Der gelbe Hut - Martina Schorb - E-Book

Der gelbe Hut E-Book

Martina Schorb

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jäger oder Gejagter? Drei Dinge bringen Kommissar Tobler um den Schlaf: ein tot aufgefundener Promi-Anwalt, eine verschwundene exzentrische Künstlerin und eine Reihe Drogentoter, deren Todesumstände offensichtlich vertuscht werden. Entpuppt sich der Obdachlose mit den Spitznamen ´Renter´ als Schlüssel für diese Fälle? Warum drängt Toblers Vorgesetzter darauf, gewisse Akten schnellstmöglich ins Archiv zu stecken und untersagt ihm weitere Ermittlungen? Als der Kommissar auf eigene Faust weiter recherchiert, wird er mit privaten Drohbriefen konfrontiert. Wem ist er zu nahegekommen? Hängen die einzelnen Fälle zusammen? Doch während Tobler ermittelt, hat der Mörder bereits sein nächstes Ziel im Visier...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1045

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Autorin:

Martina Schorb, geboren 1963 in München, lebt heute mit ihrem Mann in einer kleinen Stadt in Bayern. Nach dem Elektrotechnik-Studium und vielen Jahren beruflicher Tätigkeit, widmete sie sich einige Zeit voll und ganz ihrer Familie. Damit der quirlige Nachwuchs stets bei guter Laune blieb, erzählte sie ihnen bei allen möglichen Situationen Geschichten zur Ablenkung. Jetzt, nachdem die Kinder erwachsen sind, findet sie abends, als Ausgleich zu ihrem Beruf, die Muße ihre Gedanken aufzuschreiben.

Von der Autorin sind zwei weitere Romane erschienen:

Alegonda – Die Entscheidung, Fantasyroman Geheimes Spiel, Kriminalroman

Alle beschriebenen Personen, Gegebenheiten, Gedanken und Dialoge sind rein fiktiv. Etwaige Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meinen geduldigen Mann, meine Kinder

und Vienna

Inhaltsverzeichnis

Prolog

0. Die Tat

1. Der Entschluss

2. Der Auftrag

3. Das Opfer

4. Die Vernissage

5. Das Wochenende

6. Der Anruf

7. Die Villa

8. Die Finanzen

9. Der Fund

10. Der Einbruch

11. Die Akten

12. Die Verabredung

13. Das Album

14. Die Namen

15. Der Junge

16. Der Test

17. Das Geld

18. Der Vater

19. Das Signal

20. Der V-Mann

21. Die Organisation

Epilog

Prolog

Montag, 19. August 2019

Es war spät geworden. Endlich war er alleine.

Erschöpft ließ sich Kommissar Tobler auf den Stuhl neben seinem Esstisch fallen. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Nie im Leben hatte er mit diesen Ausmaßen gerechnet!

Die Geschehnisse der letzten drei Wochen durchfluteten ihn. Sie blitzten in kurzen Ausschnitten auf, schnellten vorüber, unmittelbar gefolgt von der nächsten Sequenz. Alles wild durcheinander, eine wechselnde Flut an Informationen und Fakten.

Hatte er jedes Detail berücksichtigt? Er hoffte es.

Er legte seine Ermittlungsunterlagen vor sich auf den Tisch. Noch immer verwahrte er sie nachts im Wagen. Die böse Überraschung vor einigen Tagen steckte noch in seinen Gliedern. Dann suchte er seinen Block und platzierte ihn neben dem Füller.

Befand er sich auf dem richtigen Weg, oder hatte er eine Abzweigung verpasst? Landete er in einer Sackgasse? Falls er sich täuschte, verbannte ihn Kowalski zum Straßendienst. Gründe dafür fand er genug: Untersagte Ermittlungen, Vernehmungen unter falschem Vorwand, Täuschung seiner Kollegen, um heimlich ihre Akten zu kopieren, Aufbewahrung der Verschlussakten in seinem VW-Bus.

Nervös fuhr er sich durch die dunklen Locken, und griff nach dem dampfenden Kaffee. Neben dem Becher stand die stark mitgenommene Bocadillo Schachtel. ´Dessert aus Kolumbien´ leuchtete ihm entgegen, daneben das Bild einer aufgeschnittenen, hellgrünen Guave mit zartrosa Fruchtfleisch. Farbenfroh, aber verbeult und ohne den süßen Inhalt aus den Anden. Momentan verspürte er eh nicht die geringste Lust nach einer Nascherei.

Er hob den Deckel ab, und musterte den darin liegenden Zettelwust. Auf jedem Papier stand eine Frage. Alles Fragen, die ihn in den letzten drei Wochen besonders beschäftig hatten.

Langsam zog er eine Notiz nach der anderen heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.

Die Fragen flirrten in seinem Kopf, wie die heiße Luft über der dunklen, heißen Flüssigkeit. Erst, wenn er alle Fragen beantworten konnte, die Puzzlesteine an der richtigen Stelle lagen, war das Rätsel gelöst. Erst dann war er bereit für morgen.

Vor seinen Fenstern versank die Sonne. Die Schatten der gegenüber liegenden Häuser streckten sich, bis sie seine Scheiben erreichten. Eine sanfte Dämmerung legte sich über das gesamte Wohnviertel. Ihr folgte eine Dunkelheit, die sich zum undurchdringlichen Schwarz der Nacht verdichtete.

0. Die Tat

Donnerstag, 25. Juli 2019

»Warum gerade München?«

»Ich bin gerne in der Nähe, wenn es passiert.«

»Sind Sie besorgt?

»Nervös. Es bedeutet schließlich einiges für mich.«

»Er wird nicht versagen.«

»Das hoffe ich für ihn. Außerdem muss ich noch die andere Sache regeln. Endgültig.«

»Soll ich Sie begleiten?«

»Nein. Es ist nur ein Gespräch unter Erwachsenen. Die Spielregeln nochmals klar definieren. Doch wenn es nicht fruchtet …«, der Satz blieb in der Luft hängen.

»Jederzeit zu Diensten!«

»Danke, ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann!«

Ende des Telefonats

Sie ergattert am vereinbarten Parkdeck eine freie Parkbucht neben einem alten, gelben Mercedes. Zum Glück konnte sein Rost nicht auf ihren nagelneuen BMW X5 M herüberspringen. Schon alleine diese rötliche Farbe! Absolut unpassend zum edlen Schwarz und den hellbeigen Lederbezügen ihrer Luxus-Karosse.

Sie sieht sich um. Ein brauner Toyota rollt hinter ihr vorbei. Er hält einige Plätze weiter. Eine abgehetzte Mutter zerrt ein verschlafenes Kleinkind heraus und eilte mit ihm Richtung ´Ankunft´.

Der falsche Wagen, die falschen Personen.

Eigentlich will sie gar nicht hier sein, doch letztendlich gab sie seinem Drängen nach und hat diesem Treffen zugestimmt. Die Sache muss endlich geregelt werden. Sein ständiges unerwartetes Auftauchen zermürbt sie, es lenkt sie ab, nein, es verunsichert sie.

Angespannt und nervös rutscht sie auf dem Fahrersitz in eine neue Position. Am liebsten würde sie wieder fahren. Möchte sie vor ihm flüchten? Sie? Eigentlich müsste es genau andersherum sein: er sollte Angst haben!

Wieder sucht sie im Rückspiegel das Parkdeck ab. Kein langsam heranrollendes Auto zwischen den langen Reihen.

Zaudern hilft nichts. Sie darf momentan keine weiteren Ablenkungen riskieren. Die neue Aufgabe erfordert ihre volle Konzentration. Hoffentlich kommt er pünktlich.

Ein frischer Wind fegt über die staubige Parkfläche. Vielleicht beruhigte sie die frische Luft? Sie greift nach dem Regenschirm und steigt aus. Der aufgespannte Schirm schützt nur unzureichend vor dem aufgewirbelten Staub, sie muss den Hut etwas fester über den Kopf ziehen.

Sie wartet.

Sie wartet und lauscht auf das Brausen des Windes. Bei jedem Windstoß bläht sich die Textilbespannung an der Fassade, und fällt mit einem ´Flopp´ wieder schlaff zurück. Ihr Blick bleibt an der halbhohen, eisernen Balustrade am Ende der Parkbucht hängen. Der achte Stock. Nur nicht zu nahe hintreten. Sie ist alles andere als schwindelfrei.

Die Minuten schleichen dahin.

Plötzlich spricht er sie an. Erschrocken fährt sie herum: er steht direkt hinter ihr! Hat er auf einem anderen Deck geparkt und ist zu Fuß gekommen? Sicher, sonst hätte sie ihn bemerken müssen. Jetzt nur keine Schwäche zeigen!

Sie schließt den Schirm und stellt ihn wie ein Schwert zwischen sie beide. »Ganz schön mutig von Ihnen, zu kommen«, blufft sie.

Keine Antwort. Nur sein Blick, rechts – links.

Instinktiv folgt sie seinen Augen. Sie sind alleine.

Völlig alleine.

»Seit Monaten verfolgen Sie mich, warum? Was wollen Sie?«

»Reden.«

»Es gibt nichts zu reden! Wenn ich Sie noch einmal in meiner Nähe erwische, sind Sie erledigt.«

Links, rechts, noch immer niemand am Parkdeck.

»Ich kann es nicht sein!«, er überprüft die Fahrgasträume der geparkten Wägen, alle leer, »Ihre Informationen sind falsch.«

»Netter Versuch, nur völlig überflüssig. Und jetzt verschwinden Sie! Falls Sie weiter Schwierigkeiten machen, wird man sich um Sie kümmern«, doch schon beim letzten Wort wird ihr der Fehler bewusst: sie ist alleine, der falsche Moment für Großspurigkeit.

Er fixierte ihren kalten Blick.

´Kümmern´, denkt er, ´ein erstaunliches Wort für einen angeheuerten Killer´. Blick links, rechts, seine Mission ist heikel, er darf sie nicht weiter gefährden, er muss handeln!

Ohne ein Wort drängt sein Körper sie zwischen den beiden Autos zurück, Richtung Balustrade.

Ein dicker Kloß schnürt ihr die Kehle zu. Der Abgrund! Sie reißt den Schirm hoch, will etwas Abstand zwischen sie bringen, doch er greift danach und umklammert ihn fest mit seinen Fingern. Mit aller Kraft hebelt sie ihm den Schirm aus seinen Händen. Sie schlägt wild um sich. So heftig, dass ihr der Hut herunterrutscht. Einen Wimpernschlag lang blickt sie ihm entsetzt nach. Sieht, wie das teure Stück neben ihr landet, mitten im dicken Staub des Parkhausasphaltes.

