Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Toter im Fitness-Studio - war es Mord oder Selbstmord? Ein überfahrener Asylant und eine Serie mysteriöser Morde, die ganz München erschüttern. Sind es Einzeltaten, oder hängen sie zusammen? Werden weitere Opfer folgen? In Sebastian Toblers Ermittlungsteam kriselt es gewaltig: Was verschweigt sein Kollege Brunner, ist er selbst in die Todesfälle verwickelt? Der junge Kommissar entscheidet sich für einen riskanten Alleingang, um die Rätsel zu lösen. Erst als seine kleine Tochter in die Ereignisse hineingezogen wird, dämmert ihm sein katastrophaler Fehler. Werden die Reichenbacher, eine Gruppe Obdachloser, erneut helfen? Warum reagiert der Gerichtsmediziner und Freund Gustav Feger so eigenartig? Ein weiterer spannender Fall mit überraschenden Wendungen, der den Münchner Kommissar bis an seine Grenzen treibt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 581
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über die Autorin:
Martina Schorb, geboren 1963 in München, lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Stadt in Bayern. Nach dem Elektrotechnik-Studium arbeitete sie viele Jahre in einem Großkonzern. Später wechselte sie in die Verwaltung einer Realschule. Da beide Töchter mittlerweile erwachsen sind, nutzt sie die freigewordene Zeit, um sich ihren langjährigen Wunsch zu erfüllen: dem Schreiben von Büchern. Durch ihr Erstlingswerk, einem packenden Fantasy-Roman, entdeckte sie ihr Faible für die Kriminalliteratur. Zuletzt erschien die dreiteilige Reihe um Kommissar Tobler. Der vierte Band ist in Vorbereitung.
Weitere Romane der Autorin:
Das königsblaue Kleid, Kriminalroman, 2. Band der Tobler-ReiheDer gelbe Hut, Kriminalroman, 1. Band der Tobler-ReiheGeheimes Spiel, KriminalromanAlegonda – Die Entscheidung, Fantasy-Roman
Meinem geliebten Ehemann:
Vielen Dank für deine Unterstützung, die Covergestaltung und vor allem für deine unendliche Geduld!
Prolog 7. Februar 2020
Samstag
Sonntag, 3. Advent
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag
Sonntag, 4. Advent
Epilog
Der Stachus oder Karlsplatz, wie ihn die Münchner nennen, lag hinter ihm, endlich bog er die Schwanthaler Straße ein. Gehetzt lugte er über die Schulter, nichts zu sehen. Erleichtert hastete er zwischen die beiderseits hoch aufragenden Fassaden. Ein harscher Wind schlug ihm ins Gesicht. Unzählige kleine, beißende Eiskristalle brannten auf seinen geröteten Wangen. An solchen Tagen verwandelte sich die enge Häuserschlucht von der Sonnenstraße den Hügel hinauf zum Einkaufszentrum Forum an der Schwanthaler Höhe in eine unwirtliche Schneise. Es war eisig. Er schlug den Kragen hoch, vergrub seine Nase in die weichen Lagen des Schals und schloss den Reißverschluss bis unters Kinn. Der Schein der Straßenlaternen hatte längst den Kampf gegen das seit Stunden andauernde Schneegrieseln verloren. Eine erdrückende Melange aus tiefen, dunklen Häuserschatten, alles dämpfenden Schneeflocken und dem spärlichen Licht erstickte die Straße.
Er fror.
Hinter ihm näherten sich eilige Schritte. Schwere Stiefel im Schnee. Mindestens drei Personen. Niemand sprach ein Wort.
Bloß nicht umsehen, keine Aufmerksamkeit erwecken! Er wünschte, es wäre Sommer. An heißen Tagen wimmelte es hier von Arabern, Türken, Asiaten und Afrikanern. Viele Menschen zeigten sich in ihren landestypischen Trachten. Doch jetzt, am späten Abend eines lausig kalten Februartages, verschanze sich jeder in geheizten Räumen.
Die Schritte schlossen unerwartet schnell auf. Kurz vor der Kreuzung Schillerstraße meinte er warmen, feuchten Atem und ein heiseres Husten im Nacken zu spüren. Er beschleunige, nur weiter, bloß nicht umdrehen! Die Männer waren jetzt dicht hinter ihm. Auf Höhe der Nacht-Bar Servus Habibi holten sie ihn ein. Ein, zwei Schritte liefen sie Schulter an Schulter neben ihm. Er hielt den Atem an, wagte es nicht, den Kopf zu drehen, sie anzusehen. Waren es wieder Rassisten? Würden sie ihn angreifen? Plötzlich riss einer der Verfolger die Kneipentüre auf. Lautes Lachen flutet auf den Bürgersteig, gefolgt von warmen Falafel-Duft und gedämpftem Licht. Für einen Augenblick verschmolz der Schein mit dem Lichtkegel eines von hinten kommenden Fahrzeuges, dann krachte die schwere Tür ins Schloss. Kurz zuckten die Scheinwerfer des Wagens über die öde Fassade des Deutschen Theaters, ein gigantisches Schauspiel aus Licht und bewegten Schatten hinter einem Vorhang aus weißen Flocken. Dann verschluckte der Schnee die sich entfernenden Autogeräusche.
Er blieb stehen, atmete erleichtert aus. Ausgepumpt betrachtete er die Programmtafel: heute keine Vorstellung. Sein Blick huschte die Straße entlang. Außer ihm waren nur wenige Menschen zu dieser späten Stunde unterwegs, alle dick eingemummelt in ihren Jacken, Mützen und Schals. Er stapfte durch den sulzigen Schneematsch. Eine klamme Feuchtigkeit sickerte an seine Zehen des linken Fußes. Bis zum Winterende würde dieser Schuh sicher nicht mehr durchhalten. Er erreichte die Kreuzung zur Paul-Heise-Straße. Nur vier Häuser weiter, dann wäre er am Ziel. Ein sanftes Lächeln legte sich auf sein Gesicht: Er freute sich auf diesen Abend und auf ihre gemeinsamen, vertrauten Stunden.
Eine unbestimmte Bewegung am gegenüberliegenden Gehweg ließ ihn aufblicken. In einem der düsteren Hauseingänge rührte sich eine dunkle Gestalt. Ein Penner, der es nicht rechtzeitig zur Bayernkaserne geschafft hatte. Schlaftrunken rollte sich der Obdachlose im Schlafsack zur Seite und streckte die Beine über den Gehsteig.
Der bedauernswerte Kerl! Zum Glück war er diesem traurigen Schicksal entkommen, wenn auch nur knapp.
Sein Handy klingelte, »Ja? ... Nein, ich bin unterwegs. .... Morgen schicke ich die Bestellungen raus, versprochen«, der kleine Syrer lauschte und sah sich dabei erneut um: Niemand folgte ihm. Es war gespenstisch still zwischen den hohen, alten Bauten. Nichts außer dem Wind und den einsamen, unregelmäßigen Schritten eines Betrunkenen, der sich dem Obdachlosen näherte. Zum Schutz vor dem Schnee hatte der Suffkopf seine Kapuze tief in die Stirn gezogen.
»Ja, ich bin noch dran ... Keine Sorge, ich sperr morgen früh auf, versprochen«, entferntes, kreischendes Motorengeheul.
Ein Wagen bog mit irrer Geschwindigkeit von der Sendlinger in die Schwanthaler Straße ein und raste in seine Richtung. Gleichzeitig grölte ein derber Fluch über den Asphalt. Instinktiv lugte Faris hinüber: Der Trunkenbold stieß gegen die Beine des Obdachlosen. Er stolperte, torkelte, verlor sein Gleichgewicht und stürzte Kopf voran auf die Fahrbahn.
Faris schrie und trat auf die Straße. Er gestikulierte wild mit den Armen, um den Fahrzeuglenker zu warnen. Doch es war zu spät zum Bremsen. Der Fahrer wich zur Straßenmitte aus und schoss, nur wenige Zentimeter neben dem Schädel des Gefallenen vorbei, in Richtung Forum und Westend davon.
Schwerfällig rappelte sich der Betrunkene auf die Knie und wischte sich benommen den salzigen Matsch vom Gesicht.
»Was?«, Faris presste wieder das Handy ans Ohr, er atmete schwer, »fast hätte ein silberner Nissan GT-R einen Mann überfahren!«, er schnaufte, erneutes Motorengeheul übertönte seine Worte, »Vorsicht! Da kommt noch einer!«, jetzt panisch, »Der Mann!«
Ein weiterer Schrei gellte in unmittelbarer Nähe durch die Nacht: »Lauf!«, hell, gepresst, verzweifelt.
Bremsen quietschten.
Ein lautes Krachen, ein dumpfer Aufschlag und das Knirschen von zerberstendem Metall.
Danach ... Stille.
Die Verbindung war tot.
Bodo Haas, der Leiter des Fitness-Studios Life-Power, wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. So viele unbearbeitete Verträge und Schichtpläne im Eingangskorb, und das zwölf Tage vor Weihnachten! Er massierte sich die Stirn, bevor er sich über die kurz getrimmten Haare strich. Seit Marc vor drei Monaten das Life-Power verlassen hatte, erstickte er regelrecht in der Arbeit. Ihm fehlten momentan mehrere Kursleiter für die längst gebuchten Trainerstunden. Sein Blick huschte nervös durchs Zimmer, als würde sich irgendwo dort eine Lösung verstecken. Es war der vertraute Anblick: am Schreibtisch vor ihm der Kalender mit Markierung des heutigen 12. Dezember 2020. Gegenüber sein großflächiges Fenster samt blauen Vorhängen im dezenten Firmen-Logo-Print. Daneben die Highboards mit Nachbildungen verschiedener menschlicher Gelenke und diversem Nippes. Darüber prangte ein großformatiges Gruppenfoto seiner Belegschaft, alle mit blauem T-Shirt und schwarzer Hose bekleidet. Hinter ihm die Schrankwand mit den Aktenordnern und daneben seine dreistämmige Yuccapalme.
»Wir sind dann alle weg, Bodo!«, eine drahtige Brünette mit Seitenscheitel im kinnlangen Haar streckte ihren Kopf durch die Bürotür, »Was treibst du hier? Bleibst du noch lange?«
»Die Dienstplanliste für Januar«, was ging es Katja an, woran er saß? Ahnte sie etwas? Entwickelte sie sich zur Gefahr?
»Dann denk´ bitte an die Alarmanlage, wenn du gehst!«
»Versprochen, bis morgen!«, er winkte ihr.
