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Eine unbekannte Seuche, die Infizierten den Verstand raubt und sie zu tollwütigen, affenähnlichen Kreaturen macht, hat die Welt befallen und die meisten Menschen mit sich genommen. Nur wenige sind verschont geblieben. Logan, Emma und Jake gehören zu ihnen. Neben dem alltäglichen Kampf ums Überleben, müssen sie auch ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten und in der neuen Weltordnung Entscheidungen treffen, die sie regelmäßig an ihrer Menschlichkeit zweifeln lassen.
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Roman
Dystopie / Science Fiction
Triggerwarnung! Folgende Themen werden in diesem Buch vorkommen:
Körperliche & psychische Gewalt, explizite Sprache, selbstverletzendes Verhalten & Suizid.
Die Einstellungen, die manche Charaktere zu den Themen Rassismus, Sexismus oder Ableismus äußern, repräsentieren nicht unsere persönliche Meinung. Wir sind strikt gegen Rassismus, Sexismus, Ableismus oder andere Arten von Diskriminierung.
Zweite Ausgabe
2024
Text: Jennifer Fitz & Milena Hahn
Umschlagskonzept: Viktor Joseph Schmied
Titelillustration: Viktor Joseph Schmied
Umschlaggestaltung: Viktor Joseph Schmied
Satz: Milena Hahn
Lektorat: Timo Arnold
Korrektur: Timo Arnold, Milena Hahn, Jennifer Fitz
Druck und Bindung: epubli
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Prolog
»Mein Name ist Benjamin Williams und ich werde Ihnen nun ein paar Fragen stellen. Einige davon sind recht persönlich und ich versichere Ihnen, dass Sie nicht alle beantworten müssen. Falls Sie wirklich Teil unserer Gemeinde werden und hier leben wollen, empfehle ich Ihnen, nicht allzu sparsam mit Ihren Ausführungen zu sein.« Freundliche, hellblaue Augen strahlten durch die Brillengläser und schienen ihn nicht für sein schäbiges Aussehen zu verurteilen. Der Raum war einladend und hell. Die beiden Männer hatten in bequemen Sesseln Platz genommen und auf dem Tisch in ihrer Mitte standen eine Kanne mit Wasser sowie zwei saubere Gläser. Aus den angrenzenden Räumen konnte Logan gedämpfte Stimmen vernehmen. In einer Ecke des Zimmers tickte eine Uhr. Ansonsten herrschte Stille. Logan nickte und bereitete sich auf die ersten Fragen vor.
»Woher kommen Sie, Mr. Parker? Erzählen Sie mir etwas über sich. Welchen Beruf haben Sie früher ausgeübt? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?«
Logan schluckte schwer und wie von selbst neigte sein Gesicht sich Richtung Boden. Er schloss die Augen und versuchte die sich ihm aufdrängenden Erinnerungen, Bilder, Stimmen und Gefühle zu ignorieren. Resigniert schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht mehr der Mann, der ich früher war«, wich er aus und es kostete ihn alle Kraft, den Blick zu dem freundlichen jungen Herrn wieder aufzunehmen. »Diese Dinge spielen keine Rolle mehr.«
Logan nickte, um sich seine Worte selbst noch einmal zu bestätigen. Benjamin Williams notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Gut«, kommentierte er knapp und wieder schenkte er Logan dieses ungewohnt warme Lächeln. »Dann möchten Sie mir vielleicht von Ihrem ›neuen Ich‹ erzählen. Wenn ich das so sagen darf? Was sind Ihre Stärken?«
Logan runzelte die Stirn. Er fühlte sich schmutzig in dieser sauberen, unschuldigen und sonnigen Stadt. Gerne würde er dazugehören, die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und hier neu anfangen, doch er kam sich vor wie ein haariges, buckliges Monster, das eine wunderschöne Prinzessin nach einem Date zu fragen gedachte. Er passte nicht hierher.
»Ich gebe niemals auf«, fiel ihm als erstes sein wohl herausragendster Wesenszug ein, doch es klang so banal wie das Wettkampf-Motto eines sporttreibenden Kindes. »Ich versuche immer, das Gute in einer Sache zu sehen«, überlegte er und kramte fieberhaft nach weiteren positiven Eigenschaften unter dem erdrückenden Berg aus Sorge und Angst, der ihm jegliche restliche Lebensenergie zu rauben versuchte.
»Außerdem würde ich mein Leben für sie geben.«
»Für wen? Meinen Sie die anderen Überlebenden, die mit Ihnen die Stadt betreten haben?«
»Sie bedeuten mir alles. Sie sind meine Familie.« Seine Stimme klang rau und kratzig. Logan vermutete, dass diese neue Färbung den Strapazen des letzten Jahres geschuldet war.
»Ich schließe daraus, dass Sie viel zusammen erlebt haben?«, mutmaßte Williams. Logan schnaubte leise. »Zu viel«, bestätigte er und wieder gelang es ihm nicht, den Blick aufrecht zu halten.
»Wir haben etliche Dinge getan. Wir mussten viele Dinge tun.«
Alleine der bloße Gedanke an Fetzen dieser Erinnerungen brachte sein Herz zum Rasen.
»Ich habe sehr viel Zeit mitgebracht, Mr. Parker. Wenn Sie wollen, können Sie mir die ganze Geschichte erzählen«, bot Williams an und Logan musterte ihn prüfend. So vorsichtig er im letzten Jahr auch geworden war, der Mann vor ihm wirkte vertrauenswürdig und gutmütig. Abgesehen davon, befanden sie sich hier am großen, stets unnahbar scheinenden Ziel, für das sie immer gekämpft und ihr Blut gegeben hatten. Es schien an der Zeit sämtliche Zweifel herunterzuschlucken und sich auf diese neue alte Welt einzulassen. Benjamin Williams bot ihm eine Chance und Logan würde sie nutzen.
»Alles begann ... eigentlich begann es mit Emma.«
Kapitel 1, Emma
Ein monotones Tropfen erfüllte den Raum und immer wieder ließ ein Geräusch das Mädchen verängstigt zusammenzucken. Schon seit Stunden versuchten die Kreaturen in die alte Werkstatt einzudringen, als wüssten sie genau, dass Emma sich hier versteckte. Bestien, Kranke, Monster… Unterwegs hatten sie ihnen viele Namen gegeben, ohne dass Emma wirklich gewusst hätte, was sie waren und wieso sie sich so verhielten, wie sie es taten. Sie sahen aus wie Menschen, doch die Art, auf die sie sich bewegten verriet, dass sie nicht mehr viel Menschlichkeit in sich trugen. Manche von ihnen gingen gebückt, andere machten abgehackte Bewegungen, als fiele es ihnen schwer, die Kontrolle über ihren Körper zu behalten. Andere wiederum bewegten sich geschmeidig und beinahe so, als wären sie nicht krank. Es war kein Ausdruck mehr in ihren Augen, eine unergründliche Leere, als vermissten sie einen Teil ihrer selbst. Sprechen konnte keiner von ihnen und wenn sie sich in größeren Gruppen bewegten, verständigten sie sich mit unheimlichen Lauten, Blicken und ausladenden Bewegungen. Sie plünderten Geschäfte, schlugen Scheiben ein und belagerten Orte, an denen es Nahrung zu holen gab. Emma hatte panische Angst vor ihnen. Als sie zum ersten Mal an der Tür gerüttelt hatten, war das kleine Mädchen mit wild pochendem Herzen unter eines der Autos gekrochen, hatte sich auf den Bauch gelegt, die Hände fest auf die Ohren gepresst und abgewartet. Sie zitterte am ganzen Leib, sowohl vor Kälte, als auch vor Furcht. Der Boden war kühl und hart, doch trotz der unbequemen Lage traute Emma sich nicht, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Durch eine undichte Stelle an der Decke fielen stetig Regentropfen in einen rostigen Eimer, den irgendjemand dort hingestellt hatte, der wohl zu faul gewesen war, das Dach zu reparieren.
»Bitte, bitte komm bald wieder«, flüsterte sie leise und schrak abermals mit einem kurzen, verzweifelten Laut zusammen, als eine widerliche Fratze an der milchigen Fensterscheibe auftauchte und in den Raum hinein stierte. Wimmernd krabbelte sie noch einige weitere Zentimeter zurück, damit sie nicht entdeckt wurde, legte ihren Kopf mit dem Gesicht nach unten auf den Boden ab und schlang ihre Arme darum, als könne ihr diese Position mehr Schutz bieten.