Der Hut lenkt sie ab. Zu spät bemerkte sie ihren Fehler.

Dieser blöde Hut!

Jetzt drängt er sie weiter nach hinten. Zentimeterweise, Schrittchen für Schrittchen. Die Augen links, rechts: Niemand in Sicht. Er ist ruhig, ruhig und konzentriert.

Seine Gelassenheit macht ihr Angst. Endlich kann sie schreien. Sie ruft nach Hilfe. Sie ruft nach Hilfe, warum sie?

Ungerührt macht er einen weiteren Schritt nach vorne, legt die eine Hand auf ihren Mund, die andere in ihren Nacken.

Mit angstvoll aufgerissenen Augen starrt sie ihn jetzt an. Es war ein Fehler gewesen hierher zu kommen, noch dazu alleine! Was hat er vor? Noch immer umklammert ihre linke Hand den Schirm.

Er schaut sich noch einmal um: keine Zeugen.

Die eiserne Brüstungsstange drückt gegen ihren Hintern, eine Hand im Nacken, eine über ihren Mund. Sie versucht den Kopf zu schütteln, aber er hält ihn fest wie in einem Schraubstock. Verzweifelt schlägt sie mit dem Schirm um sich. Zum Glück hat er nur zwei Hände!

Neben ihr klirrt Glas.

Sie kann nicht weiter zurückweichen, er ist ihr jetzt ganz nahe. Seine Beine berühren die ihren. Eines drängt sich zwischen ihre Schenkel. Angeekelt lehnt sie den Oberkörper nach hinten. Nur Abstand von diesem Widerling!

Schlagartig löst sich die Hand im Nacken, die über ihren Lippen bleibt.

Verzweifelt versucht sie sich gegen den Widerstand wieder nach vorne beugen, sich aufzurichten.

Seine freie Hand greift ihr zwischen die Beine, die Finger umklammern den vorderen und hinteren Rocksaum. Er hebt sie an.

Wie von Sinnen schüttelt sie den Kopf. Er wird sie doch nicht …?

Das achte Parkdeck!

Sie ist klein und leicht. Mit einem Ruck zieht er ihren Unterkörper hoch, weicht den zappelnden Beinen aus und drückt ihren Kopf mit der Hand zuerst nach hinten, dann nach unten. Mühelos kippt er sie über die blaue Eisenstange. Dann öffnet er seine Hände.

Sie fällt, unfähig aus ihrem plötzlich freien Mund einen Schrei auszustoßen.

Noch während sie hinabstürzt, bemerkt er die Rohre, die aus dem Boden ragen. Der Wind treibt eine neue Böe durch die Textil-Verkleidung, sie trägt ein unheimliches Knacken zu ihm herauf, als sie aufschlägt.

Fassungslos starrt er hinunter, endlose Sekunden. Ihr Körper liegt zwischen Fassade und Plane. Er will nicht glauben, was er eben getan hat.

Wozu hat ihn diese Frau getrieben?

In Angst, Verzweiflung, Ausweglosigkeit.

Eigentlich ist er als Bittsteller zu diesem Termin aufgebrochen. Er wollte sie anflehen, den angeblichen Beweis nochmals zu überprüfen. Und, falls er unschuldig war, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Doch jetzt hat er selbst für das Ende gesorgt, und diesmal war er schuldig, eindeutig schuldig.

Was hat er nur getan?

Er dreht sich um. Noch immer ist niemand in Sicht. Seit er hier eingetroffen ist, sind keine drei Minuten vergangen.

Der Hut!

Er zieht ein Taschentuch aus der Tasche, hebt den Hut damit auf und wirft ihn der Frau hinterher. Doch der Wind vereitelt sein Vorhaben: eine Böe erfasst die breite Krempe und drückt das Accessoire knapp unterhalb der Fahrbahn an das Gestänge der Verkleidung, dabei verheddert sich eine der Stoffbahnen an einem der hervorstehenden Haken. Das grellgelbe Gebilde bleibt hängen, es schwankt bei jedem Luftzug sanft hin und her.

Verdammt!

Zumindest erfasst den Hut dort kein Scheinwerfer. Solange sich niemand über die Brüstung beugt ist er von hier oben unsichtbar. Eine Etage tiefer müsste jemand bewusst an die Metallabsperrung treten und senkrecht nach oben lugen um den Hut zu entdecken. Ziemlich unwahrscheinlich. Mit etwas Glück würde der Sturm ihn in den nächsten Stunden hinab zu seiner Besitzerin befördern.

Außer den Windgeräuschen ist es still im Parkhaus. Unmöglich, dass jemand von der Straße verfolgt hat, was soeben hinter der Verspannung passiert ist. Er wendet sich ab und geht möglichst unauffällig zum untersten Parkdeck. Ein feinlöcheriges, deckenhohes Metall-Schutzgitter verhindert unerwünschtes Einsteigen. Es verdeckt auch den Blick auf die Leiche. Das ist gut so. Nicht auszudenken, wenn ein Kind die Tote so zu Gesicht bekäme!

Er wendet sich ab. Vier Minuten später verlässt er das Parkhaus. Ihm ist bewusst, dass die Videoüberwachung ihn gefilmt hat: während der Einfahrt, oben auf Parkdeck Acht, beim Zahlen und beim Verlassen des Parkhauses.

Diesmal konnten sie keine schützende Hand über ihn halten. Diesmal nicht.

Wann wird man die Leiche finden?

Zweiundsiebzig Stunden Aufbewahrungszeit für Überwachungsvideos, diese gesetzliche Frist ist seine einzige Hoffnung. Sobald die Bänder überspielt sind, kann man ihm nichts mehr beweisen. Er beginnt die Stunden zu zählen.

Zwei Stunden später ist er zuhause. Er sitzt verzweifelt im Wohnzimmer, den Kopf in die Hände vergraben. Was hat er nur getan? Die Tür öffnet sich, seine zweijährige Tochter klettert auf seinen Schoss und blickt ihn mit großen, neugierigen Augen prüfend an: »Papa nicht traurig, kuscheln!«, sie zieht ihm seine Hände vom Gesicht und strahlt. Für ihn, nur für ihn.

Er erwidert ihren Blick: er darf nicht zulassen, dass er das Vertrauen dieses unschuldigen Kindes aufs Spiel setzt. Er darf sie nicht vor den Kopf stoßen. Er muss die Fassade wahren.

Sie schmiegt sich an ihn.

Sie darf nie erfahren, was ihr Vater soeben gemacht hat. Niemand durfte es erfahren!

Er wiegt den kleinen Körper sanft in seinen Armen, ihre langen blonden Locken kitzelten auf seinen nackten Unterarmen, wie sehr er doch sein Kind liebte. Sie, und ihre Mutter.

Noch siebzig Stunden.

Wird jeder am Ende seiner gerechten Strafe zugeführt?

1. Der Entschluss

Dienstag, 30. Juli 2019

Rückblick: Donnerstag, 25. Juli 2019, an einem anderen Ort:

Die Uhrzeit passte auf die Sekunde. Er wählte die neue Nummer. Er kannte sie auswendig, das war eine der Bedingungen für diesen Job: keine Notizen! Als ob er so bescheuert wäre, seine Aktivitäten auf kleinen Zetteln im gesamten Stadtgebiet zu verteilen.

Sein Auftraggeber meldete sich, ohne Namen, ohne Gruß.

»Der Boss meint, die Zeit ist reif für unser ´Baby´. Wie weit bist du mit deinen Vorbereitungen?«

»Fertig.«

»Gut. Habe diesmal Geduld. Nur bei einer wirklich unauffälligen Situation. Und achte darauf, dass man ihn erst spät findet. Bist du bereit?«

»Ja, dafür verzichte ich sogar auf die Belohnung!«

»Wenn du es schaffst, wirst du sie bekommen. Geht es schief, brauchst du sie nicht mehr.«

Er schnappte vernehmlich nach Luft. »Ich verstehe. Ich erledige das. Danach wie immer?«

»Wie immer.«

Damit wurde die Verbindung getrennt. Ihre Telefonate zeichneten sich stets durch eine unverblümte Kürze aus. Je schneller man sie beendete, umso schwerer war ihre Überwachung. Alles war bestens geplant und eingefädelt. Er verspürte eine gewisse Genugtuung. Trotz der unverhohlenen Drohung, vertrauten sie ihm. Diesmal war es kein simpler Job wie sonst. Er war heikel, er freute sich darauf! Es war seine Antwort auf einen früheren, unehrenhaften Auftrag des jetzigen Opfers: dessen sexuellen Fehltritt beseitigen.

Er hatte es erledigt, und geschwiegen. Reden ist gefährlich, tödliche Rache sicherer.

Die Leuchtanzeige an der C&A-Fassade wechselte von 09:37 Uhr auf 28 °C.

Der Mann setzte sich auf den Rand eines der runden Beton-Pflanztröge in der Münchner Fußgängerzone. Neben ihm parkte das Gefährt mit seinen Habseligkeiten.

Er legte ein kleines Bündel neben sich, bedeckte es routiniert mit dem zerfransten Strohhut und kontrollierte ausgiebig die Umgebung. Erst, als er keinen der Schnorrer entdeckte, griff er unter seine Kopfbedeckung, zog das Bündel hervor und wickelte die Bierflasche aus dem schmierigen Lappen. Mit einem Zipfel tupfte er sich den Schweiß von der Stirn, dann hebelte er mit den Zähnen den Kronenkorken vom Flaschenhals. Augustiner Edelstoff, ein nobles Geschenk eines netten Passanten. Die acht Cent Pfand kamen noch dazu. Es war heute seine erste Flasche nach dem Frühstücksbier. Mit wenigen Schlucken leerte er sie, bevor sich die neidischen Blicke seiner Kollegen daran festhängten. Deshalb auch die Maskerade mit dem versifften Tuch.

Oh ja, er hatte schnell gelernt, in den letzten drei Jahren.

