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Kai-Holger Brassel

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Beschreibung

+++ Ausgezeichnet mit dem SERAPH 2025 für den besten Independent-Titel in der fantastischen Literatur +++ Nominiert für den Krefelder Preis für Fantastische Literatur +++ Im Jahr 2084 ist der Kampf gegen den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen so gut wie verloren. Nur wenige Eingeweihte wissen von der Gefahr, die der Erde noch aus einer ganz anderen Richtung droht. Wenn aber ein kluger Slumbewohner, eine temperamentvolle Umweltschützerin und ein visionärer Systemwissenschaftler zusammenkommen, kann zweimal Minus tatsächlich ein großes Plus ergeben. Mit strategischem Geschick, viel Rechenzeit und der Hilfe eines kleinen Mädchens namens Celeste beginnt der große Umschwung. Aber auch Celeste muss erwachsen werden, und keine Utopie ist perfekt. Die Spannungen zwischen den Generationen wachsen und »Innere« stellen sich gegen »Äußere«. Sind die Maschinellen, die nicht mehr länger nur im Hintergrund wirken, Teil der Lösung oder Teil des Problems? Celeste und ihre Verbündeten jedenfalls setzen alles daran, den hohlen Versprechungen eines vergangenen Fortschritts neue, verheißungsvolle Horizonte entgegenzusetzen. Ein politischer und inspirierender Zukunfts- und Ideenroman für alle, die gerne größer (und langsamer) denken. "Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, vielleicht auch, weil es in unserer dystopisch anmutenden Welt gerade nicht so viele Anknüpfungspunkte für Hoffnung gibt. Utopien können daher sicher für einen Trend stehen." — Zitat eines Jury-Mitglieds in der Laudatio zum SERAPH 2025 "Das Buch All An ! ist meines Wissens mit keinem anderen Buch vergleichbar. Hier wird eine Welt in Zukunft gezeigt, wie sie sein kann. Welche Anstrengungen die Menschheit aufbringen muss." — Herbi-G auf LovelyBooks

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Seitenzahl: 673

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Prolog

Teil I  Umschwung

1  Lage

2  Reaktionen

3  Himmel und Hölle in Bewegung

4  Die Erde dreht sich weiter

5  Ablenkungen

6  Hölle im Himmel

7  Ganz schlechtes Klima

8  Metamorphose

9  Aufstand der Vernünftigen

10  Gleichgewicht

Teil II  Drift

11  Star

12  Aufbruch in die weite Welt

13  Gründerzeit

14  Intelligenz muss wachsen

15  Der letzte Mensch auf dem Mars

16  Giant Scalable Telescope

17  Neuer Lebensraum

18  Abgesang

Teil III  Zukünfte

19  Zerfallserscheinungen

20  Stein des Anstoßes

21  Tankstelle

22  Kulturkampf

23  L2 Erde-Sonne Rendezvous

24  Tommaso

25  Das holografische Prinzip

26  Eine neue Epoche

27  Wo sind nur alle?

Epilog I

Epilog II

Danksagung, Info

Orientierungsmarken

Contents

Start of Content

Cover

Prolog

März 2084

Der alte Mann trat auf seinen kleinen Balkon und genoss die gewaltigste aller optischen Täuschungen: den Sonnenuntergang. Mit geübter Leichtigkeit veränderte er seine Sicht auf die Welt. Schien die Sonne sich gerade noch sanft auf den Horizont zuzubewegen, hielt sein Verstand sie im nächsten Augenblick fest, machte sie zu dem Fixstern, der sie war, und ließ jetzt den Horizont, der seinen Blick so verlässlich gehalten hatte, ihr entgegenstreben. Und wenn der Horizont auf der einen Seite emporstieg, musste er auf der anderen Seite nach unten sinken. Die Weltbühne dazwischen wurde zum Karussell, und er sah, wie die Erde sich drehte.

Ein Zwinkern: Der Horizont stand wieder still, und es war die Sonne, die sank. Er hielt sein Gesicht in ihre letzten Strahlen. Mit ihrer wohligen Wärme durchströmte ihn zugleich ein Gefühl von Dankbarkeit, dem er sich eine Weile überließ.

Sein Leben war kein Großes oder Besonderes gewesen, aber er hätte es nicht gegen ein anderes eintauschen wollen. Wie viele seiner Generation waren er und seine Frau, die schon lange nicht mehr lebte, kinderlos geblieben. Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt, die ihnen alle Energie und Lebenskraft abverlangt hatte. Schließlich waren es die um die Jahrtausendwende Geborenen, die das Licht der Zivilisation durch das dunkle 21. Jahrhundert tragen mussten. Rückblickend war er schon auch stolz auf das, was sie geleistet hatten.

Andererseits …

Der Schatten der gegenüberliegenden Häuser legte sich langsam auf sein Gesicht und ein kleines »Aber« schlich sich in seine Gedanken. Wenn er sich damals anders entschieden hätte – wer weiß?

Schon bald würden die Sterne herauskommen. Er rechnete kurz. Es lag nun fast zweiundsiebzig Jahre zurück, dass ihm seine Eltern zum zwölften Geburtstag am 5. Juni 2012 ein Teleskop geschenkt hatten, einen einfachen Refraktor mit äquatorialer Montierung und sechs Zentimeter Öffnung. Den ganzen Nachmittag hatte er mit wachsender Spannung die Anleitung gelesen und das Instrument mit der Hilfe seines Vaters aufgebaut. Dann waren sie auf die Dachterrasse gegangen und hatten sich die entfernte Landschaft herangeholt.

Wie groß war die Enttäuschung im ersten Augenblick gewesen, als er durch das Okular geschaut und Bäume und Häuser auf dem Kopf hatte stehen sehen. War das Teleskop etwa kaputt? Sein Vater schüttelte lächelnd den Kopf, erklärte ihm den Strahlengang und dass es in der Astronomie unwichtig sei, wie herum man die Dinge sehe, da es im Weltall kein Oben und Unten gebe. So richtig verstand er ihn allerdings erst nach dem Essen, als sie noch einmal ins Freie gingen, um das Teleskop auf den Mond zu richten und mit den Augen minutenlang auf ihm spazieren zu gehen.

Aber das Allerbeste sollte erst noch kommen. Am nächsten Morgen weckte ihn sein Vater schon um halb sechs in der Früh und sie gingen mit einer heißen Tasse Kakao in den Händen wieder auf die Terrasse. Die Sonne stand knapp über dem Horizont und es herrschte eine ganz besondere Stimmung, so ruhig und geordnet. Nachdem sein Vater gewissenhaft den Sonnenfilter an das Okular geschraubt, das Teleskop auf die Sonne ausgerichtet und das Bild scharf gestellt hatte, durfte er hindurchschauen.

»Was erkennst du?«, hatte sein Vater ihn gefragt.

»Eine große, gelbe Scheibe mit einigen grauen Flecken … und ziemlich nah am Rand einen ganz runden schwarzen Fleck.«

»Die grauen Flecken sind so etwas wie magnetische Wirbelstürme in der Sonnenatmosphäre. Aber was, glaubst du, ist der runde Fleck?«

»Weiß nicht.«

»Es sind keine Wolken in Sicht. Lass uns in einer Viertelstunde noch einmal nachschauen.«

Sie plauderten etwas, tranken ihren Kakao und sahen zu, wie die Sonne langsam den Himmel hinaufstieg. Als die Zeit um war, hatte er selbst das Teleskop neu ausrichten und als erster hindurchschauen dürfen. Er hatte angestrengt in das Okular gestarrt und dann aufgeregt gerufen: »Ich glaube, der runde Fleck hat sich bewegt. Er ist jetzt ganz am Rand. Was kann das sein?«

»Das ist die Venus, ein Planet, der genau wie unsere Erde um die Sonne kreist. Nur ist sie dabei der Sonne näher als wir. Ich habe sie dir schon einmal als hellen Abendstern gezeigt, weißt du noch? Wie du siehst, läuft sie aber jetzt gerade direkt vor der Sonne entlang. Bitte schau genau hin. Wir werden das nie wieder sehen können, denn das nächste Mal passiert das erst in über einhundert Jahren.«

Als wäre es gestern gewesen, spürte er erneut dies erhebende Gefühl der Einsicht, das ihn damals überkommen hatte, als sich die Worte des Vaters mit dem Bild vor seinen Augen verbanden. In seinem Kopf hatte es Klick gemacht. Bis dahin hatte er den Himmel immer wie eine riesige gewölbte Leinwand gesehen, auf der die Gestirne – von unsichtbaren Fäden gezogen – umherliefen. Doch in diesem Moment sah er plötzlich in den Weltraum hinein. Er begriff, dass alles so viel gewaltiger und großartiger war, als es schien. Die Faszination dieser neuen Perspektive hatte ihn nie mehr losgelassen.

Die Sonne war mittlerweile ganz hinter den Häusern verschwunden, und ihn fröstelte. Er drehte sich um und ging wieder in seine Wohnung zurück. In letzter Zeit fragte er sich häufiger, ob er nicht doch lieber Astrophysik studieren und sein Hobby zum Beruf hätte machen sollen. Das war das »Aber«, das ihn so manche Nacht erst spät einschlafen ließ. Andererseits wusste er: Die Zeiten waren nicht so gewesen.

Wie auch immer, nun im Alter konnte er seinem Hobby mehr denn je frönen, obwohl er inmitten einer nachthellen Stadt wohnte und sein altes Teleskop schon längst zu Bruch gegangen war. Heutzutage gab es schließlich ganz andere Möglichkeiten, um in die Weiten des Weltalls zu blicken. Die Laserteleskope, Radaranlagen, Raumsonden und sonstigen Gerätschaften der großen internationalen Institute lieferten Unmengen von Daten, von denen nur ein Bruchteil durch professionelle Wissenschaftler und KIs analysiert und visualisiert werden konnten. Der ganze Rest stand akkreditierten »Citizen-Scientists« wie ihm zur freien Verfügung.