»Baby let me be… your lovin’… teddy bear«, brachte sie durch trockene Lippen hervor und versuchte sich an den Text des Liedes zu erinnern, das ihr Vater, ein leidenschaftlicher Elvis-Fan, ihr früher immer vorgesungen hatte. ›Wenn man Angst hat, soll man singen‹, war stets sein Rat an Emma gewesen, doch inzwischen bezweifelte sie, dass die Welt jemals genug Lieder hervorgebracht hatte, um damit jede Sekunde dieses neuen Lebens versorgen zu können. Jeden Moment würde David zurückkehren. Er würde zurückkommen, Emma aus dieser alten und tristen Werkstatt herausholen. Gleich würden sie endlich die Stadt verlassen und all den dort hausenden Monstern entkommen. Dies war die Hoffnung, an der sie seit Tagen festzuhalten versuchte. Emmas Magen zog sich schmerzlich zusammen und dies nicht zuletzt, weil sie so großen Hunger hatte. So sehr ihr Onkel es auch zu verstecken versucht und obwohl er bei seiner Abreise ein Lächeln aufgesetzt hatte – das Mädchen wusste, dass Claires hohes Fieber kein gutes Zeichen gewesen war.
Rund um die Stadt hatte man zu Beginn der Pandemie Safe-Zones und behelfsmäßige Zelte zur Krankenversorgung aufgestellt, in die David seine Freundin nun bringen wollte. Emma wusste, dass es Situationen gab, in denen Erwachsene logen, um die Realität für Kinder weniger grausam erscheinen zu lassen. Das hatten sie auch damals nach dem Unfall getan. Alles, was es geholfen hatte war, dass Emma sich nicht ernst genommen fühlte. Claire würde nicht zurückkehren und inzwischen empfand sie es als grausamere Härte, hier in aller Ungewissheit auf ihren Onkel warten und vielleicht sogar verhungern zu müssen. In ihrer Wasserflasche befand sich nur noch ein winziger Schluck, den sie nicht zu trinken wagte, denn danach wären ihre Vorräte aufgebraucht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie aus Verzweiflung das schmutzige Rostwasser aus dem Eimer trank.
Ein lautes Scheppern ließ Emma den Kopf heben. Jemand machte sich an der verbarrikadierten Tür zu schaffen und sie betete dafür, dass es keines der Monster war. Hoffnungsvoll visierte sie die Tür an. David hatte sein Versprechen gehalten. Nur er wusste, dass sie hier war und er würde Emma endlich mit sich nehmen. Ihr Körper füllte sich mit Adrenalin. Sie wollte unter dem Auto hervor krabbeln, aufspringen und zur Tür laufen, doch die Ungewissheit hielt sie zurück. Was, wenn es doch nicht ihr Onkel war?
Gab es außer ihnen vielleicht auch noch andere Nichtkranke? Menschen, die sich wie in Zombiefilmen zu grausamen Banden zusammengeschlossen hatten, Waffen horteten, andere bedrohten und ausraubten? Gebannt blickte Emma zur Tür. Unter einem lauten Krachen brach sie auf und ein Mann stolperte schwer schnaufend in die Werkstatt.
»Scheiße!«, vernahm sie eine tiefe Stimme. Der Fremde lehnte sich gegen die Tür, die er hinter sich wieder fest zugestoßen hatte. Emma musste von hier verschwinden und die Werkstatt irgendwie unbemerkt verlassen, doch ihr fehlte noch ein Plan, mit dem sie all dies in die Tat umsetzen konnte. Sie beobachtete von ihrem Versteck unter dem Auto aus, wie er mit schweren Schritten den Raum durchquerte, sämtliche Schrank- und Autotüren öffnete und alles durchsuchte. Er hielt eine Eisenstange in beiden Händen und machte einen extrem bedrohlichen Eindruck. Seine schmutzigen Stiefel näherten sich Emmas Sichtfeld, bis sie direkt vor ihrem Gesicht stehen blieben und sie hielt die Luft an, um sich nicht zu verraten. Den Ärmel gegen Mund und Nase gepresst, zählte sie innerlich langsam von zehn nach unten, als der Fremde sich unerwartet auf den Boden kniete und ihr direkt in die Augen blickte. Emma schrie auf. Ohne zu zögern huschte sie unter dem Auto hervor und rannte auf den Ausgang auf der anderen Seite des Raumes zu, drückte dort die Klinke hinunter zu und zog fest daran. Die Tür bewegte sich kein Stück. David selbst hatte sie verschlossen. Dank ihm saß Emma nun wie eine verängstigte Maus in der Falle. Mit dem Rücken drückte sie sich dagegen und starrte den bärtigen und heruntergekommenen Fremden an, der ihr langsam näher kam, die Eisenstange bedrohlich angehoben. Er war groß, kräftig gebaut, hatte braunes und leicht gelocktes Haar, das ihm jedoch durch den Regen nass und strähnig in sein schmutziges Gesicht hing. Er sah nicht nur genauso aus, sondern roch auch wie der Obdachlose, um den Emma jeden Morgen auf dem Weg zur Schule einen großen Bogen gemacht hatte. Seine Züge waren ernst, berechnend und trugen eine gewisse Vorsicht in sich, mit der er Emma musterte. Je näher er kam, desto besser konnte sie seine dunklen Augen ausmachen, die furchteinflößend funkelten. Emma zitterte am ganzen Leib und während sie es kaum wagte, sich auch nur ein kleines Stück weit zu rühren, begann der Fremde mit rauer Stimme zu sprechen:
»Wer bist du? Wie viele seid ihr?«
Es dauerte einige Sekunden, ehe Emma ihre eigene Stimme wieder fand. Sie zwang sich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. Sollte sie ihn anlügen? Ihm erzählen, dass die anderen jeden Moment zurückkehren konnten oder sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Seine zerschlissenen, von Blutspritzern bedeckten Kleider machten es ihr schwer, auch nur einen klaren und vernünftigen Gedanken zu fassen. »Ich bin Emma ... Emma Richardson«, begann sie mit leiser Stimme zu sprechen. »Ich bin allein hier. Aber mein Onkel kommt bestimmt gleich wieder«, behauptete sie und endlich ließ er die Eisenstange sinken. »Mhm.«
Die misstrauischen Augen des Fremden suchten den Raum ab, als würde er ihrer Antwort nicht trauen. »Logan Parker«, ergänzte er tonlos, eilte mit wenigen zügigen Schritten zum Fenster und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. »Emma also, ja?«
Abwesend fuhr er sich mit einer Hand durch das strähnige Haar. Zur Bestätigung nickte Emma, bemerkte, dass er sie nicht sehen konnte und räusperte sich, um ein leises, krächzendes »Ja«, hervorzubringen. Noch immer prasselte der Regen unentwegt gegen die Fensterscheiben. Für einige Minuten war es das einzige Geräusch, das die drückende Stille zwischen ihnen beiden durchbrach.
»Okay«, murmelte er mehr zu sich selbst und als hätte er soeben eine wichtige Entscheidung getroffen, machte er auf dem Absatz kehrt und trat erneut auf Emma zu. Erschrocken fuhr sie zusammen, doch die Wand in ihrem Rücken gewährte noch immer keinen Fluchtweg. »Ich ... bitte«, wimmerte sie und hob abwehrend beide Arme, um diese vor ihr Gesicht zu halten und die Tränen zu verbergen, die ihr unmittelbar in die Augen stiegen. Etliche Gedanken rasten durch ihren Kopf, doch in jedem dieser Szenarien ging die Begegnung mit dem Fremden schlecht für sie aus. Die einschüchternden Züge auf seinem Gesicht wichen einem unerwartet freundlichen Lächeln. »Hey!«, sprach er nun sanfter, während er vor ihr in die Hocke ging und Emma seine Hand entgegen streckte. »Tut mir Leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Ich tu dir nichts, versprochen«, fügte Logan mit einem Schmunzeln hinzu. »Bin vorsichtig geworden in der letzten Zeit. Da draußen laufen ziemlich schräge Typen herum.«
An diesem Punkt wagte auch Emma es, aufzuatmen und sich ein wenig zu entspannen, dann nickte sie. Er würde sie in Ruhe lassen. Logan hatte nicht vor, ein zehnjähriges Mädchen zu erschlagen, um sich ihre Vorräte oder ihr Versteck zu schnappen, zumindest versuchte Emma sich dies einzureden. Einen Moment lang beäugten sich die beiden und es herrschte Schweigen, dann ergriff ein weiteres Mal Logan das Wort: »Was ist …«
Ein sorgenvoller Blick breitete sich auf seinen Zügen aus und Emma ahnte bereits, was als nächstes kommen würde. »Was ist mit deinen Eltern geschehen? Sind sie an der Seuche gestorben? Oder bist du auf der Suche nach ihnen?«, brachte er langsam hervor und schien darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen. Emma verkrampfte sich. Ihr Blick fixierte den Wassereimer, der hinter Logan auf dem Boden stand und in den noch immer laut Wassertropfen fielen.