Das lauwarme Bier schmeckte vortrefflich, sein dumpfer Rülpser unterstrich es: Filigrane Schaumflöckchen segelten durch die Luft. Viele landeten auf den struppigen Bart und verwandelten sich in kleine glitzernde Tröpfchen. Hastig wischte er sie mit dem Daumen weg und verbarg das Leergut erneut im Stoff. Vor ihm schob sich ein nicht enden wollender Strom von Menschen in leichter Kleidung, mit Sonnenbrillen und Sonnenbränden vorüber. Nach einer kurzen Pause, in der er die warmen Sonnenstrahlen genoss, ging er weiter zum Karlsplatz. Bei einem überquellenden Abfalleimer hielt er, musterte den Inhalt, und schob dann er ein paar Meter weiter zum nächsten grauen Kasten. In ihm steckten ein paar entwertete S-Bahn-Tickets, alte Zeitungen, eine leere Bierflasche, zerknüllte und leere Bäckertüten, ein zerfetzter Regenschirm, etliche Cola-Dosen, Chips-Tüten und eine abgerissene Hundeleine. Die Bierflasche und die Cola-Dosen wanderten in seinen Wagen. Der dritte Behälter auf seiner Tour stand am Ende der Fußgängerzone besser platziert: zwischen Dönerladen und McDonalds. Unter einigen Pappschachteln entdeckte er einen aufrechtstehenden Pappbecher mit Deckel. Als er ihn vorsichtig herauszog, klirrte noch Eis darin.

»Mama, was macht der Mann da?«

Er fuhr herum.

Eine adrette Blondine zerrte ihren knapp vierjährigen Sprössling weiter: »Der? Der hat wahrscheinlich etwas versehentlich weggeworfen und sucht jetzt danach. Geh´ schnell weiter, komm!«

´Geh schnell weiter!´, ´Pass auf, dass er dich nicht anfasst!´, solche Sätze hörte er öfters, oder: ´Geh nicht zu nah hin, sonst kriegst du Läuse!´

Die meisten Passanten nahmen allerdings kaum Notiz von dem heruntergekommenen Obdachlosen, der einen klapprigen, mit Plastiktüten bepackten Kinderwagen durch die Kaufinger Straße schob.

Er verließ die Fußgängerzone Richtung Hauptbahnhof. Sein Weg führte ihn durch Seitenstraßen, vorbei an Unmengen kleinerer, ausländischer Läden, die auf engstem Raum in vollgestopften Regalen billige Kleidung aus China, Produkte aus Afrika und Asien, oder arabische Lebensmittel anboten. Hier kaufte er gerne ein. Hier nahm niemand Anstoß an seinem Aussehen.

Er hielt vor ´Hakans Antalya Markt´ in der Senefelderstraße. Hakan war gebürtiger Deutscher, trotzdem mimte er für neue Kunden den frisch eingereisten Türken mit Sprachschwierigkeiten. Seine unbeholfene Art nutzte er, um weitere Produkte anzupreisen. Die Masche zahlte sich oft aus.

»Günaydın, Hakan!«, er parkte sein Gefährt im Schatten des Sonnenschirms.

»Ja, servus! Auch wieder in der Gegend?«, der Türke trat von der Orangenauslage zurück, »ziehst du um?«, er deutete auf den klapperigen Kinderwagen. Ein buntes Durcheinander aus Tüten, Isomatte Schlafsack und Wäsche stapelte sich dort. Mit Mühe hatte der Penner das Verdeck darüber gespannt. Am Griff baumelte ein abgetragenes Paar adidas Turnschuhe.

»Urlaub. Muss mal raus. Hab´ ständig nur hektische Beine vor mir. Jeder flieht bei 30 Grad ins Kühle. Da fällt nich´ viel für uns ab.«

»Quasi ein ´Sommerloch´ in euren Einnahmen?«, Hakan betrachtete die ausgefransten Säume seiner Jeans. Lange würde es die Hose nicht mehr machen. Und reinigen sollte er sie auch wieder. Das Hemd war verwaschen, die Manschetten eingerissen. Bei einer Sandale hing ein loser Riemen neben dem kleinen Zeh.

»Jow«, er schielte in den Verkaufsraum, »und die Hitze drückt zusätzlich auf die Stimmung. Ein bisserl Abstand von den nörgelnden und überhitzten Suffköpfen unter der Reichenbachbrücke muss auch mal sein.«

»Verstehe: Tapetenwechsel. Wenn´s hier zwischen den Häusern zu schwül wird, rennt auch jeder mit einer Visage zum Reinhauen rum.«

»Genau wie an der Isar. Man zofft sich mehr. Plötzlich nervt die Schnarcherei, der Geruch, oder der Autolärm von der Brücke. Und wenn man´s sich im Schatten gemütlich macht, komm´n die Bullen und vertreiben dich, wegen der Touristen.«

»Wieder Ärger mit dem Einen?«, Hakan verschwand mit seiner Einkaufsliste im Geschäft.

»Jow, der kommt immer stänkern. Hat mich aber nich´ mehr angefasst, seitdem.« Es war immer das gleiche: sobald Wahlen anstanden und die Stadtratsmitglieder auf Wählerfang gingen, hieß es aufpassen: dann häuften sich Polizeikontrollen und Versuche die Obdachlosen aus dem Stadtbild zu entfernen.

Geduldig wartete er neben seinem Wagen, bis Hakan seinen Einkauf zusammensuchte.

»Und? Wohin geht die Reise?«, er reichte ihm die bestellten Konserven und Getränkedosen.

»Zum Steilabsturz bei Gernau. Kennst´e den?« Was für ein herrlicher, ungezwungener Plausch während er den Sack mit der Wäsche zur Seite drückte und die Ware zwischen den Tüten in seinem Kinderwagen verstaute.

»Natürlich! Die beste Aussicht auf unsere Stadt. Wie bist du da draufgekommen?«

»Von Früher«, ... früher ..., nein, er musste sich zusammenreißen, die Erinnerungen verdrängen, »War mein Lieblingsplatz, mit meiner Ex.«

Theresa neben sich, dazu die grandiose Aussicht: wunderschön, nein, atemberaubend bei Tag und noch fantastischer bei Nacht. Er schätzte die Stille dort oben. Vor vielen Jahren, waren sie frisch verliebt und Hand in Hand zum ersten Mal dort oben entlanggegangen. Danach kamen sie öfters, abseits der Straße, verdeckt von den Bäumen. Nur sie beide alleine, oberhalb der Dächer des Vorstädtchens Gernau. Um sich von der Vergangenheit abzulenken konzentriete er sich auf den einzigen positiven Aspekt des Tages: Das wunderbare Wetter, ein paar Sommernächte in freier Natur. Gab es etwas Schöneres, als im Gras zu liegen, an nichts zu denken und die Streiterei um die besten, schattigsten Plätze in der Stadt seinen Kollegen zu überlassen?

Hakan riss ihn aus seiner Grübelei: »Ist die steile Serpentinenstraße schon neu geteert?«

»Jow, is´ offen«, schlagartig landete er wieder im ´Jetzt´, »Hab´ letzten Sonntag nachgeschaut. Aber die alten Alleebäume sin´ weg, nur neugepflanzte dünne Stängel.«

»Läufst du bis dahin?«

»Mein Freund hier ist nich´ mehr so fit«, er tätschelte die aufgeplatzte Plastikummantelung der Griffstange, der Wagen wippte bedenklich, »Wir nehmen die S-Bahn bis Gernau.«

»Wird nicht lustig bei den Temperaturen ohne Schatten den Hang hinaufzuschieben.«

»Jow, dafür is´ die Luft oben besser.«

»Kann ich dir meine Frau mitgeben, dann könnt ich auch mal aufatmen?«, Hakan lachte.

»Danke, ich leb´ lieber wie´n Eremit. Das hat Vorteile und ist noch billiger!«

»Du sagst es!«, Hakan verrechnete die Pfandflasche und die Cola-Dosen, »aber komm wieder, wenn du Hunger hast. Nächste Woche muss ich die überfälligen Bohnen aus den Regalen nehmen. Ein Eremit an frischer Luft kann das abgelaufene Zeug rücksichtslos verdauen und Luft ablassen!«, er griff in die Obstauslage und wickelte ein paar schrumpelige Äpfel, Aprikosen sowie einige Nektarinen in alte Zeitungsblätter und stopfte das Päckchen neben die Dosen.

Der Penner hielt ihn zurück und deutete auf das zerknitterte Foto: »Was´n, die in München?«, er zeigte auf eine Dame mit bombastischem Hut.

»Eine Bekannte?«, gemeinsam überflogen sie den langen Artikel: ´Gestalterische Geschichten: Faszinierende, zeitgenössische Kunst zum Thema Lebenserfahrung´. Die bekannte Künstlerin Suzanna Bantini lädt zu einer Vernissage ihrer neuesten Werke in die stillgelegte und modernisierte ´Zugwerkstatt´ neben dem Münchner Hauptbahnhof. Am kommenden Freitag um 14:00 Uhr´.

»Quatsch. Ich würd´ gleich meine Lebenserfahrung mit der von ihr tauschen«, er betrachtete das Bild der Künstlerin: klein, zerbrechlich und blass, lächelte sie den Leser an. Ein zartes, aber exzentrisches Wesen, dem der Name ihres Gatten eine hochdotierte Bühne bereitete. Suzanna Bantini in München! Das war wirklich ein kulturelles Ereignis der besonderen Art.

»Sag bloß, du interessierst dich dafür«

»Mehr für die Imbissstände davor. Bratwurst is´ immer gut, auch nach ´nem Umweg über´n Müll.« Anfangs hatte es ihm massive Probleme bereitet, Abfalltonnen als Lebensmittelspender anzusehen. Aber Hunger ist ein guter Lehrmeister. Er verschwieg dem Türken, dass er hoffte einen Flyer oder Ausstellungskatalog zu ergattern. Die Dame liebte es, ihr betuchtes Publikum mit gewagten Installationen zu schockieren.

»Einen Brenner hast du?«

Er nickte. Hakan verschwand im Laden und kam mit einer Packung Würste zurück, »Ist halt kein Schwein, dafür umsonst.«

Der Penner strahlte, »Danke! Könnt´ ich noch ´ne Plastiktüte hab´n, bitte? Ich schmeiße mein Müll ungern ins Gebüsch.«

»Hier, und nimm die andern auch noch. Du wirst schon Verwendung dafür finden.«

»Danke! Auch für´n Tipp mit den Bohnen. Ich bring dir dafür ´nen Sack frischer Luft mit.«

»Aber wasch dich vorher, damit ich´s auch mitbekomme, wie frisch die ist!«

Da war sie wieder, die alltägliche Ohrfeige! Als Obdachloser ohne regelmäßige Duschgelegenheit musste er so etwas seit Jahren verkraften.