23:04 Uhr, höchste Zeit, dass alle verschwanden. Er registrierte, wie die junge Trainerin mit zwei weiteren Angestellten durch das grelle, kalte Neon-Licht zum Ausgang schlenderte. Ausgerechnet diese Nervensäge Katja Wilkens war scharf auf Marc Drehers vakanten Stellvertreterposten! Er schauderte bei dem Gedanken an eine engere Zusammenarbeit mit ihr. Doch bei der momentanen Wirtschaftslage ähnelte es einem Sechser im Lotto adäquates Fachpersonal zu finden. Er musste sich entscheiden, bald. Seine Augen blieben an dem jungen, schlanken, blonden Mann in der Mitte der Gruppenaufnahme hängen, »Du solltest mein Nachfolger werden, Marc«, er seufzte, »Weshalb brichst du in dieser vermaledeiten Oktobernacht hier ein und durchwühlst die Verwaltungsschreibtische? Worauf warst du so scharf, dass du es nicht zu den Arbeitszeiten finden konntest?«
Doch Bodo Haas schwante der Grund: sein kleines, privates Geheimnis. Sein Nebengeschäft, das mit dem Einbruch abrupt zum Erliegen gekommen war und erst seit einigen Wochen erneut aufblühte. Gedankenverloren streifte sein Blick den untersten Schub seines Rollcontainers. Die Sicherheitsvorkehrungen hatten ihren Zweck erfüllt: Marc war daran gescheitert, aber die Veränderungen an den Schreibtischen der Teamassistentinnen hatten hohe Wellen geschlagen. Zum Glück trainierte seit Jahren ein Polizist in seinem Studio. Friedhelm Brunner hatte diese prekäre Angelegenheit dezent geregelt. Zwar lieferte ihm der Mann keine handfesten Beweise, trotzdem deutete alles auf Marc Dreher hin. Dessen Kündigung war zwangsläufig, ebenso die Verlagerung der riskanten Datensticks aus seiner Schublade in eine Bankfiliale im Münchener Westen. Seitdem raubte ihm diese aufwendige Vorsichtsmaßnahme jede Menge an Zeit und Nerven.
»Servus Bodo!«
Der Studioleiter fuhr hoch, »Du? Stehst du schon lange vor meiner Tür?«
»Ein, zwei Minuten. Du warst in Gedanken, ich wollte nicht stören. Wie geht es dir?«
Haas ignorierte die Frage, »Wie bist du hereingekommen?«
Rund eine viertel Stunde später strich sich Haas die Haare zurecht und schloss die Studiotür. Erschöpft und keuchend lehnte er sich gegen den Eingangstresen und lauschte. Draußen startete ein Fahrzeug und kurvte das Parkhaus hinunter.
Endlich weg, Gott sei Dank!
Langsam fand er die Fassung wieder, seine Wangen glühten.
23:21 Uhr, zum Glück war der angekündigte Käufer soeben nicht dazugestoßen. Hoffentlich verspätete er sich nicht. In der Wandverspiegelung betrachtete er seinen ergrauten Haaransatz und rückte die Kleidung zurecht. Die ersten Falten zerfurchten sein Gesicht. Einundfünfzig Jahre, durchaus sportlich aber mit angehendem Bauchansatz. Lange konnte er einen dynamischen Chef nicht mehr mimen, trotz modischem Haarschnitt, jugendlicher Jeans, weißem T-Shirt und braunen Sneakers.
Am Empfangstresen zapfte er sich einen Becher mit Wasser. Dann hob er die kleine Metallskulptur auf, die vorhin von der Theke gepurzelt war: ein Kraftprotz auf einer Hantelbank, mit angefügtem Stifte-Köcher. Er drehte bei jedem Kugelschreiber den Werbeaufdruck gut lesbar nach vorne. Fahrig blätterte er durch die bekannten Prospekte und rückte Papiere zurecht. Die Minuten schlichen dahin, langsam wurde er nervös. Er ordnete den bunten Turm der 2kg Heimtraining-Hanteln nach Farbe, ergänzte ihn und platzierte ein etwas abseits liegende Exemplar auf seiner Spitze. Zur weiteren Ablenkung füllte er die Lücke zwischen den Proteindosen.
Wieder spähte er auf das Ziffernblatt: 23:33 Uhr, hoffentlich klappte es diesmal! Der ganze Aufwand, bloß wegen dieser unschönen Angelegenheit im Februar, diesem blöden Unfall. Seine Gedanken schweiften zurück bis zu dem Zeitpunkt, als der schnittige schwarze Audi R8 neben seinem Wagen anhielt.
Die menschenleere Straße, das Schneegrieseln. Welch enorme Herausforderung! Sein Handzeichen und ein lächelndes Nicken hinter dem Steuer nebenan. Die Ampel springt auf Grün. Erster Gang, sie brausen los. Zweiter Gang, dritter Gang, die Motoren heulen laut auf. Ihre Fahrzeuge jagen über den Asphalt, dass der Schneematsch nur so spritzt. Sie bremsen scharf ab, halten gleichzeitig an der nächste roten Ampel. Beide signalisieren: ´Daumen hoch´. Ein passabler Partner! Dann das nervenzerreißende Warten bis das Signal umspringt, die Hand einsatzbereit an der Schaltung. Schneeflocken umtanzen die Karosserie, verdammter Februar! Trotzdem ihr Vorteil: Nur wenige Passanten wagen sich ins trübe Grau, somit kaum Zeugen. Endlich Grün! Die leere Schwanthaler Straße hinauf, 100-120-140, ihre Motoren röhren, sie schießen über die nächste Ampel. In Höhe einer Bar weicht er gerade noch einem stolpernden Betrunkenen aus. Das war knapp! Sein Herz hämmert wie verrückt. Die Lichtkegel seines Kontrahenten kleben dicht hinter ihm. Wird sein Nissan GT-R den engen Vorsprung bis zur Kuppe beim Forum halten können? Er tritt aufs Gas. Der zweite Blick in den Rückspiegel lässt sein hitziges Blut gefrieren: kein Audi R8. Überhaupt kein Auto hinter ihm!
Scheiße! Was war schief gelaufen? Er biegt in die nächste Nebenstraße, hält an, sieht zurück, wartet. Keine Bewegung auf der Schwanthaler. Wo bleibt sein Kontrahent? Schweißtropfen benetzen seine Stirn. Er zählt die Sekunden. Die Uhr am Armaturenbrett läuft unerbittlich weiter. Neun Minuten: nichts. Von fern hallen Sirenen: Einsatzfahrzeuge! Sie nähern sich.
Nochmals Scheiße, verdammte! Hoffentlich hat sich keiner seinen Wagen gemerkt! Das Firmenlogo auf den Türen ist doch etwas markant, soll es ja sein. Verflixter Mist! Durchatmen, beruhigen. Erst einige Minuten später startet er erneut den Motor. Überkorrekt rollt er nach Hause, nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen! Und jetzt? Die seitlichen Aufkleber müssen runter, schleunigst. Am besten verschwindet der ganze Wagen. Aber nicht sofort inserieren, das wäre zu auffällig.
Tags darauf stockte ihm beim Anblick der Schlagzeile der Atem. In dicken roten Lettern stand dort zu lesen: ´Mörderisches Autorennen in München´. Darunter das verbeulte Wrack eines schwarzen Audi R8. Das Opfer: ein syrischer Passant, tot. Laut Zeitung überlebte der Fahrer des Unfallfahrzeugs schwer verletzt. Hoffentlich plauderte er nicht!
Der Vorfall lag nun schon über zehn Monate zurück. Zehn Monate und jede Menge schlafloser Nächte wegen des geliebten Nissan. Zuerst drängte er seine geheimen Geschäftspartner, den Wagen im Ausland zu verscherbeln, doch die lehnten ab. Die Sache sei zu riskant. Niemand verbrennt sich freiwillig seine Finger an heißem Material. Statt ihrer Unterstützung setzten sie ihn zeitlich unter Druck. Doch seine Verkaufsversuche scheiterten an den verrückt niedrigen Preisvorstellungen der Interessenten. Die Daumenschrauben wurden angezogen, sie forderten eine Veräußerung weit unter dem Wert. Zuletzt stellten sie ihm ein Ultimatum: ´Letzter Termin: 23.12. Verkaufen, oder deine Frau feiert alleine Weihnachten!´
Ihm blieben nur zwölf Tage. Hoffentlich ließ ihn der heutige Käufer nicht im Stich. Nervös durchquerte er sein Studio, kontrollierte die ausgeschalteten Geräte, die Umkleiden und kehrte ins Büro zurück.
Entspann dich! Du musst selbstsicher und überzeugend sein, wenn Dominik Bekensen eintraf!
Es klopfte an der Eingangstür, wie vereinbart. Die Glocke hatte er ausgestellt, sie könnte von den Anwohnern unterhalb seines Studios gehört werden. Endlich, der Termin!
Erleichtert raffte Bodo Haas die verstreuten Papiere am Schreibtisch zu einem sauberen Stapel zusammen und eilte ins Foyer, »Schön, Sie zu sehen!«, stellte er verdutzt fest, »wie war Ihre Fahrt von Hamburg?«, er betrachtete den dunklen Mantel mit perfektem Schnitt, kontrastreicher Schal, schwarze Hose, geschmackvolle Schuhe. Kein Hut oder Mütze.
»Ausnahmsweise ohne Verzögerung durch die Bahn. Danke nochmals, für diesen späten Termin«, eine Hand in einem eleganten, schwarzen Lederhandschuh streckte sich ihm zur Begrüßung entgegen, »das kommt mir wirklich sehr gelegen!«
Haas schlug ein. Seine Finger ertasteten teures Kalbsleder, nicht billig. In ihm keimte die Hoffnung auf einen fairen Preis, »Ganz schön eisig da draußen, nicht wahr?«
»Und wie! Von wegen: sonniger Süden! Hier ist es frostiger als bei uns im Norden.«
Auf dem Weg zum Büro taxierte der Studioleiter verstohlen seinen Gast. Er hatte mit einem anderen Personentyp gerechnet. Nichts in dessen Zügen verriet eine hanseatische Abstammung. Die Sprache klang zwar eingefärbt, aber ein Nordlicht? Die Neugierde siegte, »Stammen Sie gebürtig aus Hamburg?«
Sein Gegenüber lächelte, »Wegen des Dialektes? Nein, ich bin in der Nähe des Elsass aufgewachsen.«
Haas nickte stumm. Wie man sich täuschen konnte! Er hätte eher auf die Alpenregion getippt.
»Wo steht das Prachtstück?«
»Sie müssten am Parkdeck unmittelbar daran vorbeigegangen sein«, machte Neugier blind? »Moment, ich zeige Ihnen den Wagen. Die dortige Beleuchtung ist erstklassig, fast tageshell. Sehen Sie sich das Fahrzeug in aller Ruhe an. Die Papiere arbeiten wir anschießend durch«, er deutet auf den korrekt ausgerichteten Stapel an der äußersten Tischkante.
