieb mit dem langen, schuppenbedeckten Schwanz und verwischt die Schrift, damit der verhasste Name nicht mehr zu erkennen ist.

Immer wieder fragt sich Alegonda, wie lange es noch dauern wird, bis sie sich von diesen Erinnerungen befreien kann ... bis sie sich nicht mehr in diese tiefe Dunkelheit zurückzieht, damit sie die in ihr aufgestaute Wut nicht unkontrolliert an Unschuldigen auslässt.

Sie wartet schon fast acht Jahre ... und die Wut wächst mit jedem Tag. Sie staut sich auf zu einem gewaltigen Etwas, und deshalb wird sie gefährlicher, gefährlicher für alle hier.

Vergangenheit und Zukunft

Was, um alles in der Welt, hat Alegonda so aus ihrem, sonst immer friedlichen, Gleichgewicht gebracht? Dazu müssen wir sechzehn Jahre in der Geschichte zurückblättern.

Wir befinden uns nun an einem höchst freudigen Tag im Königreich Umbra. Höchst freudig ist er deshalb, weil endlich die Geburt des langersehnten Thronfolgers unmittelbar bevorsteht.

Der König ist nervös. Mit diesem Kind wird eine lange Tradition fortgesetzt ... und er ist sein Vater!

Stolz richtet er sich auf und lässt seinen Blick vom Wehrgang des Schlosses in alle Himmelsrichtungen über seine weiten Ländereien schweifen. Es ist ein gewaltiges Königreich, das er einst von seinem Vater übernommen hat, und er hat es durch geschicktes Taktieren noch vergrößern können. Seine Grenzen liegen weit hinter den verschneiten Gipfeln des entlegenen Hidrall-Massives, die er von seinem Schloss aus mit bloßem Auge erspähen kann.

Und heute, heute wird sein Thronerbe geboren. Der dritte Thronerbe nach seinem Großvater.

Der Dritte!

Zugegeben, er wäre auch gerne der Dritte gewesen, aber daran kann man nun nichts ändern. Doch zumindest wird es einmal heißen:

Er, König Badur von Umbra, er war der Vater dieses besonderen Jungen!

Sein Blick bleibt auf den fernen Bergen hängen. Ihre schroffen und immer schneebedeckten Gipfel glitzern in der Sonne. Er hat alles für seine Rückkehr vorbereitet: Der Turm, die riesige, freie Fläche im Hof und die dunkle Halle sind ausgebessert worden. Er hat sogar ein neues Dach über dem Eingang zimmern lassen, damit nicht der Schnee hinein weht, wie vor siebenundvierzig Jahren.

Wann wird der Drache kommen? Gleich nach der Geburt? ... oder erst, wenn sein Sohn reif dafür ist?

Noch immer keine Nachricht von den Ärzten. Sie kümmern sich schon seit Stunden um seine Frau.

Während König Badur erwartungsvoll zwischen den unzähligen Zinnen hin und her schreitet, kommen ihm einzelne Bruchstücke seiner eigenen Kindheit in den Sinn.

Er sieht wieder den uralten Mann vor sich, den die Last der Jahre bereits tief gebeugt hat. Großvater sitzt auf dem Thron, auf dem danach auch sein Vater saß.

Der Alte streckt seine offenen, zittrigen Hände nach dem kleinen Jungen aus, der gerade in den Thronsaal gestürmt kommt.

»Großvater, Großvater, darf ich ihn heute sehen? Du hast mir versprochen: An meinem vierten Geburtstag gehen wir zu ihm hinüber und ich darf ihn anfassen, ja?«, der Knabe wischt sich eine lange, dunkle Strähne aus dem Gesicht, seine Wangen glühen … alle seine Geschenke liegen noch immer unberührt auf dem Tisch – erst will er ihn sehen – und zwar jetzt und sofort!

König Badur lächelt sanft, als er sich an seinen vierten Geburtstag erinnert. Er lächelt dasselbe, leicht schiefe Lächeln wie sein Großvater ... er liebte es so sehr, bei ihm zu sein.

Mühsam stemmt sich der alte König aus dem Thron und stützt sich schwer auf seinem Stock, den ihm ein Diener reicht. Langsam drückt er den krummen Rücken durch und richtet sich stöhnend auf.

»Richtig Badur, ein König muss seine Versprechen immer halten! Also dann gehen wir nun zum Turm!«

Er weiß noch wie heute, wie sie an diesem Tag gemeinsam Hand in Hand aus dem Schloss gingen. Mit seinem Stock kämpfte sich Großvater Schritt für Schritt weiter.

Der Turm! Dort drüben steht er, rund und fast fünfzehn Meter im Durchmesser. Er steht in einem eigenen, für die meisten Menschen unzugänglichen Areal. Man kann es nur durch ein gigantisch großes Tor in der dicken Hofmauer erreichen – aber niemand war sonderlich erpicht, dorthin zu gehen.

