Das königsblaue Kleid - Martina Schorb - E-Book

Das königsblaue Kleid E-Book

Martina Schorb

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Beschreibung

Vier kleine Textfragmente rieseln aus dem anonymen Kuvert, alle tragen nur wenige Worte: Gesprächsfetzen mit einer Frau, die er seit 55 Jahren für tot hält, ermordet. In dieser Nacht erhängt sich sein früherer Freund. Tags darauf folgt ihm der nächste Weggenosse in den Tod. Zwei Selbstmorde, schreibt Münchens Presse. Doch der alte Arzt fürchtet um sein Leben: Nimmt jemand nach so vielen Jahren Rache? Kommissar Tobler untersucht die Fälle, und stößt auf eine Gemeinsamkeit: Beide Senioren notierten vor ihrem Tod denselben Namen. Tobler ermittelt, als ihn ein Anruf alarmiert: Mord am Hinterbrühler See, auf dem Weg liegt ein Zettel: Monkia Was geschah im Februar 1965? Dr. Matthäus Sonnenborn kennt die Wahrheit, ebenso sein Gegenüber. Hilflos klammert er sich an seinen Rollstuhl. Langsam richtet sich der Pistolenlauf auf sein Gesicht. Sein einziger Gedanke: Rede! Jede einzelne Sekunde ist eine gewonnene Sekunde für dein Leben! Für Tobler rennt die Zeit.

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Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über die Autorin:

Martina Schorb, geboren 1963 in München, lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Stadt in Bayern. Nach dem Elektrotechnik-Studium und vielen Jahren beruflicher Tätigkeit widmete sie sich einige Zeit voll und ganz ihrer Familie. Damit der quirlige Nachwuchs bei allen möglichen Situationen stets bei guter Laune blieb, erzählte sie ihnen zur Ablenkung immer neue Geschichten. Nachdem die Kinder erwachsen sind, findet sie die Muße, ihre Gedanken aufzuschreiben.

Von der Autorin sind drei weitere Romane erschienen:

Der gelbe Hut, Kriminalroman, erster Band der Tobler-Reihe

Geheimes Spiel, Kriminalroman

Alegonda – Die Entscheidung, Fantasyroman

Für zwei hochbetagte, eifrige Leserinnen, meine Mama und meine Schwiegermama.

Dir, lieber Peter, danke ich ganz besonders, für deine unermüdliche Unterstützung.

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Abschied

1. Vergangenheit: 27. September 2020

2. Bedrängnis: 28. September 2020

3. Ankunft: 29. September 2020

4. Qualen: 30. September 2020

5. Erkenntnis: 1. Oktober 2020

6. Falle: 2. Oktober 2020

7. Kontakt: 3. Oktober 2020

8. Drei von vier: 4. Oktober 2020

9. Wechsel: 5. Oktober 2020

10. Countdown: 6. Oktober 2020

Epilog

Prolog – Abschied

Sonntag, 25. Juli 1965

Ein frischer Wind fegte die trockenen Blätter über die sorgfältig geharkten Kieswege. Das sanfte Rascheln des Laubes untermalte die schlichte Rede des Pfarrers. Wozu sich Mühe geben? Außer den Friedhofsangestellten stand nur eine einzige Person vor dem offenen Grab. Nur noch ein paar kurze Worte, dann war die Zeremonie vorbei. Auffordernd hielt er der Frau den Weihwasserwedel entgegen. Je schneller er dieses Trauerspiel auf seinem Friedhof beendete, umso besser.

Die junge Mutter sah ihn fragend an: Wie? Sie senkte ihren Blick auf das fest eingepackte Neugeborene, das sie mit beiden Armen schützend an ihre Brust drückte.

Er drängte mit dem Sprengel. Na, mach schon!

Gehorsam löste sie den oberen Arm, beißender Wind wehte in das kleine Gesichtchen. Der Säugling hob seinen Kopf, er kräuselte sein Näschen. Seine Mutter zupfte das übergroße Mützchen zurecht, ein schwacher Ersatz für ihre schützende Hand. Das Kind gähnte, lehnte den eingemummelten Kopf erneut an ihre Brust und schlief friedlich weiter. Wenn du nur wüsstest!

»Bitte!«, der Griff des Wedels rückte näher.

Sie ergriff ihn, endlich!

Die zarte Frau betrachtete das altertümliche klobürstenartige Modell in ihrer Hand. Offensichtlich sah dieser Geistliche die Tote als unwürdig an, weil er ihr den eleganten Edelstahl-Aspergill verwehrte. Kurz zuckten ihre Mundwinkel, sie schnaubte verächtlich.

Jetzt schritt sie zum Grabrand, energischer als es der Priester erwartet hatte. Sie straffte den Rücken und ein entschlossenes Leuchten glänzte in ihren Augen.

»Ich werde dich nie vergessen!«

Ihre Worte hingen klar und deutlich über dem Grab.

Ein Versprechen? Nein, ein Gelübde. Hier, direkt vor Gott. Dreimal spritzte sie das geheiligte Wasser auf den billigen Sarg, so ist es Brauch.

Die offene Hand des Geistlichen wartete auf die Rückgabe des Weihwassersprengers.

Sie zögerte und hob den Wedel erneut: Viermal!

Einer der Totengräber räusperte sich.

Die Frau reichte den Pinsel zurück, dann trat sie zur Seite, damit die beiden Männer ihre traurige Pflicht erledigen konnten. Es war Sonntag und jeden drängte es zu seinen Lieben nach Hause oder zum Stammtisch.

Sie umfasste den Säugling wieder mit beiden Armen, presste ihn an sich. Sie warf einen letzten Blick ins Grab. Der Sarg war unter der frisch eingeschaufelten Erde kaum mehr zu erkennen. Ausgelöscht und vergessen! Welch ein deprimierender, aber entsetzlich wahrer Gedanke.

»Verzeih mir«, flüsterte sie, als ob der tote Körper es verstehen könnte, »jetzt ist es zu spät für die Polizei. Ich habe keinerlei Beweise, nur deine Worte. Nichts Schriftliches. Trotzdem werde ich der Sache nachgehen, das verspreche ich dir!«

Nachgehen, ja. Aber es gab eine Grenze dafür, und die begann dort, wo die Gefahr einsetzte.

Im Laufe der Zeit wurden ihre Grabbesuche spärlicher, sie rissen jedoch nie ganz ab. Nach fünf Jahren erschien die junge Frau wieder einmal auf dem Friedhof, säuberte das schmucklose Grab und pflanzte rote Fleißige Lieschen in Form eines Herzens.

Ihr Kind spielte inzwischen Flugzeug. Es umkreiste in wilden Achten die benachbarten Totenstätten. Die kleinen Arme wie Flügel weit von sich gestreckt brummte es in verschiedenen Tonlagen.

Zuletzt legte die Mutter die Kartusche Granit-Kleber beiseite, betrachtete die neue Inschrift, fegte die steinerne Einfassung und rief nach ihrem kleinen Wirbelwind. Das Kind hopste einbeinig zum schlichten, grauen Grab. Es beugte sich tief über den rechteckigen Steinblock, der seit heute zusätzlich unter dem Schriftzug am Granit lehnte. Neugierig betrachtete es die Reliefs: vier Stück, alle verschieden und jedes in einem separaten Segment.

»Mama, die sind ja alle kaputt!«

»Nein, mein Schatz, die sind richtig so. Ganz und gar richtig, glaube mir!«

1. Vergangenheit 27. September 2020

Das Abendessen war heute recht ansprechend ausgefallen und ihre Tischgespräche erfreulicherweise weniger banal wie sonst. Jetzt freute sich Matthäus auf die Ruhe in seinem Zimmer. Er manövrierte den Rollstuhl routiniert durch die Gänge der IGA-Seniorenresidenz am Münchner Westpark in Richtung Aufzug.

»Herr Dr. Sonnenborn, einen Moment bitte«, die rundliche Pflegerin Gundel eilte ihm nach, »dieses Kuvert lag für Sie im Postkasten.«

Erstaunt nahm er es entgegen, wendete es zweimal und suchte den Absender: Er fehlte.

Der alte Mann lächelte nachsichtig, »Welch ein Glück, dass der Urheber nicht auch auf den Adressaten vergessen hat! Vielen Dank, und einen angenehmen Abend für Sie, meine Liebe!«

Im Zimmer öffnete er den Umschlag. Er enthielt vier Papierschnipsel, alle in verschiedener Größe und Form. Auf jedem standen nur wenige Worte, Fragmente eines kopierten, handschriftlichen Textes. Ein Rätsel?

Gespannt entzifferte er die ersten Zeilen, dann stockte sein Atem. Sein Herz begann zu rasen.

Was? Wer? Wurde er beobachtet?

Instinktiv kontrollierten seine Augen jeden Winkel seines Zimmers. Die Tür zum Balkon war geschlossen, die cremefarbenen Vorhänge hingen korrekt. Sein Bett mit dem Galgen stand unberührt an der Wand, ebenso seine Hilfsmittel und Schuhe. Kein Buch fehlte im Regal, die Osteoporose-Zeitschrift lag umgedreht auf dem Tisch. Das Sofakissen zeigte den gewohnten Abdruck. Alles wie immer, er war allein.