»Nein, das allgemeine Schriftliche erledigen wir gleich, und ich unterzeichne den Vertrag draußen, direkt nach der Besichtigung. Wenn der Wagen Ihren Angaben entspricht, sind wir uns schnell einig.«
»Sie werden nicht enttäuscht sein!«, Bodo Haas griff nach den beiden ausgefüllten ADAC-Kaufverträgen, »Möchten Sie ihren Mantel ablegen?«, der sonderbare Akzent störte ihn. War das hamburgisch? Nie im Leben! Egal, Hauptsache sein Nissan wechselt heute den Besitzer.
»Nein, ich bin noch immer steifgefroren«, die behandschuhten Finger öffneten nur den obersten Mantelknopf und lockerten den Schal, »Je eher ich wieder aufbreche, desto besser. Vor mir liegt eine siebenstündige Rückfahrt, zumindest mit diesem Wagen und freien Straßen«, das entschuldigende Lächeln ließ keinen Respekt vor Geschwindigkeitsbegrenzungen vermuten.
Dein Fehler! Du rechnest fest mit dem Nissan, also bist du scharf darauf. Ein fast unmerkliches Zucken umspielte Bodos Lippen. Das treibt den Preis in die Höhe, perfekt! Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und deutete auf den Besucherstuhl, »Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Bevor wir diesen Kaufvertrag durchgehen, hätte ich einige Fragen an Sie«, der Mantel ignorierte den angebotenen Freischwinger, er steuerte auf Bodo zu und hockte sich direkt vor ihm auf die Tischplatte, »Fragen in einer anderen Sache ... «
Sie fuhren mit dem Zug, Eileen lehnte an seiner Schulter. Die zwei Monate alte Marina strampelte in ihrer Pluderhose aufgeregt auf ihrem Schoß. Vor den Fenstern flitzte eine sonnige Landschaft vorbei: Berge, Häuser, Felder, Wälder, Kühe auf einer Weide. Dahinter kleine, verschlungene Sträßchen.
Urplötzlich dominierte ein penetrantes, dumpfes Wummern die Geräuschkulisse. Perplex zuckte er zusammen. Dunkelheit umgab ihn. Passierten sie einen Tunnel? Das hartnäckige Dröhnen wiederholte sich, wieder und wieder. Stimmte etwas mit den Gleisen nicht? Waren sie in Gefahr? Es wurde intensiver, durchdrang seinen Traum in voller Lautstärke.
Er streckte seine Hand in die Richtung des Geräusches und ertastete sein vibrierendes Diensthandy am Nachttisch.
»Ja?«, meldete er sich schlaftrunken.
»Morgen, Herr Kommissar. Hier Scheinhacker, Zentrale«, der Neue, dessen Namen er immer vergaß.
Tobler wälzte sich aus dem Bett und setzte sich auf Kante. Der Wecker zeigte 4:17 Uhr. Ein Anruf Sonntagfrüh, ohne den Vorsatz ´guten´, prophezeite eine üble Nachricht.
»Auch Morgen«, er gähnte. Mit der freien Hand rieb er sein Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben, »Was gibt es?«
»Ein Toter im Fitnessstudio. Die Meldung kam eben rein und ich dachte, ...«
»Sie denken, um diese Uhrzeit? Welcher Idiot trainiert denn in aller Herrgottsfrüh?«, wen hatte er für diese Frühschicht im Präsidium eingeteilt? Seine Zehen tasteten nach der Kleidung am Boden.
»Nicht trainiert, eher erhängt. Eine Reinigungskraft hat ihn gefunden.«
»Welches Studio?«, seine Zehen erwischten eine Socke und bugsierten sie in die Reichweite seiner freien Hand.
Anschließend tastete sein Fuß nach dem Hemd.
»Das Life-Power am Ostbahnhof«, kam es prompt.
Tobler zuckte zusammen. Er kannte das Life-Power. Schon als kleiner Junge war er an diesem gewaltigen Klotz vorbeigeradelt. Fünf Etagen: im Erdgeschoss Geschäfte, darüber Wohnungen. Zu oberst das rundherum verglaste Studio unter einem Flachdach. Dieser kantige Bau erinnerte ihn stets an ein anderes Gebäude, niedriger aber ebenso mit Flachdach. An die klaffenden Putzwunden in dessen Fassade, ... und an seinen letzten Besuch dort. Er stand damals unter den weit ausladenden Ästen einer alten Zeder. Er schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Erinnerungen zu vertreiben, »Kenn´ ich. Einer unserer Kollegen trainiert dort regelmäßig. Haben Sie eine Beschreibung des Toten?«
»Ja, leider: Es handelt sich um einen mittelgroßen, kräftigen und glatzköpfigen Mann im mittleren Alter.«
Sebastian Tobler fuhr kerzengerade von der Matratze hoch, die zweite Socke entglitt seinen Zehen und trudelte kraftlos auf den Boden.
Friedl?
»Mist!«, mit gespreizten Fingern raufte er sich die schwarzen Locken. Mein Gott, hoffentlich nicht das Rindvieh Friedhelm Brunner! Er lugte zur schlafenden Gattin neben sich.
»Wer ist zum Tatort raus?«, hauchte er ins Telefon.
»Frau Baumgartner. Ich dachte, Sie ...«
Ausgerechnet Cornelia, ihre Jüngste! Und ausgerechnet sie bei einem eventuellen Kollegen-Mord! Einen Unfall schloss er aus, Selbstmord ebenso, nicht bei Brunner, »Sie haben richtig gedacht, Herr Schreinhagen. Und jetzt reißen Sie bitte Roman Hiebler aus seinen Träumen. Er soll schleunigst ins Life-Power ausrücken, von mir aus im Schlafanzug! Das Gleiche wiederholen Sie bei Bernhard Fischler.«
»Scheinhacker«, verbessert der Anrufer kleinlaut, doch der Kommissar hatte längst aufgelegt.
Der kleine, dreiunddreißigjährige Kolumbianer schlüpfte in seine Hose. Seine Finger nestelten am Knopf, dann eilte er aus dem Schlafraum. Im Wohnzimmer rekelte sich seine Amstaff-Hündin Vienna auf ihrer Knochenprint-Hundedecke und gähnte ausgiebig. Eine durchaus eindrucksvolle Anzahl spitzer Zähne blitzten in ihrem kräftig durchbluteten Kiefer.
Ein leises Geräusch hinter ihm ließ Sebastian umsehen.
»Hat Friedl wieder etwas angestellt?«, Eileen, seine Frau, streifte das Stillhemd ab.
»Du hast mitgehört?«, er gab ihr einen Kuss.
»Nur das Wort ´trainiert´, der Rest ist Intuition.«
»Ausnahmsweise würde ich mich freuen, wenn er in diesem Augenblick etwas Verrücktes anstellen würde! Ich fahr rüber.«
Sie schlang die Arme um seine Schultern, ihr warmer Busen drückten sich weich an seinen Oberkörper.
»Nicht jetzt, Liebes«, seine Nase rieb sanft über ihre duftende Wange, »Erst nach der Totenschau.«
»Romantik: Note Sechs!«, ein schwarzer Kopf zwängte sich zwischen Eileens Beine, »Hallo, was wird das?«, gereizt wich sie zurück und schielte zum Boden: »Verschwinde, das ist mein Mann!«
Mit großen, dunklen Kulleraugen schaute die Hündin verzweifelt und zugleich hoffnungsvoll zu ihr herauf. Ein Blick, bei dem keiner ihr zutraute, auch nur einer Fliege ein Leid zuzufügen. Zumindest so lange, bis sie das Maul aufklappte. Die weiße, V-förmige Fellzeichnung auf ihrer Stirn runzelte sich in besorgten Falten. Hinter den schwarzen Steh-Ohren verlief sich das Weiß zu einem kontrastreichen Nacken-Kragen. Ihr restlicher Körper glänzte komplett in tiefem Schwarz.
Tobler kraulte das samtene, kurzhaarige Fell und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
»Hier«, Eileen hielt ihm seinen Geldbeutel entgegen, »Der ist dir im Schlafzimmer aus der Hosentasche gerutscht!«
Geistesabwesend öffnet Sebastian ihn. Ein Zehner löste sich aus der Geld-Klammer und trudelte hinunter. Vienna schnappte sich ihn aus der Luft und flitzte mit ihrer Beute unter das Fensterbrett mit den beiden Bonsais. Auf ihrer flauschigen Decke beschnüffelte sie ihren Fang ausgiebig.
»Hey, gib her!«, die Zeit drängte, Tobler zog ihr den Geldschein unter den Pfoten weg.
Im Schein der Deckenleuchte blitzten vier kleine Löcher im Papier, »Bitte vereinbare dringend einen Pediküre-Termin beim Tierarzt, Eileen. Ich muss nun los«, der Kommissar beugte sich flink über das Baby-Bettchen neben der Kommode und hauchte seiner kleinen Tochter einen behutsamen Kuss auf die Stirn. Marina schmatzte im Schlaf, ein Fäustchen weit über ihren Kopf gestreckt. Es fiel ihm schwer, sich von ihrem Anblick loszureißen, »Vienna, pass auf meine drei Mädels auf, ja? Ich hol´ mir ein Bocadillo aus der Küche und bin weg.«
»Wir haben keine! Du bist auf Diät!«, erinnerte ihn Eileen.
»Immer noch?«, beim Abdrehen rückte er die beiden Familienfotos auf der angrenzenden Kommode zurecht. Eines zeigte ihn als Kind zwischen seinen Eltern, das andere seine eigene, junge Familie, »Vielleicht finde ich einen Krümel«, doch der Stammplatz seiner Lieblingssüßigkeit war leer. Dafür entdeckte er am Küchenfenster eine tote Fliege. Vorsichtig nahm er einen der starr nach oben gereckten Flügel zwischen die Finger und wandte sich an ein üppiges Spinnennetz, »Morgen Ursula, ausgeschlafen?«, begrüßte er seine schwarze, fast handtellergroße Hausspinne. Zwei filigrane Beinchen winkten aus der schmalen Nische zwischen Hängeschrank und Außenwand zurück.
Tobler hatte diese Spinne von seiner Vormieterin übernommen. Wegen der zarten Behaarung taufte er sie Ursula, kleine Bärin. Jahrelang war sie, oder eine ihrer verdammt ähnlichen Artverwandten, die einzige engere Bezugsperson, der er seine Sorgen und Nöte anvertraue. Seit dieser Zeit besaß Ursula in diesen Zimmern ein uneingeschränktes Wohnrecht. Eileen weigerte sich zunächst, das zu akzeptieren, aber inzwischen arrangierte sie sich mit dem ungewöhnlichen Haustier. Während Ursula sprungbereit ihr Frühstück fixierte, eilte der Kommissar mit seinem Arbeitsrucksack in der Hand in den Windfang.