Denn dort lebt der Drache.

Links neben dem Tor befindet sich eine große, überdachte und auf einer Seite offene Halle. Im Anschluss daran steht der Turm. Beide sind mit einem Durchgang verbunden. Rechts von den Gemäuern erstreckt sich eine riesige, freie Fläche. Dort, wo der felsige Untergrund des Schlossberges aufhört und gut einhundertfünfzig Meter in die Tiefe stürzt, schirmt eine gewaltige, hohe Mauer diesen Bereich vor neugierigen Blicken aus der Umgebung ab. Wie überall im Schlossgebiet ist auch hier ein Wehrgang mit steinernen Zu- und Abgängen angebracht. Aber niemand wagt es, dort hinaufzusteigen und über die Zinnen hinaus in das weite Reich zu blicken.

Niemand außer Großvater!

Allein dieser abgeschlossene Trakt nimmt ein Drittel des gesamten Schlossbereiches von Umbra für sich in Anspruch.

Gemeinsam stehen sie vor dem massiven und mit vielen Schnitzereien verzierten Eingangstor, das nur sein Großvater öffnen konnte. Nein, Großvater öffnete es eigentlich gar nicht: Es wird ihm geöffnet, sobald er ein paar leise Worte spricht.

Starr vor Anspannung verfolgt Badur, wie sich die beiden gewaltigen Torflügel scharrend und rasselnd auseinander bewegen. Zum allerersten Mal darf er in die vor allen Augen verborgene Freifläche des Areals blicken. Sie erscheint verlassen zu sein. Am Boden neben der Wand entdeckt er den massiven Riegel für die Sicherung der nun zurückgeschlagenen Torflügel, dahinter beginnt der Bereich der riesigen Halle.

Sie gehen durch das geöffnete Tor. Hinter ihnen fällt das schwere Tor mit einem lauten Schlag ins Schloss. Erschrocken sieht sich der kleine Junge um. Dicke Ketten und Rollen bilden einen komplizierten Mechanismus, um das Tor von innen öffnen zu können. Badur versucht, den komplizierten Verlauf der einzelnen Stränge mit den Augen zu verfolgen.

Dann hört er es!

Langsam wendet er den Kopf in Richtung des leisen Schnaubens neben sich.

Da ist er!

Groß, nein: riesig!

Mit blauen Schuppen übersät, auf seinem Rücken stehen Schilde aus blauschillerndem Horn senkrecht in die Höhe. Wenn man diesen Schilden mit den Augen nach hinten folgt, werden sie immer kleiner … und enden in einem gewaltigen, langen und muskulösen Schwanz. Großvater hatte ihm schon erklärt, dass dieser Schwanz zum Steuern im Sturm oder im Meer unbedingt nötig war. Für den Burggraben oder den Schlossteich sei dieses monströse Steuer jedoch etwas überdimensioniert, pflegte er mit einem schnippischen Grinsen hinzuzufügen.

Auf der anderen Seite klettert die lange Reihe der Rückenschilde einen kräftigen, blau geschuppten Hals hinauf und verläuft sich zwischen zwei aufgeregt umherzuckenden, wachsam aufgestellten Ohren. Zwei hellblaue Augen blitzen ihnen entgegen. So hellblau, dass man denken kann, es wären große, glitzernde Eisplatten mit einer langen, senkrechtstehenden und schwarzen Pupille in der Mitte.

Der langgezogene Kopf neigt sich sanft zu seinem Gebieter neben dem kleinen Jungen. Dünne Rauchsäulen kräuseln sich aus den Nüstern. Vorsichtig öffnen sich die gewaltigen Schwingen zur Begrüßung. Die herrlichen, in allen Blau-Lila-Türkis-Tönen schillernden Unterflügel entfalten sich zur vollen Pracht, bevor sie sich erneut unter den zähen, lederartigen Deckflügeln verstecken.

»Heute bringe ich dir meinen Enkel, Agneta. Sein Sohn wird einmal meinen Platz einnehmen und dein Reiter sein, wenn ich nicht mehr bin.«

Großvater tätschelt den silbrig schimmernden Brustpanzer des Drachen.

Die hellblauen Augen mustern das kleine Kind. Nur sehr selten traut sich ein Besucher in diesen Bereich.

Der Drache! Niemand wagte sich in seine Nähe, niemand außer Großvater. Wer es sonst versuchte, der brauchte nicht unbedingt lebend zurückkehren, so lautete die Abmachung mit dem gewaltigen Tier.

Ja, sein Großvater war der letzte Drachenreiter des Königreiches Umbra ... und sein eigener Sohn wird diese Stelle einnehmen, als dritter Thronfolger in der Reihe der Herrscher.