Eine Stunde später lag die Stadt weit hinter ihm. Schwitzend und schnaufend stemmte er den klapperigen Wagen hinter Gernau den Abhang hinauf. Es waren nur drei Kurven, aber die zogen sich über beachtliche zwei Kilometer. Zweimal hielt er um eine leere Bierflasche aufzulesen, eine ´Franziskaner´ und eine ´Erdinger´. Wieder sechzehn Cent, eine halbe Semmel!

Bei der zweiten Kehre schob er den Strohhut in den Nacken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Durstig suchte er nach dem McDonalds-Becher. Das Eis war Historie, die Brühe schwappte ekelig warm unter dem transparenten Deckel. Er sah sich um: Die Siedlung lag weit unter ihm, und dahinter die Münchner Skyline. Die einst grüne, blühende Landschaft hatte sich dank der anhaltenden Trockenheit in ein fades Beige verwandelt. Durch das längere Stehen stieg die Hitze des Teers durch die dünnen Sohlen seiner Sandaletten. Vorsichtig fuhr er damit über das dürre Gras am Straßenrand. Die Luft flirrte über dem Straßenbelag, neben ihm leuchteten die neuen Leitplanken silbrig in der Sonne. Einige Fahrzeuge brausten an ihm vorbei – der Fahrtwind war angenehm kühlend. Nach weiteren zwanzig Minuten Aufstieg erreichte er die Kuppe. Ab hier schlängelte sich die Straße zwischen den Feldern weiter in Richtung des Dörfchens Altring. Für ihn endete hier die Ausbaustrecke. Der schnellste Weg zu seinem Lieblingsplatz führte durch das flankierende Gestrüpp. Er wechselte die Schuhe, bugsierte sein Gefährt über den Abflussgraben, durchquerte ein Brennnesselfeld und verschwand unter den tiefhängenden Ästen mehrerer Weiden. Die Zweige rissen ihm den Strohhut vom Kopf, er klemmte ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger. Gebeugt schob er den Kinderwagen durch das Dickicht der alten Fichten, Kiefern, Birken und Weiden. Spinnweben verfingen sich in seinen Haaren. Von Fern klang das Dröhnen eines LKWs gedämpft durch die Zweige zu ihm herüber. Erspähen konnte er ihn nicht mehr.

Endlich erreichte er den ersten Teerfleck der früheren, jetzt aufgelassenen und überwucherten Straße nach Altring. Ihr verwitterter Belag barst an vielen Stellen. Etliche Baumwurzeln und Schösslinge kämpften sich durch den brüchigen Teer ans Sonnenlicht.

Über ihm erhob sich ein vielstimmiges Vogelkonzert, nur begleitet durch den Wind und das Rauschen der Zweige. Wie idyllisch die Natur war, wie erfrischend kühl zwischen den hohen Bäumen. Nur das Ächzen seines Kinderwagens störte das Konzert der Zikaden, wenn er über eine Wurzel holperte.

Jetzt kam er deutlich bequemer voran. Weniger Gestrüpp oder verwobene Äste eines Dickichts. Neben ihm versperrte ein breiter Streifen Büsche und Bäume den Blick ins tief unter ihm liegende Tal. Nach fünfhundert Metern bog er in Richtung der Abbruchkante ab.

Er zwängte sich unter einigen Weidenbüschen hindurch, vorbei an gelbblühendem, stinkendem Ginster und anderem Gestrüpp zu der geschützt liegenden Abbruchkante.

An einer kleinen Lichtung parkte er sein Gefährt, kramte nach dem Becher mit der warmen Brühe, und schlenderte ganz nach vorne. Dort setzte er sich auf einen verwitterten Wurzelstock. Vor ihm lag der Lebensraum vieler glücklicher Familien: arbeiten in der nahegelegenen hektischen Großstadt aber wohnen im ruhigen Grün. Die Häuschen standen inmitten von netten, kleinen Gärten, umgeben von Schaukel, Sandkästen oder Planschbecken. Überall leuchteten bunte Blumenbeete vor einladenden Sitzgruppen. Dazu geharkte und gerechte Wege, fein säuberlich gestutzte Rabatten, kräftiger Rasen, aufgehäufelte Gemüsebeete und vereinzelte Gewächshäuser. In vielen Parzellen entdeckte er Gartenhäuschen. Nur eine Anlage stach heraus: ihre kniehohe Wiese ließ jeden Rasenmäher verzweifeln und schrie nach einer Sense. Die Laube war offensichtlich selbstgezimmert: grobe Bretter, die peinlich bemüht schienen, nirgendwo einen 90°-Winkel zu bilden. Davor lud eine windgeschützte Bank, bestehend aus einem Brett auf zwei Ziegelsteinstößen zum Dösen ein. Der Tisch, wie auch die anderen Sitzgelegenheiten dieser Parzelle, wurden offensichtlich auf diversen Flohmärkten ergattert. Als Kontrast baumelte eine farbenfrohe Hängematte zwischen zwei Obstbäumen. Er stellte sich vor, wie die Bewohner zufrieden in ihrer Matte lägen und ihre geschäftigen Nachbarn bei der Gartenarbeit belächelten. Vor seinen Füßen lag eine normale, heile Welt. Genauso, wie er früher auch gelebt hatte. Eine Welt, von der er leider nur noch träumen konnte.

Und jetzt?

Seine Kleidung stank, und er stank nicht minder. Kein Wunder bei über 28°C und keiner Chance auf eine Dusche. Abgetragen und verschwitzt hing die geflickte Wäsche an seinem ausgemergelten Körper. Vor ein paar Jahren hätte er sich geweigert in diesem Zustand das Haus zu verlassen, aber für seinen derzeitigen ´Beruf´ war die Kleidung immer noch akzeptabel. Er legte großen Wert darauf, nicht ganz so zerlumpt und heruntergekommen am Straßenrand zu sitzen, wie einige seiner Kollegen. Ihr erbärmliches Aussehen brachte mehr Geld ein, aber dafür behielt er seinen Stolz.

Das ist also von meinen hochtrabenden Plänen übriggeblieben: Statt Haus und Familie, nun ein langweiliges, einsames Leben auf der Straße, betteln, und schon glücklich zu sein, wenn man sich zwischendrin einmal verstecken kann.

Er sollte sich gewaltig täuschen.

Leider boten die jungen Birken an dieser Stelle keinen ausreichenden Platz für sein Lager. Der Boden war hart und steinig. Überall piekten Kiefernnadeln. Doch am meisten störte ihn dieser süßliche Geruch der grellgelb blühenden Ginsterbüsche, der bei jedem leichten Windhauch vorbeizog. Auf Dauer stanken sie einfach unerträglich.

Er steckte den leeren Pappbecher in die Mülltüte am Griff des Kinderwagens. Dabei fiel sein Blick auf das Zeitungspaket mit dem Obst: Suzanna Bantini lächelte ihm auffordern unter ihrem schiefen Hut entgegen: Freitag, 14:00 Uhr, ihre Vernissage in der ´Zugwerkstatt´.

Die unteren Zweige einiger älterer Bäume versperrten ihm den Weg. Tiefgebückt folgte er seinem Wagen. Raue Triebe kratzten auf Gesicht und Armen, Blätter und Fichtennadeln rieselten auf die Plastiktüten und die Räder holperten über Kiefernzapfen und verfingen sich zweimal im Gestrüpp. Endlich tauchte der ideale Platz für seinen Sommerurlaub vor ihm auf: Im Süden ein traumhafter Ausblick nach München, der zu beiden Seiten windgeschützt durch dichtes Gebüsch begrenzt wurde. Dazu diese absolute Ruhe und Einsamkeit. Im Norden lagen, hinter einigen Sträuchern verborgen, die Überreste der ehemaligen Straße. Die warmen Sonnenstrahlen überfluteten sein Gesicht, sanft streichelte eine leichte Brise über seine nackten, zerkratzten Arme. Lächelnd richtete er sich auf, sog genussvoll die süße Sommerluft ein und lauschte dem Zirpen der Grillen. Mit einem letzten Schritt nach vorne trat er aus dem Gestrüpp ins Freie.

Die warme Luft vermengte sich mit dem sanften Surren hunderter aufsteigender Insekten. Eine graue Wolke beflügelter Körper erhob sich vom Boden, verblasste und löste sich gänzlich vor einer grünen Blätterwand auf.

Unfähig einen weiteren Schritt zu machen, starrte er auf die ihm gegenüberliegende Hecke.

Sein fröhliches Lächeln verwandelte sich jäh in pures Entsetzen.

Wird er jemals den Sprung zurück ins frühere Leben schaffen?

2. Der Auftrag

Mittwoch, 31. Juli 2019

»Auftrag abgeschlossen.« Die anfängliche Stille am anderen Ende der Leitung irritierte ihn.

»Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, du sollst auf den richtigen Zeitpunkt warten, K.?«,

Warum benutzte er ihre geheime, interne Ansprache? Wollte er, dass er aufflog? »Die Gelegenheit war günstig. Abholen, ablenken, umlegen. Eine SMS und eine vorgeschobene Dienstreise als Tarnung, nur um Zeit zu gewinnen. Geduld war gar nicht nötig.«

»Wird man ihn finden?«

»Unwahrscheinlich.«

»Gibt es Spuren?«

»Nein. Sein Wagen wird getarnt und ins Ausland gebracht.

»Der Boss wird zufrieden sein. Die Bezahlung erfolgt wie immer«, ´Klick´.

Das war kurz, er konnte sich nicht einmal bedanken. Diesmal ein leicht verdientes Geld, dazu die private Genugtuung. Gut gelaunt ließ er sich von der ausgestiegenen Menschenmenge die Treppen der U-Bahnstation nach oben schwämmen. So dicht beieinander und keiner ahnt, dass er gerade neben einen Mörder geht. Oben brauchte er nur einmal abzubiegen und schon befand er sich in der richtigen Straße.