»Warum forderst du ausgerechnet Roman und Fischler an?« Eileen hielt ihn am Unterarm zurück, »Es ist Sonntag!«
»Genau deshalb, meine liebste Ex-Kollegin. Weil Hiebler keine Kinder hat und die von Bernhard fast erwachsen sind. Für mich als Teamleiter gilt diese Einschränkung leider nicht«, mit der freien Hand schubste er den Kinderwagen vom Flur ins Wohnzimmer, um den Eingang freizubekommen. Mit den vielen Babyutensilien wurde es in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung langsam zu eng.
»Bitte vergiss nicht: mittags, Christkindlmarkt am Marienplatz«, erinnerte ihn seine Frau an ihr Vorhaben, »Unser Fräulein M wird staunen!«
Er nickte gehorsam und hastete die drei Stockwerke hinab. Die Wohnungstür im Erdgeschoss war geschlossen, selbst die neugierige Frau Sommer schlief noch zu dieser Zeit.
Er lief über den Hinterhof und schlüpfte durch das schwere Tor auf den Gehweg. Lieber Gott mach, dass es nicht Friedl ist! Nicht auszudenken, wenn Cornelia direkt nach der frisch abgeschlossenen Ausbildung ihren Kollegen Brunner vom Strang schneiden musste!
Sein VW-Bus parkte in einer Nebenstraße. Der alte T4 diente ihm seit vielen Jahren als treuer Weggefährte. Wenn der Haussegen wackelte, oder Marina nachts ihr Stimmchen trainierte, flüchtete er nur zu gerne in das geräumige Fahrzeug.
»Auf geht´s, mein Alter! Fahr, dass die Räder quietschen«, er klopfte aufmunternd gegen das taubenblaue Blech. Bei der ersten Querstraße sprengten sie, dank Blaulicht, den 139er-Bus zur Seite und jagten durch das nächtliche München. Diese Eile war er dem Deppen Brunner schuldig.
Sebastian erreichte die Einsteinstraße, fuhr von der Nebenstraße ins Parkhaus und schraubte sich bis zum obersten Parkdeck hinauf. Dort hielt er neben einem silbernen Nissan, sprang heraus und warf die Fahrertür so schwungvoll zu, dass es durch das leere Parkdeck hallte. Er rannte zum Studio-Eingang. Die Tür stand offen, ein Streifenpolizist empfing ihn, »Kommissar Tobler? Sie wurden angekündigt«, er nickte vielsagend zu dem VW-Bus, »Manfred Huber«, stellte er sich vor, »Ich war gerade im Block nebenan und sollte die Meldung überprüfen«, er fing Toblers fragenden Blick ins Innere auf, »Tja, wie sag ich´s am besten? Hoffentlich haben Sie nicht gefrühstückt!«
Im Foyer lehnte eine kreideweiße, schlanke Frau mit Kopftuch an der Wand hinter dem dunkeln Empfangstresen. Sie war halb verdeckt durch Proteindosen, kleinere Trainingsgeräte und einer witzigen Skulptur aus Schrauben. Sebastian nickte ihr grüßend zu und eilte weiter ins Studio. Links erstreckte sich ein Meer aus Crosstrainern, Laufbändern und Spinning-Rädern. Im Mittelgang behinderte ein umfangreich ausgestatteter Putzwagen den Durchgang. Rechts imponierten gewaltige Kraftmaschinen wie Butterfly, Bein- oder Bauchpressen. Über einer der Hantelbänke hing ein feuchter Wischlappen, unter ihm glänzte eine kleine Pfütze am Boden.
Er entdeckte Cornelia an der gegenüberliegenden Wand vor einigen wirren Konstruktionen aus Stahlgestängen, Umlenkrollen und Seilen. Seine junge Kollegin glich einem kleinen, verzweifelten Engel: rundes Gesicht, weiche Augen über einer Stupsnase, dazu ein langer blonder Pferdeschwanz. Sie nagte an der Unterlippe, ihre pausbäckigen Wangen zuckten. Cornelia Baumgartner kämpfte sichtlich um Fassung. Kreidebleich starrte sie auf ein Paar braune, einwandfrei gepflegte Sneaker. Unterhalb der obersten Rahmenstrebe baumelte ein Mann, das Gesicht wächsern, die Zunge zwischen den Zähnen, die aufgedunsenen Hände rot-violett bis blaugrau verfärbt.
Gott sei Dank: nicht Friedhelm!
Die Leiche pendelte bei jedem Luftzug leicht hin und her.
Cornelia benötigte schnellstens Beistand vom Krisenteam! Hatte der Schreindingsbums von der Zentrale daran gedacht?
»Morgen!«, er legte Cornelia beruhigend seine Hand auf die Schulter, »Erzähl mir, was passiert ist«, er sah ihr in die Augen, »Und hör bitte auf, dir in die Backe zu beißen«, er kannte diese Reaktion. Schmerz lenkt ab, Schmerz bedeutet, dass du lebst, »Nach einem Sportunfall sieht es nicht aus. Oder kennst du jemand, der mit Jeans und weißem Hemd trainiert?«
»Danke, dass du gekommen bist, Sebi«, flüsterte sie atemlos, »Übernimmst du? Er blutet, ich meine, er hat geblutet«, sie deutete auf die verklebten Haare. Dunkelrote Flecken zogen sich in Striemen bis über seine Schulter, sie schauderte, »Ich bin nach dem Anruf gleich hierher gefahren. Schau ihn dir an: das schmerzverzerrte Gesicht, die aufgerissenen Augen und das dünne Seil! Es ist wie ein Messer in seine Haut eingedrungen!
Die letzten Sekunden müssen furchtbar für ihn gewesen sein!«, sie rang nach Luft, »Und niemand, der ihn aus dieser misslichen Lage befreite. Seine Verzweiflung ...«
»Schließe die Augen. Konzentrier dich auf das Wesentliche: Was sehen wir?«, sanft drehte er sie vom Seilzug weg.
»Aber«, sie lugte über ihre Schulter zum Leichnam zurück und schluckte tapfer, »Ein Toter mit heftiger Kopfverletzung«, stammelte sie verzagt, »Die Schnüre sind wie eine Schlinge um seinen Hals gewickelt.«
»Richtig, der Rest ist Spekulation. Womöglich war es sein Wunsch zu sterben?«, er bugsierte die junge Kollegin ins Foyer und drückte sie auf einen Stuhl am Empfangstresen, »Saubere Arbeit, Cornelia. Aber jetzt warten wir erst Fegers Bericht ab, bevor wir die emotionale Seite betrachten.«
Sein Blick fiel auf die feingliedrige Frau hinter der Theke. Ihre bleichen Züge umrahmt vom hellorangen Hijab erschreckten ihn. Den Kopf an der Wand, die Augen starr, sie zitterte.
»Haben Sie den Herrn gefunden?«
Sie nickte wortlos.
»Kennen Sie den Mann?«
Langsam schüttelte sie den Kopf, »Um diese Uhrzeit putze ich alleine im Studio«, sie spähte zu den Trainingsgeräten, »Es war so furchtbar, wie er da ...«, sie stockte.
Besorgt reichte ihr Streifenpolizist Huber ein Glas Wasser.
Sie ergriff es dankbar und trank es mit gesenktem Kopf aus.
Tobler entschied, ihr vor der Vernehmung etwas Zeit zum Sammeln zu geben.
Die Eingangstür schwang auf, ein frischer Luftzug fegte vom Parkdeck herein. Kam endlich das Krisenteam?
Nein, stattdessen duckte sich ein schlaksiger, junger Polizist durch die Öffnung. Für Roman Hiebler mit seinen 204 Zentimeter Körpergröße eine intuitive Bewegung. Ihre Blicke trafen sich. Romans Lippen formten: Friedl?
Sebastian Tobler schüttelte den Kopf.
»Puh!«, erleichtert schloss der Lange die Augen.
Der dünne, blonde Hüne und Tobler, der kürzere Südamerikaner, bildeten seit etlichen Jahren ein eingeschweißtes Team. Sie verstanden sich wortlos. Es existierten keine Geheimnisse zwischen ihnen, nicht einmal im Privaten. In brenzligen Situationen wünschte sich Tobler niemand anderen an seiner Seite, als Roman Hiebler. Obwohl optisch grundverschieden, harmonierten sie arbeitstechnisch genial: Kombinationsfähigkeit, Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit, meist gute Laune, Spontanität und notfalls auch unkonventionelle Methoden, über die sie nie vor anderen plauderten.
»Danke, dass du dich beeilt hast!«, der Kommissar klopfte seinem Freund auf die Schulter, »Da hinein, bitte!«, mit einer Handbewegung schickte er ihn über die Plattform zum Toten, bevor er sich erneut an Cornelia wandte: »Gute Entscheidung, den Ort zu sichern und Verstärkung anzufordern«, wiederholte er, »Jetzt brauche ich dich hier am Empfang. Wenn die Angestellten der Frühschicht eintreffen, nimm bitte ihre Daten auf. Stifte findest du im Köcher, neben der Schraubenskulptur. Die kleine Hantelbank da vorne«, verdeutlichte er.
»Das Büro!«, unterbrach sie ihn, »Es ist nicht zusammengeräumt. Jemand scheint dort bis spät gearbeitet zu haben.«
»Gut beobachtet, Danke für den Hinweis. Das ist sehr wichtig! Genauso, wie die Aussagen der Mitarbeiter«, er lächelte ihr aufmunternd zu.
Roman wartete vor dem Seilzug auf ihn. Trotz des schaurigen Anblicks schmunzelte er erleichtert, »Der Neue im Präsidium beschrieb am Telefon einen mittelgroßen, kräftigen und glatzköpfigen Mann im mittleren Alter. Ich war überzeugt, dass wir hier Brunner vorfinden würden.«
»Nicht nur du«, Tobler betrachtete die strangulierte Gestalt, »ich hab mich noch nie so gefreut, dass Friedhelm lebt.«
»Und Cornelia?«
»Bei ihr muss ich mir etwas einfallen lassen. Sie wird eine ausgezeichnete Ermittlerin, solange sie die Leichen am Papier vor sich hat. Aber real, direkt vor der Nase?«, er schüttelte bedauernd den Kopf.