»Wir sind auf der Suche nach ihnen«, log sie schnell und zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. Dabei bemerkte sie, wie sich allmählich die Anspannung in ihr auflöste. Die Art und Weise, auf die Logan zu ihr sprach und die Tatsache, dass er soeben die Eisenstange auf einer Werkbank abgelegt und seinen Rucksack beiseitegestellt hatte, beruhigten das Mädchen ein wenig.
»Die ziehen bestimmt bald weiter. Wir müssen uns nur ruhig verhalten, dann sind die Dinger bald wieder weg«, erklärte Logan mit Blick zum beschlagenen Fenster und Emma nickte langsam, in dem Versuch seinen Worten Glauben zu schenken.
»Wie lange sind du und deine Leute schon hier?« Logan setzte sich auf den Boden, den Rücken angelehnt an die massive Werkbank. »Geht es dir soweit gut? Hast du genug zu essen?«
Emma zuckte mit den Schultern. Zu essen hatte sie absolut nichts mehr und als bei seiner Frage ihr Bauch unangenehm zu rumoren begann, schlang sie die Arme um ihre Mitte und schüttelte tapfer den Kopf. »Geht schon!«
Ehe sie sich versah, hatte Logan den Reißverschluss seines Rucksackes aufgezogen und ihr einen Apfel in die Hand gedrückt. Emma betrachtete diesen mit großen Augen.
»Hier, der ist für dich, wenn du hungrig bist.«
»Danke«, erwiderte sie, wog ihn kurz in beiden Händen hin und her, ehe sie einen großen Bissen nahm und Logan anschließend ein breites Grinsen schenkte. Es dauerte nicht lange, bis sie den Apfel mitsamt Kerngehäuse verputzt und lediglich den Stil übrig gelassen hatte. »Einer von ihnen hat vorhin durchs Fenster gesehen. Das war ziemlich gruselig«, erklärte sie und hoffte dabei darauf, dass Logan ihr vielleicht noch ein wenig länger Gesellschaft leisten würde. Logan machte eine Kopfbewegung in Richtung eines der abgestellten Fahrzeuge: »Hey, ich hatte vor, dieses Auto da drüben einmal auszuprobieren. Vielleicht kannst du mir ein bisschen dabei helfen?«
Genau so klangen Erwachsene, wenn sie Kinder von einem heiklen Thema ablenken wollten.
»Wenn es funktioniert, lade ich hier alles ein, was ich noch an brauchbarer Ausrüstung finden kann, öffne das Tor und dann bin ich weg und lasse dich in Ruhe.« Emma nickte und schwieg. Ob er sie mitnehmen und ihr bei der Suche nach David helfen würde? Emma traute sich nicht, Logan zu fragen. Galt die Regel, nicht mit Fremden in ein Auto zu steigen, auch in der Apokalypse noch?
»Gute Idee«, entgegnete sie stattdessen abwesend und sah bereits kommen, was mit ihr geschehen würde, sobald Logan das Tor öffnete und davonfuhr: Dieses abenteuerliche Manöver würde einzig und allein dazu führen, dass Emma zu einer leichten Mahlzeit für die Kranken würde, die noch immer draußen warteten. David hatte sich die Autos vor einigen Tagen bereits angesehen und wenn man seinem Sachverstand trauen konnte, so würde das Auto auch durch gutes Zureden nicht anspringen. Sie sah Logan zögerlich nach, der an ihr vorbei schlenderte und auf das ausgewählte Fahrzeug zuging. Je länger er brauchte, desto mehr Zeit blieb Emma, um sich einen eigenen Plan zurechtzulegen. Er beugte sich vor, blickte durch das Fenster der Fahrertür, rüttelte am Türgriff. Beherzt setzte Logan seine Eisenstange an, lehnte sich dagegen, drückte ein wenig …
Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Werkstatt und erschrocken presste Emma die Hände gegen ihre Ohren. Das Auto war durch eine Alarmanlage gesichert und all die Vorsicht, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte, umsonst gewesen. Sie würden sie hören. Sie würden zurückkommen und einen Weg in die Werkstatt finden. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Emma Logan an und hoffte, dass er wusste, was sie nun tun sollten. Er verschwendete keine Zeit, packte Emma bei der Hand und zog sie in Richtung der Tür, die sie noch wenige Minuten zuvor vergebens zu öffnen versucht hatte.
»Komm! Schnell!«, wies er sie eilig an und Emma blieb gerade noch genug Zeit, ihren Rucksack zu greifen und hinter sich her zu ziehen. Alles an dieser Situation fühlte sich wie ein unangenehmes Déjà-vu an. Unter einem lauten Knacken brach Logan mit der Eisenstange das Schloss der Tür aus dem Holzrahmen heraus und eröffnete ihnen den Blick auf einen Hinterhof.
Emma blieb in dessen Mitte erstarrt stehen, ihr Atem ging schnell und stockend. Sie saßen in der Falle. Um sie herum befanden sich dicht aneinander gebaute Hauswände, die zu hoch waren, um einfach an ihnen hinaufzuklettern. Logans Gesichtsausdruck verriet, dass auch ihm eine zündende Idee fehlte. Sein Blick glitt zwischen der Sackgasse und der soeben verlassenen Werkstatt hin und her. Überlegte er tatsächlich, zurückzulaufen und sich den Biestern zu stellen? Emma sah sich ein weiteres Mal um. Die Fenster der umliegenden Gebäude erschienen ihr nicht allzu hoch. Wenn Logan ihr ein wenig half, konnte sie es schaffen. Eines der Fenster war angelehnt und wenn dahinter keine weiteren Infizierten lauerten, konnte sie einfach hindurchsteigen. Sie sammelte ein wenig mehr Mut, fand ihre Stimme und zog an Logans freiem Arm. »Da! Heb mich hoch!«
Ungläubig starrte der Mann zu ihr hinunter. »Nein. Auf gar keinen Fall!«, konterte er, doch in diesem Moment ertönte ein Klirren aus der Werkstatt. Sie hatten keine Zeit mehr. Mit festem Blick sah Emma Logan in die Augen, der noch kurz zögerte, Emma dann aber ohne Vorwarnung an der Hüfte packte und mit überraschender Leichtigkeit über seinen Kopf hob. Sie streckte die Arme aus, soweit sie konnte, ihre Finger rutschten am regennassen Fenstersims ab; dann bekam sie ihn zu greifen und zog sich mit Logans Unterstützung auf die breite Bank vor dem Fenster eines verlassenen Büroraumes hinauf. Sie atmete tief durch, richtete sich zitternd auf und klemmte sich mit beiden Armen in den Fensterrahmen, um mit dem Fuß beherzt gegen die angelehnte Scheibe zu treten und das Fenster zu öffnen. Das Mädchen stolperte in den verlassenen Büroraum hinein, schlug sich das Schienbein an einem umgekippten Stuhl an und fluchte leise, während sie durch den Raum humpelte. Sie ignorierte, dass Logan von draußen besorgt nach ihr rief und riss einen Schrank nach dem anderen auf. Nichts. Ihr Blick fiel durch ein kleines Fenster in der Bürotür. Draußen im Gang stand eine alte, rostige Leiter, zusammengeklappt und neben einem Putzeimer an die Wand gelehnt. Ohne jegliche Vorsicht riss sie die Tür auf, stürmte in den Korridor und zog schwerfällig die Leiter mit sich.
Das Scheppern hallte durch das verlassene Gebäude und Emma war völlig außer Atem, als sie wieder am Fenster angelangte. »Vorsicht!«, rief sie nach unten. Logan trat einige Schritte zur Seite, als sie die Leiter mit aller Kraft auf den Sims hievte und nach unten fallen ließ. Blecherner Lärm erfüllte den Hof und Emma wich alle Farbe aus dem Gesicht, als die ersten Wesen ihre Köpfe durch die aufgebrochene Tür streckten. »Schnell!«, schrie sie und verfolgte ängstlich den Ausgang der Situation. Er richtete mit Schwung die Leiter auf und blickte sich hastig um, während er seinen Fuß auf die erste Sprosse setzte. Emma ließ panisch den Blick durch den Raum gleiten, griff nach einem Tacker, der auf dem Tisch neben ihr lag, und warf ihn aus dem Fenster in Richtung Logans Verfolger. Er landete neben dem Wesen, das Emma mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung ansah, ehe es seinen Weg über den Hof fortsetzte. Sie griff nach allem, was sie in die Finger bekam. Erst als Logan bereits durchs Fenster gestiegen war, ächzend die Leiter nach oben zog und das Fenster schloss, ließ sich auch Emma schwer atmend auf einen Bürostuhl sinken. Draußen tummelten sich drei Kranke auf dem Hof und musterten eingehend das Fenster über ihnen.