Voller Vorfreude öffnete er die Tür zur Dunkelkammer. So nannte er sein kleines 3D-Zimmer im Stillen, weil es ihn an die Ursprünge der Fotografie erinnerte. Das Bild, das man sich damals vom Universum machte, musste den stundenlang am Teleskop belichteten Platten und Filmen erst durch chemische Prozesse abgerungen werden, die im Dunkeln stattzufinden hatten. Er fand die Vorstellung witzig, dass er in diesem Raum eigentlich dasselbe tat, nur eine Trillion mal schneller und genauer.

Manchmal benutzte er diesen Raum wie andere Leute einfach dazu, sich in interaktiven 3D-Geschichten oder Shows zu verlieren, doch meist interessierte ihn die Wirklichkeit viel brennender – alles das, was dort draußen tatsächlich geschah. Und damit meinte er nicht sein Stadtviertel oder irgendetwas anderes auf unserem Globus. Er ließ sich in seinen dreh- und schwenkbaren Sessel nieder, setzte die 3D-Brille auf und sprach die Losung, die er sich selbst ausgedacht hatte.

»Weltall an!«

Sein digitaler Gehilfe reagierte sofort und versetzte ihn in einen Bereich des Kuipergürtels, dessen Beobachtung er beim letzten Mal nicht abgeschlossen hatte.

Die meisten Citizen-Scientists interessierten sich für die großen kosmologischen Fragen und Zusammenhänge und damit auch für die ganz großen Skalen, die in Milliarden von Jahren und Lichtjahren gemessen werden. Schon weniger Forscher beschränkten ihr Interesse auf unsere Galaxie, die einhunderttausend Lichtjahre durchmessende Milchstraße, mit ihren etwa zweihundert Milliarden spiralförmig angeordneten Sternen, den Nebeln und Staubwolken und dem gigantischen schwarzen Loch in der Mitte. Noch weniger, es mochten vielleicht einige tausend Hobby-Wissenschaftler sein, widmeten sich ihrer kosmischen Heimat, dem Sonnensystem. Aber die Allerwenigsten kannten sich mit seinem Steckenpferd, dem Kuipergürtel, aus. Dieser besteht aus Millionen großer und kleiner Gesteins- und Eisbrocken, die bei der Entstehung des Sonnensystems übrig geblieben sind und die Sonne jenseits der Umlaufbahn des Neptun langsam umkreisen. Was diese Objekte für ihn so interessant machte, war die Tatsache, dass aus ihren Reihen bisweilen ein neuer Komet entspringt, um sich auf seinen langen Weg ins Innere des Sonnensystems zu machen. Insgeheim wünschte er sich, einen solchen Kometen als Erster zu entdecken und ihm dafür einen Namen geben zu dürfen.

Aber erst einmal genoss er die Aussicht. Als hellsten Stern erkannte er die Sonne in einer Entfernung von etwa dreiundvierzig Astronomischen Einheiten. Das bedeutete, dass sein jetziger virtueller Standort ungefähr dreiundvierzig Mal so weit von der Sonne entfernt war wie die Erde. Das war zwar ganz schön weit draußen, und dennoch war hier eine Menge los. Wenn er seinen Stuhl drehte und neigte, sah er um sich herum Hunderte Objekte im Raum schweben, die allerdings stark vergrößert dargestellt und künstlich erhellt werden mussten, damit er sie wahrnehmen konnte. Wann immer er eine Richtung etwas länger fixierte, erschienen dort die Bahnen der Objekte, die sie über die letzten zwei Wochen hinweg genommen hatten. Auf diese Weise hielt er eine Weile Ausschau nach ungewöhnlichen Bahnverläufen, konnte aber wie üblich nichts Auffälliges entdecken. Nun ja … ein Amateurastronom, der keine Geduld aufbrachte, war keiner.

Eine gute Stunde verging. Mit flinken, lang eingeübten Bewegungen markierte er den nächsten Bereich des Raums, den er sich genauer anschauen wollte. Es war bereits kurz vor zehn Uhr und sein Rücken schmerzte, doch diesen Sektor wollte er noch durchmustern.

»Spiele Kometenmelodie von Kraftwerk«, wies er seinen Gehilfen an. Mit der Musik wollte er sich noch einmal aufmuntern. Der Titel war vielleicht etwas kitschig, aber er liebte die Klassiker, und dieser passte nun mal genau zu dem, was er gerade tat. Er ließ sich von den sphärischen Klängen tragen und genoss das Machtgefühl, mit einem Wimpernschlag Millionen von Kilometern durchmessen zu können. Das Lied war beinahe zu Ende, da mischte sich ein Warnton in die letzten Akkorde und ein rotes Blinklicht erschien zu seiner Linken.

»Anomalie entdeckt!«, meldete sein Gehilfe, der wie immer seine überschüssigen Rechenkapazitäten dazu benutzt hatte, nach auffälligen Mustern in den Bahndaten zu suchen. Bereits vor Jahren hatte er seine neuronalen Netze speziell für diesen Zweck trainiert.

Er blickte auf die markierte Stelle und sah … gar nichts.

»Vergrößern! … Noch einmal!« Aber beim besten Willen, da war nichts. Er hätte natürlich fragen können, doch wenn da nichts war, so musste eben genau das die Anomalie sein oder andersherum: Irgendetwas sollte sich an der markierten Stelle befinden. »Standardmaßstab, und eine Woche zurück!«, lautete seine nächste Anweisung. Buchstäblich aus dem Nichts tauchte ein kleiner Brocken, vermutlich aus Eis und Gestein, in der Nähe des roten Blinklichts auf. »Was ist das denn?« Er richtete sich kerzengerade auf, seine Rückenschmerzen waren verschwunden.

Die Frage war rhetorisch gemeint, doch der Gehilfe nahm sie wörtlich und antwortete: »Das fokale Objekt ist QA2079-R57-2602077, ein vor fünf Jahren und zwei Monaten zum ersten Mal registriertes CKBO, also ein Classical Kuiper Belt Object.«

»Ich weiß, was ein CKBO ist! Vorlaufen lassen und sämtliche Beobachtungen markieren!«

Alle Bewegungen, die er in der Dunkelkammer sah, wurden aus Beobachtungen interpoliert, die für jeden Raumsektor, meistens im Abstand einiger Stunden oder einiger Tage, angestellt wurden. So driftete QA2079-R57-2602077 nun langsam auf das rote Blinklicht zu, dem Ort, an dem es sich jetzt eigentlich hätte befinden müssen. Das Objekt hinterließ dabei eine virtuelle Perlenkette, wobei jede dieser Perlen für eine Beobachtung stand. Dann verschwand es.

»Stopp!« Er starrte das rote Licht an, das an genau der Stelle vor sich hin blinkte, wo man die nächste Perle erwartet hätte. Zwischen diesen beiden Beobachtungen, also genau genommen seit der letzten Beobachtung und der darauf folgenden Nicht-Beobachtung, lagen nur etwa acht Stunden. In dieser Zeit musste diesem unscheinbaren CKBO etwas zugestoßen sein.

Angesichts seiner verkrampften Haltung meldeten sich seine Rückenschmerzen mit Macht zurück. Ächzend stand er auf und ging ratlos um das rote Blinklicht herum, bis er die Sonne dahinter sah. Das Wort »zugestoßen« schwirrte noch in seinem Kopf herum. Genau wie damals an seinem zwölften Geburtstag verschmolzen Wort und Bild erneut auf geheimnisvolle Weise zu einer Ahnung von etwas Bedeutsamen.

»Auf die Sonne zubewegen, zehntausend Kilometern pro Sekunde! Die Bahnen aller Objekte für die letzten zwei Wochen anzeigen!« Die Szenerie um ihn herum setzte sich zunächst langsam in Bewegung, um keine Übelkeit zu verursachen. Aber schon bald flog er zügig durchs All auf die Sonne zu und sah vor sich immer wieder neue Objekte auftauchen, die ihren Bahnkurven zufolge mehr oder weniger gemächlich quer zu seiner Flugrichtung liefen. Nach einer Weile tauchte in der Ferne ein Objekt auf, für das seltsamerweise keine Bahnkurve angezeigt wurde. Eine grüne Markierung erklärte, warum. Es handelte sich um eine Erstbeobachtung! Dieses Objekt war neu, war laut Katalog erst vor etwas mehr als einer Stunde registriert worden. Über seine Größe und Masse war noch nichts bekannt.

Was aber, wenn … Seine Gedanken überschlugen sich.

Konnte es sein, dass dieser Neuling für das Verschwinden des CKBOs verantwortlich war? Dass er es wortwörtlich vom Himmel geholt hatte? Wenn dem so wäre, müsste er erstens ganz schön schnell unterwegs sein, denn sonst wäre er noch nicht so weit gekommen. Woraus zweitens folgte, dass es sich um ein sehr schweres Objekt handeln musste, andernfalls wäre es bei der angenommenen Kollision selbst zerstört worden. Spannend! Könnte dies vielleicht die erhoffte Beobachtung sein, mit der sein Name Eingang in die Annalen der Astronomie finden würde?

Er begann zu rechnen.

Zwanzig Minuten später notierte er einen Durchmesser des Körpers, der, je nach Zusammensetzung, zwischen zwölf und zwanzig Kilometern lag, und dachte: Wow, das ist ein dicker Brummer!

Beiläufig gab er das finale Kommando: »Vergangene und zukünftige Flugbahn des neuen Objekts anzeigen! Draufsicht gesamtes Sonnensystem! Flug animieren!«

Er hob den Blick von seinen Notizen und betrachtete neugierig die sich vor ihm entfaltende Szenerie. Wenn er mit seinen Vermutungen und Berechnungen recht hatte, dann kam der Neuling entweder von weit draußen aus der Oort’schen Wolke oder war sogar einer jener seltenen Besucher, die aus einem anderen Sternensystem stammten. Im ersteren Fall hätte er einen Kometen entdeckt, der wahrscheinlich mehrere tausend Jahre für einen Umlauf auf seiner extrem lang gezogenen elliptischen Bahn bräuchte. Im zweiten Fall würde das Objekt auf einer hyperbolischen Bahn an der Sonne vorbeirasen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Die Bahn wurde angezeigt – ganz klar eine Hyperbel. Das war fantastisch. Bisher waren überhaupt nur etwa ein Dutzend solcher extra-solaren Besuche bekannt.