»Was denkst du über diesen Strangulierten, Sebi?«
Tobler betrachte den Toten, »Echt schaurig: Die Stricke sind ihm um Körper und Hals gewickelt. Sieht zunächst nach einem
dummen Unfall aus, aber in Jeans und Sneakern?«
»Du tippst auf Absicht?«
»Scheint mir logischer. Er wickelt sich ein und überlässt den Rest der Schwerkraft«, er folgte Romans Blick zu dem üppigen Stapel Gewichtsplatten, der die Reise zum oberen Gerüstbalken massiv beschleunigt hatte, »das zeugt von Willenskraft!«
Lange betrachteten sie schweigend das skurrile Bild des Erhängten. Für Tobler umgab jeden gewaltsam Verstorbenen eine gewisse Aura, als ob verborgene Schwingungen Gefühle in ihm weckten. Gefühle, die ihn anstachelten und leiteten, bis er die näheren Hintergründe zu dessen Ende aufgeklärt hatte. Wie oft hatten ihn ähnlich beklemmende Emotionen in der Kindheit bei aufbrausender Gewalt gewarnt und vor Schlägereien bewahrt? Santiago hatte nie auf seine warnenden Worte gehört. Er seufzte bei dem Gedanken an seinen großen Bruder.
Sebastian sog die abgestandene Studioluft ein. Heute filterte er schneidende Arroganz heraus, und Schweiß. Warmer, stickiger Angstschweiß. Er notierte sich mit seinem Füller die wenigen bekannten Fakten, bis ihn eine wohlbekannte Stimme herumfahren ließ: »Wollt ihr zwei Hübschen mit auf die Spusi-Fotos? Bei eurem zerknautschten Aussehen würde ich es mir zweimal überlegen«, Volkmar Weninger von der Spurensicherung hielt seine Kamera in der Hand, »Zum Glück liegt die Parketage direkt vor dem Eingang. Wenn wir unsere gesamte Ausrüstung die fünf Stockwerke hätten hochschleppen müssen ...«, er ließ den Satz offen und deutete über seine Schulter auf einen Mann mit feinem Gesicht, runder Brille und halblangen, mittelbraunen Haaren, »Mein Chef hat ein paar Fragen.«
»Nur zwei!«, Stefan Meisl setzte die Tasche mit den weißen Schutzoveralls ab, »Unfall, Selbstmord oder Mord? Das abgekürzte Programm oder das Volle?«
»Warten wir die Einschätzung unseres Gerichtsmediziners ab. Wenn ich mich nicht täusche, sind die beiden Ärzte soeben eingetroffen«, Roman schaute über sie hinweg zum Empfang.
»Übler Morgen, oder? Lust auf Fingerstempeln?«, ein hagerer, älter Herr streckte Cornelia den Zeigefinger seiner rechte Hand entgegen, »Für die Erkennungsdienstler, damit die mir nichts unterschieben. Ist der Frühstückskaffee schon fertig?«
»Wehe dir!«, blaffte der Leiter der Spurensicherung zurück, »Finger weg vom Vollautomaten! Hier wird nichts angefasst, bevor wir es untersucht haben.«
»Kein Respekt vor dem Alter!«, Dr. Feger näherte sich der Gruppe. Trotz der frühen Stunde trug er einen Anzug. Schulterlanges, weißes Haar umspielte sein hageres und spitzbübisch lächelndes Gesicht. Er tippte Volkmar Weninger auf die ausladende Schulter, um an ihm vorbei einen prüfenden Blick auf den Seilzug zu werfen, »Von wegen: Frühsport ist gesund«, die Finger zwirbelten den getrimmten Vollbart, während er die Verläufe der einzelnen Seile inspizierte, »Das kommt davon, wenn man die Gebrauchsanleitung ignoriert.«
Hinter ihnen schlüpften Meisls Leute in ihre Overalls. Die Ersten sperrten die Umgebung mit Bändern ab, krabbelten über den Boden und fotografierten jeden Winkel.
»Morgen, Gustav«, Tobler reichte dem Gandalf-Double die Hand, »Du warst schnell hier! Hast du die Nacht im Kühlhaus der Rechtsmedizin durchgearbeitet?«
»Morgenstund´ hat Gold im Mund heißt es, oder? Wäre das nicht ein lukratives Motiv, um jemand in aller Herrgottsfrüh zu erdrosseln, oder?«, er deutete auf die Zunge zwischen den blutleeren Lippen des Glatzkopfes, »Der Kerl hat es perfekt eingefädelt: nicht nur sich selbst, sondern auch unser gemeinsames Treffen hier«, er wandte sich betont theatralisch zum Eingang, wo ein rundlicher Mann mit hellbraunen Haaren, zirka vierzig Jahre, umständlich in seiner Mappe kramte, »Dr. Teubner, wo bleiben Sie? Ist der hier nun tot oder nicht? Wir würden gerne mit der Arbeit anfangen!«
»Lass ihn. Du weißt, wie er seinen Job hasst!«
»Er braucht doch nur einen Totenschein auszustellen, dabei macht er sich nicht einmal die Finger schmutzig, oder?«
»Scht!«, Tobler nickte verschwörerisch zu Cornelia, die just Dr. Teubner hilfsbereit einen Stift reichte.
Keine fünf Minuten später, hielt der Kommissar die amtliche Bestätigung in Händen, »Los geht´s, Gustav!«, er nickte zu der Leiche, »Die staatsanwaltschaftliche Anordnung ist sicher.«
Gustav trat dicht an den Leichnam, »Wie das Leiden Christi«, er bekreuzigt sich und murmelt ein unverständliches Gebet, »Noch dazu an einem Sonntag vor der heiligen Messe! Wie soll seine Seele Frieden finden?«, schloss er die Vorbereitung ab. Er untersuchte den baumelnden Körper vor ihm, »Siehst du das fulminante Farbenspiel in seinen Händen? Wie ein depressiver Regenbogen, oder?«, dann reckte er sich zum Hals des Toten, »Akkurat eingebunden! Ein Perfektionist, der ganz sicher geht. Bringt mir jemand eine Leiter, oder?«
Tobler gab Volkmar Weninger ein Zeichen, zu dem Mediziner gewandt, »Wie lange hängt er schon?«
»Ich spiel ein bisschen mit den Totenflecken, damit erhalten wir einen Daumenwert. Hoffentlich ist der Kerl nicht kitzelig.«
»Unwahrscheinlich«, Tobler verfolgte, wie Feger die Zehen drückte und die Sprunggelenksgegend abtastete.
»Sind leicht wegzuschubsen. Bis Elfe hielt er sich beim Ableben locker zurück«, Feger warf die Handschuhe in den Mülleimer, »Da kommt ja mein Treppchen!«
Weninger schleppte zwei robuste, höhenverstellbare Steppbretter heran, »Reicht das?«
Der betagte Arzt kletterte darauf und untersuchte die Halspartie, »Ordentliche Strangulationsmarken, drei Millimeter tief. Abgeschabte Oberhaut, die Lederhaut aktuell nicht getrocknet«, diktierte er dem Kommissar in den Notizblock, »Reichst du mir bitte das Fläschchen zur Pupillenerweiterung, Sebastian?«, die ersten Tropfversuche schlugen fehl, »Der Kerl dreht sich ständig von mir weg. Schämt er sich wegen der vollen Hose, oder? Sträubt er sich deshalb, mir posthum in die Augen zu sehen?«, er versuchte es erneut und seufzte, »Halt bitte ihm sein eiskaltes Händchen, die Tropfen sind teuer.«
»Ungewollter Kotabgang zählt nicht bei Etikette-Fragen«, murmelte Tobler. Widerwillig beäugte er die dicken, verfärbten Finger und entschied sich für die stoffbedeckte Hüfte, »Roman, bitte kümmere dich um die Reinigungskraft«, gab er weitere Anweisungen, »Hauptaugenmerk auf die Fragen: Ist ihr etwas aufgefallen? Gab es Veränderungen? Hinterher unterstütze bitte Cornelia bei den Vernehmungen des Personals. Von den eintreffenden Kunden vermerken wir nur die Daten und schicken sie heim. Meisl dreht durch, wenn jemand eine Spur zerstört.«
»Du redest wie bei einer Mordermittlung.«
»Liegt gewiss an meinem Beruf«, hoch über ihm flackerte der Lichtkegel einer Taschenlampe auf.
»Alle Körperzellen abgestorben, keine Pupillenreaktion. Es sind rund fünf Stunden vergangen, seitdem er sich hier völlig verstrickt hat und ihm die Lebensfäden aus den Händen entglitten sind«, Feger registrierte, wie Roman einen Weg durch die weißgekleideten Kollegen der Spurensicherung suchte, »Wie kleine Schneebälle, hoffentlich hinterlassen sie keine Pfützen«, der Arzt deutete auf vereinzelte Blutspuren unterhalb des Seilzuges, »Wir haben hier eine makabere Neufassung von Schneeweißchen und Rosenrot, oder? Märchen sind grausam!«, mit zwei Fingern löste er die eingeklemmte Zunge zwischen den Zähnen des Toten und leuchtete in dessen Rachen, »Der Ober-Schneemann erwartet eine Antwort für die Programmwahl.«
Tobler entdeckte Kollegen Fischler im Eingang, »Aber ohne mich,«, er eilte auf ihn zu, »Schön, dass du hier bist, Bernhard. Komm mit, laut Cornelia ist eines der Büros auffällig. Womöglich hat der Tote hier etwas gesucht. Mit Glück finden wir dort einen Abschiedsbrief oder einen Hinweis auf seine Identität.«
»Halt!«, Volkmar Weninger trat ihnen in den Weg, er reichte zwei Paar Schuhhussen über die Theke, »Fasst bloß nichts an, bevor wir durch sind, und passt auf, wohin ihr tretet. Sebastian, dürfen wir den Knaben nach den Fotos abknüpfen?«
»Jederzeit, sobald Feger das Okay gibt.«
Vom Eingangsbereich zweigte ein kleiner Flur zu den Büroräumen ab. Das erste Zimmer entpuppte sich als Sekretariat: zwei gegenüber gestellte Schreibtische mit je einer Blühpflanze, Telefon und Computer. Keine offenliegenden Dokumente. Dahinter jede Menge Ablageschränke, über denen das Firmenlogo an der Wand prangte. Die weiteren Bilder in diesem Raum zeigten farbenfrohe Urwaldlandschaften mit sonnengebräunten, hochkonzentrierten Läufern, Kletterern und Schwimmern. Die Tür zum zweiten Raum stand offen, einige Papiere lagen quer über den Tisch verstreut oder stapelten sich am Tischrand. Der Computer lief auf Standby, »Cornelia hatte recht, hier wurde bis zuletzt gearbeitet. Der vordere Schreibtisch ist blank, doch hinten«, Tobler wischte mit dem Finger an der Kante, »Staub.«
»Bist du aber pingelig!«, Bernhard betrachtete die Gruppenaufnahme an der Wand, »Das sieht nach dem Chef-Büro aus, was uns bei der Identität des Toten weiterhilft.«
»Außer, der Mann ist hier eingebrochen, hat etwas gesucht, es gefunden, war entsetzt darüber und zog die entsprechenden Konsequenzen.«
»Du liebst es kompliziert, oder?«
»Nein, Bernhard, aber wir sollten jede Möglichkeit durchspielen, bevor wir sie verwerfen. Ich tippe auf Vertrauensbruch, Kündigung oder eine psychische Sackgasse. Bitte bring den PC zu Jörg und mach unserem dicken IT-ler etwas Dampf. Ich sehe mir inzwischen diese Papiere an.«
»Daraus wird nichts!«, hinter ihm betrat Volkmar Weninger das Büro, bekleidet mit Overall, Handschuhen und einen Pack Sammeltütchen am Gürtel. Zwei weitere Kollegen begleiteten ihn, »Wir sehen uns hier vorsorglich um, bis Feger Fremdeinwirkung zu 100% ausschließt. Wäre freundlich, wenn ihr mir die Angestellten vom Hals haltet«, er deutete in den Eingangsbereich, der sich langsam füllte, »Der Leichentransport ist eben eingetroffen. Die Stimmung da draußen kippt gleich.«
Seit 5:45 Uhr tröpfelte das Studiopersonal ein. Manfred Huber brachte sie zum Aufenthaltsraum, wo Cornelia ihre Daten aufnahm. Die Belegschaft wurde schnell ungeduldig, ihr Murren immer deutlicher. Sie verstrickten sich in wilde Hypothesen für den Grund ihrer geplatzten Zeitpläne. Höchste Zeit, dass Tobler und Bernhard deren Befragungen unterstützten.