Damals an seinem vierten Geburtstag legte sich der Drache ganz flach vor seinem alten Herrn hin und schnurrte, dass die Dampfschwaden aus den Nüstern in kleinen Wölkchen in die Luft pufften.

Als ob er nie etwas anderes tat, greift der alte König mit seinen knochigen Fingern nach den Schuppen und zieht sich daran hinauf. Mit einer leichten Wendung hilft der Drache nach, und Großvater sitzt mit seinem langen, weißen Bart und den schütteren, weißen Haaren auf dem Rücken des Tieres.

»Na, los Agneta, mein Mädchen, zeig dem keinen Buben, was ich so gerne mache: Lass uns fliegen - von einer Grenze zur anderen!«, seine Augen blitzen, er scheint plötzlich wieder ein junger Mann zu sein, der zu einem Erkundungsflug aufbricht. Ängstlich weicht Badur an die Mauer zurück, bis er die kalten Steine in seinem Rücken spürt.

Der Drache erhebt sich auf die kräftigen, mit Klauen besetzten Hinterbeine, entfaltet die Flügel und stößt sich mit einem sanften Rauschen mitsamt Badurs Großvater in die Luft.

Das war das erste Mal, dass er den Drachen sah.

Der König blickt fragend zu seiner Leibwache, hatte er nicht eben etwas gehört? Gab es schon etwas Neues? War sein Sohn schon geboren?

Ein Page kommt wild gestikulierend angerannt und winkt ihm ganz aufgeregt zu.

König Badur läuft den Wehrgang zurück, rennt die Stufen hinunter und stürmt durch die Säle zu den Gemächern der Königin. Ein alter Arzt und eine Zofe halten ihn auf. Sie bitten ihn, sich erst etwas zu beruhigen. Endlich lassen sie ihn durch die Tür zu seiner Frau.

Loreen liegt auf weißen Laken, ihre braunen Haare fließen von ihrem Kopf ungebändigt auf die Kissen. Sie lächelt glücklich ... in ihren Armen hält sie ihre Kinder – ja, es sind zwei Kinder!

»Badur, mein lieber König! Gott hat uns gleich mit zwei Nachkommen gesegnet!«, strahlt sie ihn mit schwacher Stimme an.

»Ist mir ein Sohn geboren worden, Loreen?«, erkundigt sich der nervöse König.

Beide Kinder sehen sich sehr ähnlich ... und wenn es nun nur zwei Mädchen sind?

»Ja, mein Herr und Gebieter. Unser Sohn erblickte gleich nach unserer Tochter das Licht der Welt«, die junge Mutter streichelt sanft über die Wangen der beiden Babys. Wohlig glucksen die Kleinen im Schlaf und räkeln die Händchen. Die dunklen Haare lugen unter den Mützchen hervor, ihre Augen sind noch fest geschlossen.

Badur wendet sich an den im Hintergrund stehenden Arzt, ohne den Blick von seiner Frau zu wenden: »Und? Ist der Junge wohlauf? Wird er den beschwerlichen Prüfungen und den Lasten eines Thronerben gewachsen sein?«

Der alte gebeugte Mann blickt auf: »Herr, sowohl er als auch seine Schwester sind komplett ausgebildet und verfügen über eine gesunde Stimme«, ein Lächeln huscht über das faltige Gesicht des Mediziners, »mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Aber sie scheinen beide gesund zu sein. Ob es für eine lange Lebensführung reichen wird, das liegt nicht in meiner Hand. Aber, mein König, es sei mir gestattet, Euch darauf hinzuweisen und deshalb auch besonders zu gratulieren: Es sind zwei Kinder! Eines davon wird gewiss imstande sein, Euren Weg fortzusetzen, falls das andere scheitert.«

Unwirsch dreht sich der König in die Richtung des alten Gelehrten, »Guter Mann, der Junge muss durchkommen, nur er sichert die Zukunft unseres Adelsgeschlechtes!«

Verängstigt weicht der Gelehrte zurück, zieht seinen alten, braunen Mantel fester um sich, als könnte er so die greifbare Feindseligkeit seines Herrn abwehren und schweigt.

Nein, es ist sicher besser, dem König jetzt nicht zu widersprechen. Gott hat ihm zwei Kinder geschenkt, und er wird wissen warum.

In einem großen Bogen geht er um Badur herum zum Bett, fasst das Handgelenk der Königin und überprüft nochmals den Herzschlag.