Sein Blick wanderte zurück zum ersten Zettel. Sofort erwachte ein flaues Gefühl im Magen und formierte sich zu einem dicken, warnenden Ausrufezeichen. Wäre es besser, seiner Intuition zu folgen und die anderen drei Papiere ungelesen wegzuwerfen? Zu verbrennen?

»Du feiger Narr, reiß dich zusammen!«, schalt er sich, »Du gefährdest ein Leben, dein Leben!«, er atmete tief durch. Wie viele Details kannte der anonyme Schreiber? Wie gefährlich war er?

Die Neugier half ihm, die nagende Furcht zu überwinden. Er las den Rest. Ein Schriftstück nach dem anderen. Den letzten Schnipsel legte er in Zeitlupentempo zur Seite und rang nach Luft.

Was bedeutete das? Jetzt, fünfundfünfzig Jahre später?

Von woher stammte der Umschlag? Er drehte ihn um: abgestempelt in Regensburg.

Seine Halsschlagader pochte bedrohlich. Er ignorierte das Herzrasen. Seine Hand zitterte, als er sein altes Telefonregister aus der Schublade zog. Nacheinander wählte er drei längst verdrängte Nummern. Sie sprachen jeweils nur wenige Worte miteinander, dann legte er auf.

Seine Augen hefteten sich erneut auf die kleinen, unschuldigen Zettel mit dem verheerenden Inhalt.

Angst erfasste ihn. Warum jetzt?

Nervös sortierte er die Papierstreifen nach ihrer Größe. Zwei der anderen hatten ebenfalls ein ähnliches Kuvert erhalten: Drei auf die entsprechende Person zugeschnittene Zitate, ergänzt um eine Forderung.

Nur Johannes erreichte er nicht.

Matthäus zog eine Tablettenpackung aus dem Nachtkästchen, drückte eine Herztablette aus dem Blister und spülte sie mit einem Schluck Whisky herunter. Die vermaledeiten Textschnipsel schrien ihn von der Tischplatte an. Panik stieg in ihm auf. Mit leerem Blick starrte er auf die Zettel, sein Puls hämmerte wild. Auf einmal zuckte er zusammen, er fuhr herum: Bildete er es sich nur ein, oder rückten die Wände seines Einzelzimmers auf ihn zu? Senkte sich die Decke, um ihn zu erdrücken?

»Spinner! Konzentriere dich, Matthäus! Denk nach!«

Wer rührte an der alten Zeit? Woher bezog derjenige seine Information? Wie viele kannten die Vergangenheit?

Erneut wählte er Johannes Nummer, wieder vergeblich. Wo steckte er nur? Warum rief er nicht zurück? Ausgerechnet jetzt?

Johannes sah sich in dem kleinen, privaten Konzertraum um. Emma, seine Tochter, hatte ihn liebevoll geschmückt. Den Steinway-Flügel zierte ein großformatiges Familienfoto mit duftiger, orangener Schleife. Daneben stand ein Kelch mit gleichfarbigen Rosen, passend zu Beates Kleid. Das Mädchen wartete im Hintergrund mit ihrer Violine, sie kippelte nervös mit den Schuhen. Fabienne löste sich aus einem der kleinen Grüppchen und schlenderte vergnügt zu ihm, »Stolz?«

»Und wie! Das erste Violinkonzert unserer Enkelin!«, er strahlte seine Frau an. Trotz ihrer neunundsechzig Jahre wirkte Fabienne von Klauberheim noch immer anziehend auf ihn. Sie war seine große Liebe, sein Leben, und das in jeder Hinsicht.

»Mischen wir uns wieder unter die Gäste?«, sie tänzelte davon, lächelte hier, grüßte da und plauderte: Die perfekte Gastgeberin!

»Entschuldigung«, eine der Serviererinnen stellte sich neben ihn, sie zog einen weißen Briefumschlag zwischen den Champagnergläsern hervor, »Herr von Klauberheim, das wurde eben für Sie abgegeben. Der Mann sagte, es sei äußerst wichtig.«

»Danke!«, er nahm außerdem zwei Gläser und balancierte sie zu seiner enthusiastischen Frau.

»Ich hoffe, das ist kein Liebesbrief, mein Bester!«, ihre Finger berührten kurz seine Wange, »ich warte dort vorne auf dich!«, sie zeigte zu ihren Plätzen.

Johannes suchte sich eine diskrete Ecke und öffnete den Umschlag. Er überflog die Papierstreifen und japste.

»Schlechte Nachricht? Umsatzeinbrüche? Ein Börsensturz?«, jemand berührte seinen Unterarm, »Fühlen Sie sich nicht gut?«

Er fuhr herum, neben ihm wartete Frau Dr. Deinhardt. Diese Plaudertasche, ausgerechnet jetzt!

»Danke, es geht schon wieder. Bitte nehmen Sie Ihren Platz ein. Das Konzert fängt in wenigen Minuten an.«

»Wenn Sie meinen«, sie rauschte augenzwinkernd ab.

Doch er verharrte wie angewurzelt neben dem Fenster. In seinem Kopf jagten sich Bilder mit wilden Gedanken: Wie viele Leute wussten davon? Anwälte hin, Anwälte her, wenn dieser Fehltritt aus seiner Vergangenheit an die Öffentlichkeit drang, war er erledigt!

Emma betrat die Bühne, im Saal wurde es leiser. Seine Tochter setzte sich an den Flügel und sortierte die Blätter der Partitur: Haydn, Violinkonzert A-Dur hob. VIIa:3.

Fabienne winkte ihn zu sich in die erste Reihe. Im gleichen Moment läutete sein Telefon. Mit entschuldigender Miene nahm er den Anruf an.

Eine verzerrte Stimme quäkte: »Haben Sie das Kuvert erhalten?«

»Was wollen Sie von mir?«, hauchte er.

»Geld ...«

»Nicht jetzt, später!«, er legte auf. Hastig eilte er zu seinem Platz, Fabienne schnaubte verärgert. Emma spielte die ersten Takte am Piano, dann gab sie Beate das Zeichen für ihren Einsatz. Im Saal wurde es mucksmäuschenstill. Johannes nestelte hastig am Handy, um den Flugmodus zu aktivieren, doch da läutete es schon penetrant in die ersten Noten von Haydns Violinkonzert hinein. Hundert Blicke durchbohrten seinen Rücken, Fabienne funkelte ihn zornig von der Seite an.

Unterdrückte Nummer, genauso wie eben. Verdammt! Er stieß sich vom Stuhl ab und eilte unter den vorwurfsvollen Mienen der Gäste aus dem Raum. Beate verzog das Gesicht und ließ ihre Geige enttäuscht sinken.

»Es geht jetzt nicht!«, flehte er im Nebenraum hinter der geschlossenen Tür.

»Es dreht sich um Monika und diesen Stein. Wir treffen uns in drei Minuten, am westlichen Parkplatz bei der Zuccalistraße, außerhalb Ihrer Mauer. Beeilen Sie sich lieber, sonst übergebe ich den kompletten Originaltext der Polizei!«, es wurde aufgelegt.

Monika!

Verdrängte Erinnerungen hagelten auf ihn ein. Grässliche Szenen tanzten vor seinen Augen: Monika in ihrem Kleid, eine Menschenmenge, Schreie, ein Pflasterstein.

Seine Knie gaben nach, lautlos sank er zu Boden.

Hinter ihm öffnete sich die Tür und Fabienne rauschte zornig hindurch, bereit ihrem Gatten die Leviten zu lesen. Einen Augenblick versuchte sie das Geschehen vor ihr zu begreifen, dann stürzte sie zu der Gestalt am Boden.

»Johannes!«

»Es, es tut mir so leid«, röchelte er.

»Oh Gott, hast du einen Herzanfall? Du zitterst ja und schwitzt entsetzlich! Schnell, einen Arzt!«

»Nein, nein! Ich brauche nur etwas Luft. Es war einfach zu stickig da drin«, er keuchte, »Fangt ohne mich an. Bis zum zweiten Satz bin ich wieder fit, versprochen!«

»Du brauchst einen Arzt!«

»Nein. Ich gehe nur kurz in den Garten, Liebes. Kehre du zurück. Dieser Abend ist so wichtig für Beate! Setzt das Konzert ohne mich fort, bitte.«

Sie begleitete ihn zu einem Stuhl auf der Veranda.

»Bitte sag Beate, dass ich von hier aus ihre Darbietung verfolge. Ich bin so stolz auf sie!«

Nachdem Fabienne gegangen war, zählte er bis zehn. Keine weitere Störung! Er beeilte sich über die Terrasse, die Treppe hinunter und den schmalen Weg entlang zur hinteren Pforte. Johannes Lungen pumpten die kühle Luft in beide Flügel. Er stürmte keuchend auf den Parkplatz, aber außer wenigen Fahrzeugen und dem angrenzenden Nymphenburger Park war niemand zu sehen.

»Mist! Verdammt nochmal!«, panisch spähte er über das große Gelände. Am hintersten Ende bemerke er eine Bewegung in der Dunkelheit: Ein Mann, mit weitschwingendem Mantel und schwarzem Hut entfernte sich zügig.

Gedämpfte Klavierakkorde wehten vom Haus herüber, Sie schwängerten die nächtliche Stille mit Haydens genialer Musik, dann setzte die Geige ein.