»Wir sollten sofort verschwinden. Das Gebäude sah von außen riesig aus. Sehr wahrscheinlich, dass wir hier nicht allein sind.« Logans Worte ließen Emma schlucken und aufgeregt deutete sie hinter sich über den Berg von Papieren und Ordnern hinweg, die sie in ihrer Hast von den Tischen geworfen hatte. »Hinten am Ende des Ganges ist ein Notausgang«, erinnerte sich Emma, streckte ihre Hand nach der von Logan aus, zuckte jedoch auf halbem Weg wieder zurück und verschränkte die Arme stattdessen vor der Brust. Er nickte lächelnd. »Danke«, flüsterte er, als er den Kopf durch die Tür hindurch streckte, um sich zu versichern, dass der Gang leer war. Auf leisen Sohlen schlichen sie an einer Reihe verlassener Büroräume vorbei und steuerten auf den Fluchtweg zu.
»Hattest… hast du auch eine Familie, nach der du suchst?«, fragte Emma beiläufig und trotzte so der unangenehmen Stille, die sich seit Betreten des Gebäudes über sie gelegt hatte. Logan nickte und drückte leise die Klinke der Tür vor ihnen herunter. Vorsichtig schob er sie auf. Fahles Licht fiel von einem Dachfenster in das Treppenhaus ein. Für einen Moment blieben sie geräuschlos stehen, um zu lauschen.
»Ja. Ich habe zwei Kinder. Sie dürften etwa in deinem Alter sein. Mit meiner Kleinen würdest du dich sicher gut verstehen.«
Ein Lächeln glitt über Emmas Lippen und auch wenn sie an Logans Vermutung zweifelte, war sie froh über jedes Wort, das sie von ihrer Angst ablenkte. Emma hatte nie viele Freunde gehabt und wenn Logans Tochter nicht gerade zufällig auf Batman und Gameboy-Spiele stand, würden ihr bald die Gesprächsthemen ausgehen.
»Erzähl mir etwas über dich! Was hast du früher gerne gemacht?«, durchkreuzte Logan die grauenhafte Stille, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Emma überlegte. Erwachsene machten für gewöhnlich keine Freudensprünge, wenn die Antwort ›Rumhängen‹ und ›Videospiele‹ lautete. »Ich… ähm«, überbrückte sie ihr Zögern daher unbeholfen. Es fiel ihr sehr schwer, in dieser Situation eine glückliche Kindheitserinnerung abzurufen. Angestrengt richtete sie den Blick nach vorne, ehe ihr Logans Lächeln begegnete. Sanft schüttelte er den Kopf. »Schon gut, das kannst du mir auch später noch erzählen.«
Er hielt vor einem Notausgang inne und Emma wartete gespannt darauf, dass er die Klinke hinunterdrückte. Vorsichtig und Millimeter für Millimeter schob der Mann zu ihrer Rechten die Tür auf und spähte hinaus. Ein von Stacheldraht umzäunter Hinterhof offenbarte sich ihnen. Keine Spur von den unheimlichen Wesen. Sie waren allein.
Den Hof durchzogen etliche, kleine Pfützen. Von oben fielen noch vereinzelte Regentropfen auf sie herab. Das Wetter hatte sich deutlich gebessert und zwischen grauen Wolken bahnten sich zaghafte Sonnenstrahlen einen Weg nach unten bis zu Emmas fahlem Gesicht. In einiger Entfernung stand ein Feuerwehrauto, das jemand direkt neben einem aufgebrochenen Zigarettenautomaten stehen gelassen hatte. Sonst konnte Emma nicht viel erkennen, was auf andere Menschen oder Lebewesen hingedeutet hätte. Fragend sah sie zu Logan auf, der seinen Blick starr geradeaus richtete. Würde es ab diesem Punkt für Emma allein weitergehen oder profitierte vielleicht auch Logan davon, wenn sie sich gemeinsam einen Unterschlupf suchten? Schließlich hatte sie ihm gewissermaßen gerade den Hintern gerettet. »Meinst du ... ich weiß nicht, wann mein Onkel zurückkommt, aber vielleicht finden wir einen Ort, von dem aus ich die Werkstatt ein wenig im Blick habe?«, fragte sie vorsichtig nach. Logans Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Kopf drehte sich, langsam wie der eines aufmerksamen Wolfes, der sein Revier überprüfte, zur Seite. »Klar«, antwortete er nur knapp und angespannt, als wittere er bereits die nächste Gefahr. Eilig winkte er Emma mit sich. »Bewege dich immer mit dem Rücken zur Wand und behalte die Umgebung genauestens im Auge, damit du nicht überrascht wirst. Die Dinger können verdammt schnell sein«, erklärte er, während er selbst mit seitlichen Schritten die Außenwand des Bürokomplexes entlang lief, als wäre er ein Geheimagent aus einem Film. Licht flutete die Gasse und spiegelte sich in den Pfützen wider. Hätte Emma auf der anderen Straßenseite nicht den toten Körper einer Frau erkennen können, so wäre dies auch als ein ganz gewöhnlicher, sonniger Nachmittag durchgegangen. Weit über den Dächern der umliegenden Häuser zeichnete sich am nun blauen Himmel ein schillernder Regenbogen ab.
»Bevor wir da vorne um die Ecke biegen, schauen wir uns vorsichtig um. Wir wissen nicht, was uns in der Seitenstraße möglicherweise erwartet. Es wäre unklug, wenn uns irgendjemand entdeckt«, wies Logan sie an und Emma mutmaßte, dass er in seinem früheren Leben bestimmt einmal Lehrer gewesen war. An der Ecke der Hauswand angekommen blieb er stehen und reckte seinen Kopf leicht nach vorne, sodass nur ein winziger Teil seines Gesichts von der anderen Seite aus zu sehen sein konnte. Sein ausgestreckter Arm berührte Emma am Schlüsselbein und Logan gab ihr zu verstehen, dass sie innehalten solle, bis er die Lage überprüft habe.
»Nichts. Weit und breit nichts«, äußerte er seine Erkenntnis, nickte Emma flüchtig zu und ohne Logans Worte überhaupt infrage zu stellen, folgte sie ihm in die Seitenstraße. Sie bemühte sich, seinem Rat folgend möglichst alles um sich herum im Blick zu behalten, doch es machte sie deutlich paranoider, als sie ohnehin schon gewesen war. Jede Sekunde rechnete sie damit, dass Angreifer um die Ecke bogen. Was, wenn sie die beiden bereits durch ein Fenster beobachteten und nur auf den richtigen Augenblick warteten, um sie zu zerfleischen? Leise setzte Emma einen Fuß vor den anderen. Die in ihr aufsteigende Angst hinderte sie daran, Logan auf seine Ratschläge und Anweisungen zu antworten. Aus Sorge, dass sie vor Furcht einfach mitten auf der Straße stehen bleiben könnte, griff Emma diesmal doch nach Logans Hand und ließ sich von ihm weiter ziehen.
Sie schoben sich eine lange Betonwand entlang, überquerten eine kleine Seitenstraße, die von einigen umgekippten Mülltonnen versperrt wurde, und hielten an einer größeren Kreuzung an, auf deren anderer Seite sich ein mehrstöckiger McDonald’s befand. Die Scheiben waren eingeschlagen und Emma ging davon aus, dass es nichts Essbares mehr zu holen gab. Von dort oben aus würde man die Werkstatt gut im Blick behalten können. Hierfür müssten sie sich allerdings ganz offen über die riesige Kreuzung bewegen, die von allen Seiten aus leicht einsehbar war. Logan schien Ähnliches durch den Kopf zu gehen, denn er blieb stehen und sah aus, als würde er konzentriert nachdenken. »Kannst du pfeifen?«, fragte er wie aus dem Nichts heraus und nickte in Richtung der demolierten Müllcontainer.