»Eure Hoheit, ich bin erfreut, dass Ihr nach dieser Anstrengung wohlauf seid. Die Frau, die ich Euch mitgebracht habe, wird Euch nun weiter betreuen. Vertraut ihr, sie ist eine hervorragende Amme. Ich wünsche Euch und Euren Kindern Gottes Segen und ein langes Leben. Wenn Ihr irgendwelche Hilfe benötigt, lasst es mich wissen!«, er tätschelt sanft die blasse Wange der erschöpften Königin und wendet sich erneut an den König, »Ich möchte die junge Familie nun alleinlassen und mich zurückziehen.«

Mit Verbeugungen verlässt er rückwärtsgehend den Raum. An der Türe bleibt er kurz stehen und verneigt sich erneut tief vor seinem König: »Bitte, gebt gut acht auf alle drei, und wählt nun ihre Namen, mein Herr!«, dann ist er auch schon verschwunden.

»Gut, dann soll es so sein. Wir nennen die Kinder nach alter Tradition: Der Junge wird die Reihe der Anfangsbuchstaben der Herren in unserem Adelsgeschlecht fortführen; das Mädchen die seiner Mutter. Mein Sohn heißt von nun an Barthalor!«

Daraufhin wendet sich König Badur ab und verlässt das Zimmer.

Alegonda

Alegonda atmet dreimal tief ein und lässt lange, dünne Rauchfäden, die sich langsam kringeln, zur Decke steigen. Eines ist sicher: Sie will ihn nie mehr wiedersehen - und doch kann sie nicht anders - sie ist ihm verpflichtet!

Sie verspürt ein ziehendes Gefühl in ihrer Leibesmitte. Natürlich, sie sollte wieder einmal etwas essen. Vielleicht kommt sie auf andere Gedanken, wenn sie den Schafen oder Kühen der Bauern hinterherjagt? Vielleicht sollte sie auch ein Rübenfeld umpflügen? Das schärft die Krallen und ist recht kurzweilig beim Verzehr des Gemüses.

Alegonda legt stets großen Wert auf Ihre Gesundheit, schließlich soll es ihr nicht so ergehen wie ihrer Mutter. Die ist mittlerweile zu schwach, um sich noch in die Lüfte zu erheben.

Oder, wie ihre Mutter selbst erklärte: »Meine Knochen sind altersbedingt zu schwer zum Fliegen.«

Nein, das Problem ihrer Mutter liegt in Wahrheit woanders: Es ist die schon so lange andauernde, tiefe Trauer! Jahrzehntelang wurde sie von einem guten Reiter geführt, oder besser gesagt, sie lebte mit ihm zusammen. Er war nicht ihr `Führer´. Drachen lassen sich nicht wie kleine Pudel dressieren. Sie akzeptieren ihre Reiter nur, wenn die sich ihre Freundschaft verdient haben. Andernfalls versuchen sie, der Bürde zu entfliehen, so wie Alegonda jetzt.

Aber sie muss zurück, irgendwann. Sie muss sich ihrer Aufgabe stellen, bis es eine endgültige Lösung gibt. Menschen lebten zum Glück nur eine begrenzte Zeit.

Grübelnd stemmt sich die junge Drachin empor, dreht sich um und kriecht durch das enge Tor auf den Hauptplatz ihrer seit vielen Jahrzehnten verfallenden Festung. Dort ist die Luft besser als in der großen Halle. Sicher hatten diese Gemäuer schon bessere Zeiten gesehen, mit lachenden Menschen in bunten Gewändern, mit edlen Teppichen am Boden und an den Wänden. Sicher hingen über den Türen reich bestickte Vorhänge. Auch der eine oder andere jetzt verdorrte Baum deutet auf früheres Grün hinter der Burgeinfriedung hin.

Von den Feldern aus betrachtet, wirkt die Festung enorm wuchtig und groß.

Einst gelangte man über die längst zerstörte Zugbrücke direkt in den Haupthof der Burg. Nun ragen nur noch wenige Balken aus dem Burggraben. Die Eingangspforte hängt schief in den Angeln und wird lediglich von den breiten, rostigen Eisenbeschlägen zusammengehalten.

Links vom Tor zieht sich eine hohe Mauer mit Zinnen und Wehrtürmen in weitem Bogen um den Hof. An einigen Stellen ist der alte Wehrgang sogar noch intakt. Manche der groben Stufen der Zu- und Abgänge haben die Jahre gut überstanden.

Noch weiter links erkennt man einige Überreste der kleineren Unterkünfte für die Bediensteten. Dahinter erstrecken sich die früheren Stallungen. Bevor ihre Dächer vor einigen Monaten gänzlich einstürzten, benutzte Alegonda diese Seite der Burg als schattenspendenden Liegeplatz, besonders an sehr warmen Tagen. In einer Ecke sammelt sie die alten Knochen abgenagter Tiere. Es ist wichtig, dass die Gebeine gut lüften. Die Überreste ihrer jüngsten Beute, ein Kälbchen mit gebrochenem Bein, liegen hier ganz oben aufgeschichtet.