Die Animation begann und zeigte, wie der Besucher vor vier Monaten in den Kuipergürtel eingeflogen war, wie er dann den bedauernswerten QA2079-R57-2602077 aus dem Weg geräumt hatte und nun auf dem Weg zur Sonne war. Mit einer Handbewegung beschleunigte er die Animation, mit einer anderen zoomte er das innere Sonnensystem näher heran … Und schluckte. Die Bahn des Besuchers kreuzte genau die Erdbahn.

»Nein, bitte nicht!«, entfuhr es ihm. Gebannt sah er dem Spiel der Kräfte zu. Bei der eingestellten Geschwindigkeit brauchte die Erde gerade einmal zwölf Sekunden für einen Umlauf. Als die Simulation etwa eine Minute gelaufen war, trat der Besucher aus der Wand der Dunkelkammer. Die Erde kreiste vor sich hin. Eine weitere halbe Minute später näherte sich der Besucher dem Kreuzungspunkt mit der Erdbahn, auf den sich – das konnte doch unmöglich wahr sein! – zeitgleich die Erde zubewegte.

»Anhalten!« Die 3D-Projektion und er erstarrten im selben Augenblick. Die Datumsanzeige stand auf 24. Februar 2092. Das war in weniger als acht Jahren. Innerlich zitternd, schaute er sich die Szene ganz genau an. Der Besucher würde die Erde um eine kosmische Haaresbreite verfehlen, um etwas mehr als einen Erddurchmesser. Er fühlte sich jedoch kein bisschen erleichtert, denn es war klar, dass diese Flugbahn bei all den Ungenauigkeiten in den Ausgangsdaten nur eine von vielen Möglichkeiten darstellte. Er konzentrierte sich.

»Bitte eine Sensitivitätsanalyse. Zielvariable: Wahrscheinlichkeit einer Kollision des neuen Objekts mit der Erde. Variabler Parameter ist der Kollisionszeitpunkt des neuen Objektes mit dem vermissten CKBO. Ausführen!«

»Welche Wahrscheinlichkeitsverteilung soll ich für den variablen Parameter annehmen?«, fragte sein Gehilfe nach.

»Gleichverteilung.«

»Bitte warten!« Die nun folgende Stille dehnte sich. Die Welt draußen, ihr dreidimensionales Abbild in der Dunkelkammer, seine Gedanken, ja sogar sein Atem: Alles schien für einen Moment eingefroren. Dann: »Die Kollisionswahrscheinlichkeit des neuen Objektes mit der Erde beträgt 22,7 Prozent.« Sein Gehilfe sprach mit neutraler Stimme, denn er wusste nicht, was er da sagte. Er selbst schon. Was er da vielleicht gefunden hatte, war kein interessanter Besucher, nicht der ihn berühmt machende Komet, sondern ein gefährlicher Eindringling, der bei seiner Größe, wenn er die Erde träfe, alles höhere Leben auf ihr vernichten würde. Es war ein globaler Killer.

»Sichern und Ende!«

Auf wackeligen Beinen verließ er das Zimmer, das er Dunkelkammer nannte, und trat wieder auf den Balkon hinaus. Nur wenige Wolken standen am Himmel und die Sterne strahlten wie immer in ihren festen Konstellationen. Doch dieses Versprechen auf Unvergänglichkeit und Konstanz, das ihm bei all den irdischen Wirrungen und Irrungen sein Leben lang Trost gewesen war, stellte sich nun als leer heraus. Sicher, die Sterne würden immer dort stehen, aber bald vielleicht schon kein Mensch mehr, um sie anzuschauen. Niemand mehr, der den nächsten Durchgang der Venus bestaunen würde.

Die sogenannte Wirklichkeit um ihn herum, seine Wohnung, die kühle Luft, Musik, die Stadt mit ihren Menschen und Tieren verblasste gegenüber der künstlichen Welt, die er gerade durch seine VR-Brille gesehen hatte. Was sich doch so real anfühlte, war mit einer Wahrscheinlichkeit von 22,7 Prozent dem Untergang geweiht. Die ganze Welt kam ihm gerade vor wie Schrödingers Katze: lebendig und tot zugleich.

Gewissheit konnte nur eine weitere direkte Beobachtung des Eindringlings bringen. Denn vielleicht – und seine ganze Hoffnung klebte an diesem einen Wort – vielleicht hatte das Objekt gar nichts mit dem Verschwinden des CKBO zu tun, sondern war aus einer ganz anderen Richtung kommend, nur zufällig in der Nähe gewesen, als QA2079-R57-2602077, aus welchem Grund auch immer, verschwand. Er entschloss sich deshalb, den nächsten Schritt ebenfalls noch zu gehen.

Durch seine langjährige Arbeit als Citizen-Scientist hatten sich weit über tausend Bonuspunkte auf seinem Konto bei der Wissenschaftsakademie angesammelt. Er hätte sie zwischendurch für kleine Aufmerksamkeiten wie mit Wunschmotiven bedruckte T-Shirts, Eintrittsgutscheine für Museen oder Ähnliches eintauschen können, aber nun war er froh, sie alle noch zu haben. Denn für eintausend Punkte konnte er eine Beobachtung mit hoher Priorität bestellen, also mitbestimmen, auf welchen Raumsektor die infrage kommenden Beobachtungssonden und Satelliten ihre Teleskope, Radare und Laser als Nächstes richten würden. Es fühlte sich so ähnlich an wie damals, als er mit seinen Händen den Reflektor auf jedes Ziel am Himmel ausrichten konnte, um den Geheimnissen der Planeten, Doppelsterne, Nebel oder Galaxien näherzukommen. Aber diesmal reichten seine Hände bis ins äußere Sonnensystem. Wahnsinn! Kurz vor Mitternacht hatte er den Beobachtungsauftrag vollständig spezifiziert.

Er schickte ihn ab. Nur zehn Minuten später kam eine automatisch erstellte Antwort, aus der hervorging, dass er seine Beobachtungsergebnisse voraussichtlich am nächsten Tag zwischen 15:00 und 15:30 Uhr erhalten würde. Beeindruckend! Allein die reine Laufzeit der Steuer- und Messsignale würde hin und zurück bereits dreizehn Stunden betragen. Dazu die Beobachtungsplanung, Datenaufbereitung etc. Jetzt hieß es, warten und hoffen. Immer wieder rechnete er nach und versuchte, einen Fehler in seinen Überlegungen zu finden. Aber vergeblich. Gegen zwei Uhr schleppte er sich endlich ins Bett und schlief sofort ein.

~

Am nächsten Tag erwachte er kurz nach neun Uhr hungrig. Nachdem er sich notdürftig gewaschen, angezogen und hastig ein Brot und etwas Saft zu sich genommen hatte, betrat er wieder seine Dunkelkammer und ging alles noch einmal Schritt für Schritt durch. Gerne hätte er sich jemandem anvertraut, aber es gab niemanden mehr. Seine Frau und seine Freunde waren alle längst tot. Zuletzt hatte er selbst sich auch immer mehr zurückgezogen. Einkäufe und Medikamente kamen per Drohne. Arztbesuche und Spaziergänge, die ihn manchmal in ein Café oder Restaurant führten, waren eigentlich alles, was er in den letzten Jahren draußen unternommen hatte.

Doch nun, da es auf Mittag zuging, wusste er nichts mehr zu tun. Nach Kochen war ihm nicht zumute. Er musste raus. Sein genauestens instruierter Gehilfe würde die Stellung halten. Sobald die Ergebnisse einträfen, würde er diese an ihn weiterleiten und sofort eine erneute Sensitivitätsanalyse durchführen. Das Ergebnis wäre wieder eine Zahl zwischen Null und hundert – und schlicht die wichtigste Zahl aller Zeiten. Bevor er richtig Angst bekommen konnte, warf er sich eine Jacke über und ging hinaus in die Sonne.

Eine Stunde lang schlenderte er gedankenversunken im Zickzack durch stillgelegte und teilweise verwilderte Nebenstraßen. Dort konnte man neben dem allgegenwärtigen Summen der Drohnen manchmal sogar einen Vogel zwitschern hören. Er bekam Hunger und steuerte auf ein Restaurant zu, in das er gerne ging, weil es belebt war, aber nie zu voll. Um die Mittagszeit aßen hier Geschäftsleute, Gruppen von Schülern und manchmal auch eine junge Familie oder ein alter Mensch wie er. Weil das Wetter schön war, setzte er sich nach draußen und sah dem Treiben auf der Hauptstraße zu.

Viele Äonen der Evolution, zehntausende Jahre Kultur und Zivilisation. Wissenschaft! Sollte es das gewesen sein, schnipp, einfach so? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Mit einem Mal kamen ihm seine Dunkelkammer-Beobachtungen geradezu surreal vor. Das hier, das musste doch die Wirklichkeit sein. Existenz, die Bestand haben würde.

Langsam aß er zu Ende und bestellte Nachtisch. Dann noch einen Kaffee. Immer öfter und nervöser sah er auf die Uhr. Die Tische um ihn herum leerten sich. Als sich um 14:57 Uhr der Gehilfe in seinem Gehörgang meldete, zuckte er zusammen.

»Die Beobachtungsergebnisse sind eingetroffen. Die zweite Beobachtung des neu entdeckten Objektes bestätigt die Hypothese der vorhergegangenen Kollision mit QA2079-R57-2602077. Durchmesser des Objektes: zwischen vierzehn und achtzehn Kilometer.«

»Scheiße, Scheiße!«, entfuhr es ihm. Drei junge Mädchen, die auf dem Heimweg von der Schule gerade an seinem Tisch vorbeigingen, schauten überrascht zu ihm hinüber und kicherten.

