Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Viktor an seinen Jugenderinnerungen schreibt, begibt er sich auf tiefgreifende Recherche und besucht nach langer Zeit wieder einmal die exzentrische Mutter seines Jugendfreundes: Tante Erbse. Kaum Erbses Wohnung betreten, wird Viktor schon in den Sog des wilden Unfugs hineingezogen. Erst ein Roadtrip schafft klare Verhältnisse, behaupten kann man es ja. Clemens und Viktor waren in ihrer Jugend Freunde. Dann machte Clemens auf einmal Karriere, wurde ein Star, schrieb Bestsellerromane, Bestsellermusik, umjubelte Gedichte, esoterische Eselgeschichten – alles funktionierte. Viktor wurde Theaterregisseur, anfangs alles bestens: Ruhm, Alkohol, Exzesse, dann mit fünfzig Jahren aber: Gedächtnislücken, Tinnitus, sozialer Rückzug. Als Viktor an seinen Jugenderinnerungen schreibt, begibt er sich auf tiefgreifende Recherche und besucht nach langer Zeit wieder einmal Clemens' exzentrische Mutter: Tante Erbse. Kaum Erbses Wohnung betreten, wird Viktor schon in den Sog des wilden Unfugs hineingezogen. Erst ein Roadtrip schafft klare Verhältnisse, behaupten kann man es ja. Mit raffinierten Twists und hinterfotzigen Überraschungen ist diese Geschichte über Viktor, Clemens, Tante Erbse, Vati, Hadi, Manni und Giovanni ein dunkler Spaß, der gleichermaßen fesselt und herausfordert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 305
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Bald lachte ich unter der Dusche, bald weinte ich in der Badewanne.«
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
EPILOG
Manchmal überkommt einen eine Idee, und obwohl man ihr keine weiteren Gedanken opfern will – man weiß ja, dass es Unsinn ist, eine beknackte Idee –, lungert diese hartnäckig im Kopf herum, bläht sich auf zu einer monströsen Interessantheit, kommt und geht, und bei jedem Kommen wird sie größer, mächtiger, einleuchtender. Überzeugender. Was soll man also machen? Viel bleibt einem nicht übrig, wenn man endgültig von ihr verschont bleiben will, und so kam es, dass ich genaues Zeugnis davon ablegen konnte, wie der Gehsteig in Neustift am Walde sich anfühlte, wenn man mit der Zunge drüberleckte: rau, gefährlich, und wie er schmeckte: bitter, herb, unglaublich bitter, unglaublich herb, aber an manchen Stellen auch salzig. An anderen geradezu nussig.
Ich strich mit meiner Zunge über Staubballen, über weiße Blüten, über blaue; ich lutschte kleine Kieselsteinchen, ich lutschte größere Kieselsteine; frisch gemähte Grashalme blieben an meiner Zunge kleben; ich wich einer zerknüllten Supermarktrechnung aus, weil ich mir von deren Geschmack keine neue Erkenntnis erwartete, hatte ich doch in meinem Leben bestimmt bereits ein halbes Dutzend aus Wut zerkaut; ich zerbiss Baumrinden und Ästchen. Ein Zigarettenstummel entpuppte sich zu meiner Freude als Kaugummizigarette, dabei hatte ich mich innerlich schon auf das Schlimmste vorbereitet: eine weggeworfene, aber noch nicht zur Gänze ausgedämpfte Zigarette. Anstatt mir eine schwarze Wunde in den Zungenbelag zu brennen, schmeckte sie süß, obschon der Großteil des Zuckers herausgelutscht zu sein schien. Und doch: Süßes schmeckt süßer als Feuer.
Keine Sorge, ich war nicht verrückt. Zumindest nicht ganz verrückt. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Rasend gut ging es mir auch nicht, aber ich hatte weit Schlimmeres hinter mir. Es handelte sich auch nicht um obsessives Gewitzel, dessen ich mich in meinem Leben oft schuldig gemacht und das zu meinem gesellschaftlichen Untergang geführt hatte. Ich wollte sehen, ob der Geschmack des Neustifter Asphalts eine Erinnerung in mir hervorlockte, denn ich hatte vor, einen Roman über meine Jugend in Neustift zu schreiben, doch mir fiel so vieles nicht mehr ein. Ich konnte essentielle Meilensteine meines Lebens nicht unter einen Hut bringen. Manchmal widersprachen sich Abläufe, manchmal vermischten sich mehrere Personen zu einer. Ein ganzes Buch würde ich so nicht zusammenbekommen, selbst für eine Novelle sah ich schwarz.