Hinter den Stallungen schließen sich die Gebäude für die Reiter und Soldaten an. In jeder Ecke und in jedem Abschnitt der Burgmauer befinden sich die steinernen Treppen zum Wehrgang, der einst um das gesamte Gelände führte.

Eine hohe, nun an einigen Stellen bröckelige Mauer, trennt den vorderen Teil des Hofplatzes vom früheren Garten. Die steinernen Statuen, von Wind und Wetter zerfurcht, stehen dort noch einsam und vergessen zwischen den mit Schutt bedeckten Beeten – ein trauriger Anblick.

Da bleibt Alegonda lieber in der geräumigen Eingangshalle. Viel mehr ist vom Hauptgebäude auch nicht mehr übrig. Die Halle ist nicht so groß, dass sie umherfliegen könnte. Sie ist aber groß genug, um den Schlafplatz mit der einen oder anderen Ratte zu teilen, zumindest für begrenzte Zeit.

Alegonda zieht die frische Luft in ihre Lungen und spreizt die Flügel.

Ihre Gedanken schweifen wieder zurück zu jenem Tag, als sie sich zum ersten Mal in die Luft erheben konnte – um endlich frei zu sein, ohne ständige Angst vor diesem Jungen haben zu müssen!

Nein, so kann es nicht weitergehen. Wird sie denn immer eine Gefangene ihrer Erinnerungen bleiben?

Sie bewegt sich im Schatten, um den gleißenden Sonnenstrahlen auszuweichen. Das Tageslicht blendet sie nach der Dunkelheit.

Dort in der Mitte des Hofes befindet sich ein gewaltiger Brunnen. Einst diente er zur Versorgung aller Bewohner dieser Burg. Er ist so groß, dass man gleich vier massive Holzgestelle mit Winden für die Wassereimer darauf befestigen konnte. Eine wahre Meisterleistung der Handwerkskunst! Sicher haben hier Sklaven die großen, schweren, eisernen Kurbeln gedreht, damit genügend Wasservorräte hinter den dicken Mauern vorhanden waren, insbesondere für das dampfende Bad des Fürsten.

Heute liegen die geborstenen Holzreste über den Boden verstreut.

Alegonda grinst, ihre Laune verbessert sich beim Anblick dieses steinernen Bauwerks zusehends.

»Warum nicht?«, fragt sie den lauen Wind, »warum sollte ich nicht wieder diesen Weg hinaus wählen?«

Schon breitet sie die Flügel aus und schüttelt den Sand aus den Falten. Sie schiebt die Deckflügel zur Seite damit sich die darunter verborgenen, dünneren, zartschillernden Unterflügel zu ihrer vollen Größe entfalten können. Sie glänzen in allen Blautönen in der Sonne. Mit einigen kräftigen Schlägen fächelt sie sich kühle Luft an den glänzenden Körper. Dann richtet sie sich zu ihrer vollen Größe auf, stößt sich mit den Hinterbeinen ab und steigt hinauf in den Himmel. Nach einigen eleganten Schrauben hoch in der Luft kippt sie vornüber, presst die Flügel eng an den Körper und schießt, mit dem Kopf voran, in das tiefe, dunkle Rund des Brunnens.

Plötzlich ist es still auf dem Hof.

Kurz darauf vernimmt man ein weit entferntes, dumpfes Platschen, als Alegonda in die dunkle Oberfläche des unterirdischen Sees eintaucht. Sie gleitet durch die breite, mit Wasser gefüllte Verbindungshöhle bis zum Burggraben. Das kühle Wasser und die prickelnden Luftblasen, die wie Perlen an ihrem Schuppenpanzer entlangziehen, wirken äußerst stimulierend.

Gibt es eine bessere Methode, um sich von alten, trüben Gedanken reinzuwaschen?

Loreens Forderung

Wie ging es damals weiter, nachdem der König die Frauengemächer verlassen hatte?

Es war gut gemeint, dass der alternde Arzt der Königin noch `Gottes Segen´ mit auf den Weg gab.

Aber wie oft hat Königin Loreen in den folgenden Jahren an Gottes Segen gezweifelt? Wie oft versuchte sie, ihrem Gatten das Mädchen näherzubringen, aber der hatte nur ein Auge für Barthalor.

Zugegeben, Badur ist ein hervorragender Vater und Lehrer für den Jungen. Er lässt es ihm an nichts fehlen. Nur die weisesten und gelehrtesten Herren wurden an den Hof gerufen, um den Kleinen zu unterrichten.

Loreen schiebt eine lockere, dunkle Haarsträhne zurück an ihren Platz. Dann legt sie das Buch, indem sie eben gelesen hat, auf das kleine, runde Tischchen neben dem Fenster. Sie rafft die weiten, rauschenden Röcke ihres gelben Kleides zur Seite und erhebt sich aus ihrem Sessel. Heute kann man in dem sonst so gütigen und weichen Gesicht wieder einmal diese entschlossenen Züge sehen, vor denen sich ihr Gatte manchmal fürchtet. Denn diese Züge bedeuteten meistens äußerstes Ungemach für den König.