Kriminalkommissar Sebastian Tobler saß frustriert an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag das Protokoll über den Raubmord letzter Woche: Herr Frenzel hatte bei seiner Rückkehr von der Arbeit die Haustür seines Einfamilienhauses beschädigt vorgefunden und sofort die Polizei verständigt. Während des Telefonats mit der Polizei öffnete er die Tür, um ihnen die aktuelle Tatortbeschreibung durchzugeben. Er rechnete nicht damit, dass die bösen Jungs noch im Wohnzimmer standen. Es war die reinste Live-Schaltung: Sobald er eintrat, schlugen zwei Angehörige einer Polen-Gang mit einem eisernen Kerzenständer auf ihn ein, bis er leblos am Boden lag. Das Handy entglitt seinen Fingern und rutschte unter das Schuhregal. In dem Getümmel bemerkten es die Polen nicht. Anschließend durchstöberten sie weiter kaltblütig das Haus, ohne die Leiche zu beachten.

Als sie mit ihrer Beute zum wartenden Transporter eilten, mussten Tobler und seine Kollegen nur die Arme aufhalten. Festnahme, Geständnis. Jetzt fehlte bloß noch das lästige, abschließende Protokoll. Eine Akte, die geschlossen werden konnte.

Neben ihm stapelten sich weitere Fälle: Arthur Wernberger, ein komatöser Bistrobesitzer vom Eichenpark, bei dem nichts weiterging. Das anstehende Protokoll zu Ulrich Zaches wegen gewalttätigen Raubes. Bei Steffen Kornau wartete er bewusst die neueste Entwicklung ab, denn angeblich sprachen die beiden Parteien trotz der Wohnungsverwüstung wieder miteinander. Reden schied im Fall von Elif Sünden gänzlich aus. Ihre Leiche hatte man heimlich nach Ankara verschleppt. Die Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden gestaltete sich sehr zäh. Und zuletzt: der heute eingetroffene Fall Marc Windscheid, Eifersuchtsmord an der Ehefrau. Seine Nürnberger Kollegen baten ihn um eine Stellungnahme. Wieder nur Papierkram und keine aktiven Ermittlungen. Um seinen Frust zu vertreiben, griff er zu einem kleinen Päckchen, das fein säuberlich mit transparenter Folie eingepackt war: Bocadillo, eingekochtes Guavenmark mit Zucker, eine Spezialität aus Kolumbien. Sobald er es auf die Zunge legte, zerfloss der Brocken zu einem köstlichen, sämigen Gelee. Leider handelte es sich um die letzte Packung aus der bestellten Pappschachtel, die nun leer daheim im Papierkorb lag.

Es klopfte, gleichzeitig wurde seine Tür aufgerissen und Hauptkommissar Kowalski stemmte sich über seinen Schreibtisch.

»Morgen, Kollege. Das Drogendezernat bitter uns um Unterstützung. Können Sie das hier bitte für mich erledigen?«, er hielt ihm ein Fax entgegen, »Eilt! Geben Sie Utrecht schnellstmöglich Bescheid, er muss die Statistik morgen Früh ans Ministerium melden. Ich verlasse mich auf Sie! Irgendwelche Vorfälle?«, erkundigte er sich leutselig.«

»Guten Morgen, momentan nur Routine Arbeit.«

»Dann bin ich ja beim Richtigen. Viel Erfolg!«, damit rauschte er aus dem Zimmer.

Marvin Utrecht, der Leiter des Drogendezernates, hatte eine handschriftliche Notiz unter einen engbeschriebenen Laborbogen gesetzt.

´Lieber Theo, wie eben telefonisch besprochen. Bitte überprüfe, ob unsere Aufstellung vollständig ist. Falls noch ein ungemeldeter Drogentoter auf einem eurer Schreibtische rumliegt, bitte ich um Ergänzung und schnellstmögliche Übermittlung der Daten. Gruß Marvin´

Las der Mann keine Zeitung? Die wussten doch eh´ immer alles schneller und besser als die Polizei.

Er zählte achtundsiebzig Namen, daneben je eine Reihe chemischer Auswertungen. Der ausgedruckte Zeitraum belief sich vom 01.01.2018 bis 30.06.2019. Die Halbjahres-Statistik mit den Vergleichswerten des Vorjahres. Kein Wunder, dass es jetzt pressierte.

Sein Chef glänzt wieder einmal durch absolute Unkenntnis der Aufgabenverteilung. Tobler stand auf, machte sich noch eine Kopie bevor er den Job an sein jüngstes Teammitglied Cornelia übertrug. Für sie eine perfekte Gelegenheit ihre neuen Kollegen kennenzulernen.

Er selbst widmete sich wieder seinen Akten.

Ein Schatten fiel durch die mattierte Glastür und legte sich über seine zuletzt verfassten Zeilen. Sein langer Kollege Roman Hiebler trat ohne anzuklopfen ein, er bückte sich automatisch im Türrahmen. ´Lang´ passte in zweierlei Hinsicht: zum einen brachte Roman es auf respektable 202 Zentimeter Körpergröße, zum anderen arbeiteten sie seit sechs Jahren zusammen. Roman faltete sich auf den Besucherstuhl. Er wirkte müde und abgespannt.

»Hast du was zu trinken für mich, Sebastian? Gewürzt mit einer Prise Intelligenz? Ich habe richtig Sehnsucht danach!«

»Warst du da draußen geistig unterfordert?«, Tobler grinste. Er beneidete seinen Kollegen um keine Minute, die er an diesen heißen Sommertag mitten auf einer Kreuzung verbracht hatte.

»Lieber fünf Morde, als noch einen Tag den Hampelmann zu spielen!«

»Nicht meckern, du hast dich freiwillig gemeldet, als Kowalski Unterstützung für unsere Straßenkollegen rekrutiert hat.«

»Mich wundert´s nicht, dass die alle krank sind. Bei dem Mief und der Hitze. Dazu den ganzen Vormittag geistiges Brachland.«

»Schieß los, bei einer guten Geschichte werde ich dir mit einem intelligenten Kommentar dienen«, neugierig legte er sein Schreibinstrument zur Seite. Er war der Einzige im Präsidium, der noch einen Füller verwendete.

»Der würde es voll rausreißen!«, bestätigte Roman, er streckte sich, »Anfangs lief es wie immer: Lärm, stinkende Auspuffe und bescheuerte Autofahrer, die nicht kapieren, wenn’s weitergeht. Bis ein Opa das perfekte Chaos fabriziert, weil er zu blöd ist, meine Zeichen zu verstehen«, Roman wischte sich den Schweiß von der Stirn, »als ich ihm energisch zuwinkte endlich loszufahren, hättest du ihn sehen sollen: er grinste über sein ganzes Gesicht und winkt freundlich zurück.«

»Nicht wahr, oder?«

»Wenn ich es dir sage! Der hat sich echt gefreut, dass jemand so freundlich zu ihm ist.«

Tobler zog eine Schublade auf und hielt er eine Flasche Sprudelspritzig hoch. Roman nickte zustimmend. Tobler schob ihm sein hellgrünes McDonalds Cola-Glas rüber.

»Ah, danke! Selbst das Hupkonzert hinter ihm hat ihn nicht sonderlich beunruhigt. Ich hab´ mit dem Zeigefinger auf ihn gedeutet und dann in die Fahrtrichtung gezeigt. Und was macht der?«

Toblers steckte die Kappe auf den Füller, das hier schien etwas länger zu dauern.

»Der schaut sich um, als ob er sich fragen würde, wen ich wohl gemeint hätte!«

»Scheiße, nicht wahr, oder?«

»Doch.«

»Und dann?«

»Dann? Hab´ ich zuerst alle anderen angehalten, bin zu dem Senior rüber und hab´ an sein Seitenfenster geklopft. Als er endlich die Scheibe untergekurbelt hatte, hab´ ich ihn höflichst eingeladen im Schritttempo hinter mir herzufahren«, Roman nahm noch einen Schluck, »und ihm mitgeteilt, dass er getrost über die Kreuzung fahren dürfe, wenn ich mich für ihn seitlich stelle und die Arme ausbreite.«

»Hat er das gerafft?«, das Protokoll war vergessen. Aus reiner Gewohnheit sich Notizen zu machen, zog Tobler erneut die Kappe vom Füller und begann mit flotten Zügen zu zeichnen: Eine typische Skizze einer Kreuzung mit einem großen Strichmännchen in der Mitte. An allen Seiten Schlangen von Rechtecken, die Autos symbolisierten. Alle Rechtecke qualmten am hinteren Ende.

»Ja, wider Erwarten. Ich war fix und fertig!«, mit einer theatralischen Handbewegung wischte sich Roman nochmals imaginäre Schweißperlen von der Stirn.

»Ist doch gut ausgegangen!«

»Ja, knapp. Er ist über die Kreuzung gefahren, scharf nach links in die Tungerstraße.«

»Nach Links? An der Gundermann-Kreuzung? Ist das nicht verboten?«

»Natürlich! Aber der glaubte, ich mach den ganzen Unsinn extra für ihn, damit er diesmal sicher rüberkommt, ohne auf eine Lücke im Gegenverkehr warten zu müssen.«

»Scheiße, nein! Dafür gibt’s sicher als kleine Aufmerksamkeit ein Briefchen von uns«, die Skizze erhielt ein weiteres Rechteck, wobei er die vordere Seite wie eine Ziehharmonika zackte. Der Wagen schwenkte gerade nach links ab. Sebastian überlegt kurz und fügte dem Gefährt ein Kreuz zu. Jetzt sah es eher aus wie ein gestauchter Sarg.

»Leider nicht, weil ich das Kennzeichen vergessen habe, als mich der Penner ansprach.«

»Ein Penner? Mitten auf deiner Kreuzung?«

»Als alle anderen noch standen, schlängelte sich der Penner zwischen ihnen hindurch, frei nach dem Motto: `Jetzt stehen alle Fahrzeuge, da kann ich ungestört mit dem Polizisten ein Pläuschchen halten´.«

»Gratuliere, als Auszeichnung für den verrücktesten Arbeitstag gewinnst du noch ein Glas Wasser!«, Tobler nahm Roman das leere Glas aus der Hand und füllte es erneut mit Sprudel.

»Mitten in dem Chaos will der mir eine Story auftischen. Und was der für einen Blödsinn erzählt hat!«

»War´s der mit der Strickmütze und dem Parka?«, neben den großen Strichmännchen erschien ein wesentlich Kleineres am Papier.