»Warten Sie!«, rief er, »Ich konnte nicht schneller!«

Wenn er ihn nicht hörte? Wenn er die Informationen an die Polizei oder die Presse weitergab?

Der Mann blieb stehen, er drehte sich langsam um.

»Bitte, kommen Sie zurück! Wir regeln das, bitte!«

Die schwarze Silhouette glitt auf ihn zu: »Wie viel ist Ihnen die Sache wert? Drei Millionen, oder eher vier?«, seine Stimme klang piepsig hoch.

»Wir haben gerade einen Empfang, ich komme jetzt nicht an Geld!«

»Schade für Sie! Das wird eine grässliche Strafverfolgung. Und: Wer ist schuld, wenn Ihre Familie mitsamt der Firma daran zerbricht?«

»Ich flehe Sie an: Geben Sie mir mehr Zeit!«, er registrierte eine dunkle Brille, doch das Gesicht verschmolz mit den Schatten.

»Ziehen Sie die notwendigen Konsequenzen: Zahlen oder ...«, die Faust des Fremden zog eine gerade Linie unter dem Kinn. Er trug schwarze Lederhandschuhe.

Johannes schluckte, »Morgen! Morgen ganz sicher!«

»Gut, halten Sie das Geld bereit. Vier Millionen, kleine Scheine, morgen. Sie bekommen Info: wann, wie, wo«, er streckte ihm die geöffnete Hand entgegen, »Hier, eine kleine Erinnerung! Quittieren Sie Ihre Bereitschaft auf diesem Zettel, mit den Namen des Mädchens!«

Johannes erkannte, was da lag: ein winziges Papier, ein IKEA-Stift und ..., es durchfuhr ihm eiskalt! Er pflückte die kleine Figur vom Handteller. Mit schreckgeweiteten Augen drehte er sie langsam zwischen seinen Fingern.

»Schreib!«

Zitternd nahm er das Papier und den Mini-Stift von der Handfläche. Er benötigte einige zähe Sekunden, um den Namen zu kritzeln. Endlich sah er auf, »Das ...«, doch der Mann war zwischen den Autos verschwunden. Sein Blick verlor sich in der nächtlichen Dunkelheit. Langsam senkte er die Augen auf die Notiz, es stand nur ein Wort darauf: Monika! Er faltete den Zettel und ließ ihn kraftlos in die Anzugtasche gleiten.

Stunden später saß Johannes von Klauberheim alleine in seinem Arbeitszimmer. Beates Konzert musste äußerst eindrucksvoll gewesen sein. Er selbst hatte es kaum wahrgenommen. Jeder gratulierte ihr zu der perfekten Darbietung. Er ebenfalls, und wurde dafür mit einem überglücklichen Küsschen belohnt.

Das Beruhigungsmittel verlor langsam die Wirkung, Übelkeit und Nervosität kehrten zurück. Sie drohten, ihn erneut zu überfluteten. Vor ihm lag die manipulierte Figur. Angewidert drehte er sie um. Dieser Mann hatte ihn in der Hand. Morgen vier Millionen und dann? Blieb es dabei? Gab es dafür irgendeine Garantie? Nein, er war erpressbar, für immer!

Wie sollte er Ernst die Ausgabe erklären? Sein Junge führte seit sechzehn Jahren als Teilhaber die Geschäfte seiner Mutter, stets tadellos, engagiert und korrekt. Er selbst begnügte sich mit der Rolle des eingeheirateten Ehemanns und Vaters, wie vor der Hochzeit vereinbart.

Johannes ließ den Blick durch das Fenster in den dunklen Garten schweifen, er sehnte sich nach einem Spaziergang durch die bunten Beete und Hecken, zwischen den riesigen Bäumen hindurch zu der kleinen Laube, seinem Lieblingsort. Doch zuvor musste er jemanden warnen, hoffentlich kam es nicht zu spät!

Er fuhr seinen Laptop hoch und scrollte durch die Telefonkontakte. Unter ´K´ wurde er fündig. Ihr Gespräch bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.

Gab es überhaupt eine Wahl für ihn? Seine Familie durfte nie von seiner Vergangenheit erfahren, die Presse erst recht nicht. Die Zukunft des Konzerns stand auf dem Spiel, und damit das Wohlergehen und Ansehen seiner Angehörigen. Er packte die scheußliche Figur und schlich in den Garten.

Mord verjährte nicht.

2. Bedrängnis 28. September 2020

8 Tage später, Lesezimmer, 10:30 Uhr

»Und schließlich, weitere drei Tage später, traf auch der Felsenbeißer Pjörnrachzarck ein. Er kam zu Fuß daher gestampft, denn er hatte in einem plötzlichen Anfall von Heißhunger sein steinernes Fahrrad aufgegessen – als ...«

»Reiseproviant!«, hauchte Heidrun, »nicht wahr?«, sie beugte sich mit weit aufgerissenen Augen über den Tisch.

Edi lächelte zufrieden: »Sehr gut! ... als Reiseproviant, sozusagen«, beendete er das Textstück. Der kleine, hagere Mann freute sich über die erwartungsvollen Augen seiner betagten Zuhörer, »Soweit für heute, meine Lieben«, mit einem lauten ´Plopp´ klappte er das Buch ´Die unendliche Geschichte´ von Michael Ende zu und ließ die Lektüre in seine Tasche gleiten, »Morgen erfahren Sie, wie es bei Atréju weitergeht!« Edi war mit sich zufrieden: Phantasie und Erinnerungen der Senioren waren angeregt.

»Zwei Fragen an unsere neuen Zuhörer: Sind Sie mit der Geschichte vertraut? Oder benötigen Sie eine kurze Zusammenfassung der ersten Kapitel?«

Die drei Männer schüttelten den Kopf, »Danke, das passt schon«, brummte Kilian Bringmann. Der frühere Standesbeamte mit markantem Bass wohnte erst seit einer Woche in der Seniorenresidenz neben dem IGA-Gelände. Die anderen Neulinge nickten zustimmend.

»Hervorragend! Dann bis Morgen. Bitte rücken Sie die Tische wieder zurecht. Schließt jemand das angelehnte Fenster hinten rechts, bitte?«, damit schlüpfte der Vorleser aus dem Raum.

Stühle schabten über den Boden, untermalt durch das Ächzen der hochbetagten Zuhörer: die wohlbekannte Symphonie der Alten und Gebrechlichen! Die Tür wurde aufgerissen und ein vielstimmiger Chor der Pflegekräfte mischte sich in das Crescendo: »Herr Meier, ich nehme sie mit«, »Ist das Ihr Regenschirm, Heidrun?«, »Warten Sie bitte auf Herrn Tolischeck!«, »Clemens, Ihr Rollator steht dort hinten!«, »Ist das Ihre Brille Herr ...?«

Die ersten Grüppchen schlurften aus dem Lesezimmer, sie debattierten lautstark im Gang über die eben gehörten Kapitel. Keiner achtete auf das sanfte ´Pluff´, als der Zugwind den Fensterflügel in den Rahmen drückte.

Kilian wandte sich an den Rollstuhlfahrer neben ihm, »Ich nehm Sie mit. Am Rückweg können Sie mir dafür das Wichtigste in diesem Heim erklären«, er stemmte seinen kräftigen Körper hoch und strich seine dunkelblaue Anzughose glatt, bereit den älteren Herrn zu schieben.

»Gerne, aber warten wir, bis die Flure freier sind, und vor allem leiser.«

Weitere Angestellte eilten durchs Zimmer, hakten die Gehbehinderten unter und begleiteten sie in ihre Räume.

»Sie kommen ohne meine Hilfe zurück?«, Pflegerin Gundel lächelte Dr. Sonnenborn in seinem Rolli zu.

Er nickte, »Selbstverständlich! Heute habe ich einen Chauffeur«, seine Augen leuchteten unternehmungslustig, »Vielleicht drehen wir gemeinsam eine Runde durchs IGA-Gelände, bis an den See!«

»Na, dann viel Spaß!«, freute sich die Pflegerin, sie verabschiedete sich und eilte Herrn Wandinger hinterher. Sie musste ihn einholen, bevor er wieder den verkehrten Weg einschlug.

Sie blieben zu zweit im leeren Lesezimmer zurück, um sie herum nur die verlassenen Stühle und Tische. An der Wand standen drei deckenhohe Regale. In ihnen warteten Bücher jedes Genres vergeblich auf eifrige Leser. Grauer Star, Geh-Probleme und Demenz verdarben ihnen seit Jahren den erhofften Erfolg.

»Warum bleiben wir nicht hier und plaudern ungestört miteinander?«

»Plaudern?«, Dr. Sonnenborn zog sein stabilisierendes Kissen hinter dem Rücken heraus und lehnte sich bequem im Rollstuhl zurück. Es hinterließ einen kalten, feuchten Schweißfleck auf seinem Hemd, »Gerne! Welches Thema schlagen Sie vor?«

»Die Vergangenheit?«

»Oh! Davon haben wir mehr als genug!«, schmunzelte er amüsiert.