Heute will Loreen einen neuen Versuch starten.

Sie nimmt den ganzen Mut zusammen und geht ins Spielzimmer ihrer Tochter. Die Kleine ist nun vier Jahre alt. Sie sitzt in der Mitte des Zimmers und spielt mit Pferden. Auch wenn das gesamte Zimmer in zarten Rosé-Tönen gehalten ist, die Vorhänge und das Himmelbett mädchengerecht mit Rüschen übersät sind, zeigt sich auf dem weichen Teppich des Fußbodens ein anderes Bild: Eine ganze Heerschar Krieger und Reiter steht dort aufgebaut. Alle sind fein säuberlich ausgerichtet, um den Feind anzugreifen. Einen Feind, der viel größer ist als die Pferde. Mit einem Strumpf, ein paar weißen Handschuhen und viel Zwirn hat das Mädchen einen `furchterregenden´ Drachen gebastelt. Eine kleine Figur ist mit einem Faden daran befestigt.

»Schau Mama, das ist der Drache von Urgroßvater! Weißt du, der Drache, der einmal Barthalor gehören wird. Zumindest erzählte es unser Vater!«, ihre dunklen Augen glänzen voller Stolz.

»Aber wenn dein Bruder auf den Drachen reitet, warum greifen ihn deine Pferde an?«, fragt die Mutter erschrocken.

»Weil er wieder allen Puppen von mir die Köpfe abgerissen und verbrannt hat!«, angewidert rümpft sie die Nase, »Vater sagt, es ist ein lieber Drache und er war Urgroßvaters Freund. Glaubst du, dass er damit einverstanden ist, wenn Barthalor meine Puppen zerstört?«

Zwei große Kinderaugen blicken forschend in Loreens Augen. Was soll sie darauf nur antworten?

Da nimmt das Mädchen den Drachen, schüttelt ihn energisch und reißt die Figur herunter.

»Schau! Der Drache hat Barthalor abgeworfen! Er will nicht gegen meine Reiter kämpfen! Er wird ...«

»Kind! Sei still, wir haben es hier schon schwer genug, da musst du keine Schlacht gegen deinen eigenen Bruder spielen!«, die Königin nimmt ihr die Figuren aus der Hand. Vorsichtig betrachtet sie die Socke mit den Handschuh-Flügeln.

Neben dem Schlachtgetümmel steht eine kleine, weißlackierte und mit roséfarbenen Samtkissen ausgepolsterte Bank. Loreen zieht sie näher heran und setzt sich. Ihr sorgenvolles Gesicht spiegelt sich in der ebenfalls weiß-rosé gestrichenen Frisierkommode auf der anderen Seite. Ihr Blick schweift über das gewaltige Bett mit dem hohen Himmel. Die duftigen Vorhänge sind mit breiten, hellrosa Samtbändern zurückgebunden. Selbst die Bettdecke ist farblich auf das gesamte Zimmer abgestimmt.

»Warum haben alle Verwandten auf diesem widerlichen Rosé für diesen Raum bestanden?«, fragt sie sich nicht das erste Mal.

Aber das ist das Geringste Ihrer Probleme.

Sie schnippt ein paarmal mit der freien Hand unter die Handschuh-Flügel. Es sieht aus, als ob der Drache behäbig flattern würde. Wäre er echt, könnte er jetzt einfach wegfliegen ...

Wie sehr würde sie ihn darum beneiden.

Sie seufzt, »Es ist schon lange kein Drache mehr auf diesem Schloss gewesen ...«, flüstert sie mit tonloser Stimme, »man erzählt, dass er erst kommt, wenn der Reiter seiner würdig ist.«, versonnen stellt sie das Spielzeug behutsam auf den Boden neben ihr Kind.

Das Mädchen rappelt sich vom Boden auf und rutscht ihrer Mutter auf den Schoß. Tröstend schmiegt sie sich an die deprimierte Mutter.

»Und kommt er dann auch mit lautem Geschrei? Genauso wie er verschwunden ist?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind. Als dein Urgroßvater in seinen Gemächern starb, spürte es der Drache - er war verzweifelt. Die Menschen glaubten immer, er würde sich freuen, endlich frei zu sein. Aber nein! Der Drache kreischte und gebärdete sich wie wild. Er stieg von der freien Fläche seines Areals fast senkrecht hinauf und kreiste dreimal um seinen eigenen gewaltigen Turm ...«

»Den dicken Turm auf der linken Seite?«, die dunklen, fragenden und weit aufgerissenen Augen hängen an Loreens Lippen. Natürlich kennt sie die Antwort schon. Sie war schon ein paarmal ausgerissen, und nur unter heftigen Protest konnten sie die Zofen von den Wehrgängen zurückholen. Niemand erlaubte ihr, auf die Zinnen zu klettern, um in den Innenhof mit dem Eingang zur Drachen-Halle und dem Turm zu sehen. Alle glaubten, dass sie die einhundertfünfzig Meter in die Tiefe stürzen würde, aber warum sollte sie das?