Aber ich hatte – daran hatte ich keinen Zweifel – mit etwa fünfzehn Jahren stockbetrunken in Neustift am Walde einen Gehsteig abgeleckt. Aufgrund einer Wette und weil ich ein Mädchen hatte beeindrucken wollen. Im Nachhinein eine dumme Idee. Beeindruckt hätte ich es, wenn ich mich geweigert, die anderen Trunkenbolde am Schlafittchen gepackt, ihr Geld zerrissen, in die Luft geworfen hätte und mit ihr an der Hand davongelaufen wäre. So wurde mein beherztes Asphaltabschlecken mit ausgelassenem Gelächter quittiert, die Tätigkeit aber auch in erotischer Hinsicht als abkühlend empfunden. Ich wurde zu den Akten gelegt. Was man eben alles erst weiß, wenn es ausreichend oft schiefgegangen ist. Gut geschmeckt hatte mir der Asphalt damals nicht.
Und doch erhoffte ich mir durch die Wiederholung dieser Tätigkeit einen sinnlichen Auslöser zu aktivieren, der meine Erinnerungen hervorrufen würde. So wie man ein sirupsüßes Parfüm riecht, und sich plötzlich an ein Mädchen aus der Schulzeit erinnert, das es oft getragen hat, aber auch daran, wie sie roch, wenn sie verschwitzt war, und dass ihre beste Freundin Brülli genannt wurde.
Es war also durchaus auch ein bisschen vernünftig, was ich tat. Ob es geholfen hat? Erst kam es mir nicht so vor, aber dann …
Wer weiß, wer weiß.
**
Seit Jahren war ich das erste Mal unter Menschen – allein unter Menschen, längere Zeit allein unter Menschen –, und es lief so mittelgut.
Giovanni hatte mich mit all seinen rhetorischen Listen bedrängt: »Sechs Jahre müssen reichen. Es wird Zeit. Du hast dich genug bestraft.«
»Niemand wird mich sehen wollen.«
»Norman Mailer stach vor Partygästen zweimal in seine Frau, um ein Haar wäre sie verblutet. Zehn Jahre später kandidierte er für den Posten des New Yorker Bürgermeisters, als wäre nichts geschehen. Raus mit dir, sage ich, an die Arbeit.«
Mich schauderte. Ich konnte mir nicht sicher sein, mit einem fatalen Einfall nicht wieder alles durcheinanderzuwerfen. Aber Giovanni ließ nicht locker.
»Es wird Zeit für die große Entschuldigungsgeste. Das ist doch das Schönste, wenn man sich als Künstler hinstellen und um Ablass bitten kann. Sechs Jahre! Selbst die Leute, die anwesend waren, erinnern sich nicht mehr gut. Du kannst beginnen, die Geschichte zu verbiegen, sie so zu erzählen, dass sie zu deinem Vorteil gereicht. Nicht zu sehr, du willst ja, dass es etwas zu verzeihen gibt … Doch damit das funktioniert, musst du gesund aussehen, die Augen müssen scharf sein, als stündest du mit beiden Beinen im Leben. Du benötigst einen neuen, unverbrauchten Anzug, Farbe im Gesicht, frischen Atem und ein Projekt, ein Projekt!«
Im Dunkeln meiner Wohnung merkte ich erst, wie anstrengend all das Soziale war, wie ermüdend der Kontakt zu Menschen. Ich konnte mühelos mehrere Wochen zu Hause verbringen, mir ging nichts ab, aber eine halbe Stunde im Supermarkt und ich lag wie betäubt auf dem Sofa, die Schweißperlen rollten über meine Stirn, ich atmete laut, maßlos, ich kam mit dem Atmen kaum nach. Nur in Begleitung von Giovanni schaffte ich es: Wenn ich vor Verkäufern zu stammeln begann, setzte er meine Sätze fort; begegnete mir ein Bekannter von früher, bugsierte Giovanni mich in eine Seitengasse und hielt mir den Mund zu.