»Das stimmt! Reichen Sie mir Ihr Polster, ich lege es auf den Stuhl dort vorne.«

»Danke, das ist nett von Ihnen«, Dr. Sonnenborn rollte an einen der kleinen Tische, »Setzen wir uns hier hin?«

»Gerne«, in seinem Rücken wurde inzwischen die Tür sorgfältig geschlossen. Die Schritte der zweiten Person näherten sich und eine dickkartonierte, blaue Kladde mit grauer Textilbindung erschien vor seinen Augen.

»Das ist meine Geschichte. Manchmal befürchtete ich, sie wäre ebenfalls unendlich«, das altmodische, billige Notizheft plumpste vor ihm auf den Tisch, »Aber derzeit entwickelt sie sich zu einem Selbstläufer. Ich bringe sie jetzt zu Ende«, in der belegten Stimme schwang ein Hauch Wehmut mit.

»Sie schreiben?«

»Nein, geschrieben hat das Leben, ich habe es nur notiert«, seine Begleitung stand jetzt dicht neben ihm.

Er betrachtete das beschriftete Etikett auf dem blauen Umschlag des Büchleins: ´Beobachtungen/Niederschrift der Ereignisse ab 20. Februar 1965 und folgend´, darunter ein Name. Er tippte darauf: »Sie?«

»Ja. Schlagen Sie es auf, vielleicht erkennen Sie die eine oder andere Passage.«

»Erkennen? Ich? Wie meinen Sie das?«, seine Augen suchten nach einer Antwort in dem fremden Gesicht. Es beugte sich zu ihm und verharrte ausdruckslos nur wenige Zentimeter neben ihm. Was war hier los?

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend las er nochmals das Jahr auf dem Etikett: ´1965´, er schluckte. Holte ihn seine Vergangenheit ein? Jetzt, hier in diesem Zimmer?

»Lesen Sie!«, die bisher so freundliche Stimme wurde härter, der Ton direkter.

Seine Finger strichen über die unheilvolle Jahreszahl. Einige Sekunden sprach niemand. Seine Gedanken rasten.

»Wovon handelt Ihre Geschichte?«

»Sie haben vor kurzem ein Kuvert mit kleinen Texten bekommen.«

Matthäus zuckte zusammen, er rang nach Atem: »Ich fahre auf mein Zimmer!«, kalter Schweiß schimmerte auf seinem Gesicht. Hastig löste er die Bremse des Rollstuhls. Bis zur Tür waren es nur wenige Meter.

»Dazu ist es zu spät«, ein blauer Jackenärmel sowie eine Hand samt Dietrich verdeckte das spöttische Grinsen seines Gegenübers, »Das hier eignet sich nicht nur zum Öffnen von Schlössern, sondern funktioniert auch hervorragend zum Verriegeln!«

»Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht!«

»Das sagten die anderen ebenfalls. Keiner von euch kennt mich, obwohl uns etwas verbindet«, die freie Hand donnerte neben ihm auf die Tischplatte, der Knopf des blauen Sakkos sprang auf, »Fangen Sie zu lesen an, laut!«, man war gewohnt Befehle zu erteilen und bestand auf ihrer strikten Umsetzung.

Vier Textschnipsel!

Matthäus lugte erneut zur Tür. Wenn er laut um Hilfe schrie? Würde ihn jemand hören?

»Vergessen Sie es: Die Tür ist zu. Ich habe mich nach der Raumbelegung erkundigt, bis übermorgen kommt hier keiner vorbei.«

Sein Magen verkrampfte sich. Angeekelt schob er das Büchlein weit von sich, »Nein!«

»Interessiert es Sie nicht, warum Sie bald sterben?«

Montag, 28. September 2020

Das Handy läutete, hartnäckig und laut.

Eine dunkel behaarte Hand tastete über den Nachttisch. Langsam schob sich ein gebräuntes und ebenso haariges Männerbein unter der wohligen Bettdecke hervor, gefolgt vom sportlichen Oberkörper eines dreiunddreißigjährigen Südamerikaners. Verschlafen wühlte Kommissar Tobler in seiner Jeans nach dem Handy. Er öffnete ein Auge und betrachtete das Display.

»Spinnt der?«, dann nahm er an, »Mensch, Roman, ich komm heute später. Kowalski weiß Bescheid!«

»Sag bloß, du liegst noch im Bett, Sebastian?«

»Ja, warte«, er musterte seine schlafende Frau neben sich. Ihr welliges, braunes Haar bedeckte das ganze Kopfkissen. Es reizte ihn, ihre niedlichen Grübchen an den Wangen zu berühren, doch er beherrschte sich. Der dicke Babybauch hob und senkte sich gleichmäßig, endlich! Leise kramte er seine Wäsche zusammen und schlich ins Wohnzimmer. Langsam wurde sein Blick klarer. Er überflog den Esstisch mit den beiden Stühlen davor, Eileens geblümtes Sofa, seine alte Anrichte, den IKEA-Schrank, den freien Platz für das Baby-Bett, eine Umzugskiste mit der ersten Kleidung für Mister X oder Fräulein Y und die Hunde-Ecke unter den Fenstern.

Alles in Ordnung.

»Eileen hat die ganze Nacht durchgeschnarcht! Wenn unser Kleines in drei Wochen nicht freiwillig rauskommt, hole ich es eigenhändig!«

»Kennst du eine Monika?«

»Monika?«, er blieb stehen, überlegte und hockte sich neben das Hundebett. Unter der Decke mit Knochenprint rührte sich etwas, ein schwarzer Hundekopf tauchte auf. Zwei müde, dunkle Auge blinzelten ihn an.

»Monika?«, wiederholte er schlaftrunken.

»Ja, verdammt Sebi, komm in die Pötte!«

»Ist etwas passiert?«, die beste Freundin seiner Mutter hieß Monika.

Die Hündin robbte näher und legte ihren breiten Schädel auf seinen Oberschenkel. Zwischen Viennas Ohren durchbrach eine weiße Zeichnung das seidige, schwarze Fell. Sie verbreiterte sich in Form eines ´V´ am Hinterkopf und umschloss, mit wenigen schwarzen Sprenkeln versehen, den Kragen des Tieres. Der Zeigefinger ihres Herrchens fuhr die weißen Konturen nach. Vienna schloss die Augen und gähnte. Zwei lange Reihen kräftiger Zähne leuchteten in ihrem rosafarbenen Kiefer. Tobler erwiderte ihr Gähnen.

»Todesfall in Nymphenburg! Blöderweise eine hochkarätige Person«, drängte Roman, »Kowalski beordert uns alle um acht Uhr zur Konferenz.«

»Um acht?«, die Wanduhr zeigte 7:35 Uhr, »Mist!«, er beendete das Hundekuscheln und inspizierte das Fensterbrett. Zwischen den Bonsais reckten heute Morgen gleich zwei Schmeißfliegen ihre leblosen Beine zur Zimmerdecke. Die Erste verschwand nach einem gezielten Wurf in Viennas Schlund.

»Klatsch dir eiskaltes Wasser ins Gesicht und komm! Sonst übernimmt Brunner die Leitung«, dröhnte es aus dem Telefon.

Brunner, ausgerechnet der! Seit seinen Eskapaden vor einem Jahr schwänzelte Friedhelm Brunner um Hauptkommissar Kowalski herum. Ein glatzköpfiger Speichellecker, ständig auf der Suche nach einer Chance, um sich zu rehabilitieren,

Romans Stimme wurde eindringlicher, »Hab´ Mitleid! Das darfst du uns nicht antun!«

»Okay, ich komme sofort!«, Kommissar Tobler legte auf. Inzwischen stand er in der angegliederten Küche, er hielt vor dem schmalen Spalt zwischen der Außenwand und dem letzten Hängeschrank inne. Vorsichtig manövrierte er die zweite Insektenleiche mitten ins Herz eines üppigen Spinnennetzes.

»Guten Morgen, Ursula! Frühstück!«, er drückte sacht gegen die Fäden. Eine handtellergroße Hausspinne krabbelte hinter dem Hängeschrank hervor. Ihre flinken Beinchen betasteten die Fliege.

»Mahlzeit, meine Kleine!«, Sebastian lächelte zufrieden, er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die wirren, schwarzen Locken und schlich ins Wohnzimmer zurück.

»Jetzt bin ich dran«, leise fischte er sich zwei Tütchen Bocadillos aus einer bunten Schachtel am Sideboard, sein Reiseproviant auf der Fahrt ins Präsidium. Sein Blick verweilte kurz auf dem Familienfoto. Ein kleiner, strahlender Knirps, dahinter seine Eltern: Mutter und Vater. Ein Bild aus glücklichen Tagen, als seine Familie noch komplett war. Er hielt die bunte Verpackung vor den Rahmen, »Auf die Vergangenheit, und eine bessere Zukunft!«

»Du gehst?«, überrascht fuhr er herum, Eileen lehnte mit einer reizenden Schmollschnute im Türrahmen, »Kein gemeinsames Frühstück? Ist diese Monika wichtiger für dich?«, sie strich ihm verführerisch seine dunklen Locken aus dem Gesicht. Zwei dunkelbraune Augen sahen ihn prüfend an.