»Du toppst alles, Sebastian! Deine schafsinnige Beschreibung passt auf jeden: des Penners Uniform.«

»Also nicht der?«

»Nee, der hatte keine Mütze, eher einen Strohhut. Ein etwas unförmiges Teil, für Regen und Sonne gleichermaßen ungeeignet«, Roman lachte.

»Du hast doch sicher schon ein Protokoll über seine Wünsche angefertigt?« imitierte Sebastian den Slang ihres Anti-Lieblingskollegen Brunner.

»Spinnst du? Mitten auf der Straße? Ich war genügend damit beschäftigt, den Verkehr an der Gundermann-Kreuzung zu regeln. Höchste Zeit, dass die Baustelle endlich fertig wird«, er nahm einen Schluck Wasser, das Reden machte ihn durstig, »Ich hab´ ihn weiter runter an die Wache in der Gernotstraße verwiesen. Ich bin doch keine Auftragsannahmestelle!«

»Nicht um 13:05 Uhr an der Gundermann. Was wollte der Penner von dir?«, Sebastian betrachtete die Fortschritte seines Gemäldes am Notizblock: Das große Strichmännchen ballte drohend eine Faust, die auf den zerbeulten Hut des kleinen Strichmännchens niedersauste.

»Mann, der hat sich aufgeregt: soviel ich im einsetzenden Straßenlärm verstehen konnte, wollte er sich beschweren, weil sein Lieblingsplatz belegt war«, kopfschüttelnd erhob sich Roman, »Danke für das Wasser, kommst du mit in die Kantine?«, er schlurfte aus dem Zimmer.

Sebastian zögerte, das alles war höchst seltsam.

Was trieb einen Obdachlosen dazu, sich an so exponierter Stelle an einen Polizisten zu wenden? Über dem skizzierten, zerbeulten Hut erschien ein dickes Fragezeichen, bevor er die Kappe erneut über die Feder steckte. Dann stand er auf und folgte seinem Freund.

Enttäuscht zog sich der Penner auf den sicheren Gehsteig zurück. Konnte sich der Bulle überhaupt vorstellen, welche Überwindung es bedeutete einen ´Offiziellen´ anzusprechen? Wie ein Besessener war er den Hang hinuntergelaufen um sich verantwortungsbewusst an einen Polizisten zu wenden, aber was hatte es gebracht? Nichts! Nichts, außer dem dummen, ungläubigen Gesicht des Beamten, der ihn wegschickte. Die Polizei dein Freund und Helfer! Für Anzugträger, vielleicht.

Und jetzt? Sollte er zur Wache gehen, wie ihm der riesige Verkehrspolizist empfohlen hatte? Auf die Gefahr hin, dass sie ihn in ein Obdachlosenheim steckten? Oder war ein anonymer Hinweis geschickter? Wie lange würde es dauerten, bis sie sich um eine Notiz auf einem Schmierzettel kümmerten, falls sie es überhaupt ernst nahmen?

Er hatte gesehen, was dort lag, und auch alles andere. Er musste handeln und entschied sich für das Polizeipräsidium in der Nähe ihres Lagers.

Er läutete, wartete auf die Türfreigabe und ging zur Theke. Die junge Frau hinter der Glasscheibe verzog bei seinem Anblick den Mundwinkel: »Um was geht’s?«

»Drogen.«

»Wie, bitte? Haben Sie Drogen dabei?«

»Nein, will darüber reden. Is´ jemand da, der sich auskennt?«

»Die Drogenberatungsstelle finden Sie …«

»Ich nehme nichts, aber ich muss was erzähl´n. Is´n Notfall«, sein Tonfall fand die alte, fordernde Bestimmtheit wieder. Sie klang so selbstbewusst, wie während seiner Zeit als Buchhalter bei ´Breitenbacher und Söhne´.

Die Beamtin zuckte mit den Schultern, deutete auf die Stuhlreihe an der Wand hinter ihm und griff zum Telefonhörer. Durch die Glasabtrennung konnte er nicht hören was sie sagte. Ihm fiel jedoch auf, dass sie manchmal lächelte.

´Du hast gut grinsen, du hast ja keine Ahnung, wegen was ich hier bin´. Insgeheim musste er sich jedoch eingestehen, dass ihm dieses Lächeln ausgezeichnet gefiel.

Kurz darauf öffnete sich eine Seitentüre.

Ein junger Polizist mit tiefschwarzem Lockenkopf winkte ihn heran: »Kommissar Tobler«, stellte sich der Uniformierte vor. Schweigend gingen sie durch einige Gänge und betraten ein kleines, mit Akten vollgestopftes Büro. Der Beamte vermied es die Glastür zum Großraumbüro zu schließen. Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und deutete wortlos auf den abgenutzten Vernehmungsstuhl an der genüberliegenden Tischseite.

Sebastian Tobler musterte den Informanten. Einer, der über neuntausend Wohnungslosen in München: Ausgefranste Hose, ausgeblasstes und mehrfach getragenes T-Shirt mit Schweißflecken unter den Achseln. Unrasiert und ungepflegt. Der Strohhut auf seinen Knien erinnerte ihn an Romans morgendlichen Bericht von der Gundermann-Kreuzung. Immer wieder linste der Mann beunruhigt in den vollbesetzten Nachbarraum. Unbehagen spiegelte sich in seinem Gesicht. Wer fühlte sich schon wohl im Revier? Er selbst eingeschlossen.

Um seine Anspannung zu lockern, hielt ihm Sebastian die angebrochene Sprudelflasche entgegen: »Möchten Sie etwas trinken?«

»Nee. Will nur ´ne Aussage machen.« Der Mann sprach leise, fast ängstlich.

Bloß keinen Ärger mit der Polizei, eines der wichtigsten Gebote der Straße. Tobler war erstaunt, dass er von sich aus hier auftauchte. »Deswegen sind wir jetzt hier, Herr …«, der Polizist nahm seinem Füller und starrte ihn erwartungsvoll an.

»Is´ das …«, er räusperte er sich. »Is´ das hier vertraulich?«

»Das kommt darauf an. Wenn Sie mir bitte zunächst Ihren Namen sagen würden, Herr …«

»Und wenn ich nich´ will?«

»Warum?«, Sebastian stutzte.

»Naja, wenn die Kumpels mitbekomm´n, dass ich bei der Polente war, is´ Schluss mit lustig!«

»Ich brauch nur den Namen und den Wohnort fürs Protokoll.«

»Geht auch´n Spitzname?«

»Nein! Aber Sie können mir gerne Ihren Namen aufschreiben, falls es Ihnen lieber ist«, er schob einen Zettel über den Tisch. Danach einen silbernen Kugelschreiber mit seiner Namensgravur, ein weniger geglücktes Geburtstagsgeschenk seiner Mutter.

»Ich möchte´ eigentlich nich´ in Verbindung steh´n.«

Sebastian ermahnte sich zur Ruhe. Zwangsweise kam er bei seinen Ermittlungen immer wieder mit diesem Milieu in Kontakt. Inoffiziell lautete ihre Vorgabe, diese Leute aus dem Stadtbild zu verscheuchen. Sebastian streckte seinen Rücken durch und seufzte resigniert. Dann änderte er sein Vorgehen.

»Also gut: der Spitzname. Wie lautet der?«

»Renter.«

»Rentner?«

»Nein, einfach Renter, nur ein ´n´.«

»Wie kommt man auf sowas?«, er notierte den Begriff.

»Mit 2,3 Promille, im Schnitt.«

»Sie? Und da leben Sie noch?«

»Bin ich blöd? So besoffen is´ gefährlich. Plötzlich hat man ´ne Jacke weniger, liegt auf der Straße, oder hat morgens ´ne alte Schlampe auf der Matte«, er giggelte amüsiert.

»Also, Renter, warum?«

»Jow, weil es der Kumpel mit den 2,3 Promille halt so gesagt hat, als wir uns zum ersten Mal getroff´n hab´n. Sollte von ihm wohl ´n Scherz sein. Die andern fanden´s lustig.«

»Ihre Kumpels? Wer zum Beispiel?«

»Das is´ doch sch…«, er korrigierte sich hastig, »egal.«

»Und Sie akzeptieren den Spitznamen?«

Er nickte, »Jow, is´ einfacher für alle. Auch wenn der Pegel der Kumpels meistens drunter liegt, schaffen sie´s trotzdem nich´ deutlicher.«

»Was deutlicher? Renter?«

»Nein, er meinte doch: Rentier.«

»Rentier? Hab´ ich richtig gehört Rentier?«, ungläubig beute sich der Polizist über den Schreibtisch. Der Obdachlose wich instinktiv bis zur Stuhllehne zurück. Seine Hände verkrampften sich am Strohhut. Warum war er nur hierhergekommen?

Der Beamte zögerte, schüttelte ungläubig den Kopf und schrieb etwas auf seinen Block. Dann nickte er wissend und wiederholte leise: »Rentier«, es folgte eine Pause, »mit Vornamen oder ist das Ihr Nachname?«

»Was? Nein, is´ ´n Spitzname.«

»Ich meinte eigentlich ´Rudolf´. Ist das Ihr Vorname oder der Nachname?«

Erwischt! Die Augen des Mannes zuckten fast unmerklich. Shit! Wie sollte er darauf reagieren?

Bevor er etwas erwidern konnte, trat ein muskulöser Polizist durch die Türöffnung und bleib breitbeinig neben dem Schreibtisch stehen. Seine prallen Muskeln zeichneten sich bei jeder Bewegung unter seinem kurzärmeligen Hemd ab, »Na, wen haben wir denn da Feines?«, seine Oberarme pulsierten. Er war scharf darauf, dass jeder seine Bizepse bewunderte, dem anschaulichen Ergebnis häufiger Fitnessstudio-Besuche.

Der Obdachlose zuckte zusammen: diese Stimme!

Er wagte einen kurzen Seitenblick und duckte sich sofort wieder weg: ausgerechnet der! Wie weit musste man laufen, um diesem Kotzbrocken nicht zu begegnen?

»Eine Pöbelei unter Pennern, hä?«, Friedhelm Brunner schob Toblers Notizblock zur Seite und setzte sich mit einer Po-Backe auf die Untersuchungs-Mappen ´Frenzel-Raubmord´. Drohend beugte er sich zu dem Mann: »Habt ihr euch wieder um einen lauschigen Eingang gestritten? Oder bist du Zeuge von der Prügelei bei der Michels-Brücke? Die Bierflasche und das zerschnittene Gesicht?«, half er ihm auf die Sprünge.