Gegen 6:00 Uhr tauchten die ersten Kunden auf. Sie wunderten sich über den untypischen Auflauf im Eingangsbereich. Huber notierte ihre Adressen und schickte sie nach Hause. Immer wieder warf er einen verstohlenen Blick zu dem hochgeschossenen Beamten: Wieso hockte dieser Hiebler so lange mit der Reinigungskraft hinter der Theke am Fußboden?
Wenig später erhob sich Roman, »Danke, Frau Hartmann. Ist jetzt jemand bei Ihnen zu Hause, oder leben Sie alleine?«
»Meine Mutter, sie wartet sicher schon auf mich.«
»Mein Kollege ruft Ihnen ein Taxi und informiert Ihren Arbeitgeber«, er gab Huber ein Zeichen, »Unsere psychologische Betreuerin wird Sie später besuchen. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte«, er steckte den Notizblock ein.
Frau Hartmann nahm seine angebotene Karte und schickte sich an aufzustehen. Sofort streckte ihr Huber seine Hand entgegen, »Ist Ihnen schwindelig? Ich begleite Sie nach unten.«
»Sorry«, stoppte ihn Roman, »aber wir brauchen Sie hier«, grinsend beobachtete er, wie Huber der jungen Putzfrau betrübt nachsah, »Kleiner Tipp«, raunte er ihm zu, »Jedem der beteiligten Polizisten ist es erlaubt, das Protokoll einzusehen. Dort finden Sie ihre Telefonnummer.«
Eine dürre, durchtrainierte Frau drängte sich vor Huber, sie stemmte ihre Hände in die Taille, »Wie lange gedenken Sie uns hier aufzuhalten und wieso schicken Sie unsere Kunden weg?«, herrschte sie Roman ungeduldig an, »Wir haben ein Recht auf Information!«, in ihren Augen blitzte Wut. Sie war schlank mit sehnigen Armen, energisch gezupften Augenbrauen, das brünette Haar kinnlang geschnitten, Seitenscheitel.
Wo blieb ihr Respekt vor der Polizei? Das Lächeln auf den Zügen des Langen gefror, »Sie sind ...?«
»Katja Wilkens. Quasi die rechte Hand des Filialleiters!«
Roman fing die gequälten Blicke der Mitangestellten hinter ihr auf. Einer schüttelt entrüstet den Kopf.
»Dann sind Sie genau die Richtige, Frau Wilkens. Bitte folgen Sie mir«, er schritt voraus.
»Ist Bodo nicht hier? Sein Wagen steht draußen.«
»Wer ist Bodo?«
»Na, der Chef natürlich, Bodo Haas. Sagen Sie mir endlich, was dieser Zirkus hier bedeutet!«
Als Antwort bog Roman um die Trainingsgeräte. Die Seilenden baumelten inzwischen lose vom Seilzug. Davor hockten zwei Männer in schwarzen Anzügen und verfrachteten den leblosen Körper in die Zinkwanne.
Feger verfolgte ihre Arbeit kritisch, »Nicht knicken! Sonst rutschen die Bandscheiben aus den überdehnten Wirbeln.«
Mit stoischen Mienen ergriffen die Bestatter zeitgleich den Deckel und schlossen die Wanne, als folgten sie einer fest einstudierten Choreographie.
»Das verfälscht das Obduktionsergebnis!«, moserte Gustav weiter und sah sich verärgert um. Er bemerkte Roman, seinen genervten Gesichtsausdruck und die unwirsch, ständig auf ihn einplappernde Frau hinter ihm. Er ahnte, was folgen würde. Ein schadenfroher Glanz trat in seine Augen, »Ich weiß nicht, ob es Ihnen gefallen wird, mein Fräulein«, er wandte sich an die zwei Schwarzgewandeten am Zinksarg, »Bitte öffnen!«, intonierte er mit beschwörend erhobenen Händen, eine Gebärde, die seinem Spitznamen ´Gandalf´ alle Ehre erwies.
Die Anzugträger sahen sich seufzend an, nickten und gehorchten widerwillig.
»Nein!«, entsetzt schlug sich Katja Wilkens die Hände vors Gesicht.
»Sie erkennen ihn, oder?«, Gustav hasste diesen Frauen-Typ »Ist er nicht ausgezeichnet gelüftet und abgehangen?«
Einen gottvollen, viel zu kurzen Augenblick, schwieg Frau Wilkens. Dann straffte sich ihr Körper, »Bis weitere Anweisungen eintreffen, übernehme ich die kommissarische Leitung dieser Filiale«, sie wandte sich an den Polizisten, »wir werden ab jetzt eng zusammenarbeiten, bis Bodos Tod aufgeklärt ist. Verlassen Sie sich auf mein kriminalistisches Gespür.«
»Sicher«, Roman hakte die Dame unter und führte sie in die verwaiste Ecke bei den Crosstrainern, »Aber zunächst erzählen Sie mir alles, was Sie über Bodo wissen«, er zückte sein Handy und tippte eine SMS.
Nur wenige Meter entfernt brummte es in Toblers Hosentasche. Der Kommissar überflog die gerade eingegangene Nachricht: Bodo Haas, Studioleiter. Er schnaubte leise, »Neuigkeiten«, er zeigte die Notiz Bernhard Fischler und Cornelia Baumgartner, »Ich informiere Stefan, der flöht soeben das Büro des Toten«, damit eilte er hinaus.
»Fein, dass du kommst, Sebastian«, empfing ihn Meisl aufgekratzt, und winkte ihn heran, »Wir haben was für dich. Schau dir mal die Papiere auf dem Schreibtisch an.«
»Eine Verkaufsanzeige in Autoscout24?«
»Und das Foto! Wäre der Wagen nichts für dich?«
»Falls du das Original besichtigen möchtest: Es steht vorne auf der Parkfläche«, ergänzte Volkmar.
»Danke, aber ich bleib meinem T4 treu. Was bedeutet dieser Vermerk?«, Tobler wies auf eine handschriftliche Notiz am Seitenrand, »´Bekensen, VB 91.900 €, Hamburg 16:51, München 23:07´, eine Bahnanreise?«
»Bekensen klingt nach einem Namen.«
»Möglich. Ich gebe es an Sonja durch«, er drehte das Blatt in den Händen. Auf der Rückseite leuchteten zwei Worte in fetten, roten Lettern: ´es reicht!!!´, zweimal unterstrichen mit drei dicken Ausrufezeichen.
»Kein Wunder bei der Summe.«
»Von wegen: Der Verkauf ist geplatzt«, Stefan Meisl legte ihm zwei unvollständig ausgefüllte Formulare vor, »Auf beiden Verträgen fehlen die Käuferadresse und die Unterschriften.«
»Geiler Wagen, trotzdem!«, skandierte Weninger.
»Herr Kommissar?«, Streifenpolizist Manfred Huber lehnte in der Tür, hinter ihm krabbelte einer der weißgewandeten Spurensicherer über den Flurboden, »Die Teamassistentinnen sind eingetroffen. Frau Baumgartner empfiehlt, dass Sie deren Befragung durchführen.«
»Hab schon verstanden: Die Damen trösten und verkünden, dass sie sich auf einen neuen Chef einstellen dürfen«, übersetzt Tobler Cornelias Bitte, »ich komme.«
Im Gang stieß er auf die Bestatter mit ihrer schweren Last, er ließ ihnen den Vortritt. Instinktiv schaute er zum Seilzug hinüber. Dort verstaute eben der Rechtsmediziner seine Utensilien in einer braunen Ledermappe.
»Etwas herausgefunden, Gustav?«
»Hier? Wie denn? Und wer putzt hinterher die Sauerei weg, Junge?«, der alte Mann schob sich eine weiße Haarsträhne hinters Ohr, »Das erledige ich in meinem Eiskeller, auf dem Bankerl mit Saftrand und dem Tablett für die Instrumente.«
»Trotzdem, ein kurzer Überblick, bitte. Wie intensiv müssen Meisls Leute suchen?«
»Dieser Haas war ein gelenkiges Bürschchen, sonst hätte er es nie geschafft, sich derart in die Seile zu wickeln. Er bietet uns gleich zwei hundertprozentige Todesarten: erdrosselt durch den Strick, gepaart mit Genickbruch.«
»Todeszeitpunkt?«
»UmMitternacht. Seine Körpertemperatur liegt sieben Grad unter Normal. Es spielt jedoch eine Rolle, wie aktiv der Knabe vor seinem finalen Seilakt war. Bei sportlicher Beschäftigung stieg seine Temperatur auf einen höheren Ausgangswert, was meine Einschätzung verfälschen würde, oder?«
»Sport in Jeans? Nie!«
»Einverstanden«, Gustav schürzte die Lippen und nickte zustimmend, »was ist mit eurer jungen Kollegin los? Sie ist bleicher wie mein lebloser Neuzugang.«
»Sie packt keine halbwarmen Toten«, Sebastian schielte zu Cornelia, »Deshalb hatte ich ihr eine ruhige Schicht zugeteilt.«
»Aber die Leichen spuren nicht die Bohne, oder? Sie sollten ihre Selbstmordabsichten besser mit dir abstimmen.«
Tobler nickte, »Melde dich bitte, sobald du mehr weißt.«
»Versprochen«, der einst goldglänzende Verschluss der ärztlichen Ledermappe schnappte demonstrativ laut ein. Dr. Feger verließ das Studio mit wehendem, weißen Haar.