Sebastian legte die Hände auf ihren Bauch, »Kowalski fordert mich an, sorry mein Schatz!«, er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und strich zärtlich mit dem Zeigefinger über ihre Grübchen, dann schnappte er sich seine Mappe vom Stuhl. In der Haustür drehte er sich nochmals um: »Unsere Tiere sind schon gefüttert, Liebes!«

»Heißt Kowalski jetzt Monika?«, Eileen warf hinter ihm die Türe zu.

Tobler fluchte im Treppenhaus, bis ihn ein Stupser in der Kniekehle unterbrach: »Bist du auch vor ihrer Laune getürmt, Vienna? Hoffentlich verschwinden ihre Eifersuchtsanfälle nach der Geburt!«, lautlos glitten sie die drei Stockwerke hinunter.

»Morgen, Frau Sommer!«, grüßte er den schmalen Türspalt ihrer Tratschtante im Erdgeschoß.

»Leinen Sie den Hund an! Diese Verordnung gilt auch für Polizisten!«, keifte die betagte Dame zurück.

Der Tag konnte nur noch besser werden!

Sie flüchteten in seinem blaugrauen VW-Bus. Der alte T4 begleitete ihn schon viele Jahre. Seit einigen Monaten nutzte er ihm sogar gelegentlich als Rückzugsgebiet vor Eileens Hormonschüben. Er riss die bunte Folie von der kolumbianischen Süßigkeit. Bocadillos bestehen nur aus eingekochtem Guavenmark mit Zucker. Aber einmal auf der Zunge, zerfließen die Brocken zu einem köstlichen, sämigen Gelee. Eine geliebte Erinnerung an seine Kindheit. Schmatzend bog er in die Konrad-Adenauer-Allee ab und passierte das Werbeschild seiner Werkstatt. Bei der ersten Tankstelle kaufte er sich sein Frühstück.

Um 8:05 Uhr hielt er in der Tegernseer Landstraße auf dem Parkdeck des Präsidiums. Vienna sprang heraus und pinkelte an das Vorderrad eines magmaroten A7, dem Wagen des Kollegen Brunner. Schwanzwedelnd rannte sie weiter zur schweren Brandschutztür, um dort ungeduldig auf ihren Chef zu warteten. Gemeinsam eilten sie durch die langen Gänge der Polizeistation. Vienna erreichte als Erste die verwaisten Schreibtische des Großraumbüros vor Toblers Einzelbüro. Ein gelber Post-it klebte an seiner Milchglastür: ´Konferenzraum!´

»Auch das noch! Treppensteigen am Morgen! Schwing deine Pfoten, mein Mädchen!«, sie spurteten den Gang entlang zum Aufgang.

Seine Kollegen warteten in lockeren Grüppchen zwischen den Tischen. Sie diskutierten, wer das beste Wochenende verbracht hatte. Er entdeckte Sonja Ospen von der Personenrecherche, ihren Hacker Jörg Hansen, die Auszubildende Cornelia, daneben Bernhard Fischler, der verschlafene Papa Julius Stadler, Ulf Maier und Rolf Seibold. Die beiden Letzteren kümmerten sich seit einigen Monaten hauptsächlich um die gestiegene Anzahl rechtsradikaler Vergehen in München. Trotzdem verlangte Hauptkommissar Kowalski von ihnen, dass sie sich auch über andere laufenden Themen zu informieren hatten. Mühlbachers Platz blieb frei. Wie immer, seit er sich, samt seiner Kekse, in die Rente verabschiedet hatte.

Roman nickte den beiden Nachzüglern zu und zückte sein Handy: »Regina? Du kannst aufhören, mit deinem frisch Angetrauten zu flirten. Tobler ist eben eingetroffen. Schick den Chef runter. Sebi schuldet dir was!«

Sebastian signalisierte ´Daumen hoch´. Ihr erstklassiger Draht zur Vorzimmerdame des Hauptkommissars war pures Gold wert! Kowalski würdigte ihre besonderen Fähigkeiten, indem er sie heiratete. Nicht eben wenige im Präsidium meinten, Regina hätte einen Besseren verdient.

Sebastians Hitliste der Lieblingskollegen führte unangefochten Roman Hiebler an. Er und der schlaksige zwei Meter Hüne bildeten seit Jahren ein eingespieltes Team. Sein Freund überragte die anderen nicht nur an Körpergröße, sondern auch an Kombinationsfähigkeit, Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft, guter Laune, Spontanität und unkonventionelle Methoden, wie soeben beim Zeitschinden.

»Wie war es gestern bei Jülich, Sebi? Habt ihr das Problem mit dem K-Wort geklärt?«, flüsterte der Lange.

Sebastian sah sich verstohlen im Raum um, »Unsere Vermutung stimmt, leider«, tuschelte er zurück, »Wozu bringt man seinem Hund so einen Mist bei?«

»Du weißt warum«, Roman bückte sich und kraulte Vienna zwischen den Ohren, »Dein Erstbesitzer sitzt nicht umsonst im Knast, nicht wahr meine Kleine? Und was meint dein erster Halter zum Thema Baby?«

»Strikte Vermeidung des K-Wortes und konsequente Erziehung. Wie bringe ich das Eileen bei?«

»Konsequente Erziehung bei Hund, Kind und Mutter!«

»Danke für den Hinweis. Bitte gib die Info an die anderen weiter, ohne dass Brunner davon erfährt. Man weiß ja nie, wie er darauf reagiert.«

Die Tür sprang auf und ihr Präsidiumsleiter rauschte in den Raum. Das Anklopfen vergaß er auch diesmal, dafür blaffte er schon im Türrahmen: »Tobler, warum frühstücken Sie nicht zu Hause?«

Sebastians Aral-Papiertüte inklusive der Quarktasche und dem Marsriegel verschwand unter dem Tisch.

»Hier, die Schlagzeilen!«, Kowalski reichte verschiedene Zeitungen herum, »eine prekäre Situation!«

Die BILD meldete in blutroten Lettern: ´ERHÄNGT: Johannes von Klauberheim TOT! Wer knüpfte ihm die Schlinge?´ dagegen schrieb die Münchner Tageszeitung, TZ: ´Prinzgemahl der Pekazik-Werke erhängt aufgefunden. Seine Ehefrau und Firmeneigentümerin, fast 20 Mio. Jahresumsatz, in Klapse!´. Der Münchner Merkur übernahm die Schlagzeile seiner Verlagstochter TZ, verzichtete aber auf den Untertitel. Die Süddeutsche formulierte: ´Pekazik-Werke: Mitglied der Gründerfamilie tot aufgefunden´. Die Aktuelle konterte ´Groß-Industrieller erhängt sich nach Violinkonzert der Enkelin. Daneben: ihr zerstörtes Spielzeug!´. Das Münchener Wirtschaftsblatt Euro am Sonntag betrachtete die Sachlage gewohnt nüchtern: ´Fabienne von Klauberheim in psychiatrische Klinik eingewiesen. Wird ihr Sohn Ernst (46) nach dem Freitod seines Vaters die Komplett-Leitung der Pekazik-Werke (aktuell 17 Millionen Jahresumsatz) übernehmen?´.

»Ein paar Fakten, meine Herren: Johannes von Klauberheim wurde heute, in den frühen Morgenstunden, auf seinem Nymphenburger Anwesen erhängt in der Laube aufgefunden. Zuvor erhielt er einen sonderbaren Anruf. Die Finger der Leiche umklammerten einen Zettel mit nur einem Wort: Monika. Am Boden lag eine alte Spielzeugfigur. Ob sie relevant ist, oder von den Enkeln stammt, wird geklärt. Wie Sie wissen, fällt Nymphenburg in die Zuständigkeit des Neuhauser Reviers. Kollege Blumenthal steht in enger familiärer Beziehung zu denen von Klauberheims und sieht sich deshalb vor einem privaten und beruflichen Interessenskonflikt. Er befürchtet seine eigene Befangenheit«, Kowalski musterte jeden Einzelnen, »Er bittet uns um bereichsübergreifende Zusammenarbeit. Also: Halten Sie die Augen offen und melden Sie sofort, falls Ihnen etwas auffällt. Alles, was nur ansatzweise mit dem Freitod des Klauberheimers in Verbindung stehen könnte!«

Seinem Monolog folgten einige Fotos des Anwesens, der Laube und der Leiche. Dazu die aktuelle Bilanz der Pekazik-Werke und ein großformatiges Familienfoto mit orangener Schleife.

Die Präsentation endete mit einem lauten, verräterischen Rascheln unterhalb des Tisches.

»Vienna: Aus! Meins!«

Kowalski sog drohend die Luft ein, »Okay, Sie wissen Bescheid. Kommissar Tobler übernimmt die Koordination. Ich erwarte regelmäßigen Bericht. An die Arbeit, und Tobler zu mir!«

Der Hauptkommissar wartete, bis alle gegangen waren, dann schielte er unter den Tisch, »Das da, verschwindet, sofort! Wir sind die Polizei und kein Tierheim!«

»Sie hat den Schumann erledigt! Ohne Vienna wäre der uns entkommen!«

»Der Hund ist eine tickende Zeitbombe! Ich habe mich informiert, über die Rasse American Staffordshire im Allgemeinen und über dieses Tier im Speziellen«, er kniff die Augen zusammen, »Ihr damaliger Bericht war absolut frisiert in Bezug auf die Ausbildung des Hundes!«

Tobler biss sich auf die Lippen, er dachte an das brenzliche K-Wort und Viennas spezielle Fähigkeiten. Ihr erster Besitzer hatte sie auf verschiedene Stromstöße trainiert, die er per Funk an einem Gerät am Halsband auslöste. Ein Tastendruck auf den Auslöser und ... Schuhmann war ein Glückspilz, dass er überlebt hatte.