»Weder das eine, noch das andere«, unterbrach ihn Tobler, »Darf ich bitte weitermachen, Kollege Brunner?«

»Komm dem nur nicht zu nahe!«, der Muskelprotz kratzte sich nach Affenart die Glatze, »Glaub dem bloß nichts, am besten buchtest du ihn gleich prophylaktisch ein.«

Der Obdachlose überlegte, ob kontern sollte, sicherheitshalber verkniff es sich aber. Beamtenbeleidigung bedeutete ein paar Stunden Zelle.

Doch die verkrampfte Mundpartie verriet seine Anspannung, Tobler entging das nicht. Stoisch setzte er die Befragung fort: »Waren Sie mit dem Spitznamen einverstanden?«

»Ich? Da wirst´e nich´ gefragt, die anderen finden´s lustig, also bleibt´s.«

Eine große Pranke klatschte etwas zu heftig auf Toblers Schulter, »Du, Sebi, deinen Kuli da, den kann ich mir ausleihen, oder? Du nimmst ihn doch eh´ nicht her?«, Friedhelm schnappte den silbernen Kugelschreiber, schnippte Renters Zettel auf das Laminat und verließ mit selbstgefälligem Grinsen den Raum.

Sebastian kochte. Sobald er hier fertig war, sollte der Kollege etwas erleben! »Sie kennen ihn?«

Der Obdachlose wirkte verstört, seine Finger zitterten.

»Ich nehme es als ´Ja´. Woher?«

»Darf ich?«, langsam zog der Penner ein Stoffbündel aus der Jackentasche.

Tobler nickte, stand auf und schloss die Zimmertür. »War wohl keine angenehme Unterhaltung?«

Währenddessen nahm sein Gesprächspartner verstohlen einen langen Zug aus dem Flachmann. »Jow, der kommt öfters und stänkert. Will partout unser Lager aufreiben«, danach versiegte sein Redefluss erneut.

»Weiter!«

Erst ein unsicherer Blick zur Tür, »Bolle und Edi sin´ gleich getürmt, als er am Uferweg auftauchte. Ich war zu langsam, noch zu unerfahren. Er wollte meine Papiere seh´n. Hat die dann eingesteckt und ich sollte mitkommen.«

»Irgendein Vorfall?«, er notierte die Namen.

»Nein.«

»Und?«

»Hab´ mich geweigert. Da hat er mit ´nem Kinnhaken nachgeholfen, damit ich meine Meinung ändere.«

»Erfolgreich?«

»Jow!«, leichte Lachfältchen erschienen, »Er bekam ´ne Kopfnuss und ´nen Magenschwinger von mir. Aber der Kerl hat scheißgute Reflexe, da hab´ ich noch nachgelegt.«

»Ihr habt euch geschlägert?«, ungläubig starrte Tobler den Mann vor sich an. Mit Brunner, freiwillig?

Das Grinsen wurde breiter: »Hatte vor einig´n Jahren in eurer Unterkunft Kraftsport gebucht. Die Zeit hat sich gelohnt!«, ein zufriedener Ausdruck strahlte auf dem wettergegerbten Gesicht, »Muss mir doch nich´ alles gefallen lassen, auch nich´ von ´nem Bullen. Und schon gar nicht, wenn niemand hinschaut.«

»Wer hat gewonnen?«

»Keiner. Bolle und Edi kamen zu Hilfe. Sie trennten uns. Haben die Papiere zurückgeholt. Meinten, drei Aussagen gegen seine. Keine weiteren Zuschauer. Er solle lieber abhauen, bevor er noch mehr Schrammen bezieht«, begeistert plauderte der vorher wortkarge Penner drauflos, »Dann is´ er mit seiner schiefen Nase abgezogen. Hab´ne gute Technik gelernt!«

»Gab´s ein Nachspiel, oder soll ich das im Archiv nachlesen?«, Tobler hoffte noch mehr über Brunners schlagkräftige Eigenmächtigkeiten zu erfahren.

Der Mann schüttelte den Kopf: »Er kam einige Wochen später mit ´n Haftbefehl und Verstärkung. Behauptete, ich hätt´ sein´ Dienstwagen beschädigt. Doch an dem fraglichen Tag bin ich gesessen. Kannst´e nachlesen: Pöbelei in angetrunkenem Zustand. Ihre Kollegen haben´s auch bestätigt.«

Jeder kannte Friedhelms negative Einstellung gegenüber Obdachlosen. Politisch stand er zur Initiative ´Saubere Stadt´. Touristen konsumierten deutlich entspannter, wenn sie von keinen heruntergekommenen Bettlern belauert wurden. Wobei `lauern` das falsche Wort war. Die Leute saßen still da und warten, bis irgendjemand Münzen in die bereitgestellten Schalen warf, was sowieso eher selten passierte.

»Die Michels-Brücke? Haben Sie Informationen darüber?«, der Füller wartete.

»Frag´n Sie doch Ihren Kollegen, aber den geht’s eigentlich auch nichts an.«

»Ich verstehe, eine Ehrensache unter Euch. Was macht Bolle eigentlich zurzeit?« nickte er Renter auffordernd zu

»Muss ich?«

»Schadet nicht«, der Füller landete demonstrativ auf dem Schreibtisch: keine Notizen.

»Jobbt als Aushilfe in ´ner Metzgerei. Muss dafür fast ´ne halbe Stunde hin und zurücklaufen. Mit den Öffentlichen bleibt sonst vom Geld nichts über. Und er hat ´n Auge auf Schlumpf, dass der nicht zu viel trinkt.«

»Schlumpf?«, der Name war neu.

«Scheiße, ich red´ zu viel!«

»Ich höre gerade nichts, also weiter. Warum säuft der?«

»Jow, er hat früher als Capo bei ´ner Baufirma gearbeitet. Ein sechzehnjähriger Bursche ist neben ihm vom Gerüst gefallen. Seitdem is´ er fertig.«

Tobler erinnerte sich an den tragischen Unfall vor sieben Jahren im Münchner Norden. Die Männer hatten im sechsten Stock gearbeitet, der Karabiner des Jungen war nicht ordentlich verriegelt gewesen. Eine unbedachte Bewegung … das reichte, um zwei Leben zu zerstören. Eines sofort, eines ein Leben lang.

»Also, Rudolf«, kamen der Beamte wieder zum ursprünglichen Thema zurück, »Ihr weiterer Name? Rudolf …?«, bohrte er nach, er machte eine einladende Handbewegung.

»Renter, das reicht doch«, beharrte der Angesprochene, »Renter, sonst bin ich weg, ohne was zu melden.«

Der Polizist überlegte, wie er bei diesem bockigen Kerl reagieren sollte. Er brauchte die Personalien zumindest für das Protokoll. Vielleicht hatte das Reinplatzen von Friedhelm Brunner doch etwas Nützliches gebracht: »Okay, dann muss ich wohl den Kollegen von eben bitten, diese Vernehmung zu übernehmen. Der bekommt nämlich alle Namen im Handumdrehen heraus. Wollen Sie es ausprobieren?«, er ließ seine Worte wirken, »und, er vergisst sie auch nie wieder. So wie es Ihnen mit seiner Unterhaltung gehen wird. Die werden Sie sicher auch nicht vergessen.« Er sah Renter fest in die Augen, erhob sich und macht erste Anstalten zur Tür zu gehen.

Entgegen seinen Erwartungen, hielt der Penner seinem Blick stand. Fünf Sekunden, sechs.

Ein ganz anderes Kaliber als die Penner, die man sonst hier ablieferte. Nach etlichen Sekunden folgte die Antwort: »Lassen Sie den, der hat genug Probleme mit sich selber. Der braucht nicht noch meine dazu.«

Jetzt verliert er sogar den Obdachlosen-Slang, bemerkte Sebastian im Stillen. »Okay, ein Deal: Sie kooperieren und nennen mir Ihren Namen, gefolgt von einem Ausweis, und ich belästige meinen Arbeitskollegen nicht.«

»Rudolf, ja. Rudolf Karger.«

»Geboren?«

»Kein Wort über mich zu keinen Zeitungsfritzen und so, abgemacht? Nich´ mal Renter für die. Das könnte sonst übel für mich ausgehen.«

»Nana, so schlimm wird’s nicht sein. Sie werden doch sicher keine Leiche in Keller haben!«

»Nee, das nicht, aber auf der Lichtung neben meinem Lager.«

Die Fahrt verlief schweigend. Tobler versuchte Roman zu erreichen, er brannte darauf ihm mitzuteilen, welche Geschichte er an der Gundermann-Kreuzung versäumt hatte, aber er erreichte seinen Freund nicht.

Sie fuhren über Alting und hielten gegen halb vier neben dem Holzbalken, der seit Jahren die Durchfahrt auf die aufgelassene Straße blockierte. Seine zersplitterten, bemoosten Reste lagen neben der Fahrbahn im Gestrüpp. Vor ihnen erstreckte sich eine Holperpiste, die mit Schlaglöchern und Kiefernzapfen übersät war. Grasinseln und einige kniehohe Bäumchen drängten aus Teerrissen zur Sonne: die Natur kehrte zurück. Hoffentlich schafften sie es mit dem Dienstwagen bis ans Ziel. Langsam rollten sie zwei Kilometer durch unwegsames Gelände. Frisch abgebrochene Ästen zeugten, dass sie nicht die Ersten waren, die in letzter Zeit hier entlangfuhren.

Beide schwiegen. Irgendwann deutete der Penner auf die Stelle, an der er fluchtartig vom Abhang auf die Straße gerannt war.

Sie stiegen aus.

Eine Elster zeterte in einer Baumkrone, Sommerhitze drückte auf die trockene Erde. Auch der laue Wind brachte keine Abkühlung, er trug den nahen Singsang der Zikaden in jedes Dickicht. Renter verschwand unter den tiefhängenden Ästen. Schmetterlinge, Mücken und andere Insekten stoben auf, um sich hastig einen ruhigeren Sonnenplatz zu suchen. Als Sebastian Tobler neben Renter die Lichtung erreichte, flatterten einige träge Krähen in die Höhe und verschwanden meuternd im tiefblauen Himmel. Er bemerkte zuerst den umgestürzten, schäbigen Kinderwagen des Obdachlosen, dann folgten seine Augen dem Geruch, der über der Lichtung hing.