»Versteck dich da drüben. Ich werde mir den alten Imbiss auf der anderen Seite der Straße ansehen. Wenn du etwas siehst oder hörst, das zur Gefahr werden könnte, pfeifst du laut, damit ich gewarnt bin. Im Zweifel rennst du weg und versteckst dich erneut. In Ordnung?«
Der Klang in Logans Stimme ließ keinen Raum für Widerworte und jagte Emma dennoch eine unangenehme Gänsehaut über den ganzen Körper. Schon wieder sollte sie sich allein verstecken. Bevor Emma hätte protestieren können, fuhr Logan bereits fort: »Ich beeile mich auch, versprochen. Aber es ist zu gefährlich, dich mitzunehmen, um das Haus zu überprüfen.«
Sie presste die Lippen aufeinander, sah mit unsicherem Blick zu Logan auf und ließ dann langsam nickend seine Hand los. Das Gleiche hatte David auch gesagt, bevor er einfach verschwunden und nicht wieder aufgetaucht war. Emma nahm hinter den Mülltonnen ihre Position ein und reckte dann einen Daumen in die Höhe, um Logan ein Zeichen zu geben. Sie beobachtete, wie er über die Straße und durch die zerbrochene Frontscheibe ins Haus huschte, um sich dort umzusehen.
Die Minuten zogen sich schmerzhaft in die Länge und das Mädchen traute sich erst wieder aufzuatmen, als sie erkennen konnte, dass er unversehrt zurück auf die Straße trat. Noch nie hatte Emma solche Angst um einen Menschen gehabt, den sie noch nicht einmal wirklich kannte.
Als Logan sie zwischen den Containern erblickte, machte er eine schnelle Kopfbewegung, um ihr zu verdeutlichen, dass es sicher war. Vielleicht würden sie gemeinsam an diesem Ort rasten und sich von den Strapazen des Tages ausruhen. Emma, die sich wie ein Frosch zusammengekauert hatte, sprang auf die Beine und rannte über die Kreuzung hinweg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Logan legte eine Hand auf ihre Schulter und schob sie sanft durch die Tür, ehe er wieder die Stimme erhob: »Ich habe alles überprüft. Weder Mensch noch Infizierter. Vom obersten Stockwerk aus hat man einen guten Überblick über diese und die Querstraße dahinten. Wenn dein Onkel zur Werkstatt zurückkommt, kannst du ihn gut erkennen. Außerdem gibt es eine Feuerleiter, direkt hinter dem Toilettenfenster oben. Falls irgendjemand oder irgendetwas eindringen sollte, könntest du fliehen«, erläuterte er, während sich Emmas Miene verfinsterte. Das alles klang, als würde er sie nun hier allein zurücklassen. Scheinbar hatte er lediglich eine einigermaßen sichere Unterkunft gesucht, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wenn er ein fremdes Kind im Stich ließ.
»Vielleicht findest du in all den Schubladen, Boxen und Fächern ja noch eine Kleinigkeit zu essen. Ich hab nicht danach gesucht.«
Logan zog seinen Rucksack vor sich und zog den klemmenden Reißverschluss mit Gewalt auf. Das Rascheln von Papier und schließlich der Klang von sich berührenden Glasflaschen ließ vermuten, dass Logan einige Vorräte hortete, von denen er Emma zuvor nichts erzählt hatte. Er zog eine kleine Tüte einer Nussmischung hervor und hielt sie ihr mit einem knappen »Hier für dich« entgegen. Wieder verschwand seine Hand im Rucksack, ehe eine kleine Flasche Hustensaft an seinen Lippen landete. Logan nahm einen großen Schluck daraus, obgleich er auf Emma überhaupt nicht den Eindruck machte, krank zu sein. Angewidert verzog sie das Gesicht. Es war die Sorte, die ganz besonders ekelhaft nach Kräutern schmeckte.
»Meinst du das reicht dir aus, bis deine Leute wieder zurückkommen?«, fragte Logan. Emma nickte und traute sich nicht, ihm zu sagen, dass sie gegen Erdnüsse allergisch war. Das hier war ein Abschied, denn Logan hatte Emma bereits zuvor erzählt, dass auch er sich auf der Suche nach seiner Familie befand, die ihn schrecklich vermissen musste und auf ihn wartete. Zwei Kinder, die ihren Vater bald wieder in ihre Arme schließen konnten und denen sie ihn nicht noch länger wegnehmen wollte.
Emma verspürte einen Schwall unbegründeter Wut, vielleicht aus Neid auf Logans Familie, aus Enttäuschung, dass er sie hier allein ließ oder aus Frustration darüber, dass ihr eigener Onkel noch immer nicht zurückgekehrt war, um nach ihr zu sehen. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie nahm Logan die Tüte aus der Hand, zwang sich zu einem matten Lächeln und nickte. »Danke. Viel Glück bei der Suche nach deiner Familie!«, wimmelte sie ihn ab und stieg dann durch das zerbrochene Fenster, um auf die Treppe zuzusteuern.
Unter ihren Füßen knirschten Glasscherben. Sie musste über umgekippte Tische und Stühle steigen, um die Treppe zu erreichen, doch Emma drehte sich nicht noch einmal zu Logan um. Auf den Treppenstufen lagen alte, zusammengeknüllte Verpackungen und Papiere. Der Boden klebte unter ihren Schuhen, als wäre hier einmal ein Getränk verschüttet worden. Winzige Mäuse, die das Restaurant nun behausten, liefen vor Emma davon und verkrochen sich in Ecken oder hinter umgestoßenen Möbelstücken. Oben angelangt kletterte sie auf einen Tisch, der direkt am Fenster stand, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und richtete dann den Blick nach unten auf die Straße. David würde nicht zurückkommen, das wusste Emma inzwischen. Es würde keiner kommen, um sie mitzunehmen. Ihre einzige Überlebenschance bog gerade um die Ecke in eine Seitengasse ein, die das Mädchen von ihrem Sitzplatz aus nicht mehr überblicken konnte.
Eines dieser Wesen schlich die Straße entlang und verschwand in einem Nebenhaus, ohne Emma in ihrem Versteck zu bemerken. Einige Tauben hatten sich auf dem Dach der Werkstatt zusammengerottet, sich aufgeplustert und so dem Nieselregen getrotzt. Ansonsten geschah nichts. Ihr Onkel war ohne sie weitergezogen, irgendwo aufgehalten worden oder schon längst nicht mehr am Leben und irgendwann würde sich Emma allein auf die Suche nach Nahrung begeben müssen. Tränen schossen ihr in die Augen und leise schluchzend vergrub sie das Gesicht in ihrem Rucksack. Sie fühlte sich einsam und verlassen.
Leise Stimmen rissen sie aus einem wirren, verschwommenen Traum. Mit einem Mal saß sie hellwach aufrecht auf dem Tisch. Irgendjemand war hier und sie würde nicht abwarten, ob sich diese Leute ebenso freundlich verhielten, wie Logan. Wäre sie nicht eingeschlafen, hätte sie vielleicht eine Chance gehabt, sich zu verstecken. Gerade als sie vom Tisch hinunter rutschte und die Toilette mit der Feuerleiter ansteuerte, entdeckte sie zwei Männer in dunklen Westen auf dem Treppenabsatz. Einer von ihnen bedrohte Emma mit einer erhobenen Pistole. »Shit. Ist das… ist sie infiziert?«
Emma schüttelte hastig den Kopf. Reflexartig hob sie ihre Arme in die Luft. »Nicht infiziert. Ich bin ... ich wollte gerade gehen, wenn ihr hier bleiben wollt«, erklärte sie hastig und ihr Blick huschte zur Toilettentür hinüber, die zu weit weg war, als dass sie ein riskantes Fluchtmanöver hätte wagen können.
Der Mann mit der Pistole ließ diese nicht sinken, sondern stieß seinen Begleiter mit dem Ellenbogen in die Seite. »Hol dir den Rucksack, schau was sie sonst noch so dabei hat und dann verschwinden wir. Keinen Bock, dass uns ihre Gruppe oder diese Viecher hier überraschen!«
Emma musste tatenlos mit ansehen, wie der andere der beiden, der eine alte Basecap und eine Anglerweste mit vielen Aufnähern trug, all ihre Habseligkeiten an sich nahm. Mit einem breiten Grinsen öffnete er die Tüte Nüsse, die Logan ihr wenige Stunden zuvor in die Hand gedrückt hatte. Tränen der Wut bahnten sich ihren Weg über Emmas Gesicht, doch sie blieb reglos stehen und sah den beiden Männern dabei zu, wie sie sich darüber amüsierten, eine Zehnjährige beklaut zu haben. Sie brauchte überhaupt nicht erst versuchen, sich ihre Sachen zurückzuholen.