»Ich werde mein gegebenes Wort gegenüber Herrn Jülich nicht brechen!«, das klang etwas zu forsch, »Ich betreue dieses Tier, solange sie sich nichts zu Schulden kommen lässt. Mir ist klar, dass ein Listenhund, der von einem Drogenhändler als Schutzhund eingesetzt wurde, normalerweise umgehend behördlich eliminiert wird. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihre Sondergenehmigung, Herr Hauptkommissar«, ergänzte er etwas demütiger zur Deeskalation. Tobler sah nach unten. Vienna hockte mit eingezogenem Kopf zu ihren Füßen. Zwischen den Ohren krauste sich ihre Haut zu drei verdrießlichen Falten. Die großen, dunklen Augen linsten herauf: Die Verzweiflung in Person. Dünnes Eis, meine Kleine, sehr dünnes!

Der Chef folgte seinem Blick, er schnaubte verächtlich, »Ich warne Sie: eine einzige Beschwerde ...«, seine Drohung hing unausgesprochen im Raum, »Zu Brunner: Er bekommt seine Chance, aber behalten Sie ihn im Auge. Sie verhindern, dass er wieder seinen Posten vorzeitig verlässt, wie bei Val«, damit verabschiedete er sich, im Türrahmen drehte er sich um, »Wann bekomme ich den Bericht zum Künzel-Vorgang?«

Dass Friedhelm Brunner seine Anordnungen bei einem früheren Fall ignoriert hatte, verzieh ihm Kowalski nicht: Anstatt Valentin, den Neffen des Chefs, vor den Häschern eines Drogenkartells zu beschützen, kümmerte er sich um harmlose Obdachlose. Zum Glück retteten Eileen und Tobler den Jungen in allerletzter Minute.

Kollege Brunners Begeisterung wegen dieser neuerlichen Rehabilitierungschance hielt sich in Grenzen: »Klar mach ich mit! Aber gestern war der Vorentscheid für die diesjährige Championship ´Mister Life-Power´ in meinem Fitness-Studio. Es winken wieder 900 Euro Prämie!«, er schlug Tobler etwas zu heftig auf die Schulter, »Das ist eine Ehrensache, nach dem letztjährigen Debakel. Am Sonntag ist Finale«, er grinste süffisant, »Danach steh´ ich dir zu zweihundert Prozent zur Verfügung, Kumpel«, was übersetzt bedeutete: Du recherchierst, und ich präsentiere deine Erfolge beim Chef.

Anne betrachtete ihre Finger. Was hatten diese Hände nicht schon alles erreicht? Jetzt zeichneten sich ihre knotigen Gelenke und Knochen deutlich unter der pergamentartigen Haut ab. Unzählige Altersflecken bedeckten ihren Handrücken. Welch trauriger Rest ihrer früheren Stärke!

»Es wird alles gut, Mama, glaub mir!«, Georg nahm ihr den halbvollen Kaffeebecher ab und stellte ihn auf den Frühstückstisch. Seine Hände umschlossen fest die ihren, »Jetzt bleibst du erst einmal ein paar Monate bei mir.«

»Bis einer im Seniorenheim den Löffel abgibt«, ergänzte sie treffend. Sie schielte zur Anrichte, dort warteten die fertig ausgefüllten Anmeldeunterlagen vom Caritas-Altenheim St. Korbinian auf ihren Einsatz.

»Ein Zimmer mit Balkon und Blick in den Park. Ein Lift, Unterhaltung, und ein gedeckter Tisch, aber keine Herdplatten, die man vergisst auszuschalten.«

»Nur das eine Mal!«, maulte sie kleinlaut. Sie musterte ihren Sohn: Georg, mittelgroß und eher schmächtig. Sein ehemals volles Haar war nach fünfundfünfzig Jahren auf einen schütteren Haarkranz reduziert. Dafür trug er seit neuestem diesen kurzgeschnittenen Kinnbart als modische Ergänzung. Seine fast schwarzen Augen blickten melancholisch. Er war Single.

»Wohl eher: Dieses eine Mal ist es Eugen aufgefallen, nicht wahr?«

»Er hat gepetzt! So etwas macht man nicht unter Nachbarn!«, sie schmollte, »Was machen deine Kreuzschmerzen nach dem Umzug?«

»Dank Eugens Unterstützung kann ich mich noch rühren«, er erinnerte sich an die enormen Kistenberge und das Chaos aus Schachteln und Wäschekörben am Straßenrand, »Alle Achtung, was du in deiner kleinen Wohnung untergebracht hattest«, er lachte, und nickte zu einem der Karton-Stapel, die sich überall auftürmten: im Flur, im Wohnzimmer, im ehemaligen Arbeitszimmer, das jetzt Anne gehörte, selbst im Bad, »da solltest du nochmal durchmisten, Mama!«

Sie schnaubte verächtlich und fügte im Stillen ein ´und weitersuchen´ an, »Du hast mir ja verboten euch beim Tragen zu helfen. Du hast mich einfach hier abgesetzt!«, sie presste die Lippen zusammen.

»Du bist sechsundachtzig, Mama!«, er stand auf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, »Ich muss jetzt los. Alleine drei Finanzberatungstermine am Vormittag. Am Nachmittag nochmals vier. Mach dir keine Sorgen, wenn ich heute etwas später nach Hause komme.«

»Habt ihr bei der Hypo Schließfächer?«

Ein wildes Hupkonzert auf der Therese-Giehse-Allee übertönte ihre Worte. Georg trat ans Fenster. Drei Stockwerke tiefer lieferte sich ein stämmiger BMW-Fahrer mit einem Sportradler ein lautes Wortgefecht. Sein Fahrzeug blockierte die Fahrbahn, das Rennrad lag zerbeult zwischen den Linden am Straßenrand. Er schloss das Fenster, »Nicht bei uns, dafür ist meine Filiale an der Inneren Wiener Straße zu klein. Aber im HVB-Tower am Arabellapark gewiss.«

Eine heftige Windböe fegte um das Gebäude, einige Blätter trudelten am Küchenfenster vorbei. »Die Batterien für mein Hörgerät, sind die schon irgendwo aufgetaucht?«

»Ich bring dir welche mit, heute Abend, versprochen.«

Sie folgte ihm in den Flur.

Vor ihr stieß Georg einen unterdrückten Fluch aus, weil er schon wieder über eines seiner losen Schuhbänder gestolpert war, »Wenn ich deine Batterien hole, kaufe ich mir neue«, er hob Annes abgetragenen Mantel vom Kleiderhaken, um seine darunter hängende Jacke zu erreichen, »Dieses Ding gehört längst auf den Müll, Mama! Stammt der noch aus den Achtzigern? Fürs Altersheim brauchst du etwas Moderneres.«

»Er ist doch praktisch neu!«, protestierte sie, »Alter hat nichts mit Qualitätsverlust zu tun! Bis heute Abend!«, sie schloss die Tür hinter ihm, »Müll und Seniorenheim, wo ist da der Unterschied?«, brummte sie beleidigt.

Ihr Blick blieb an der alten Frau im Garderobenspiegel hängen. Wo war das sportliche Mädchen geblieben? Die engagierte, brünette Dame, die von ihren Kollegen stets geachtet wurde? Vor ihr stand eine geschrumpfte, leicht pummelige Seniorin, das runde Gesicht fleckig und faltig, die dünnen, weißen Haare zu einer dürftigen Frisur hochgesteckt.

»Nörgeln ändert nichts«, ermahnte sie sich »Georg ist weg, also nutze die Zeit!«, es gab bei weitem Dringenderes zu erledigen, als sich um die Erneuerung der Garderobe zu kümmern. Ihr Spiegelbild veränderte sich: Zwei unternehmungslustige Augen blitzten über einem spitzbübischen Lächeln, »Schon besser, auf gehts!«

Im Bad warteten sieben Kisten darauf, durchwühlt zu werden. Wo steckte nur der Schuhkarton mit dem blauen Kleid? Seit Jahren hütete sie die Box wie einen Schatz, jetzt fehlte sie. Hatte Georg die Schachtel in seiner Wegwerfwut entsorgt? Oder war der brisante Inhalt in falsche Hände geraten? Vielleicht Eugen? Bei diesem Gedanken kribbelte es ihr unbehaglich in der Bauchgegend. Aber, warum sollte sich ihr Nachbar für einen Karton Birkenstockschuhe in Größe 38 interessieren?

Wäre es geschickt, Georg danach zu fragen und somit seine Neugierde zu wecken? Definitiv: Nein. Zum Glück bewahrte sie die anderen wichtigen Utensilien in ihrer Handtasche auf, und die war für ihren Sohn tabu.

Nach der vierten Umzugsschachtel schmerzten ihr die Finger. Ihr Bauchkribbeln mauserte sich inzwischen zu schierer Angst. Erschöpft gönnte sie sich eine Pause. Sie setzte sich in den Wohnzimmersessel und beugte sich tief über die Zeitung. Die Schlagzeile schrie ihr jäh entgegen.