Giovanni Fausti. Wenn bei dem Namen etwas bei Ihnen klingelt, dann sind Sie entweder ein Connaisseur klassischer Musik oder Sie haben noch die Zeitungsberichte aus den 1990ern im Kopf. Damals war Giovanni als musikalischer Leiter an Bord eines der Helikopter gewesen, in denen in luftigen Höhen Stockhausens Helikopter-Quartett aufgeführt worden war. Auf dem Weg vom Carinthischen Sommer zur Bayerischen Staatsoper verflog sich die Helikopterflotte leider und wurde in den Wirren des Jugoslawienkriegs nahe Zagreb abgeschossen. Zu Fuß machten sich das Quartett, die Piloten, die Tontechniker und Giovanni Fausti auf den Weg zurück nach Österreich. Fast wäre es schlecht ausgegangen, aber Giovanni erwies sich als begnadeter Eierdieb, und so standen die dreizehn mit ihren Instrumentenkoffern und Mikrofonen ausgezehrt, aber mit Dotterresten in den wilden Bärten vor dem österreichischen Grenzschutz und beschwerten sich.
Das Projekt sollte eine Biografie werden, so wollte Giovanni es, eine Kindheitsgeschichte, in der ich subtil Schuld verschieben konnte. Hatte ich denn keine Großeltern gehabt, denen ich eine nationalsozialistische Ader und einen Hammer andichten konnte, der dazu gedient hatte, mich zu erziehen?
Sein Wort war mir Befehl. Ich vertiefte mich und bald kam mir der Einfall, all die Schwierigkeiten meiner Jugend – die ich im Übrigen erfinden musste, es war mir nicht schlecht ergangen – innerhalb einer Nacht am Neustifter Kirtag durchzuspielen. Da konnte ich ein großes Arsenal an Figuren einführen: Großeltern, Nationalsozialisten mit Hämmern, warum nicht?
Kaum hatte ich angefangen, mir künstlerische Notizen zu machen, verließ mich Giovanni. Er flog nach Vilnius und verhandelte dort mehrere Wochen lang mit den Leitern des litauischen Nationaltheaters für Oper und Ballett ein neues Aufführungskonzept. Um angesichts drohender Finanzkrisen die Oper gut auf die Beine zu stellen, hatte er eine Idee entwickelt, die Kosten und Risken signifikant zu verringern: durch Playback.
So blieb ich mit meinem Projekt allein zurück und seufzte. Ich hätte den Roman bereits vor vielen Jahren schreiben sollen; damals war ich noch nicht so kaputt gewesen, nun tat ich mir schwer, Begebenheiten den richtigen Jahreszahlen zuzuordnen. Die Vornamen meiner besten Schulfreunde fielen mir nicht ein.
Ob sich meine Mutter hätte erinnern können, wenn sie noch gelebt hätte? Eher nicht. Mein Vater versuchte sein Bestes, ja, aber er befand sich im Krieg mit seinen Erinnerungen. Minute auf Minute lebte er in unterschiedlichen Anordnungen. Als hätte sich sein Leben in eine Vielzahl von Modulen aufgeteilt, die man beliebig drehen, wenden und aneinanderreihen konnte. Manchmal fiel eines unter den Tisch: Dann hatten wir eben nicht vier Jahre lang in Sievering gewohnt.
So musste ich es also selbst in die Hand nehmen. Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr an den Stadtrand von Wien, nach Neustift am Walde, um meine Erinnerungen aufzufrischen.
Bald stand ich vor dem Haus, in dem meine Familie und ich gelebt hatten, ich ging die Waldwege entlang, auf denen ich mit meinem Hund gegangen war, ich besuchte die Gässchen und Wege, die Busstationen, die Häuser alter Freunde und – auf und ab und hin und her – den Sommerhaidenweg, doch in meinem Kopf klingelte es nur leise. Alles war gedämpft.
Obwohl ich nicht mehr soff wie früher – ein paar zeitlich gut platzierte Biere halfen mir durch den Tag –, waren die Welt und ihre Menschen in Nüchternheit nicht zu ertragen. Alles prasselte auf mich ein, überwältigte mich, wie das Tageslicht einen verschütteten Kohlekumpel, der nach Monaten wieder an die Erdoberfläche trat. Die Stimmen in Neustift kamen mir zu schrill vor, die Autos übertrieben laut, an jeder dritten Ecke wurden Konflikte ausgetragen. Ich musste all meine innere Kraft aufwenden, um mich in diese Streitigkeiten nicht hineinziehen zu lassen, Fremde am Kragen zu packen. Es tobte in mir. Ich keuchte. Das Geräusch surrte. Hunde waberten. Auch: schwarze Knäuel.