»Sensitivitätsanalyse läuft. Bitte warten!«

Jetzt kam es darauf an! Die Berechnung der Flugbahn aus den beiden nun vorliegenden Beobachtungen war viel genauer als das, was er gestern aus seiner Erstsichtung und einer Nicht-Beobachtung hatte herausholen können. Die Zahl, die ihm sein Gehilfe gleich ins Ohr flüstern würde, kam der Wahrheit um vieles näher. Sie würde das Kommende bestimmen.

»Ergebnis der Sensitivitätsanalyse: Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision des neuen Objektes mit der Erde beträgt 96,3 Prozent.«

Unwillkürlich hieb er mit der Faust auf den Tisch. Und gleich noch einmal. Wieder drehten sich Passanten nach ihm um, aber das registrierte er nicht, denn mit sehr großer Wahrscheinlichkeit war gerade das Ende der Welt gekommen.

»… neues Objekt … Registrierungsnummer … fragt an, wie sie es nennen wollen.«

Er hatte die letzte Mitteilung seines Gehilfen nur teilweise mitbekommen. Die Welt ging unter, aber die automatische Bearbeitung seines Beobachtungsauftrags lief ungerührt weiter. Die dafür zuständige Software hatte erkannt, dass ein großes, bisher unbekanntes Objekt dabei war, in das innere Sonnensystem vorzudringen. Damit wurde es relevant und verdiente einen Namen, den sein Entdecker ihm geben durfte. Hatte er sich das nicht gewünscht, seit er zwölf war? Nein, so nicht! Der Weltuntergang sollte nicht seinen Namen tragen.

»Globaler Killer«, flüsterte er leise als Antwort. Dann saß er nur noch da. Er war alt und es gab nichts mehr zu tun. Das Leben um ihn herum verschwamm vor seinem geistigen Auge wie ein Traumbild, das im Begriff war, sich für immer aufzulösen. Als er merkte, dass ihm Tränen die Sicht nahmen, wischte er sie mit einem Taschentuch aus dem Gesicht, erhob sich umständlich und ging.

Wie auch immer der alte Mann den Eindringling genannt hätte, seine Entdeckung würde so oder so bald nicht mehr nur automatisch bearbeitet werden, da war er sich sicher. Gänzlich unbekannt waren ihm allerdings die sich weit verzweigenden Ketten von Programmanweisungen, die seine Beobachtung auf zahlreichen Computern ausgelöst hatte. Diese Anweisungen waren bisher noch nie in ihrer Gesamtheit ausgeführt, sondern immer nur in kleinen, unverdächtigen Abschnitten getestet worden. Mit als Erstes hatten sie die alles bestimmende Zahl, die er vor einigen Minuten vernommen hatte, durch eine andere ersetzt, die nicht das Ergebnis großartiger Ingenieurskunst und astronomischer Kenntnisse abbildete, sondern sich in erster Linie nach dem aktuellen Forschungsstand der Psychologie und der Sozialwissenschaften richtete. Jede Verbindung zwischen dem Globalen Killer und seinem Entdecker wurde gelöscht, dessen Beobachtungsauftrag leicht abgeändert und als ergebnislos archiviert, sowie sämtliche zugehörigen Beobachtungs- und Telemetriedaten entsprechend angepasst, einschließlich eventuell vorhandener Log- und Sicherungsdateien. Irgendjemand hatte sich in dieser Sache sehr viel Mühe gegeben, und das bereits vor vielen Jahrzehnten, denn so lange schon hatten die entsprechenden Codezeilen auf ihre Ausführung gewartet. Mit den letzten Anweisungen schließlich wurden bestimmte Entscheidungsträger mit ungewöhnlichen Befugnissen über ein sogenanntes besonderes Ereignis informiert.

Von all dem konnte der alte Mann nichts wissen. Daher brachte er auch die beiden Polizisten, die wenig später zehn Meter vor ihm zügig, aber ohne Hast, um die Ecke bogen, nicht mit sich und der von ihm ausgelösten Lawine von Ereignissen in Verbindung. Erst als sie stehenblieben und eine unauffällig, aber stilsicher gekleidete Frau mittleren Alters hinter ihnen hervortrat, dämmerte ihm etwas.

Lächelnd kam sie direkt auf ihn zu. Sie blieb stehen, zog ein Foto aus der Seitentasche ihres Jacketts und fragte freundlich: »Hallo, das hier auf dem Foto sind doch Sie, oder?«

Er nickte.

»Ich weiß selbst nicht warum, aber wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten. Sie werden dringend an anderer Stelle erwartet. Man hat uns gesagt, Sie würden kooperieren. Falls nicht …«, sie warf ihm einen prüfenden Blick zu, »… müssten wir Sie leider trotzdem mitnehmen.«

»Nein, nein, nur keine Umstände«, antwortete er.

Diese Formulierung klang irgendwie falsch in seinen Ohren, aber sie brachte ihm ein aufmunterndes Lächeln der Frau ein, die an seine Seite trat und mit einem Nicken in Richtung der Polizisten sagte: »Wollen wir?«

»Ja … Ich muss sagen, das ging schnell.«

»Ach wissen Sie, das kann ich gar nicht beurteilen. Tatsächlich kenne ich noch nicht einmal Ihren Namen und ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn es dabei bliebe. Am besten ist, Sie sagen einfach nichts mehr, bis wir angekommen sind.« Sie blickte ihn an. »Sie täten damit auch mir persönlich einen großen Gefallen. Ich bin nur die Exekutive, die eine Anweisung ausführt, die von so weit oben kommt, dass ich sie lieber früher als später wieder vergessen würde.«

Er nickte. Zu viert gingen sie um die Ecke und stiegen in ein Polizeifahrzeug, das mit eingeschaltetem Warnblinklicht in der zweiten Reihe parkte.

Die Identität der Person, die den globalen Killer entdeckt hatte, sollte unbekannt bleiben. Die wenigen Jahre bis zu seinem natürlichen Tod verbrachte er isoliert in angenehmer Umgebung. Kein Grab und kein Gestirn trug je seinen Namen.

1

Lage

April 2084

Alvaro zog sich die Allwetterjacke über und nahm seine Waffe aus der Tasche. Er würde sie selbstverständlich nicht auf das Gelände der Vereinten Nationen mitnehmen können, was eine gewisse Unruhe in ihm auslöste. Wider besseres Wissen fühlte er sich schon jetzt nackt und schutzlos.

Du hast es bis hierher geschafft – dann schaffst du auch den Rest, machte er sich Mut.

Aufgewachsen in einer der endlosen Vorstädte São Paulos, hatte alles damit angefangen, dass die kleine PV-Anlage, die seine Familie mit Strom versorgte, eines Tages nicht mehr funktionierte. Er war zwar erst zehn, fand im Netz aber schnell eine Reparaturanleitung und schaffte es mit etwas Geschick, geborgtem Werkzeug und unter Außerachtlassung aller Sicherheitsvorkehrungen die Anlage wieder zum Laufen zu bringen.

Im Gegensatz zu fast all seinen Mitschülern hatte er sich gegen ein Implantat als Internetanschluss entschieden. Ihm gefielen einfach das dümmliche Grinsen und die ins Leere starrenden Augen nicht, sobald sie sich mit ihrer Lieblings-VR verbunden hatten. Ohne diesen Zugang hatte Alvaro schon sehr früh ebenso gekonnt wie schnell mit Computern und ihren klassischen Ein- und Ausgabegeräten umzugehen gelernt. Er fand intuitiv heraus, dass die Grenze zwischen seinen Gedanken und den Datenwelten des Netzes ihm beim Lernen eher half, als dass sie ihn behinderte, denn so fanden seine Ideen und Fantasien den Raum, um sich zu entfalten. Seit er acht war, konnte er sich auf diese Weise in kürzester Zeit so ziemlich alles beibringen, was er wollte.

Es sprach sich schnell herum, dass Garcias jüngerer Sohn Solaranlagen reparieren konnte. Bald florierte seine kleine Werkstatt, mit der er einen erklecklichen Anteil zum Familieneinkommen beisteuerte. Was zuerst ein Glücksfall schien, wurde zum Albtraum, als eines Tages zwei Schläger der die Gegend beherrschenden Gang in seiner Werkstatt auftauchten, um die »Steuern einzutreiben«, wie sie es nannten. Seine Eltern waren unterwegs und sein sechzehnjähriger Bruder Jaime wollte die Familie schützen. Böse Worte, ein kurzes Gerangel und drei schnelle Messerstiche später saß Alvaro neben ihm, streichelte sein Gesicht und musste ohnmächtig mitansehen, wie das ungelebte Leben seines Bruders aus ihm herausblutete. Das Letzte, was er sagte, waren die Worte »Rette dich … Rette uns!«, mit denen Alvaro zuerst so schmerzlich wenig anzufangen wusste.

In den folgenden Wochen der Trauer und Agonie reifte in Alvaros jungem Geist der unverbrüchliche Entschluss, nie wieder derart machtlos sein zu wollen. Als Erstes besorgte er sich eine kleinkalibrige Pistole mit sechzehn Schuss Munition. Die hatte er die letzten zehn Jahre stets unauffällig mit sich geführt, zum Glück, ohne sie jemals benutzen zu müssen.

Alvaro warf noch einen Blick auf die Waffe und legte sie endlich in die Schublade. Als er sie abschloss, lief ein Schauer über seinen Rücken. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann machte er sich auf den Weg.

Mit seinen gerade zwanzig Jahren betrat Alvaro Garcia am 3. April 2084 als einer der jüngsten Delegierten das Gelände der Vereinten Nationen in New York, um an der Eröffnung der ersten Weltversammlung der NGOs teilzunehmen.

Der Tross der Delegierten schob sich von der Eingangshalle in Richtung Plenarsaal. Neben Alvaro ging eine Frau, nur wenig älter als er. Sie trug eine dunkle Weste, einen weißen Plastik-Rock und schwarze Strumpfhosen. Die als Pagenschnitt frisierten grünen Haare wippten hin und her, während sie sich neugierig umschaute.