Tobler trat an die bodentiefe Fensterverglasung und schaute auf eine geräumige Terrasse. Unter der frischen Schneeschicht versteckte sich eine Gruppe moderner Gartenmöbel aus schwarzem, künstlichen Korbgeflecht. Am Horizont erwachte die rötliche Sonne und eröffnete ihre tägliche Wanderung über die Münchener Skyline. Ihre ersten Strahlen tauchten das Wahrzeichen der Stadt, die ehrwürdige Frauenkirche, in zartes Rosa.
Und jetzt? Er zog sein Diensthandy hervor. Viennas große, dunkle Kulleraugen himmelten ihn vom Hintergrundbild an, er lächelte und zögerte.
Wie riskant war es, Hauptkommissar Kowalski um diese Uhrzeit aus den Träumen zu reißen? Oder würde es ungleich mehr Vorwürfe hageln, wenn er den Chef mit Verspätung informierte? Die Chancen auf einen Anpfiff standen 1:1. Er tippte die Nummer. Zu Sebastians Erleichterung meldete sich Reginas Stimme von der Mailbox. Er hinterließ eine kurze Situationsbeschreibung und bat um Rückruf.
Für einige Sekunden blieb er stehen und verlor sich in dem gigantischen Ausblick über die schneebedeckten Dächer ihrer Landeshauptstadt. Wenn die Sache vorbei war, musste er unbedingt mit Eileen hierher kommen. Im Stillen rekapitulierte er die ersten Ergebnisse. Der skizzierte Ablauf war nicht rund für ihn, etwas störte. Bodo Haas, der Filialleiter des Life-Power war tot. Unfall oder Selbstmord? Wenn er sich selbst entschieden hatte, wieso wählte er diesen grausamen Weg? Warum hier an seinen Arbeitsplatz und nicht in seinem vertrauten, privaten Umfeld? Weshalb hinterließ Haas eine frustrierte Notiz. Waren es seine Abschiedsworte?
Er seufzte, ihm fehlten viele Antworten. Hoffentlich brachte ihn die Vernehmung der Verwaltungsdamen voran.
Vor ihm saß eine kleine, wohlgenährte Frau Mitte zwanzig. Ihre langen, blonden Haare trug sie streng zu einem Franzosenzopf geflochten. Einige neckische Locken kräuselten sich am Haaransatz. Zwei tiefe Fältchen am Nasenrücken verrieten ihre Anspannung. Unter den vereinzelten Sommersprossen leuchteten hitzige Flecken auf ihren Wangen. Anja Eckert knetete nervös ihre Finger, sie wartete auf eine Erklärung für diesen Trubel. Neben ihr kaute eine jüngere Frau an der Unterlippe. Immer wieder fuhr sich Jolanda Valweig mit der Hand durch den schwarzgefärbten Bubikopf. Ihr Teint wirkte blutleer, fast wächsern. Dicker schwarzer Kajal verlieh ihrem Aussehen etwas Gruseliges, dass durch den gleichfarbigen Pullover, einen ebenso schwarzen Lederrock und einer Strumpfhose mit absichtlichen Rissen noch unterstrichen wurde.
»Kommissar Tobler, Kripo München«, stellte er sich vor, »Wir wurden zu einem Todesfall gerufen. Eine Ihrer Kolleginnen identifizierte den Toten als Herrn Haas.«
Anja riss die Augen auf, »Was? Das, das ...«
Jolanda sprang auf die Füße, sackte jedoch gleich wieder kraftlos auf den Stuhl zurück.
Der Kommissar räusperte sich verlegen, »Ich verstehe Ihre Bestürzung. Leider muss ich Ihnen trotzdem einige Routinefragen stellen. Wie lange kannten Sie Herrn Haas?«
»Ich, über vier Jahre. Jolanda erst seit fünf Monaten.«
»Sieben«, korrigierte die Düstere.
»Von mir aus sieben!«, Anja Eckert schnaubte unwillig aus, »Mein Gott, ist das wahr? Bodo ist tot? Hier? Wieso?«
»Das würde ich ebenfalls gerne wissen. Sie können mir helfen die Umstände zu verstehen«, er legte seinen Block und den Füller zurecht, »Verhielt sich ihr Chef in letzter Zeit irgendwie verändert?«
Anja überlegte, »Er war sonderbar, nervöser.«
»Wir schoben es auf die zusätzliche Arbeit.«
»Wie meinen Sie das?«
Sie wechselten einen Blick. Die Entscheidung fiel auf Frau Ebert, »Er hat Marc gekündigt und bisher keinen Ersatz gefunden«, druckste sie leise, »Momentan ist es aussichtslos jemand geeigneten am Arbeitsmarkt zu finden.«
Tobler erinnerte sich: »Stimmt, Kollege Brunner hat es nach dem Studio-Einbruch anklingen lassen. Wann war der genau?«
»Am 30. September«, antwortete Jolanda einsilbig.
»Er trainiert angeblich hier regelmäßig, kennen Sie ihn?«
»Natürlich. Er ist ein angesehener und charmanter Kunde«, Anja rutschte nervös auf ihrem Stuhl, »Solche bräuchten wir mehr. Friedhelm half uns bei den internen Ermittlungen. Absolut professionell und vertraulich. Die Presse hat nichts mitbekommen. Sonst wäre es eine Katastrophe gewesen!«
»Sie sagten eben: Herr Haas war sonderbar. Bitte genauer.«
»Seit dem Einbruch blieb er oft länger im Büro«, plauderte Anja, »Nicht selten war er spätnachts der Letzte.«
´Spätnachts, alleine auf der gesamten Ebene´, notierte sich Tobler mit dem Füller.
Jolanda ergänzte, »Er verschloss seine Zimmertür, wenn er den Raum verließ«, sie bewegte nur ihre Lippen.
»Wissen Sie warum?«
»Nein«, jetzt wieder die quirlige Anja, »er meinte nur kürzlich, wie er zur Toilette ist: Habt´ ein Auge auf mein Büro. Als
ob jemand unbemerkt an uns vorbeikommen würde!«
»Er hatte Angst.«
»Angst? Wovor?«
Jolanda zuckt mit den Schultern, »Nur ein Gefühl«, sie verstummte ohne eine Gesichtsregung.
»Und sonst, irgendwelche Hinweise, besondere Vorkommnisse?«
Anja kratze sich nachdenklich am Kinn. Man sah, dass sie fieberhaft überlegte, aber sie blieb stumm.
»Der Wagen«, flüsterte die nüchterne Stimme der Jüngeren.
»Ja, sein Wagen!«, übernahm Frau Eckert, »Seit der letzten Reparatur fehlen die beiden Firmenlogos auf der Karosserie. Dabei legte Bodo enormen Wert darauf, dass alle Angestellten mit diesen Aufklebern rumkutschieren.«
»Was war beschädigt?«, der Kommissar skizzierte ein Auto.
»Irgendein Idiot hatte die Fahrertür zerkratzt. Bodo ließ sie frisch lackieren.«
»Mit einem Schlüssel«, Jolandas knappe Einwürfe verbreiteten eine ebenso düstere Stimmung, wie ihr Äußeres.
»Kennen Sie die Werkstatt?«
»Nein, ist das wichtig?«, Anja wandte sich an ihre Kollegin, »Weißt du, wohin er ihn gebracht hat?«
»Am Block.«
»Sorry für die Störung«, Stefan Meisl der Leiter der Spurensicherung steckte seinen Kopf ins Zimmer. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck versprach einen Knaller, »Bitte komm mal«, sein Blick huschte zu den beiden jungen Damen.
Kommissar Tobler entschuldigte sich bei den Frauen und folgte ihm in den Flur. Dort erstreckte sich ein wahres Spinnennetz aus kreuz und quer angebrachten Absperrbändern.
»Hier, an der unteren Tresen-Wand und am Boden. Siehst du die winzigen Blutreste?«, Meisl deutete auf eine markierte Stelle zu ihren Füßen, »Jemand hat versucht sie wegzuwischen, aber ohne Meister Propper wird daraus nichts. Blöd ist, dass inzwischen etliche Personen hineingetreten sind.«
»Blutspuren? Bist du sicher?«
»Für was hältst du das? Kirschlikör?«
»Wie alt sind die?«
»Was willst du noch wissen? Männlich oder weiblich, Übergewicht, Diabetiker, Blutgruppe, Menstruationspanne?«
»Du kennst mich«, Tobler grinste zufrieden.
»Ein brutaler Mord wäre dir wohl lieber? Ordinäres Nasenbluten wegen Überanstrengung kommt dir nicht in den Sinn?«
»Oder ein geschnittener Finger, schon klar«, Tobler suchte die Reinigungskraft. Hatte sie den Flur gereinigt, aber die roten Schlieren übersehen? Doch Frau Hartmann saß längst im Taxi.
»Warte, es wird noch besser«, strahlte Meisl ihn an, »Wir haben den Grund für seine nächtlichen Überstunden entdeckt!«
Eine dünne Staubschicht tauchte die Oberflächen der altmodischen Möbel in sanftes Grau. Sie verlieh den unzähligen Spinnweben einen pelzigen Charakter. Am rohen Ziegelboden türmten sich alte, wellige Kartons. Ein buntes Sammelsurium abgenutzten Hausrats lehnte an den Wänden und hoffte, irgendwann wieder benutzt zu werden. Ramponierte Möbel stapelten sich neben einer vierbeinigen Emaille-Wanne. Etliche vollgestopfte Kleidersäcke füllten ihren weißen Bauch. Angrenzend ragte ein unförmiger Schrankkoffer in den Raum. Durch eine klaffende Lücke zwischen den eingelagerten Einrichtungsstücken führte eine Tür zu einem weiteren Zimmer. Momentan war sie fest geschlossen. Im hinteren Teil des Gewölbes stand ein Tisch an der Wand. Eine verbeulte Pixar-Tischlampe ergoss ihr trübes Licht aus dem trichterförmigen Schirm über seine abgeschabte Platte. Der Rand des Lichtkegels durchschnitt eine krakelige Kinderschrift mit schwarzem Edding: ´Mama ist lieb´. Von Fernem dröhnte das monotone Rumpeln einer Trambahn durch die Kellerdecke. Ein altvertrautes, beruhigendes Geräusch. Im kümmerlichen Schein der alten Glühbirne erschien selbst die Gestalt auf dem hölzernen Bürostuhl grau und eins mit der Umgebung.
Er hatte gelacht.
Lauthals gelacht!
Im Kopf fügten sich einzelne Szenen aus der jüngsten Vergangenheit zusammen.
Sie standen sich gegenüber, »Bevor wir diesen Kaufvertrag durchgehen, hätte ich einige Fragen an Sie. Fragen in einer anderen Sache«, es folgte ein Name.