Erträglich wurde es erst, als ich eine Flasche Wodka erwarb und sie in drei Etappen leerte. Nach dem ersten Drittel passten sich meine Sinne an. Die Laute des Außen wurden auf ein erträgliches Maß reguliert. Es schien mir nun, dass nicht alles zur selben Zeit ertönte und ich Unwichtiges an den Saum meiner Wahrnehmung verlagern konnte, wo es mich nicht mehr bedrängte. Mit dem Trinken des zweiten Drittels verschwand die Ängstlichkeit. Das Herz beruhigte sich. Eine gewisse Erleichterung, ja Fröhlichkeit, machte sich in mir breit. Als ich den Rest der Flasche leerte, erwachte mein wahres Selbst; ein bunter Strauß Späßchen erblühte in meinem Kopf, ich wurde zum Kobold, ich leckte den Gehsteig, ich naschte vom Boden des Waldes und brachte die Leute zur Weißglut, indem ich zu singen begann.
Die Leute in ihren Villen wollten Nachrichten schauen. Ein Gläschen auf der Terrasse zu sich nehmen. Bei offenem Fenster einander an die Wäsche gehen. Aber da gab es diesen Idioten im Wald, der eine Arie nach der anderen meuchelte. Zu schnell gesungen, spöttisch intoniert, mit Inbrunst erfreute er sich an den falschen Tönen. Beim ersten Mal kicherten die Anwohner vielleicht noch, zwinkerten sich zu, aber beim zweiten Mal nicht, da runzelten sie die Stirnen, Genervtheit machte sich breit, eine Befürchtung: Was ist, wenn der immer wieder kommt? Sicher griff die eine oder der andere bereits zum Hörer und meldete die Unverschämtheit der Polizei, aber die hatten Besseres zu tun, als den Wald nach Betrunkenen abzusuchen.
Um die Nerven so richtig blankzuwetzen, legte ich zwischen den Gesängen längere Pausen ein. So konnten sie sich für einen kurzen Moment der Hoffnung hingeben, es sei ein sich nicht mehr wiederholender Vorgang gewesen; etwas, über das man noch schnell schmunzeln sollte, bevor man es vergaß und der krächzende Vagabund weitergezogen war. Als ich dann wieder einsetzte, kam die Panik. Dann wurden vor dem Fernseher die Mienen finster, auf der Terrasse der Sekt sauer und im Schlafzimmer die spitzen Brüste weich.
Ich erfreute mich an der Vorstellung all des Ärgers, den ich brachte. Schon wurde in meine Richtung geschrien, durchaus Unfreundliches, Erbostes. Ein Trupp von drei Männern stapfte im Wald herum, ziellos, aber energetisiert, und drohte mir mit schmerzhafter Unbill, sollte man mich erwischen. Aber das war das Gute am Wald: Ich musste nur den Mund schließen und mich still in eine andere Richtung bewegen, schon war ich verschwunden.
Sie fanden mich an diesem Abend nicht. Vermutlich ging ihnen nach wenigen Metern bereits die Energie aus. Schnell mal jemanden herumzuschubsen, schön und gut, aber die ganze Nacht den Wald zu durchstreifen, dafür rackerten sie sich in den Vorstandssitzungen nicht ab.
Wie gut auch, dass ich mir nicht mehr ähnlich sah. Der kernige Mann, der der Kobold gewesen war, der Skandalregisseur, Witzbold und Lebemann Viktor Scherzwieser, war in meinem feisten Gesicht nicht mehr zu erahnen. Die Tabletten hatten mich aufgeschwemmt. All das Bier stämmig gemacht. Statt auf der Bühne mit Schauspielern herumzuflitzen, saß ich vor dem Fernseher und dachte nach. Früher trug ich einen eleganten Kurzhaarschnitt, nun waren meine Haare halblang und fettig. Ich brachte einfach nicht die Energie auf, mehr als einmal pro Jahr zum Friseur zu gehen. Dazu mein Cowboyhut; ein exaltiertes, wenn auch verlebtes Modestück, das ich mir in meinen Glanzzeiten nie und nimmer erlaubt hätte; und kein Mensch kam noch auf die Idee, ich wäre ich.
Ich verließ den Wald auf Höhe des Sommerhaidenwegs und ging hinab Richtung An der Zwerchwiese/Ecke Hameaustraße, wo ich mein Rad angekettet hatte. Ich stolzierte mit weitem Schwung und kicherte in mich hinein, wie man es eben so tat, wenn man eine Flasche Wodka getrunken hatte.