Unvermittelt raunte sie ihm zu: »Guck mal, was die hier für langweiliges Zeug machen.« Sie deutete mit dem Kopf nach rechts und Alvaro las die digitale Türinschrift: Raum 1-06, 9:00 bis 18:00 Uhr: Sitzung des Unterausschusses Ontologie und Meta-Modelle des Komitees für Urbankontrolle.

»Na ja, das hier ist die UN. Die machen wohl alles Mögliche«, antwortete er verlegen und räusperte sich. »Ich bin Alvaro Garcia aus São Paulo. Freut mich.«

»Helen Coombes, Naturschützerin aus Irland. Freut mich auch.«

Langsam ging es weiter voran. Nach einer Minute tat sich vor ihnen der historische Plenarsaal der Vereinten Nationen auf. Sie traten ein und suchten sich zwei Plätze in den hinteren Reihen. Alvaro stellte mit Genugtuung fest, dass nur etwa ein Viertel der Anwesenden als Implantatträger gekennzeichnet waren. Die Sitzung, während der später sogar die UN-Generalsekretärin eine Rede halten sollte, würde jeden Augenblick beginnen.

~

Auf der anderen Seite der Tür zu Raum 1-06 hatten sich in diesem Moment etwa zwei Dutzend Menschen aus aller Welt um einen kreisrunden Konferenztisch versammelt. Es gab vielleicht tausend Personen auf der Erde, die jemals vom Unterausschuss »Ontologie und Meta-Modelle für … was auch immer« gehört hatten. Wiederum nur um die hundert wussten, dass es diesen Ausschuss gar nicht gab. Drei Viertel davon dachten, es handele sich um die Tarnung für eine Denkfabrik, die im Auftrag der Vereinten Nationen, ungestört von Tagespolitik und Presse, geheime Notfallpläne für globale Krisen ausarbeiten sollte. Aber nur das restliche Viertel der derzeit Anwesenden wusste, dass es diese Pläne längst gab. Diese Gruppe hatte keinen offiziellen Namen. Wenn nötig, sprachen die Mitglieder einfach von ihrem Kreis. Dieser bestand vornehmlich aus Geheimdienstleuten, Militärs, Wissenschaftlern und Entscheidern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Bekannte Gesichter waren nicht darunter, aber alle Anwesenden gehörten zu den führenden Frauen und Männern in ihren Bereichen, waren ausgezeichnet vernetzt und auf eine besondere Art vertrauenswürdig. Um in den Kreis aufgenommen zu werden, musste ein Kandidat von zwei Mitgliedern vorgeschlagen werden, die ihn bereits mindestens zehn Jahre lang persönlich kannten. Dazu kam eine Überprüfung durch zwei der vertretenen Geheimdienste, deren Umfang nur diesen selbst bekannt war.

»Ich bitte um Aufmerksamkeit! Guten Morgen! Lassen Sie uns beginnen«, erhob einer der Wissenschaftler, ein Moralphilosoph mit schütterem grauem Haar und altmodischer Hornbrille, die Stimme. »Ist einer der Anwesenden vor April 2018 geboren? … Dies ist nicht der Fall, daher werde ich als Ältester, in Übereinstimmung mit unseren Statuten, diese Sitzung bis auf Weiteres leiten. Also dann … Eine Bemerkung vorweg: Die Kontrollleuchten hier im Raum zeigen an, dass das Dämmfeld aktiv ist, welches jede Art von digitaler Signalverarbeitung über eintausend Herz unmöglich macht. Sollten Sie Implantate tragen, so funktionieren die hier genauso wenig wie Computer und andere Elektronik. Medizinische Implantate sind davon ebenfalls betroffen, aber das wäre ja nicht unbemerkt geblieben, nicht wahr?«

Er erlaubte sich ein Lächeln, blickte jedoch in weiterhin angespannte Gesichter. »Ich stelle fest: Keine Abgänge, keine Zugänge, alle Teilnehmer unseres Kreises sind anwesend. Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig zu dieser außerordentlichen Sitzung kommen konnten. Sie wissen, warum Sie hier sind. Das heißt, Sie wissen es natürlich noch nicht, sondern nur, dass etwas passiert ist, das keine der hier vertretenen Parteien allein bewältigen kann. Eine Krise, die unser aller Zusammenarbeit erfordert, und zwar auf eine Weise, die von den zuständigen Institutionen und Gremien nicht geleistet werden kann. Sie wissen, was ich meine, wir sitzen hier schließlich in der UN.« Er unterbrach sich kurz, nur um festzustellen, dass auch sein zweiter Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern, fehlgeschlagen war. »Nun denn … Ich bitte den Kollegen Smith, der diese Sitzung veranlasst hat, uns mit den Fakten bekannt zu machen.«

Der Angesprochene, ein Geheimdienstler, der bestimmt nicht Smith hieß, erhob sich, ging um den Tisch herum und verteilte jeweils zwei dürre Seiten eng bedrucktes Papier. Dabei teilte er mit: »Die Informationen, die Sie hier erhalten, stehen wie üblich auf sich selbst zersetzendem Papier und sind selbstverständlich nur unserem Kreis bekannt sowie einer weiteren Person, die bereits gemäß der in Anhang VI unserer Statuten beschriebenen Notfallmaßnahmen in Gewahrsam genommen wurde. Alle zugehörigen Daten befinden sich ausschließlich auf zwei speziell gesicherten Knoten. Wir gehen im Moment davon aus, dass deren digitale Tarnung sicher ist.«

Die Anwesenden begannen zu lesen und bald machte sich eine gewisse Nervosität breit.

»Ich bitte um Ruhe!«, rief der Leiter, nachdem alle den Text gelesen hatten. »Es ist nun unsere Aufgabe, die Zuständigkeit des Kreises gemäß Notfall 4 Globaler Killer festzustellen. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass wir in diesem Fall unter Umständen äußerst wirksame Mittel einsetzen müssen, die einen Großteil der bestehenden Ordnung und, lassen Sie mich das hinzufügen, auch der allgemein anerkannten moralischen Prinzipien außer Kraft setzen können. Aufgrund der Dringlichkeit dieser Angelegenheit müssen wir zudem, wenn irgend möglich, noch heute über das weitere Vorgehen entscheiden. Ich bitte um Wortmeldungen. Bitte sehr.«

Der untersetzte Staatssekretär eines zentral-afrikanischen Landes, der einen perfekt sitzenden dunkelblauen Anzug mit heller Krawatte trug, erhob sich. »Die Trefferwahrscheinlichkeit wird mit 96,3 Prozent bei einem Durchmesser von vierzehn bis achtzehn Kilometern angegeben. Wie verlässlich sind diese Werte? Es sollte allen hier klar sein, dass diese Daten entscheidend dafür sind, wie radikal wir vorgehen müssen. Und mit ›verlässlich‹ meine ich alles: Von gehackter Berechnungssoftware, über fehlgeleitete Telemetrie, einen großangelegten Aprilscherz bis hin zu einem Fleck auf der Linse eines Teleskops, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Fakten müssen unumstößlich sein, und alle hier müssen sie im Einzelnen nachvollziehen können, damit wir zur nötigen Einstimmigkeit kommen. Schaffen wir das heute?« Er setzte sich. Der Leiter nickte der Soziologin des Kreises zu, die den Arm gehoben hatte.

Die ebenso brillante wie unscheinbare Wissenschaftlerin wandte dem Vorredner ihr blasses Gesicht zu. »Genau das war auch meine Frage. Wie Sie wissen, sorgen die Auswahlkriterien unseres Kreises dafür, dass alle hier eine fundierte mathematisch-technisch-naturwissenschaftliche Grundausbildung haben. Daher sollten wir meiner Meinung nach in der Lage sein, die vorliegenden Messungen, Fakten und Schlussfolgerungen in zwei, besser drei Gruppen unabhängig voneinander nachzuvollziehen. Diese Gruppen müssen natürlich zufällig ausgewählt werden und gesicherte Datenzugänge bekommen.« Sie schmunzelte. »Wie ich sehe, trifft unser verehrter Versammlungsleiter bereits die entsprechenden Vorbereitungen.«

Der Angesprochene kramte tatsächlich gerade ein Kartenspiel aus seiner Aktentasche hervor und lugte, da sich alle Blicke auf ihn richteten, überrascht über den Tischrand. Er sah aus wie ein Schulkind, das im Unterricht beim Spielen erwischt worden war. Jetzt gab es doch einige Lacher. Nun, wo die Katze aus dem Sack und die Gefahr endlich greifbar war, sodass man an die Arbeit gehen konnte, lockerte sich die Stimmung der Anwesenden ein wenig.

»Selbstverständlich bin ich als Ältester dieser Truppe hier auf alles vorbereitet. Auch darauf, den Zufallsgenerator zu spielen, wenn es sein muss.« Dann wieder ernst, »Herr General, sie haben sich gemeldet? Bitte.«

»Es sollte uns schärfstens bewusst sein, dass wir hier in gewisser Weise ein sehr homogener Kreis sind, was uns unter anderem ja erst in die Lage versetzt, die nötigen Entscheidungen in kurzer Zeit zu treffen. Diese Stärke kann jedoch auch eine große Schwäche sein.« Der Franzose in der Uniform der EAAU, der Europäisch-Afrikanisch-Arabischen Union, hatte mit kräftiger, befehlsgewohnter Stimme gesprochen. Von einem zum anderen schauend sagte er leiser: »Wir alle hier sind aufgeklärte, skeptische Geister, überdurchschnittlich intelligent, wie ich mit Verlaub anmerken darf, und mit mehr als nur einer Ahnung von Logik, Mathematik und den Wissenschaften insgesamt. Es mag Sie vielleicht wundern, das von einem Soldaten zu hören, aber angesichts dieser existenziellen Herausforderung muss ich fragen: Wo sind die Künstler, die Jungen, die Wirtschaftsführer, der einfache Bürger mit seinem gesunden Menschenverstand oder meinetwegen auch die Religiösen?«

Das letzte Wort erzeugte bei einigen Teilnehmern sichtliches Unbehagen. Schließlich waren es religiöse Eiferer gewesen, die den größten Krieg des Jahrhunderts ausgelöst hatten, dessen tiefere Ursachen gerade im Außerachtlassen wissenschaftlicher Fakten bestanden, wodurch doch die Klimakrise erst zur globalen Klimakatastrophe geworden war.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr der General fort, »keinesfalls möchte ich Vertreter der genannten Gruppen hier haben. Aber wir müssen sie mitbedenken, wir müssen einfach an alles denken, um nicht in die Falle des In-Group-Thinking zu tappen. Sie wissen schon, Kuba-Krise und so weiter.«

Die Diskussion ging noch eine ganze Weile weiter. Die Prinzipien, auf deren Grundlage der Kreis arbeitete, gehörten immer wieder, und erst recht jetzt, auf den Prüfstand.