»Mein Gott!«, entsetzt zuckte sie zurück und starrte auf die dicken Lettern: ´ERHÄNGT: Johannes von Klauberheim: TOT!´ Sie las diesen Artikel dreimal hintereinander, jede Einzelheit interessierte sie. Sein Selbstmord, der Name und die erwähnte Figur beunruhigten sie. Doch die aktuellen Umstände und der momentane Zeitpunkt versetzten sie in akute Panik!

Zeitgleich hebelte in der IGA-Seniorenresidenz Matthäus Sonnenborn seinen Rollstuhl über die Balkonschwelle ins Freie. Eine leichte Brise wehte durch die offenen Flügeltüren und blähte die hellen Vorhänge. Er sog die frische, warme Luft tief in seine Lungen, doch diesmal blieb ihre sonst so beruhigende Wirkung aus.

Weit unter ihm blühte der Westpark in allen Farben. Dieses Erholungsgebiet und die benachbarte U-Bahn-Station waren zwei der Gründe, warum er sich vor wenigen Jahren für die IGA-Seniorenresidenz entschieden hatte. Die Münchner nutzten das frühere Gelände der internationalen Gartenbauausstellung (IGA) seit 1983 zum Relaxen und Ausspannen. Auch heute strebten viele Menschen auf den Spazier- und Fahrradwegen zu den beiden Biergärten oder zu einem der Spielplätze. Bunt zusammengewürfelte Gruppen belegten die Grillplätze. Andere Personen wandelten zwischen Blumen- und Staudengärten zum Alpinum oder der Rosenanlage. Weiter hinten stapfte eine quirlige, chinesische Reisegruppe mit gezückten Handys durch das Ostasien-Ensemble. Sie schossen erst eine Unmenge Selfies mit den ihnen wohlvertrauten Gebäuden, bevor sie zu den benachbarten Nationengärten weitereilten. Ein buntes Bild aus T-Shirts, kurzen Hosen und knappen Röcken schob sich durch den Park.

Matthäus fror. Er zog seine karierte Ausfahr-Decke über Knie und Schulter und beobachtete das Treiben.

Die Idee des Architekten, zwei getrennte Grünbereiche durch eine flache Brücke mit begrünten Seitenstreifen zu verbinden, faszinierte ihn seit der Geländeeröffnung. Doch heute fand er keine Ruhe, dem munteren Leben dort unten zu folgen, diese vier weißen Textfragmente ließen sich nicht verdrängen. Wieder spähte er durch das Fenster auf seinen Tisch. Sie leuchteten ihm frech und herausfordernd vom düsteren Titelblatt der Zeitung entgegen.

Wie reagierte man auf eine Erpressung? Sein Kopf blieb ihm eine Antwort schuldig, in den folgenden Minuten ebenfalls. Wer hatte Erfahrung auf diesem Gebiet?

Er kehrte in sein Zimmer zurück und griff zum Telefon, »Hallo? Bitte verbinden Sie mich mit Herrn Lukas Kaiser!«, diesmal notierte er die Durchwahl. Ungeduldig lauschte er, bis sich sein Gesprächspartner meldete.

»Du hast es also auch gelesen!«, kam der grußlos zur Sache, »Markus rief mich vorhin ebenfalls an.«

»Was meint Markus dazu? Bedeutet das etwas für uns?«, schweigend lauschte der Mann im Rollstuhl Lukas Bericht über das soeben geführte Gespräch, »Aber es kommt noch dicker, Matthäus. Rate einmal, wer mich gestern spät nachts, anrief? Reiser!«

»Johannes? Und jetzt ...«

»... ist er tot, genau!«, Lukas wiederholt den Wortlaut ihres Telefonates.

Am Ende schwiegen beide geraume Zeit.

»Danke!«, hauchte Matthäus endlich, er legte auf.

Gedankenverloren starrte er auf die langen, duftigen Stoffbahnen, die im Windzug flatterten, er schauderte.

Jedem der alten Freunde war ein ähnliches Kuvert zugespielt worden. Vier Millionen! Wie sollte er eine so hohe Summe beschaffen?

Der Mann sah sich um, er war allein, endlich. Hier störte ihn niemand. Sein schwarzer Mantel hing verborgen im Schrank. Warum hatte er diesen blöden Karton nicht ignoriert? Wozu hatte er sich gebückt und ihn vom Bürgersteig aufgelesen? Jetzt war es zu spät für diese Fragen. Die heutigen Schlagzeilen erzwangen eine rasche Planänderung. Er hob den Deckel von der Kiste und wickelt eine schmale Kladde aus einem fließenden, blauen Tuch: ein altes, liniertes Notizbuch mit handschriftlichen Eintragungen. Zwei stabile, hellblaue Pappdeckel, eine Stoffbindung und dazwischen: ein Sprengsatz sondergleichen!

War es seine Chance oder sein Fluch? Noch konnte er zurück, noch klebte kein Blut an seinen Fingern. Andererseits lockte ihn ein sorgloser Lebensabend, wenn alles glatt lief. Aber sah es danach aus?

Der Nächste hieß Markus Böhm. Er fragte sich, ob die Namen etwas bedeuteten. Verbargen sie eine Warnung an ihn? Er blätterte durch die welligen Seiten, er kannte ihren Inhalt inzwischen fast auswendig. Zuletzt holte er eine der vier Mappen vom Schachtelboden, er fand die gesuchte Adresse sofort. Eine telefonische Voranmeldung, wie bei dem Adligen war heute Nachmittag überflüssig. Google verriet ihm die Ortslage: abgelegen, leicht zu betreten, einsam. Kurz: perfekt! Verführerisch perfekt. Was hinderte ihn, sich die Sache anzusehen und spontan zu entscheiden? Nichts. Diesmal entschied sein Glück.

»Hi Sonja, hier Sebastian. Bitte suche alles zusammen, was du über diesen Klauberheim findest«, Kommissar Toblers Hörer klemmte zwischen Schulter und Ohr, mit der freien Hand montierte er eine neue Patrone in seinen Füller, »Und klopf ihn sicherheitshalber nach möglichen Verbindungen zu Kowalski ab. Ich will nicht, dass wir bei den Untersuchungen wieder eine peinliche Überraschung erleben.«

»Okay, Herr Teamleiter! Bis wann?«

»Eilt nicht, die Haupt-Ermittlung läuft bei den Nymphenburgern. Aber bitte Jörg, dass er ebenfalls seine Finger über die Tasten tanzen lässt. Inoffizielle Informationen zu diesem Mann, seiner Familie und Firma dürften uns eher zu seinem Motiv für den Freitod bringen«, im Augenwinkel bemerkte er ihre Azubine im Türrahmen, »Sorry, ich muss Schluss machen, ich kriege soeben Besuch. Danke schonmal«, er legte auf und wandte sich zur Tür, »Hallo Cornelia, was gibt´s?«

»Diese beiden Herrschaften standen am Empfang. Sie wünschen, ausschließlich mit dir zu reden«, sie griff in ihre Jackentasche, »Hier: dein Ersatz-Frühstück, aber pass diesmal besser auf!«, vier Duplos landeten neben dem Füller. Sie winkte die Besucher herein und verschwand zu ihrem Schreibtisch. Die Milchglas-Tür zu seinem Büro blieb offen, ganz nach Toblers Anordnung. Der Kommissar vertrat die Devise: Meine Arbeit ist für alle einsehbar und transparent, keine heimlichen Tuscheleien hinter dem Rücken anderer. Jeder im Team arbeitet selbstständig, dafür verschone er mich bitte mit Bagatellen. Falls es brennt, bin ich jederzeit zu sprechen, selbst bei privaten Problemen. Wenn Sebastian dennoch sein Büro schloss, bedeutete es eines: Ärger.

»Ja, da schau her!«, Tobler zwinkerte dem eingetretenen Paar freundlich zu. Er, breit grinsend, mit wettergegerbtem Gesicht, Zahnlücken, zirka sechundfünfzig Jahre, faltige Hände und ausgeblichene, abgewetzte Kleidung. Sein obligatorischer Zigarettenstummel fehlte. Die kleine Polin neben ihm wirkte nervös. Ihre dunklen Haare waren heute fein säuberlich zu einem Dutt hochgesteckt. Durch ihr faltiges Gesicht schätzte man sie wesentlich älter, als ihre Passdaten belegten. Sie trug zwei gemusterte Röcke übereinander, darunter eine wollene Strumpfhose. Ein großes, unförmiges Tuch bedeckte ihre schmalen Schultern. Der Betrachter rätselte: Was überwog? Der ursprüngliche Stoff oder die unzähligen Flicken?

»Servus Irina, servus Bolle«, der Kommissar reichte den beiden Obdachlosen die Hand, »was treibt euch zwei Hübschen zu mir?«

Bolle schlug ein, mit der zweiten Hand schloss er die Tür. Bei dem sanften ´Klick´ fuhren auf der anderen Seite der Glasscheibe sämtliche Köpfe hoch. Alle Augen im Großraumbüro hefteten sich an die Scheibe. Shit!

»Es geht um eur´n Glatzkopf!«, Bolle massierte nervös seinen drahtigen Bart.