»Nett«, kommentierte der bewaffnete Mann, kippte sich die Hälfte der Nüsse unbekümmert in den Rachen und warf den Rest seinem Kumpel zu. »Hast du noch was für uns?«, fragte er hämisch.
Noch ehe Emma, ohnehin stumm vor Schreck, darauf hätte antworten können, umschlossen seine Finger ihr dünnes Handgelenk und mit einem festen Ruck zog er sie unsanft zu sich. Er fixierte sie mühelos mit einer Hand, während er die andere ungefragt in ihre Hosentaschen steckte, um diese nach weiteren Dingen zu durchsuchen.
»Finger weg von dem Mädchen!« Eine verärgert klingende Männerstimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, ließ alle Anwesenden zusammenzucken. »Sofort!«
Als hätte der Bandit sich an Emmas Arm verbrannt, ließ er das Mädchen schlagartig los und stolperte nach hinten, um sich umzublicken. »Wer… Alter! Keinen Schritt weiter!«, stammelte der zweite. Die Pistole, die gerade noch auf Emma gezeigt hatte, richtete er auf den Neuankömmling. »Ich… ich erschieß dich!«, schwor er, trat zur Seite und endlich erhielt Emma Sicht auf denjenigen, der gekommen war, um sie zu retten. Es war Logan. »Du kennst mich noch nicht, Kleiner. Aber von einem Kind wie dir lasse ich mir ganz bestimmt nichts sagen.«
Ohne sich von der Waffe beeindruckt zu zeigen, erhob er sein Brecheisen und näherte sich mit bedrohlichem Blick. »Eure Rucksäcke und das Mädchen lasst ihr hier, dann nehmt ihr beide eure Beine in die Hand und verzieht euch«, forderte er und Emma konnte sich kaum vorstellen, wie er sich mit seiner Eisenstange gegen zwei Männer mit einer Pistole wehren wollte.
»Alter, ich… ich knall dich gleich ab!«, stotterte der junge Mann abermals, doch Logan schloss zu ihm auf. »Einen Scheiß wirst du!«
Die Eisenstange fiel scheppernd zu Boden. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust. Ohne Vorwarnung rammte er sie dem bewaffneten Mann mitten ins Gesicht.
»Fuck!«, fluchte der andere und schien abzuwägen, ob er seinem Kameraden helfen oder einfach das Weite suchen sollte. Wie ein Boxer im Ring hob er dann doch beide Arme und kassierte ebenfalls einen sehr schmerzhaft klingenden Schlag direkt auf die Nase. Es knackte laut.
Emma wich ein paar Schritte zurück. Während sie noch mit ihrem unregelmäßigen Atem kämpfte, starrte sie Logan fassungslos an, der es irgendwie geschafft hatte, zwei bewaffnete Männer mit seinen bloßen Händen außer Gefecht zu setzen. Fluchend stolperten sie hintereinander nach draußen.
Logans Worte rissen Emma aus ihrer Schockstarre: »Bist du in Ordnung? Haben dir diese zwei Affen irgendetwas angetan?«
»Alles gut. Ich… das war nur ziemlich unheimlich«, gab sie zu, strich sich eine lockere Haarsträhne hinter das Ohr und ging dann in die Mitte des Raumes, um ihren Rucksack aufzuheben. »Ich war übrigens vorher nicht so ganz ehrlich. Mein Onkel ist jetzt schon fast eine Woche weg. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt«, murmelte sie scheu, den Blick gesenkt. Sie traute sich nicht, die Frage auszusprechen, die ihr auf dem Herzen brannte und irgendwie hoffte sie stark, dass er vielleicht einfach von selbst auf die Idee kam, sie mitzunehmen.
Er sagte nichts. Für eine viel zu lange Weile blieb Logan stumm und dann, ohne Vorwarnung, wuschelte er mit der Hand durch ihr Haar. »Ach, Emma«, murmelte er nur gedankenverloren, als würde es ihn irgendwie amüsieren.
Das konnte alles bedeuten. Da eine befriedigende Antwort, sowie das Angebot sie mitzunehmen ausblieb, verharrte sie mit verstrubbelten Haaren einfach an Ort und Stelle. Logan entfernte sich wieder einige Schritte von Emma, um stattdessen in den Rucksäcken zu kramen, die die jungen Männer dagelassen hatten. Eine Dose Bier landete in seinem eigenen Rucksack, ein kleines Taschenmesser und eine Packung Kekse ebenso. Er warf die leere Tasche achtlos in eine Ecke und öffnete die nächste.
In Emma wuchs die Befürchtung, dass Logan kein Interesse daran hatte, sie mitzunehmen. Vielleicht war er nur zufällig vorbeigekommen und hatte eine gute Chance gewittert, sich um neue Vorräte zu bereichern.
Auch aus dem zweiten Rucksack nahm er eine bunte Getränkedose, eine Flasche Wasser, ein Feuerzeug, Zigaretten und eine Dose, deren Etikett sich abgelöst hatte und die daher sowohl leckeren Thunfisch als auch Tierfutter hätte beinhalten können.
Er bedachte Emma mit einem zufriedenen Grinsen, die es gequält zu erwidern versuchte, um sich ihre Traurigkeit nicht anmerken zu lassen.
»So«, sagte er. Auch der zweite Rucksack landete lieblos auf dem Boden und Logan schritt zielstrebig zur Tür, wo er unerwartet stehen blieb, für einen Moment zögerte und sich mit deutlich irritierter Miene zu ihr herumdrehte. »Was ist jetzt? Willst du nicht mitkommen?«, fragte er mit einem matten Lächeln und Emma spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Freundliche Augen, die mit einem Mal alles andere als unheimlich und einschüchternd wirkten, strahlten sie an und Emma fühlte sich endlich nicht mehr allein.
Kapitel 2, Logan
Die vom Regen nassen Klamotten klebten an seinem schmutzigen Körper und die strähnigen Haare kitzelten am Hals. Die Mütze war durchweicht. Er fror. Hätte er nicht jeden Millimeter an Platz in seinem Rucksack für seine besonderen Vorräte benötigt, wäre trockene Wechselkleidung sicher eine sinnvolle Alternative gewesen. Immerhin war er nun nicht mehr allein.
Emma war zwar noch ein Kind, aber ein Mensch, mit dem man sich unterhalten und der ihn ablenken konnte. Jemand, für den es sich lohnte, am Leben zu bleiben. Er hatte nun wieder eine Aufgabe und die Chance, sich selbst zu beweisen, dass er mehr konnte als er im letzten Jahr gezeigt hatte. Er fragte sich, ob er sich egoistisch verhielt. Logan schüttelte unzufrieden den Kopf und versuchte sich stattdessen einzureden, dass er von altruistischen Motiven getrieben wurde. Eine allein reisende Zehnjährige würde nicht lange ohne die Hilfe eines Erwachsenen überleben. Emma war auf ihn angewiesen. Nicht andersherum.
»Wie lange sagtest du, ist dein Onkel schon weg?«, fragte Logan beiläufig und runzelte die Stirn. Emma saß im Schneidersitz auf dem nassen Asphaltboden, die Kappe des grünen Filzstifts im Mund und beschriftete die Innenseite eines leeren Pizzakartons: ›David ich bin bei Logan. Folge der Steinspur. Emma.‹
Sie hielt den Pizzakarton in die Höhe, um das Geschriebene erneut zu lesen, fügte nachträglich ein Komma hinter das Wort ›David‹ ein und grinste stolz. »Falls er doch zurückkommt, muss er sich wenigstens keine Sorgen machen, selbst wenn er die Steinspur nicht findet!«, erklärte sie, ohne auf Logans Frage zu antworten. Das Mädchen klang viel zu vergnügt dafür, dass sie ihren Verwandten vielleicht nie mehr wiedersehen würde und stattdessen einem fremden Mann sonst wohin folgte. »Ist er… habt ihr eine gute Beziehung?«, hakte Logan misstrauisch nach und beobachtete mit der angstvollen Miene eines besorgten Vaters Emma dabei, wie sie unbeholfen mit einem Stein den Pizzakarton gegen einen Holzpfahl nagelte.
»Jetzt werde ich einfach alle paar Meter einen kleinen Steinhaufen bauen und dann hab ich alles getan, was in meiner Macht steht. Stimmt’s?«
Wieder wurde seine Frage einfach ignoriert. Durch die Art und Weise, auf die sie es sagte, wirkte es beinahe so, als würde sie mit dieser Aktion nur einer lästigen Pflicht nachkommen.