Letztendlich ging es um Folgendes: Man stelle sich alles Leben auf der Erde als einen großen zusammenhängenden Organismus vor. Man stelle sich weiter vor, dieser Organismus sei es wert, auch in Zukunft zu leben und zu gedeihen. Wie konnte er sich dann gegen innere und äußere Gefahren schützen? Bevor der Mensch auf den Plan trat, hatte sich das irdische Leben als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen. Es hatte sich von kosmischen Einschlägen und geologischen Katastrophen erholt, wenn auch oft um den Preis des massenhaften Aussterbens von Arten. Es konnte sich großen klimatischen Schwankungen und der Veränderung der Zusammensetzung der Atmosphäre anpassen, wenn diese nicht zu schnell verliefen. Mit dem Homo sapiens hatte es allerdings zu guter Letzt eine Art schnell wachsendes Krebsgeschwür hervorgebracht, das eine größere Gefahr darstellte als alles zuvor Dagewesene.

Andererseits waren die Menschen über alle Maßen kreativ und hatten Sprache, Kultur, eine Techno- und eine Soziosphäre hervorgebracht, die dem Leben viele neue Möglichkeiten eröffneten: die Besiedelung fremder Gestirne, die Wiederbelebung untergegangener Arten oder eben auch die Abwehr blind zerstörerischer Asteroiden, die dem Leben auf der Erde schon so manches Mal entsetzliche Narben beigebracht hatten.

Gegen einige Gefahren war kein Kraut gewachsen. Im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass ein Gammastrahlenausbruch die Erde träfe, wie er bei der Kollision zweier Neutronensterne entsteht, würde alles höhere Leben auf der Erde in wenigen Sekunden verbrutzeln. So viel war klar. Anderen Gefahren, wie Pandemien, Supervulkan-Ausbrüche, ein Atomkrieg, die womöglich feindselige Begegnung mit außerirdischen Lebensformen oder eben dem Einschlag eines globalen Killers, konnte man sich jedoch entgegenstellen. Falls, ja falls, die Reaktion nur schnell genug erfolgte. Verschiedenste Akteure hatten über Jahrzehnte entsprechende Pläne, Strategien und Maßnahmen gegen solche, alles Leben bedrohende Ereignisse ausgearbeitet. Der Kreis hatte sie alle gesammelt und dafür gesorgt, dass sie immer wieder angepasst und fortentwickelt wurden.

Der Kampf gegen den Klimawandel hatte nicht dazugehört. Man hatte ihn lange kommen sehen, und es bestand die berechtigte Hoffnung, ihn im Rahmen der üblichen politischen Entscheidungswege rechtzeitig abwenden zu können. Doch es war zu viel Zeit verschwendet worden, und als die Katastrophe schließlich für alle fühlbar wurde, ging es nur noch um Schuldzuweisungen, die Organisation der Flüchtlingsströme und die Verteilung von Lasten. Die Egoismen wuchsen, und mit der Auflösung des IPCC im Jahre 2043 war die internationale Klimapolitik endgültig gescheitert. Die bestehenden nationalen und übernationalen Instanzen und Organe (sic!) hatten offensichtlich versagt. Notwendige Entscheidungen waren nicht rechtzeitig getroffen und umgesetzt worden.

Um im Bild zu bleiben: Ein Organismus, der für das Erfassen einer bedrohlichen Situation, deren Analyse und die Ausführung der entsprechenden Abwehraktionen zu lange braucht, wird zugrunde gehen.

Es sei denn, er verfügt über passende Reflexe.

Im Fall des Falles musste irgendwer oder irgendetwas die schnelle Ausführung eines Notfallplans garantieren. Der Kreis hatte diese Möglichkeit geschaffen. Er konnte einen globalen Reflex auslösen, wenn die Gefahr zu groß wurde. Dazu gehörte notwendigerweise auch die Umgehung oder Ausschaltung der normalerweise zuständigen Stellen und Institutionen. Wie bei einem Adrenalinschock mussten einerseits Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Reaktionsmöglichkeiten eingeschränkt werden, um andererseits schlagartig alle Energien auf ein Ziel richten zu können.

Inzwischen ging es auf Mittag zu und der Versammlungsleiter rief zur Ordnung. »Ich denke, wir haben die grundsätzlichen Fragen ausreichend besprochen. Wir sollten jetzt eine Stunde Mittagspause machen und uns danach in die Gruppen zur Überprüfung der Fakten aufteilen. Ich nehme an, unsere Kollegen aus den Diensten haben bereits geeignete abhörsichere Örtlichkeiten mit sicheren Datenzugängen vorbereitet? Danke. Um 16:00 Uhr kommen wir dann wieder hier zusammen, um abschließend zu beraten. Bitte folgen Sie mir in den Nebenraum, dort erwartet uns ein kleines Buffet.«

Dort angekommen griffen die ersten Teilnehmer zu Teller und Besteck, als sie gedämpft einen lang anhaltenden Applaus hörten, der aus dem nahe gelegenen Plenarsaal stammen musste.

~

Dort hatte soeben die UN-Generalsekretärin die Bühne betreten. Unter dem euphorischen Beifall der Delegierten schritt die Siebenundfünfzigjährige zum Rednerpult.

Vor Kurzem für ihre dritte Amtsperiode bestätigt, war die Generalsekretärin eine lebende Legende. Mit Anfang vierzig hatte die Diplomatin als Sondergesandte im Indien-Pakistan-Konflikt vermittelt. Armut und Leid der von der Klimakatastrophe geplagten Bevölkerung hatten religiöse Fanatiker an die Macht gespült, die nach bekanntem Muster Hass auf das Nachbarvolk schürten, um von der eigenen Unfähigkeit abzulenken. Staaten ließen sich mittels Korruption, göttlicher Eingebung und religiöser Sprüche eben nicht regieren. Sie konnte den Kriegsausbruch damals nicht verhindern.

Als aus anfänglichen Grenzscharmützeln und Seegefechten ein brutal geführter Krieg geworden war, in dem schließlich beide Seiten Atomwaffen einsetzten, sah die damalige Sondergesandte ihre Stunde gekommen. Während die Augen der Welt noch entgeistert auf die Atompilze über dem indischen Subkontinent starrten, organisierte sie unter Lebensgefahr auf beiden Seiten zeitgleich Militärputsche unterhalb der obersten Führungsebenen durch Kommandeure, die noch nicht von ihrer Nähe zu den Mächtigen korrumpiert waren. Die neuen Militärregierungen beider Seiten schlossen einen sofortigen Waffenstillstand und beendeten damit das größte Gemetzel des 21. Jahrhunderts. Dies brachte ihnen neben der Dankbarkeit der Bevölkerung auch die unbedingte Loyalität ihrer Untergebenen ein. Die Kriegstreiber beider Seiten waren daraufhin dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag überstellt worden, der sie fast ausnahmslos wegen Führung eines Angriffskrieges, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu lebenslangen Haftstrafen verurteilte.

Der Plan der Sondergesandten war aufgegangen. Sie fiel die Karriereleiter empor und wurde wenige Jahre später als erste Frau in der Geschichte zur vierzehnten Generalsekretärin der Vereinten Nationen gewählt.

Der stehende Applaus währte nun schon über eine Minute. Die Generalsekretärin verneigte sich mehrmals und schaltete ihr Mikrofon ein.

»Vielen Dank, liebe Anwesenden, vielen Dank! Schön, dass Sie aus aller Welt den Weg zu uns gefunden haben, hier in das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Ich begrüße Sie hiermit auf das Herzlichste zur ersten offiziellen Weltversammlung der Nicht-Regierungs-Organisationen!«

Erneut brandete Applaus auf.

»Lassen Sie mich kurz meine Sicht auf den heutigen Zustand der Welt und die vor uns liegenden Aufgaben schildern. Wir alle wissen nur zu gut, dass es die Nationen und die internationale Gemeinschaft nicht vermocht haben, die Klimakatastrophe zu verhindern. Erfolge wie die großen Nothilfe- und Umsiedlungsaktionen für bedrohte Küstenregionen oder die Beilegung des Indien-Pakistan-Kriegs lindern zwar die Symptome, bringen aber keine Heilung. Wir sehen ja gerade, dass in den ländlichen Regionen des indischen Subkontinents die Religiösen erneut die Oberhand gewinnen.

Und nicht nur dort. Fast alle Staaten haben angesichts des Versagens, die Zukunft ihrer Bevölkerungen zu sichern, mit enormen Legitimationsproblemen zu kämpfen. Die großen Klima-, Ernährungs- und Versorgungskrisen der Sechzigerjahre haben nicht nur zum Indien-Pakistan-Krieg und zum Auseinanderbrechen der Russischen Föderation geführt. Auch den Staaten der verbliebenen Machtblöcke – der Europäisch-Afrikanisch-Arabischen Union, dem Reich der Mitte und der Pazifischen Union – gelingt es kaum noch, die staatliche Ordnung innerhalb ihrer Grenzen aufrechtzuerhalten.