Bodo Haas hatte wortlos zugehört, »Ach wegen dem sind Sie hier!«, überrascht? Ja. Verunsichert? Nein
»Sie haben den Fahrer herausgefordert. Damit sind Sie mitschuldig am Tod des Passanten. Stellen Sie sich! Gestehen Sie Ihr Vergehen. Mir liegt viel an Gerechtigkeit.«
»Sie haben eine grandiose Phantasie!«
»Phantasie? Nein, Beweise.«
»Ach ja? Welche?«
»Ihren Wagen.«
Ein fast unmerkliches Zucken tanzte um seine Mundwinkel, »Der steht zum Verkauf, sonst nichts.«
»Ihr Fahrzeug wurde in jener Nacht erkannt, es gibt einen Zeugen.«
»Quatsch! In diesem Fall hätte sich die Staatsanwaltschaft längst bei mir gemeldet!«
»Der Zeuge zog seine Aussage zurück, aus Angst?«
»Mal ehrlich, das klingt doch von sehr weit hergeholt, nicht wahr? Ich muss mir solche unsinnigen Vorwürfe nicht länger anhören«, Haas stand auf, nur ein dünner Schweißfilm auf der Stirn verriet seine Anspannung, »ich bringe Sie zur Tür!«, der Studioleiter manövrierte den späten Besucher zum Ausgang.
»Das Firmenlogo ist eindeutig. Wer darauf achtet, übersieht es nicht. Ich bin die Parkhäuser sämtlicher Life-Power Filialen abgelaufen«, ihr Weg endete zunächst am Tresen, hinter ihnen erstreckte sich die Geräte-Plattform, »Und dann entdeckte ich den fraglichen Nissan auf der gleichen Parzelle, auf der er auch heute steht.«
»Das besagt gar nichts. Viele Menschen parken ihre Autos auf Stammplätzen.«
»Silberne Nissan GT-Rs sind teuer und daher selten. Sie fallen auf. Werkstätten erinnern sich daran.«
»Werkstätten?«, der Filialleiter öffnete einen weiteren Kragenknopf.
Ihre Stimmen wurden lauter, die Gebärden drohender.
»Ihre Empfangskraft plaudert gerne, wussten Sie das nicht? Ich fragte sie nach dem Besitzer des sportlichen Nissans, weil ich auf der Suche nach einer vertrauenswürdigen Werkstatt sei. Sie erzählte mir unverblümt: Herr Haas fährt mit seinem Auto zum Nissan-Center Pasing, Landsberger Straße.«
»Das ist ...«
»Der dortige Mechaniker war genauso gesprächig. Er erinnerte sich recht gut an Ihr großzügiges Trinkgeld, damit er das Firmen-Logo über Nacht entfernt. Jetzt überzeugt? Sie trifft Mitschuld, Herr Haas!«
Dicke Schweißtropfen rannen über die Wangen des Studioleiters. Verstohlen wischte er sie mit dem Handrücken weg, er stöhnte leise und rang nach Atem, »Sind Sie verrückt? Ich habe mich auf die Straße konzentriert. Ein Mann lag auf der Fahrbahn! Ich bin vorbeigefahren, ohne ihn zu berühren. Was interessiert mich ein Syrer auf der anderen Straßenseite?«
»Der Syrer ist tot!«
»Mein Gott! Ich hab ihm nichts angetan. Es war doch nur ein Syrer!«
Nur ein Syrer. Selbst jetzt, Stunden später, weit von dem Studio entfernt, schauderte der gestrige Gast. Das Halbdunkel des Kellergewölbes verstärkte das beengende Gefühl in der Brust. Der Druck stieg unerbittlich, die Halsschlagader schwoll zu einem dicken, pulsierenden Strang an.
Die restlichen Szenen des vergangenen Abends blitzten in der Erinnerung wie kurze Kinospots auf: das verzerrte, wutgerötete Gesicht des Studioleiters. Sein fiebriges Warten auf eine Reaktion.
Die fassungslose Stille nach seinen provokanten Worten.
Haas interpretierte sie als Sieg bei ihrem Disput, er lachte kurz und triumphierend.
Er lachte!
Sein höhnisches Grinsen brachte das Fass zum Überlaufen. Die bisher nur mühsame aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung zerfloss wie Eiswürfel im Sonnenschein.
Keiner von ihnen, dachte noch an das ausgeschriebene Auto auf dem Parkdeck.
Die Gedanken setzten aus, die behandschuhten Hände reagierten selbstständig. Reflexartig griffen sie nach dem erstbesten Objekt, holten aus und donnerten es gegen den Kopf des eben noch zufrieden grinsenden Studioleiters.
Nur ein Syrer!
Einmal, zweimal, dreimal. Ein Schlag pro Wort.
Der hochmütige Fatzke sank wortlos zu Boden. Eine kleine Blutlache besudelte das Laminat. Sein Atem erstarb. Gebrochene, leere Augen starrten nach oben. Tot.
Zögern. Und jetzt?
Ihn liegen lassen und davonlaufen? Oder einen Unfall vortäuschen, um die Polizei hinters Licht zu führen?
Ein suchender Blick jagte über das Meer an Fitnessgeräten. Die Augen fokussierten sich auf das Ungetüm aus Stahlstreben und Seilen in der hintersten Ecke. Zwei trainierte Hände packten den Mann unter den Schultern und versuchten, ihn anzuheben. Sie scheiterten kläglich am Gewicht des leblosen Körpers. Beim Ablegen löste sich ein Schalende aus dem Mantelkragen und streifte über die blutende Kopfwunde.
Entsetzt wurde es zurückgerissen, bloß keine Flecken! Vorsichtshalber verschwand der Stoffstreifen in der Manteltasche.
Der nächste Erinnerungsfetzen zeigte den Wellnessbereich, ein voller Korb gebrauchter Saunatücher. In der folgenden Sequenz wurde der schlaffe Mann auf einem Laken zum Seilzug geschleift. Flinke Bewegungen formten aus einem der Zugseile eine Schlinge. Die andere Hand fixierte die maximale Anzahl Gewichte mit dem Dorn. Der Horizont verschob sich: Unter Einsatz des eigenen Körpergewichtes wurde die Schlaufe zum Boden gezerrt und um den Hals des Filialleiters gelegt. Der zweite Haltegriff verhinderte, dass sich die Schlinge unter der Belastung löste. Beide Hände ließen gleichzeitig los, der Strick riss den Mann empor, sein Schädel knallte gegen das Metallgestänge, genau auf die Kopfverletzung, noch mehr Blut ...
Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Blutspuren am Gang beseitigt waren. Der späte Gast stand schwer keuchend auf dem Parkdeck, direkt neben dem silbernen Nissan. Allmählich beruhigte sich sein Atem. Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar. Ein warmer Strom der Zufriedenheit durchflutete jede Körperzelle. Das berauschende Gefühl zauberte ein glückliches Lächeln auf das erschöpfte Gesicht.
Von wegen: nur ein Syrer!
Dieses Lächeln wiederholte sich soeben im spärlich beleuchteten Kellergewölbe. Gab es überhaupt noch ein Zurück? Der alte Holzstuhl scharrte über den Ziegelboden, Schritte passierten den Zugang zum anderen Raum, näherten sich dem schäbigen Schrank. Die gleichen Hände, die gestern einen Mann ermordet hatten, hoben vorsichtig eine Leica aus dem Fach. Über das Kamera-Display huschten die letzten Bilder: Alle Versuche dokumentiert, die Unterlagen fotografiert, und sämtliche verräterischen Papiere vernichtet. Die Vorbereitungen waren nahezu abgeschlossen, das notwendige Material bereit. Lautlos lösten die Finger die Speicherkarte aus dem Gehäuse und steckten sie in ein vorbereitetes Kuvert. Die Adresse führte zu einem selten besuchten Postfach in der Fraunhoferstraße.
Nur keine Spuren hinterlassen!
Das Prepaidhandy für die Kontaktaufnahme mit Bodo Haas ruhte längst mitsamt der Schlagwaffe am Grund des Kleinhesseloher Sees, vermengt mit dem Müll der anderen Besucher des Englischen Gartens. Vom blutverschmierten Laken zeugte nur noch ein Häufchen Asche. Sämtliche E-Mails und der Account für die Autobörse waren gelöscht.
Neben der Kamera wartete im Schrank ein seltenes Sportgerät auf Wiederverwendung. Es war klein, leicht und garantierte Sicherheit, zumindest für seinen Besitzer. Die Apparatur glitt zu dem Kuvert in eine große OBI-Plastiktüte. Mit dem nächsten Rumpeln einer Straßenbahn fiel die Kellertür in Schloss. Eine diffuse Notausgangsleuchte tauchte den langen Gang in trübes Grün. Am Ende führten wenige Stufen aus der dunklen Feuchte zurück ins quirlige Münchener Leben.
War Haas schon gefunden? Schluckte die Polizei den fingierten Selbstmord?
Er hat gelacht, lauthals gelacht!
Niemand lacht über den Tod eines Menschen!
Jede Person, die bei der Ermordung des Syrers beteiligt war, musste dafür büßen, alle Vier!
Im Fitness-Studio folgte Kommissar Tobler Stefan Meisl, dem Leiter der Spurensicherung, in Bodo Haas Büro. Sein Kollege Volkmar Weninger kniete vor dem Schreibtisch am Teppich, die unterste Schublade ragte weit in den Raum, »Komm runter, Sebastian. Schlag mal gegen die Rückwand.«
Tobler klopfte, »Klingt komisch, seltsammassiv.«
»Genau! Deutlich anders, wie die oberen Schübe.«
»Bitte zieh´ den oben drüber raus«, forderte der Kommissar.
Weninger schob zuerst den unteren zurück, dann holte er den vorletzten Schub heraus, »Es funktioniert immer nur einer. Wer diesen Mist erfunden hat, gehört in die Klapse.«
Tobler klopfte gegen die Rückwand, »Die klingt hölzern«, er beäugte die Lade, wich zurück und kniff die Augen zusammen, »Täusche ich mich, oder ist dieser Schub länger?«
»Bravo, warum wechselst du nicht zu uns?«, Meisl maß den Längenunterschied, »Satte zwölf Zentimeter. So breit wie ein gefaltetes A4 Blatt samt einer Trennwand. Volkmar, bitte fotografiere alles, dann zerlegen wir den Schub. Sein Besitzer wird uns nicht mehr belangen.«
»Ich fang´ mit der Unterseite an«, Weninger legte sich rücklings auf den Boden, »Oha! Hier wurde nachträglich ein kleiner Knopf montiert«, der Auslöser summte, »ausprobieren?«
Die versteckte Verriegelung sprang auf und der Schub glitt ihnen ein weiteres Stück entgegen.