Ihre Mutter wirkt bedrückt.

»Ja, mein Mädchen, genau um diesen Turm. Dann spie er mehrere gewaltige Feuerstöße aus, umkreiste das Schloss ein allerletztes Mal und verschwand unter lautem Wehklagen in Richtung der Berge. Dieser Moment war das letzte Mal, dass er gesehen wurde. Glaub mir, er wollte nicht frei werden, weil er nie ein Gefangener war. Aber, er hatte soeben seinen besten Freund verloren, für immer!«

Loreen schaut aus dem Fenster, leise setzt sie hinzu:

»Ich werde diesen Moment gewiss nie vergessen, mein Kind!«, gedankenvoll streicht sie über den plüschigen Socken-Drachenkopf.

Warum musste Badurs Großvater so früh sterben?

Lange scheinen Mutters Augen einen entfernten Punkt zu fixieren, dann atmet sie schwer aus, »Gut, hier nimm ihn wieder zurück, gib acht, dass dein Bruder nicht zu Schaden kommt, ja?«

»Mama - glaubst du, dass der Drache kommt, wenn ich ihn rufe?«, liebevoll kraulen die kleinen Finger den langen Drachenrücken.

Zwei Paar Augen treffen sich. Lange halten sie den gegenseitigen Blicken stand. Kein Wort kommt über ihre Lippen, bis die Mutter die kleinen Hände ihrer Tochter in die ihren nimmt, »Ich weiß es nicht!«

Loreen springt von den Kissen auf.

Ihre Entschlossenheit ist plötzlich zurückgekehrt! Sie sortiert die schwingenden Röcke und zupft die verrutschten Träger des Kleides zurecht. Ihr Kopf hat seine vorherige stolze Haltung wiedergefunden, die blitzenden Augen zwischen den dunklen Locken sprühen vor Kampfeslust.

Schnell wird der weiße Strumpf-Handschuh-Drache an seine ursprüngliche Position auf dem Schlachtfeld zurückgesetzt, jedoch ohne seinen Reiter.

Das Mädchen hüpft neben seiner Mutter und schaut sie erwartungsvoll an. Oh, wie sie diese Veränderung liebt: Anschließend passiert immer etwas Spannendes!

»Der Drache folgt dem Thronfolger«, Loreen atmet tief durch, »Dein Vater ist fest davon überzeugt, dass Barthalor sein Thronfolger ist. Aber ich will nicht warten, bis irgendwann ein Drache dies klärt. Komm mit! Ich muss mit deinem Vater reden. Du sollst die gleiche Ausbildung bekommen wie dein Bruder!«

Die Erinnerungen an den letzten Tag im Leben des gütigen, alten Großvaters schmerzen Loreen sehr. Er war ihr, der Frau seines Enkels, immer zugetan und und nahm sich die Zeit, ihre Probleme und Wünsche anzuhören.

»Gutes Kind«, pflegte der alte Herr gern zu sagen, »Du verlangst zu viel, du bist nur eine Frau! Noch ist die Zeit nicht reif für euch. Aber habe Geduld, irgendwann werden die Herren schon erkennen, dass ihr ihnen ebenbürtig seid.«

Und genau das will sie nun einfordern: Ihre Tochter soll ihrem Sohn gleichgestellt werden!

Mit schnellen, entschlossenen Schritten eilt sie in den Thronsaal. Das kleine Mädchen in dem zarten, weißen Kleidchen zieht sie hinter sich her. Sicher wird sie den König dort finden, wie fast immer, wenn sie ihn sucht. Mit einem energischen Kopfnicken bedeutet sie den Lakaien, die Türe zu öffnen.

Beide eilen die lange Halle entlang, vorbei an den seitlichen Arkadenbögen, unter denen die aufgereihten Statuen der früheren Herrscher und tapferen Kämpfer stehen. Anfangs fürchtete sich die Kleine vor diesen übergroßen Figuren, aber in Laufe der Zeit hatte sie schnell entdeckt, dass sich hier herrliche Verstecke boten. Heute trippelt sie brav ihrer Mutter hinterher, ohne einen angstvollen Blick auf die, zum Teil doch furchterregenden, steinernen Gestalten zu werfen. Am hinteren Ende des Raums unterhält sich ihr Vater mit Barthalor, ihrem Bruder.