Seien wir also ehrlich: Der amerikanische Traum vom Glück des Tellerwäschers ist genauso ausgeträumt, wie die Allmachtsfantasien der Kommunistischen Partei Chinas oder Europas Traum vom gezähmten Kapitalismus. Die Staaten der Erde, die sich vor nun fast einhundertvierzig Jahren zu diesen Vereinten Nationen zusammengeschlossen haben – sie werden schwächer und schwächer. Es wird zu einer unabweisbaren Tatsache: Wir müssen endlich größer denken und handeln als auf der Ebene von Staaten- und Staatenbünden.«

In den aufkommenden Applaus hinein fuhr sie fort: »Die Folgen der Erderwärmung werden sich erst zur Jahrhundertwende in voller Wucht entfalten. Wenn sich nicht schnell Grundlegendes ändert, werden die klimatischen und ökologischen Kipppunkte endgültig überschritten, vor denen uns die Wissenschaft schon so lange warnt. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Auslöschung der menschlichen Zivilisation muss es endlich gelingen, die, ich betone, gesellschaftlichen Kipppunkte auszumachen und zu aktivieren, die uns wieder auf ein Morgen hoffen lassen!

Wir vom Sekretariat der UN geben Ihnen, den NGOs, hier ein weltweites Forum, weil wir nicht mehr davon ausgehen, dass die Staaten und Institutionen, für die auch ich stehe, die nötigen Umbrüche in Gang setzen können. Gewiss, keine der von Ihnen vertretenen Gruppierungen hat die Macht eines Staates. Aber unterschätzen Sie nicht den Einfluss, den sie auszuüben vermögen. Zusammen werden Sie vielleicht größer und stärker, als Sie denken. Und wenn eingewendet wird, Ihnen fehle die demokratische Legitimation, dann vergessen Sie nicht, dass dies auch für die Mehrheit der Personen gilt, die sonst hier auf Ihren Plätzen sitzen.«

Es folgte eine schonungslose Analyse der in der Vergangenheit verpassten Chancen sowie die Beschreibung erfolgreicher und Erfolg versprechender Projekte und Initiativen seitens der NGOs. Über die zukünftige Rolle der Vereinten Nationen ließ die Generalsekretärin die Anwesenden allerdings im Ungefähren.

Sie schloss mit den Worten: »Unsere Welt wankt, und glauben Sie mir, sie wird straucheln. Ob sie fallen wird, liegt nicht zuletzt in Ihrer Verantwortung. Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und wünsche der ersten NGO-Welt-Konferenz ein gutes Gelingen!«

Auf den lang anhaltenden Applaus folgte eine lebhafte Aussprache, die erst am späten Nachmittag endete. Alvaro und Helen verließen gemeinsam den Plenarsaal, noch ganz unter dem Eindruck des Gehörten. Als sie wieder an Raum 1-06 vorbeikamen, fiel Alvaro die Dämmfeld-Warnlampe über der Tür auf. War die heute Morgen auch schon an gewesen? Egal, Helen fragte ihn gerade, ob sie am nächsten Tag nicht gemeinsam Mittagessen wollten.

Auf der anderen Seite dieser Tür geschah zur selben Zeit etwa Unerhörtes, das auch ihrer beider Zukunft bestimmen sollte. Auf die entsprechende Frage des Leiters hin hoben alle Anwesenden den Arm und setzten damit Notfallplan Nummer 4 Globaler Killer in Kraft. Es war wie ein Reflex.

~

Der Kreis hatte in der zurückliegenden Woche effektiv gearbeitet. Die ersten Schritte des nun aktivierten Notfallplans zielten hauptsächlich darauf ab, die eigentliche Gefahr geheim zu halten und unauffällig die nötigen Vorbereitungen für das Folgende zu treffen. Ersteres gelang durch die nicht nachverfolgbare Fälschung von Größe und Masse des Objekts, dem man die Katalog-Nummer ZC2084-L81-7423880 gegeben hatte. Wobei das Wort Fälschung die kunstvolle Manipulation des Zentralregisters aller Objekte im Sonnensystem nur sehr unzureichend beschreibt. Tatsächlich hatte man eine im Register benutzte Software-Bibliothek, die für die Umrechnung von Maßeinheiten zuständig war und die dies seit Jahr und Tag unverändert und unauffällig erledigte, auf der Ebene ihres Binärcodes so manipuliert, dass jedwede Neuberechnung von Masse und Größe des besagten Objekts – besonders solche aufgrund frisch eingespielter Beobachtungen – einen Durchmesser um die tausend Meter ergab, sowie eine Dichte, die in dem für Kometenkerne üblichen Bereich lag.

Weiterhin hatte der Kreis eine Liste von mehreren hundert Personen erstellt, die für das Gelingen von Plan 4 wichtig werden mochten. Deren Vergangenheit und Umfeld wurden derzeit akribisch durchleuchtet. Von großer Bedeutung war auch der aktuelle Rationalitätsindex dieser Personen, der, grob vereinfacht, die Fähigkeit zu folgerichtigem Denken widerspiegelt, insbesondere in emotional und sozial belastenden Situationen. Es galt, potenzielle Mitstreiter sowie mögliche »Störfaktoren« zu identifizieren.

Daher war es auch kein Zufall, dass der Kreis die routinemäßige Entdeckung von ZC2084-L81-7423880 durch die Algorithmen der UN-Koordinationsstelle zur Abwehr von Gefahren aus dem Weltraum, oft einfach »Planetare Verteidigung« genannt, auf einen Zeitpunkt legte, an dem ihr Chef wegen eines Autounfalls gerade unter Narkose im Krankenhaus operiert wurde. Genau genommen war nichts davon Zufall gewesen.

Für Dr. David Hampton allerdings, der nun die Ehre hatte, seinen Vorgesetzten auf der eilig einberufenen Pressekonferenz zu vertreten, fühlten sich die jüngsten Ereignisse doch sehr nach glücklicher Fügung an. Noch vor wenigen Monaten war der Mittvierziger damit beschäftigt gewesen, im australischen Outback die Reihen der Radioteleskope abzufahren, um sie auf etwaige Sturmschäden zu überprüfen, denn als Leiter des relativ kleinen Observatoriums fielen auch solche Tätigkeiten in seine Zuständigkeit. Als man ihn nach über acht Jahren in diesem Job fragte, ob er nicht einige Zeit für die Planetare Verteidigung in New York arbeiten wolle, zögerte er nicht lange. Ungebunden wie er war, packte er seine Siebensachen und nahm das nächste Flugzeug.

Jetzt, kurz vor Beginn der Veranstaltung, die live im Netz zu sehen war und ihn bestimmt in die Schlagzeilen brachte, wunderte er sich ein wenig darüber, dass er die Ruhe selbst war. Vielleicht lag es an der netten UN-Pressesprecherin, die ihm versichert hatte, dass sein fülliger Körper, auf dem ein großer Kopf mit Kurzhaarschnitt und Schnauzer saß, weniger plump als vielmehr imposant aussähe.

Unwichtig. Was er zu sagen hatte, war wichtig. Er konzentrierte sich darauf, seine zwei Botschaften so klar wie möglich zu formulieren. Er würde der Weltöffentlichkeit einerseits die tödliche Gefahr schildern, die aus dem All auf sie zukam. Zweitens würde er die Zuschauer beruhigen, denn die Planetare Verteidigung, zum Wohle der Menschheit vorausschauend geschaffen vor über fünfzig Jahren, stand bereit, die Erde und all ihre Bewohner zu beschützen. Die Mission, der man den Namen »Himmel« gegeben hatte, würde den neu entdeckten Kometen weit am Planeten vorbeilenken. Zugeschaltete Experten der Raumfahrtagenturen aller drei Blöcke würden seine Ausführungen mit genauen Zahlen und schönen Diagrammen untermauern. Er würde die Fragen der Journalisten souverän beantworten und damit schließen, dass als Nächstes alle Daten noch einmal auf Herz und Niere geprüft würden, um dann zu gegebener Zeit, von der glücklicherweise genug zur Verfügung stünde, die Abfangmissionen zu starten. In der Tat würde es mehrere, voneinander unabhängige Missionen geben, was die Erfolgsaussichten auf praktisch einhundert Prozent erhöhen werde.

Die Lichter der Kameras erloschen und die Presseleute verließen den Raum. Etwas verwundert darüber, dass die Veranstaltung schon vorbei war, blinzelte Hampton zur Pressesprecherin hinüber. Diese nickte ihm wohlwollend zu und erhob sich ebenfalls. Er musste seine Sache wohl gut gemacht haben.

Die Meldung, dass ein recht kleiner, aber dennoch gefährlicher Komet mit hoher Wahrscheinlichkeit in etwa acht Jahren auf die Erde treffen würde, schaffte es fast überall an die erste oder zweite Stelle der Hauptnachrichten. Da allgemein bekannt war, dass die Planetare Verteidigung in Fällen wie diesem genug Zeit hatte, das Objekt mit eigens dafür entwickelten Sonden abzulenken, bestand – so der allgemeine Tenor – kein Grund zur Sorge.

Im Kreis herrschte Zufriedenheit. Der Australier, mit seiner etwas grobschlächtigen, aber kompetenten und authentischen Art, war die richtige Wahl gewesen. Bald würde man Hampton darüber informieren, dass sich die Gesundung seines Chefs leider noch hinzöge, weshalb nun er die Leitung der Koordinationsstelle übernehmen müsse. Zu einem späteren Zeitpunkt würde man ihm dann eröffnen, dass es neben Projekt Himmel noch ein weiteres, streng geheimes Projekt gab, zu dem auch er seinen Beitrag leisten müsse, wenn er das Versprechen, das er auf der Pressekonferenz gegeben hatte, tatsächlich einlösen wollte.