Brunner, wer sonst? Kollege Friedhelm Brunner, und dessen einziges Ziel: die Münchner Obdachlosen im Zaum zu halten. Sein Aktionsgebiet umfasste Raufereien, Stänkereien, Schlägereien, Diebstähle und kleinere Konflikte zwischen den unterschiedlichen Penner-Gruppen, die manchmal auch ausarteten. Brunner, der passionierte Sportler, war mit seinem durchtrainierten, bulligen Körper die Ideal-Besetzung dafür. Sein einziges Problem: Die Penner verhielten sich meist unverschämt tadellos. In der Vergangenheit war er öfters durch bewusste Provokationen aufgefallen. Sobald jemand entsprechend darauf reagierte, freute sich Friedhelm über den Vorwand für eine neue Verhaftung.

»Treibt er sich immer noch bei euch herum? Sein Einsatzgebiet wurde doch nach den letztjährigen Vorfällen extra verlegt.«

»Eben, jetzt stänkert er bei d´n Michaelis«, Bolle legte den Arm um seine Freundin und räusperte sich, »Ich komm´ auch weg´n der Michaeligruppe. Die ham´ mich gefragt, ob ich helf´n kann.«

»Die Konkurrenz?«

»Ah, was!«, er fegte diesen Einwurf mit einer abschätzigen Handbewegung weg, »Mir gehör´n doch alle irgendwie z´samm«, wieder schrubbte seine Hand über das Kinn, »Also, gestern, da war der Fred bei mein´m Mädel«, stolz drücke er Irina an sich, »ihr Schrottplatz is´ quasi uns´re neutrale Zone. Außer ihr geht da keiner mehr freiwillig hin«, er hustete, hart und trocken.

»Lass das Rauchen, Bolle!«

»Ah, was!«, er winkte ab, »Versteht´ste, was ich sag?«

»Klar! Der Toyota-Tote vom letzten Jahr steckt nicht nur euch in den Knochen«, Sebastian träumte noch immer davon und wachte dann schweißgebadet auf, »Irina, wäre es nicht doch geschickter, wenn du zu Bolle, Edi, Jurij, Schlumpf und Bronco unter die Reichenbachbrücke ziehst. Ich würde jedenfalls ruhiger schlafen!«

»Aber die and´ren nich´«, grinste der Mann vergnügt, »die Baracke am Schrottplatz is´ doch unser Liebesnest!«, er tätschelte ihr sanft die Schulter, »Komm, mein Mädel, erzähl ihm, was der olle Fred dir g´sagt hat«, er japste und würgte den nächsten Hustenanfall herunter.

Irina sah beschämt zu Boden, leise erzählte sie: »Der Typ, eurer, der legt sich mit´n Afro an. Sagt, der Kwame gehört abgeschob´n. Dabei jobbt der täglich mit´m oll´n Schlumpf am Bau.«

Sebastian sah den ältesten Brückenbewohner vor sich: wettergegerbt, mit seiner obligatorischen roten Strick-Wollmütze, die er selbst beim Schlafen nicht ablegte.

»Großartig! Wo denn?«

»In Bogenhausen irgendwo. Kannst´e den Michaelis nich´ dein´ Hund leihen?«

Viennas Kopf schnellte in die Höhe, mit ihrem perfektionierten Bettelblick robbte sie dicht neben das Pärchen. Tobler überlegte: Hunde waren Brunners wunder Punkt. Ein Zusammentreffen mit Vienna bedeutete für seine Vierbeinerin eine Aufgabe inklusive Auslauf, sowie eine unfreiwillige Trainingseinheit für den flüchtenden Friedhelm. Trotzdem: »Nein. Kollege bleibt Kollege und du, Vienna, zurück unter dem Tisch!«

»Echt nich´?«

»Echt. Aber ich knöpf ihn mir vor, fest versprochen, Bolle!«, Tobler nutzte eine eingehende SMS als Vorwand, seine Besucher hinaus zu bitten.

Es war seine Mutter: Wie gehts Eileen?

Er tippte: Frag sie doch selber, ich verdiene gerade die Windeln für den kleinen Hosenscheißer.

Antwort: Vielleicht schläft sie jetzt?

Darauf reagierte er nicht. Ihn konnte man jederzeit stören, doch eine schwangere Frau, die nur zuhause rumhing, anscheinend nicht. Eine Viertelstunde schwieg sein Handy, dann eine erneute SMS von seiner Mutter: Warne deinen Chef, dass du kurzfristig zur Geburt abhaust!

Er ignorierte diese SMS, erst recht diese!

Inzwischen durchstöberte Anne den Inhalt ihrer restlichen Umzugskisten. Aber die vermisste Schuhschachtel bleib weiterhin verschwunden. Sie lief durch jedes Zimmer der kleinen Wohnung. Eine böse Vorahnung trieb sie voran. Dieser Karton durfte auf gar keinen Fall in die falschen Hände geraten!

»Konzentriere dich, Anne!«, ermahnte sie sich, »such systematisch, so wie du es gelernt hast. Wie bist du früher vorgegangen?«

Dann fiel ihr Blick auf den Notizblock. Ihre Finger betasteten das oberste, leere Blatt. Sie kehrte mit einem Bleistift zurück. Kurz darauf hatte sich ihre Mühe ausgezahlt, leider. Niedergeschlagen setzte sie sich an Georgs Küchentisch, vergrub ihr rundes Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos.

Um zwei Uhr am Nachmittag verließ sie die Wohnung in Richtung des nahegelegenen Drogeriemarktes. Der böige Wind riss an ihrem Mantel. Ihre Tasche baumelte über der Schulter, heute schwerer wie gewöhnlich.

Zurück blieb ein kleiner Zettel: Brauche frische Luft. Hole selbst Batterien beim Müller-Markt.

Die Uhr zeigte Viertel nach vier. Bei diesem windigen Wetter trieb es nur wenige Spaziergänger hinaus. Ein paar Hartgesottene und einige Hundebesitzer schlenderten über den Denninger Anger, die Krägen an ihren Jacken hochgestellt. Obwohl dieser Park mitten in der Großstadt lag, war es hier angenehm still. Hohe Bäume und Büsche schirmten die Schrebergartenkolonie vom angrenzenden Wohngebiet ab, Vögel zwitscherten.

Ein Mann stand vor einer alten, aber penibel gepflegten Laube am Rande dieser Bogenhausener Kleingartenanlage. War er ein Besucher? Ein neugieriger Passant oder einfach nur zufällig hier? Das angelehnte Eingangstor der Parzelle 157 wippte leicht im Wind. Er wertete es als Einladung, auf jeden Fall vereinfachte es die Sache. Vorsichtig schlüpfte er durch den Rosenbogen. Er vermied es, auf den knirschenden Kiesweg zu treten, um sein Kommen nicht anzukündigen. Leise schlich er über den weichen Randstreifen zum Haus. Ohne einen Laut betrat er den einzigen Raum. Links von ihm erstreckte sich ein Sideboard, Rechts eine bäuerliche Anrichte mit Aufsatzschrank, eine Glastür stand weit offen.

Es war still hier, totenstill.

Vorsichtig spähte er ums Eck.

Nichts rührt sich, nicht einmal der Mann, der, in sich zusammengesunken und mit offenen Augen, am Esstisch lag. Um ihn herum ergoss sich eine Blutlache auf die Fichtenholzplatte. Rote Spritzer übersäten den Boden und die gegenüberliegende Wand. Der Geruch von frischem Blut hing schwer über der Leiche.

»Scheiße!«, der Mann japste nach Luft. Langsam zog er sich zurück. Nur weg hier! Er hastete von der Parzelle.

´Lauf locker, atme gleichmäßig!´, rief er sich ins Bewusstsein, ´Verhalte dich so unauffällig wie möglich!´

Aber wie schaffte man das nach einem solchen Anblick? Der bayrische Defiliermarsch setzte an, er wehte ihm gedämpft über den Sandweg hinterher. Ein Handy-Klingelton? Unbewusst verfiel er erneut in einen strammen Schritt. Vor ihm tauchte Wolferl’s Gartenoase auf, die Kleingarten-Kneipe. Sein Magen schrie nach etwas Hochprozentigem, sein Kopf nach Vergessen. Jetzt einkehren? Auf einen kleinen Schnaps, oder besser gleich auf eine ganze Flasche Hochprozentigem?

Zwei Personen unterhielten sich an der Eingangstür, der Wind wehte ihre Worte herüber.

»Servus, und Danke für´s König Ludwig Dunkel, Wolferl! Bis zum Wochenende!«

»Gern Sven. Griaß mir die´ Frau, Servus nacha!«

Der Flüchtende stülpte den Kragen hoch und eilte an den beiden vorbei. Er musste verschwinden, sofort und unbemerkt.

Erst im Auto atmete er tief durch. Erschöpft sank er in seinen Autositz und rekapitulierte die letzten entsetzlichen Minuten. Allmählich legte sich die Panik. Wovor rannte er davon? Was hatte er sich zu Schulden kommen lassen? Er war lediglich über einen privaten Gartenweg zum Haus gelaufen und hatte einen Blick durch die angelehnte Tür geworfen. Vor seinen Augen tauchten erneut die grausigen Bilder des Toten auf. Was, in Gottes Namen, war dort in der Laube passiert?