Sie haben schon fast den halben Saal im Eilschritt durchquert, da ruft Loreen mit forderndem Ton: »Alle Bediensteten verlassen bitte den Saal. Ich habe eine Unterredung mit dem König – alleine!«

Badur sieht auf und erblickt das zu allem entschlossene Gesicht seiner Frau. Seine kleine Tochter versucht tapfer, mit ihr Schritt zu halten. Er weiß sofort, was die Königin will. Allzu oft haben sie schon über dieses Thema gestritten.

Aber er ist der König – sie nur seine Frau!

Er bestimmt, was geschieht. Sie schenkte ihm einen Sohn, der das Adelsgeschlecht weiterführen wird, und diese Tochter. Damit war ihre Aufgabe erfüllt.

Loreens heutiger Gesichtsausdruck verheißt erneut eine lange, unschöne Diskussion. Darf er sich vor dem Gefolge und seinem Sohn diese Blöße geben?

»Geht!«, mit einer lässigen Handbewegung entlässt er die Diener.

Nervös verlagert er sein Gewicht auf dem purpurroten, gesteppten Kissen, das für seine Bequemlichkeit auf dem harten Thron liegt. Die Troddeln schwingen dabei lustig hin und her. Sie scheinen die mächtigen Löwenpranken an den vier Ecken des Thrones zu streicheln. Mit einer Hand umfasst Badur die goldene Armlehne seines königlichen Statussymboles. Ein Statussymbol, ja, aber das gewaltige, aus einem Stück gefertigte, golden glänzende und mit funkelnden Steinen besetzte Möbelstück wurde lediglich zur Demonstration der Macht der Könige entworfen. Es ist zwar ehrfurchtgebietend anzusehen, aber extrem unbequem. Da helfen keine Kissen und auch nicht der dicke, rote Umhang, den Badur heute trägt.

Betont lässig schlägt er die Beine übereinander, »Nun, Loreen, wir sind alleine mit den Kindern. Sag mir: Geht es wieder darum, dass ich beide Kinder unterrichten lassen soll? Warum siehst du nicht ein, dass ein Königreich nur von einem Mann geführt werden kann?«, er beugt sich leicht nach vorne, »Man braucht nicht nur einfach hier und da einen Befehl geben. Man benötigt dazu Fähigkeiten, die speziell Männern angestammt sind. Man braucht Intelligenz, um die Situation einzuschätzen; Raffinesse, um eine Gefahr abzuwenden«, sein Blick durchbohrt regelrecht Loreen, »dazu Mut, um ihr wenn nötig die Stirn zu bieten und Stärke, um rechtzeitig zuzuschlagen!«

Mit sich zufrieden verlagert er erneut sein Gewicht und lehnt sich, süffisant lächelnd, im Thron zurück, »Regieren bedeutet mehr als mit Puppen zu spielen oder feine Kleider zu tragen. Unterweise unsere Tochter in der Kunst des Stickens, damit ist sie genügend ausgelastet.«

Inzwischen versucht Barthalor, mit fiesen Grimassen, die Aufmerksamkeit seiner Schwester zu erhaschen. Es wäre doch fantastisch, sie zu einem Spontanangriff zu reizen.

Das kleine Mädchen steht still neben seiner Mutter und beobachtet, wie sich die Gesichtsausdrücke der Erwachsenen ständig verändern. Nein, die Streitereien der Eltern sind viel interessanter als der feixende Bruder.

Loreen richtet sich zu ihrer vollen Größe auf und tritt näher an ihren Mann heran, »Herr, ich weise Euch die Stirn, indem ich sage: Eure Intelligenz ist nur auf die Fähigkeiten eines Mannes begrenzt. Ihr seht nur Euch und Eure Ideen. Ihr gebt niemandem die Möglichkeit zu beweisen, dass es einen besseren Weg gibt als den Euren. Die Stärke einer Frau liegt darin, zu erkennen, wann der eine Weg nicht mehr weitergeht und wann man eine andere Lösung finden sollte – ohne einfach nur gleich loszuschlagen. Die Raffinesse eines Weibes steht über der eines Mannes: Wir zeigen Demut und agieren im Hintergrund, durch Geflüster in unseren Gemächern. Und bedenkt: Auch Ihr spielt mit einer Art `Puppen´, wenn ihr Kampfaufstellungen und Kriegslist am Schlachtentisch erprobt!«, sie kann die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn sehen. Dennoch weicht sie keinen Zentimeter zurück.

»Loreen, nimm das Mädchen und geh! Du wirst es nicht wagen, weiter in diesem Ton vor unserem Sohn mit mir zu sprechen!«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust und wiegt sanft ihre Hüften. Es ist ein durchaus verführerischer Anblick, wie die gelben Rüschen über den Boden rascheln.