2

Reaktionen

April 2084

Zum Abschluss der zweiwöchigen NGO-Konferenz hatte deren Leitung eine Abschlussparty speziell für junge Leute in einem Club im Herzen Manhattans organisiert. Alvaro war spät dran, hatte jetzt aber endlich die U-Bahn bestiegen, die ihn zur Feier bringen sollte. Sein Blick fiel auf einen Info-Schirm, der in einer Animation zeigte, wie man sich den Einschlag einer Sonde – sie trug das Emblem der NASA – auf einem kleinen Himmelskörper vorstellte. Die Nachricht vom Kometen auf Kollisionskurs war da schon einige Tage alt. Alvaro hatte sie nicht weiter beschäftigt, da er wusste, dass es Vorkehrungen gab; etwas größere als seine Pistole, aber geschaffen für denselben Zweck: die Abwehr von Gefahr!

Die Konferenz hatte sich für ihn als voller Erfolg erwiesen. Unaufdringlich, aber zugleich von einnehmendem Wesen, hatte er viele interessante Kontakte knüpfen können, nicht zuletzt zu Mitarbeitern der UN selbst. Deren Verwaltung hatte ihm sogar das Angebot gemacht, an einem Traineeprogramm teilzunehmen.

Als er im Club ankam, war die Party bereits in vollem Gange. Es wurde getanzt, Karaoke gesungen und verschiedentlich auch heftig geflirtet. Alvaro holte sich ein Bier und hielt Ausschau nach Helen. Einen Moment später entdeckte er sie in gewohnt schrillem Outfit. Ganz natürlich bildete sie den Mittelpunkt einer Traube fröhlich parlierender Menschen. Fühlte er sich zu ihr hingezogen? Auf jeden Fall genug, um sich einen Weg durch die Menge in ihre Richtung zu bahnen. Seltsamerweise machte ihm der ganze Trubel hier nichts aus. Anders als er es von zuhause her kannte, flößten ihm die vielen Menschen hier keine Angst ein, sondern gaben ihm im Gegenteil ein Gefühl des … ja, des Aufgehoben-Seins. So hatte er sich seit dem gewaltsamen Tod seines Bruders nicht mehr gefühlt. Spontan entschied er sich, das Angebot der UN-Verwaltung anzunehmen.

Helen hatte Alvaro ebenfalls entdeckt und ihn in den letzten Sekunden beobachtet. Sie fand, dass für Grübeleien auf dieser Party kein Platz war. Mit einem halbvollen Glas Bier in der Hand kam sie ihm entgegen und rief mit ihrem typisch breiten Grinsen, das Glas seinem zum Anstoßen hinhaltend: »Hi! Auf die Zukunft und auf uns!«

Lächelnd stieß er an und beide nahmen einen tiefen Schluck, wobei sie einander nicht aus den Augen ließen.

»Sag mal …«, fing sie an, da wurde sie von der Seite grob angestoßen. Jetzt klang es strenger: »Na hör mal, geht’s noch?« Aber dann musste sie lachen, angesichts der ungelenken Bewegungen, mit denen der vermeintliche Grobian vergeblich versuchte, nicht weiter in sie hineinzufallen. Der große, junge Mann mit dem runden Babyface war offensichtlich stolzer Besitzer eines Implantats mit Rauscherzeuger. Und damit war kein akustisches Rauschen gemeint. Mit einiger Mühe gelang es Helen und Alvaro schließlich, den Neuankömmling in eine halbwegs stabile, senkrechte Lage zu bringen.

Helen sagte: »Darf ich vorstellen? Paul Strohwetter, seines Zeichens angehender Systemwissenschaftler aus Deutschland. Nebenbei kümmert er sich um die Logistik von Öko-Genossenschaften. Wir haben uns vor ein paar Tagen in einer Arbeitsgruppe kennengelernt.«

Alvaro klopfte Paul zur Begrüßung auf die Schulter. »Schön, dich kennenzulernen. Ich hätte da auch direkt eine Frage an den Systemforscher …«

»Systemwissenschaftler … angehender Systemwissenschaftler!«, lallte Paul dazwischen.

»Ja genau. Also mal ehrlich, so aus ganzheitlicher, systemischer Sicht: Ist die Menschheit noch zu retten? Also vorausgesetzt, wir überleben das mit dem Kometen.«

Mit gläsernem Blick sah der talentierte Jungforscher Alvaro einen Tick zu lange an, um dann zu antworten, »Sorry, ich bin wohl ein bisschen in einer zu …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »zu alkoholesken Stimmung für so eine Frage. Soll ich mich schnell ausnüchtern? Dreimal an die Schläfe tippen und ich bin schlagartig wieder da. Soll ich?«

»Oh nein, lass gut sein. Wir wollen dich doch nicht notabschalten, oder?«

»Warum nicht?«, frotzelte Helen. »Das gäbe vielleicht einen witzigen Systemabsturz.«

»Ach, gönnen wir ihm doch seinen Spaß, solange das auf diesem Planeten überhaupt noch möglich ist.«

»Na, du bist auch immer im Dienst, wie?«, erwiderte Helen mit einer Spur von Unwillen in der Stimme. Vielleicht war es ja so, dass Alvaro nicht nur groß denken konnte, sondern es auch irgendwie musste. Aber gegen zu viele Gedanken kannte sie ein gutes Mittel. Sie nahm Alvaros Hand und sagte: »Komm, wir tanzen!«

Zurück blieb ein leicht vor sich hin wankender Paul, der immer noch überlegte, was er anstelle von »alkoholesk« eigentlich hatte sagen wollen.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, trafen sich Alvaro, Helen, Paul und ein Dutzend andere, ausnahmslos junge Delegierte zu einem Katerfrühstück, für das Alvaro einige Tische in einem Café in der Nähe des UN-Gebäudes reserviert hatte. Vertreten waren Mitglieder von Friedens- und Umwelt-Bewegungen ebenso wie KI- und Bio-Hackerinnen und -hacker, die Subsidaritätswirtschaft und die Anti-Movement-Bewegung (die jedoch, schon aus rein sprachlichen Gründen, lieber »Allianz gegen unnützen Verkehr« genannt werden wollte).

Die Stimmung war recht gelöst, nur an einer Ecke der zusammengestellten Tische ließ sich ein gut gelaunter Paul Strohwetter ebenso ernst wie ausgiebig über die Vorteile digital-neuronaler Rauscherzeugung gegenüber der biochemischen Wirkung von Alkohol aus. Nicht bei allen Angesprochenen, von denen ein nicht unerheblicher Teil unter einem Brummschädel litt, trafen diese Ausführungen auf ungeteiltes oder auch nur irgendwelches Interesse.

Alvaro erlöste sie, indem er über einige Köpfe hinweg rief: »Hey, Paul, was machen Systemwissenschaftler eigentlich, wenn sie ausgelernt haben?«

Diese Frage erregte die Aufmerksamkeit der Frühstücksgesellschaft, und die Gespräche verstummten. In die Stille hinein verkündete Paul salbungsvoll: »Nun, erstens die Probleme dieser Welt verstehen, um sie, zweitens, zu lösen. Denn wisset: ›Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.‹ Na, wer hat das gesagt? Ein kleiner Tipp: Einstein war’s nicht.«

»Läuft dein Rausch-Erzeuger eigentlich immer noch?«. Helen rollte mit den Augen und alle mussten lachen.

»Ihr habt doch die Rede der Generalsekretärin gehört – wir müssen größer denken und handeln«, wehrte sich Paul.

»Dann sind also nicht mehr die Physiker die Alles-Erklärer, sondern die Systemwissenschaftler?«, bohrte Alvaro nach. »Ich dachte, ihr habt von allem etwas Ahnung, aber von nichts so richtig, oder wie ist das?«

»Stimmt. Das ist allerdings immer noch besser, als ganz viel Ahnung von fast nichts zu haben, wie die ganzen Fachidioten, die es nicht schaffen, ihr Wissen zusammenzubringen. Wenn wir doch ach so viel wissen, warum läuft dann so vieles schief? Wir können zwar die physikalische, chemische, biologische, technische und soziale Wirklichkeit einigermaßen gut beschreiben und erklären, deren Zusammenhänge aber eben nicht. Nehmt zum Beispiel diesen Kometen. Da wird künstlich in natürliche, physikalische Abläufe eingegriffen – ausnahmsweise zum Guten, wie es scheint – und die Biosphäre dankt. Aber was bedeutet das eigentlich gesellschaftlich oder politisch gesehen? Sicher, dass da nichts Dummes passiert?«

Alvaro blickte nachdenklich in die Runde. »Gute Frage. Dass viel zu viel schiefläuft, darüber sind wir uns hier wohl alle einig. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in den letzten zwei Wochen habe ich eine Menge wertvoller Anregungen bekommen. Allein, was Paul gerade gesagt hat. Darüber würde ich gerne noch viel mehr hören. Aber ab morgen sollen wir uns wieder in alle Winde zerstreuen, um an unseren kleinen Vor-Ort-Projekten weiter zu werkeln? Ich denke, wir sollten eine Art Klub gründen, um in Kontakt zu bleiben und gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Wenn nicht wir, wer sonst könnte denn mit dem Größerdenken und -handeln anfangen?«

»Also ein Zukunftsklub?«, fragte Helen. »Ich bin dabei.«

Alle anderen waren es auch.

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Aus dem Bergland kommend, näherte sich der Brahmane dem kleinen Dorf im indischen Bezirk Dindori. Die auf dem Feld arbeitenden Frauen winkten ihm zu, und eine wachsende Schar Kinder begleitete ihn, fröhlich um ihn herumtollend, bis zum Schrein in der Dorfmitte. Dort begrüßten ihn die Dorfältesten, wie es Brauch war. Nachdem die Kinder verscheucht waren, ließ man sich zum Willkommensessen nieder.

Noch vor einigen Jahrzehnten hatten Wanderpriester wie er nicht nur die Rituale durchgeführt, sondern auch die neuesten Nachrichten aus der Nachbarschaft und der Welt mitgebracht. Kleine Satellitenantennen auf den einfachen Behausungen zeigten jedoch an, dass diese Zeiten vorbei waren. Trotzdem waren die Ältesten begierig, zu hören, was er als weiser Mann, der die Veden studiert hatte, zu den letzten Verfügungen der Militärregierung zu sagen hatte. Oder auch über den Kometen, von dem in den Nachrichten zu hören war.