Anstatt sie weiter auszufragen, ließ Logan seinen Blick über die Umgebung schweifen. Mitten auf dem Platz stand es da, einsam, verlassen und schien geradezu danach zu schreien, dass Logan einstieg und einfach damit davonfuhr: Ein Feuerwehrauto. Der dazugehörige Schlüsselbund lag direkt auf dem Fahrersitz. Konnte es ein Zeichen dafür sein, dass seine Pechsträhne, die schon lange vor dem Ausbruch der weltweiten Katastrophe begonnen hatte, nun endlich ein Ende fand? Nach Tagen der von Sinnlosigkeit und Selbstmitleid getränkten Einsamkeit war Emma die erste gesunde Überlebende gewesen, die er getroffen hatte und der noch nicht jeglicher Funke von Menschlichkeit verloren gegangen war. Irgendwie fühlte es sich wie eine wichtige Aufgabe, beinahe wie eine Berufung an, das fremde Kind zu retten und am Leben zu erhalten. Das zierliche Mädchen mit dem unordentlichen Pferdeschwanz und den braunen Augen, die ihn an ein verschrecktes Rehkitz erinnerten, hatte sich längst einen Platz in seinem Herzen erschlichen. Konnte das ein Weckruf sein? Die Chance, alles wiedergutzumachen und sich zu beweisen, dass er noch immer ein Mann war, der mehr konnte als das, was er im vergangenen halben Jahr angerichtet hatte?
Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Er würde losfahren, alles hinter sich lassen und mit dem fremden Mädchen zusammen neu anfangen. Er wollte das eben gedachte Gerade in die Tat umsetzen und in das Führerhaus einsteigen, als ihn ein Klopfen aus dem Inneren des Wagens aufschrecken ließ.
»Logaaaan«, formten die kleinen Lippen seinen Namen. Emma presste ihre Nase fest gegen die Fensterscheibe.
»Ich fass es nicht, Emma! Wie zum Teufel bist du da rein gekommen?«, fuhr Logan sie aufgebracht an und konnte sich selbst nicht so richtig erklären, wieso ihn das so wütend machte.
»War nicht abgeschlossen!«, vernahm er die gedämpfte Kinderstimme und Emma kurbelte die Scheibe nach unten.
»Du kannst doch nicht einfach in das Fahrzeug steigen, ohne mich vorher überprüfen zu lassen, ob es sicher ist!«, warf er ihr vor, doch Emma zuckte nur unbekümmert mit den Schultern.
Mit ausgestrecktem Daumen deutete sie hinter sich. »Boah, hier drinnen sind mindestens hunderttausend Zigarettenschachteln, ehrlich!«, bemerkte sie mit kindlichem Vergnügen.
Logan schüttelte fassungslos den Kopf, entschied sich jedoch dagegen, eine Grundsatzdiskussion zu beginnen. »Klingt, als würde hier jemand wohnen. Wir sollten besser zusehen, schnell von hier zu verschwinden, bevor uns jemand unser neues Zuhause wieder streitig macht.«
»Stimmt«, erklang eine fremde Stimme hinter ihnen. Logan schrak zusammen, das Herz sank ihm irgendwo weit in die Knie hinunter, die Nackenhaare stellten sich auf.
Der Fremde klang nicht wütend, aber bestimmt. »Das ist mein Feuerwehrauto.«
Es war die Stimme eines großen Kampfhundes, der es nicht nötig hatte, wie ein junger Welpe zu kläffen, weil er wusste, dass er den Gegner mit nur einem gezielten Biss töten konnte.
Ein Alphatier. Logan kannte diese Art von Menschen. Jene, die entweder Schwerverbrecher oder Polizeibeamte wurden; Hauptsache sie konnten sich vor anderen profilieren, die Muskeln spielen lassen und sich hart und hemmungslos prügeln. Logan kannte solche Menschen gut genug, denn wenn er es darauf anlegte, gehörte er selbst zu ihnen.
Langsam drehte er sich um. Der Mann, der ihm nun erschreckend nah gegenüber stand, kam der Gestalt recht ähnlich, die Logan der Stimme im Kopf bereits zugeordnet hatte. Er war von großer Statur und in etwa in Logans Alter, was man seit der neuen Zeitrechnung jedoch nicht mehr so genau sagen konnte. Ungepflegter Haarwuchs und Dreck im Gesicht ließen so ziemlich jeden älter aussehen.
»Komisch«, erwiderte Logan, noch immer beflügelt von der letzten Auseinandersetzung, aus der er als Sieger hervorgetreten war. Er durfte nicht blinzeln, nicht nach unten sehen. Hunde wie er konnten Schwäche riechen. »Du siehst nämlich gar nicht aus wie ein Feuerwehrmann. Eher wie so ein verhätschelter und von Daddy geförderter BWL-Student oder ein frustrierter Staubsaugerverkäufer. Quasi der Lauch unter dem Gemüse.«
Nichts davon stimmte, denn eigentlich glich der Fremde eher dem Klischee des Anführers einer brutalen Motorradgang, doch Logan wollte ihm unter keinen Umständen auch noch schmeicheln. Das war keine andere Begegnung als jene, die er aus den Kneipen kannte. Nichts weiter als die Reviermarkierung, bei der sich einer behauptete und dem anderen eine bittere Lektion erteilt wurde. Logans Blick glitt zur Schusswaffe am Gürtel des anderen.
Mit einem schiefen Grinsen nickte er dem Fremden zu. »Tja, wie lösen wir das Dilemma nun? Ich bin unbewaffnet. Du könntest mich also einfach erschießen und das Ding gehört dir«, stellte er mit kühner Stimme klar und trat wagemutig einige Schritte auf den Mann zu. »Oder wir klären das wie früher auf dem Schulhof, der Kneipe oder… dem Knast? Du warst sicher schon im Knast«, sagte Logan abschätzend und stellte zufrieden fest, den anderen provoziert zu haben. »Na, was sagst du, Feuerwehrmann Sam? Siehst nicht so aus, als hättest du den Mumm in den Knochen, die Sache wie ein richtiger Mann zu klären.«
Der Fremde schloss kurz die Augen. Er grinste ruhig, ehe seine Faust Logan hart im Gesicht traf. Logan taumelte zurück. Er schmeckte Blut und doch blitzten seine Augen voller Vorfreude glühend auf.
»Ich hab gehofft, dass du dich so entscheidest.«
Mit einem verwegenen Grinsen wischte sich Logan mit dem Handrücken über die blutende Lippe. Es stand also fest: Er würde sich mit dem schweigsamen Fremden um das Auto prügeln.
Letzte bedrohliche Blicke wurden ausgetauscht und schließlich hob auch Logan die Fäuste. »Schluss mit dem Kindergarten.«
Logan spuckte auf den Boden, dann holte er aus. Eiskalt und mit aller Kraft schlug er zurück. Wieder und wieder.
Dem ersten Konter wich er aus. Unter einem Schwinger gelang es ihm erfolgreich sich wegzuducken. Der dritte Schlag ging hart durch, er spürte seine Nase knacken. Logan riss den Fremden zur Seite, in dem Versuch, ihn niederzuwerfen. Seine Gedanken verschwanden und irgendwann beherrschten nur noch blinde Wut und Kampfesrausch seine Bewegungen.
Wieder schlug er zu. Wieder zerrte er an der Lederjacke seines Gegners und riss ihn schließlich zu Boden. Es war eine Prügelei, die eigentlich mit Zurufen, Schreien und Gejohle hätte angefeuert werden müssen, doch man hörte nur das Kreischen und Knurren der infizierten Bestien, die sich hinter einem entfernten Zaun versammelt hatten und sich schon auf die Reste desjenigen freuten, der in diesem Kampf der Unterlegene sein würde.
Sie rangen am Boden, wie zwei Hunde, die sich festgebissen hatten. Für einen Augenblick sah sich Logan schon sicher als Sieger hervorgehen, als es ihm gelang den Fremden auf den Rücken zu werfen. Triumphierend rammte er seine Faust in dessen Gesicht.
Er sah das Blut seines Gegners spritzen. Er spürte die Knochen unter seinen Knöcheln knacken. Dann warf ihn der andere mit einer bärenartigen Kraft, auf die Logan bei weitem nicht vorbereitet gewesen war, einfach so von sich. Logans Hinterkopf donnerte auf den Asphalt. Sein Blick trübte sich. Ein leidendes Stöhnen entwich ihm. Der andere Mann setzte sich auf seinen Brustkorb und schlug ihm erneut ins Gesicht. Logan keuchte vor Schmerzen. Etwas in ihm wollte laut schreien, den anderen anflehen damit aufzuhören, es zu beenden, er wollte betteln, aufgeben. Er bekam keine Luft mehr, doch der andere hatte kein Erbarmen. Alles um ihn herum wurde schwarz.