»Scheiße, der liegt sicher schon einige Zeit hier rum!«

Alle Zweifel an Rudolfs Aussage lösten sich in stinkender Luft auf: unterhalb einer Weide, leicht verdeckt von Brombeer-Gestrüpp, lag eine männliche Gestalt.

Der linke Arm der Leiche ruhte angewinkelt neben dem Körper im Dreck. Der andere hing schlaff vor dem Brustkorb. Eine lange Reihe Ameisen kämpfte sich durch die dunkle Unterarmbehaarung, sie krabbelten über ein Stauband am Oberarm, erreichten samt ihren Lasten die Schulter und wechselte von dort auf den Stein, von dem sie nacheinander zwischen den Brombeerblättern verschwanden.

Auch ohne Blutlache bot der blasse Körper zu seinen Füßen keinen appetitlichen Anblick. Er hasste es, in leblose, stumpfe Pupillen zu blicken, die aus eingesunken Augenhöhlen zurückstarrten.

Etwas Glänzendes lag vor ihm zwischen den Kiefernzapfen.

Dieses Protokoll fiel mit Sicherheit noch umfangreicher aus, als gedacht

»Der hat sich bequem an den großen Stein gelehnt, ist in sich zusammengesackt und umgekippt«, rekonstruierte Tobler die letzten Minuten des Toten. Das Gesicht des Penners passte sich farblich dem der Leiche an. Jeder würde ausrasten, wenn er statt Ruhe und Erholung eine Leiche im dunklen Maß-Anzug auf seinem Lieblingsplatz vorfindet. Kein Wunder, dass der arme Kerl heute Morgen völlig wirr auf Roman eingesprochen hatte.

»Halten Sie sich besser Ihr Tuch vor die Nase«, riet er ihm, »und kommen Sie nicht näher.«

Tausende von Fliegen umschwirrten den menschlichen Kadaver.

»Er muss zur Abendzeit gekommen sein. Freiwillig setzt sich niemand in die pralle Sonne, deshalb stinkt´s hier auch gar so heftig nach Verwesung«, Tobler deutet auf die verbrannten und aufgeplatzten Hautstellen und zog ebenfalls ein Taschentuch aus dem Hosensack.

Die schwarzen Glattleder-Schuhe und die Socken des Fremden lagen verteilt neben ihm im Staub. Einige schwarze Käfer krabbelten zwischen seine Zehen, erreichten den Rist und eilten ins schattige Hosenbein. Er wollte sich lieber nicht vorstellen wohin sie wanderten. Unbewusst kratzte er sich im Schritt.

Auf den Armen, Händen und dem Gesicht leuchteten ausgefranste, aufgequollene Verletzungen. Offene, blutleere Wunden, die ihm erst nach dem Tod zugefügte wurden. Tobler wusste, was sie bedeuteten: größere, wilde Tiere hatten sich als willkommene Abwechslung einige Bissen aus seinem Fleisch genagt. An anderen Stellen erkannte er Hackwunden der Aaskrähen. Nach einem Seitenblick auf Renter verkniff er sich ihn darauf hinzuweisen. Die Beteiligung von Ratten, Katzen oder Füchsen erklärten weshalb seine Schuhe umgestoßen und verschleppt wirkten.

Ein warmer Windstoß wehte über die Abbruchkante herüber und blies ihnen den Gestank in die Nase.

»Haben Sie ihn angefasst oder etwas mitgenommen?«

»Mann, der is´ tot! Glauben Sie echt, ich wühl´ in den Taschen von ´ner Leiche? Ich hab´ doch keine Ahnung woran er gestorben is´!«, fand der Penner seine Sprache wieder.

»Da liegt ein Fixer-Besteck«, die polizeiliche Schuhspitze deutete in den Spalt zwischen linkem Oberarm und Brustkorb, »das macht es unserem Pathologen leicht. Ich schau mich ein wenig um«, mit ein paar Kunststoff-Handschuhen näherte er sich dem leblosen Körper.

Er schätzte den Toten auf Mitte vierzig bis fünfzig Jahre, er war gut gebaut, sportlich und sehr gepflegt. Die dunkelbraunen Haare trug er mittig gescheitelt, die vorderen Strähnen sonst anscheinend seitlich streng zurückgekämmt und mit Pomade fixiert, hingen jetzt als verklebte Büschel ins Gesicht. Sebastian kniete sich neben ihn. Diese blinden Augen. Eine weitere Schar Fliegen schwirrte aus den zerfransten Wunden oberhalb des Kiefers. Mit jeder Sekunde kehrten die Fliegen zurück, einige verschwanden zwischen den halbgeöffneten Lippen bis ein schauriges Surren aus der Mundhöhle ertönte.

Er würgte und wandte sich ab. Hinter ihm stahl sich eine fette Schmeißfliege aus dem schlaffen Mundwinkel und floh in den strahlendblauen Himmel.

Um das sonnenverbrannte rechte Handgelenk hing eine teure Uhr, Marke Breitling, am Finger ein dicker goldener Ehering. Das Hemd des Toten entsprach ebenfalls nicht dem Budget eines einfachen Kommissars. Sebastian suchte im offenen Jackett nach dem Etikett: Giorgio Armani. Der Mann hatte nicht nur Geschmack, sondern auch Geld. Vorsichtig hob er mit zwei Fingern einen Teil des aufgeknöpften, weißen Hemdkragens an. Enttäuscht ließ er ihn zurückfallen, die erwartete fette Goldkette fehlte.

»Haben Sie schon was gefunden?«

»Nichts, das ihn zum Leben erwecken würde«, rief er zurück und beförderte mit zwei Fingern eine Ausweismappe aus der Jackett-Innentasche ans Tageslicht.

Er schlug sie auf und sein Atem stockte. Sicherheitshalber verglich er das Passfoto mit dem entstellten Gesicht vor ihm. Trotz seiner üblen Verletzungen erkannte er ihn sofort.

»Scheiße!«, das versprach Ärger.

Er schürzte die Lippen und verstaute die Mappe in einer kleinen Plastiktüte. Als nächstes untersuchte er die übrigen Taschen des Mannes. Außer einem sauber gefalteten Papiertaschentuch, einem iPhone, einen Wrigley's Extra-Kaugummi-Papier, einer Kaufhofrechnung, einem Parkschein aus der Prinzregentenstraße und dem Beleg einer Aral-Tankstelle, konnte er nichts weiter Interessantes finden. Letztendlich schob er alles für die Spurensicherung zurück. Er suchte nach etwas Bestimmtem und entdeckte es in der anderen Innentasche: den Geldbeutel. Eine goldene Klammer fixierte ein dickes Bündel Geldscheine neben einem schmalen Münzenfach.

Er richtete sich auf und wedelte mit den Scheinen in Richtung des Obdachlosen: »Gar nicht übel, was der Kerl so mit sich herumträgt!«, sogleich schämte er sich, er musterte dessen erbärmliche Habseligkeiten, die sich hinter ihm aus dem umgekippten Kinderwagen ergossen: aufgeplatzte Plastiktüten lagen zwischen den Kiefernzapfen am Boden. Den Inhalt hatte der Wind über das das Gelände verstreut, dazwischen sein Kochgeschirr, die Isomatte und der Schlafsack. Konservendosen, leere Bierflaschen und etwas Obst waren ein Stück weitergekullert. In einem Busch baumelte eine einsame Socke in der Brise.

Der Penner bekam beim Anblick der Banknoten glasige Augen, soviel Bargeld hatte er noch nie gesehen, nicht einmal in seinem früheren Leben.

Tobler räusperte sich verlegen, er zeigte zur Ablenkung auf die Franziskaner- und Spatenflasche: »Wann haben Sie das Bier getrunken?«

»Hab´ ich nicht, sind mein Kapital.«

Er hätte es wissen müssen: viermal Flaschenpfand entsprachen einer billigen Semmel, einem Abend ohne Hungern. Verlegen senkte der Polizist seinen Blick auf die Scheine, alle feinsäuberlich nach Wert sortiert. Er zog sie aus der Klammer und zählte.

Sein Gegenüber verfolgte jede seiner Bewegungen, seine Lippen zählten stumm mit.

Als Tobler mit den 200 Euro und 100 Euro Scheinen durch war, ging er zu den kleineren Braunen über. Dabei erwischte er nach dem sechsten 50 Euro Schein gleich den achten. Nummer Sieben folgte der Schwerkraft, rutschte nach unten und trudelte zu Boden. Von den Polizisten unbemerkt, kam er knapp drei Handbreit vor seinem rechten Fuß liegen.

Aber Rudolf sah es. Seine Augen wanderten zwischen dem einsamen, auf der Erde liegenden Fünfziger und dem beschäftigten Gesetzeshüter hin und her. Inzwischen war der bei den Zehn-Euro-Scheinen angekommen. Nervös leckte er sich der Obdachlose die Lippen, unruhig nestelte er an seiner Hosentasche und den abgewetzten Hemdknöpfen.

Der Polizist zählte ungestört weiter, umgeben vom Summen und Zirpen der Insekten.

Merkte der Bulle wirklich nichts, oder war das einer ihrer Tricks, um ihn reinzulegen? Wollte er ihn zu einem Diebstahl verleiten und dann einbuchten? Die Höhe des Risikos lag auf der Hand, respektive auf dem Boden. Er räusperte sich: »Sie, da ist was runtergefallen!«

Tobler schaute auf: »Ja?«, dabei trat er einen Schritt auf ihn zu, wobei sein Fuß exakt auf dem Schein landete. Suchend drehte er den Kopf in alle Richtungen, »Ich seh´ nichts, nur die 1.865 Euro in meiner Hand!«, dabei grinste er schelmisch und fächerte die Scheine vor Rudolf auf. Demonstrativ begann er nochmals durchzuzählen: »600, …, 1000, …, 1400, …, 1650, …, 1.865 Euro, 1.865 Euro - das gleiche Ergebnis wie eben. Vor den Augen eines Zeugens gezählt! Nicht, dass mir hinterher jemand unterstellt, ich hätte etwas von dem Geld abgezweigt. Aktuell sind jedenfalls 1.865 Euro in seiner Brieftasche, das nehm´ ich ins Protokoll.«

Damit zog er einen Block nebst Füller aus der Hosentasche und notierte sich einige Stichworte. Anschließend fotografierte er vorschriftsgemäß dem aufgefächerten Stapel und den Toten.