Grelles Weiß flutete alles um ihn herum. Gestalten. Eindrücke. Schritte. Stimmen. Schreie. Erst langsam setzte sich alles wie ein Mosaik zusammen und ergab ein Bild: Eine dunkle Gestalt kauerte in der Ecke, die Arme schützend um sich geschlungen. »Ich erkenne dich nicht wieder!«, schrie sie unter verzweifeltem Schluchzen. Ein unflätiges Grunzen, gefolgt von einem grausamen Lachen dröhnte in seinen Ohren. War es sein eigenes? »Lass… lass mich!«, wimmerte die Frau schwach. »Bitte, Logan.«
Er trat zu. Sie schrie auf. Er packte sie an ihrer Bluse. Sie hörte nicht auf zu schreien. Die Bluse riss ein.
»Dad? Hör auf damit!«
Er ließ ab, blickte sich um. Ein Junge. Tränen auf seiner Wange, Wut in den geröteten Augen. Entsetzen stand auf seinem Gesicht. Er wich vor Logan zurück.
»Verschwinde!« Die Frauenstimme brach in ihrem eigenen Schluchzen ein. »Du bist kaputt. Verschwinde, Logan!«
Wut stieg in ihm auf. Rasende, unbeherrschte Wut. Wieder schlug er zu. Die vielen Stimmen in seinem Kopf schrien nun wild durcheinander: Da war die der Frau, die am lautesten fluchte und ihn mit allerlei Schimpfworten bedachte. Ein kleines Mädchen weinte verzweifelt. Der blonde Junge lachte, er hatte ein Baseballspiel gewonnen.
Paul, sein Freund aus der Kneipe, lachte auch, aber anders. Dreckiger. Sie hatten es dem Schmarotzer im Hintergarten gezeigt, der die Zeche prellen wollte. Sein wutentbrannter Chef kündigte ihm laut vor allen Kollegen. Berauscht von Glückseligkeit grölte sein Bruder die Texte von Kurt Cobain durch die Nacht.
Ein weiteres Mädchen kam hinzu. »Danke«, hauchte sie leise. Logan konnte die Stimme nicht zuordnen, sie kam ihm nicht so vertraut vor, wie die vorherigen.
Unter seinem Körper ruckelte es. Die Stimmen wurden erst lauter, dann leiser und schließlich abgelöst von dem Geräusch eines Fahrzeuges, das laut und rücksichtslos über eine holprige Straße donnerte. Logan konnte seinen Körper nicht bewegen, er spürte ihn kaum mehr. Sein trockener Hals tat weh. Sein Gesicht schien in Flammen zu stehen. Arme, Beine und Augenlider waren schwer wie Blei.
»Logan«, flüsterte die Kinderstimme, die in seinem Kopf gerade noch undeutlich und verworren geklungen hatte und nun ein plastisches, echtes Gesicht erhielt, das ihn überglücklich anlächelte. »Alles okay, wir sind sicher.«
»Nora?«, keuchte er leise, die Lippen zu einem schwerfälligen Lächeln gebogen.
»Nein, Emma!«, erwiderte das Mädchen glücklich und strahlte über das ganze Gesicht. Logan hob den Kopf einige Zentimeter und ließ ihn gleich wieder unter schmerzerfülltem Stöhnen zurück auf den Sitz fallen. Die Erinnerung an das, was vor einigen Minuten – oder vielleicht waren es auch Stunden – passiert sein musste, überrollte ihn jäh wie ein Eisenbahnwaggon, beziehungsweise ein nicht zu stoppendes Feuerwehrauto.
»Emma!«
Er hatte sich geprügelt. Er hatte sich mit dem Typen mit dem bedrohlichen Blick die Köpfe eingeschlagen. Er hatte hart ausgeteilt, doch noch härter eingesteckt. Er hatte verloren. Sein Blick und seine Gedanken fanden zurück zu Emma. Es machte keinen Unterschied, wie es Logan ging. Es kümmerte ihn nicht, dass man ihn gerade vorgeführt und in seinem Stolz verletzt hatte. Emma lebte noch.
»Geht es dir gut? Hat der Kerl dich in Ruhe gelassen?«
Mit einem Mal hellwach, vergaß Logan für einen Augenblick die sengenden Schmerzen. »Geht es dir gut?«, wiederholte er sich, überrascht davon, dass Emma gesund und munter vor ihm stand, während er selbst doch fast das Leben gelassen hatte. Das kleine Mädchen biss sich auf die Unterlippe. Einen Moment lang sah sie Logan an, dann ergriff sie seine Hand und drückte diese vorsichtig. »Ich dachte du wärst tot«, wisperte sie. In ihren Augen stand schwere Sorge. »Mit mir ist alles okay. Ich habe geschrien und dann hat er aufgehört, dich zu schlagen. Als er gesehen hat, dass wir zusammengehören, hat er uns alle in Sicherheit gebracht.«
Sie warf einen flüchtigen Blick nach vorne in das Führerhaus des Feuerwehrautos. Logan lachte leise. Es war ein komisches Gefühl, zu hören, dass es noch jemanden auf dieser Welt gab, der sich um ihn sorgte. Kurz glitten seine Gedanken zurück zu seinem Alptraum, der sich ständig wiederholte und der einfach nicht verschwinden, ihn einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Logan hatte ihn satt. Unzufrieden griff er nach seinem Rucksack, der direkt neben dem Sitz lag. Es befand sich noch eine unangebrochene Flasche Whiskey darin. Genau das, was er jetzt brauchte. Vielleicht würde er so das Eis zwischen ihm und dem Fahrer brechen können. »So schnell sterbe ich dir nicht weg, Kleines«, versprach er mild lächelnd. Der altvertraute Geschmack der Sorglosigkeit, des Vergessens und der Freiheit, der im Moment des größten Kummers die einzig verlässliche Wohltat schuf, rann Logans Kehle hinab. Er nahm einen weiteren, großzügigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken erst über den Mund, dann über die Augen. »Entschuldige mich kurz, Emma. Ich muss mal mit dem Fahrer reden.«
Sein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht. Die Beine schmerzten bei jedem Schritt und Logan vermutete, dass einige Rippen gebrochen waren. Der Kerl hatte ihm ordentlich eingeschenkt. Ohne etwas zu sagen, hievte er seinen schmerzenden Körper nach vorne, ließ einen Platz in der Mitte frei und setzte sich auf den äußeren Beifahrersitz direkt am Fenster. Er sah den Fremden nicht an. Stattdessen betrachtete er die Straße vor ihnen, die im warmen Sonnenuntergang zu enden schien. »Dein Feuerwehrauto also, hm?«, fing er das Gespräch an, lachte leise auf und nahm erneut einen Schluck Whiskey. »Logan Parker«, stellte er sich knapp vor, weiterhin ohne den anderen anzusehen. »Da hast du mir wohl ’ne ordentliche Lektion erteilt.«
Das Revier war abgesteckt und Logan akzeptierte es fürs Erste. »Auch?«, fragte er abwesend und hielt dem Fahrer auffordernd den Alkohol entgegen. Der andere hielt die Augen starr nach vorne gerichtet, sein Fuß drückte das Gaspedal durch. Erst nach einigen Sekunden des Zögerns nahm er die Flasche entgegen. Schweigend setzte er sie an die Lippen, nahm zwei große Schlucke und reichte Logan die Flasche.
»Du bist nicht so der Gesprächige, was?«, fragte Logan und lachte unter den stechenden Schmerzen in seinem Brustkorb auf. Er trank einen kräftigen Schluck, dann gab er die Flasche wieder zurück.
»Jacob Mitchell«, stellte sich der Fahrer schließlich knapp vor. Logan grinste verwegen. »Jake also. Klingt gar nicht nach einem brutalen Totschläger.«
Er fuhr sich mit dem Handrücken über sein geschundenes Gesicht, während Jake sich weiterhin wortlos und gleichgültig gab. »Tja, so läuft es eben«, sinnierte Logan nachdenklich und endlich tat der Alkohol sein Werk, das Brennen in Gesicht und Magengegend zu betäuben. »Kannst mir nicht erzählen, dass du noch nie auf die Fresse gekriegt hast.«
Wieder kam Logan der Gedanke, der ihm bereits unmittelbar vor dem Kampf durch den Kopf geschossen war: Ob Jake schon einmal eingesessen hatte?