Auf halbem Weg begann es zu schütten. Der Regen schlug mir ins Gesicht. Meine Hose, meine Jacke, mein Hemd waren im Nu durchnässt, in der Krempe meines Cowboyhuts sammelten sich die Tropfen zu einer Pfütze. Es blitzte, es donnerte. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich konnte kaum etwas sehen, so dick waren die Tropfen, so viele waren es, so schnell kamen sie geflogen. Meine Kleidung klebte an mir. Keine Sekunde dachte ich noch daran, in diesem Zustand mit dem Rad nach Hause zu fahren. Ich würde mir nur die Innenseite der Schenkel wundscheuern.
Die nächste Gelegenheit, um dem Regen zu entkommen, war ein Heuriger, der gleich um die Ecke der Endhaltestelle des 35A lag. Der Gastgarten hatte geschlossen; ich entleerte meinen Hut in einem Blumenbeet, drückte die Eingangstür auf und betrat das dunkelgelbe Interieur.
Der Heurigen war gut besucht, gerade noch fand ich einen freien Tisch im ersten Raum und setzte mich. Meine Hose quietschte, das Regenwasser lief von meinen Hosenbeinen ab. Mein Hut tropfte auf den Tisch. Das Personal bestand aus selbstbewusst unfreundlichen Damen mittleren Alters, die mich branchenüblich lange warten ließen. Das war gut für mich, denn in dieser gewonnenen Zeit konnte ich meine Meinung ändern; anstelle eines Gespritzten, an dem ich mich wohl nur kurz erfreut hätte, bestellte ich einen viertel Liter trockenen starken Rotwein und ein Speckbrot. Eine alte Dame setzte sich zu mir, obwohl noch an zwei weiteren Tischen Platz gewesen wäre, und begann Gründe zu suchen, Streit mit mir anfangen zu können. Der beißende Geruch des Specks, der nasse Hut, meine unzureichende Begrüßung. Die Kellnerin kannte sie anscheinend schon gut und scheuchte sie mit wenigen scharfen Worten fort.
Die meisten Gäste waren über sechzig, ein paar knorrige Ältere saßen vor einem Glas und eine entnervte Familie hatte sich, ebenso durchnässt wie ich, an einer langen Bank niedergelassen.
Ich trank den Rotwein, der erfreulicherweise so stark war, dass ich eine Grimasse zog.
Im nächsten Gastraum war eine merkwürdige Party im Gange. Erst dachte ich an eine Geburtstagsfeierlichkeit für eine geschlossene Gesellschaft. Als ich aber die schäbig kopierten Ankündigungszettel an den Wänden las, wusste ich es besser. Was hier stattfand, war der wöchentliche Jour fixe einer Karaoke-Nacht.
Die Anlage wurde hochgedreht, begleitet von einem einmalig schnalzenden elektronischen Störgeräusch, ein Mann in kurzen Hosen und mit einem brünetten Toupet schnappte sich ein Mikrofon und begrüßte zähnebleckend seine Gäste, manche nannte er beim Namen, die erste Anmeldung lag ihm auch schon vor. Nur Mut, heute ist jeder ein Star, etc.
Und los ging es mit einer blond gefärbten Frau, Ende fünfzig, die aus allen Nähten platzte und ein flottes Lied im oberösterreichischen Dialekt sang, das unbegreiflicherweise einmal ein Hit gewesen sein musste, denn ich kannte den Text fast auswendig.
Es zeigte sich, dass hier eine eingeschworene Gruppe am Werk war. Etwa zehn Leute nutzten mit Routine das Podium, das ihnen geboten wurde. Sie waren versoffen, irgendwie schäbig, übergewichtig, zu alt. Und trotzdem strahlten sie eine merkwürdige sexuelle Wachsamkeit aus. Auf der Wartebank rückten sie zusammen, nutzten jede Gelegenheit, um einander schmatzende Busserl aufzudrücken; Schenkel wurden geknetet, Haare durchstrubbelt, Hände liebkost. Das Singen der Schlager war nur das Vorspiel, eine Ausrede, um danach übereinander herzufallen.
Von meinem Platz aus betrachtete ich wie ein Troll die Szenerie.
Ich trank und funkelte; ich fällte meine Urteile. Interessant etwa, wie die Wirtin den üppigen Hintern der Kellnerin inspizierte, sobald diese ihr den Rücken zugedreht hatte. Sie schüttelte missbilligend den Kopf, verzog die Lippen, all das, obwohl sie selber ein Ross war.
Die Menschen in der Karaoke-Stube waren mittlerweile enthemmt, ihre Wangen glühten vor Stolz, sie legten sich ins Zeug. Musikalisch gab es den üblichen Horror: Austropop, Schlager, Softrockballaden – alles aus den Achtzigerjahren. Musik, von der ich als Jugendlicher geflüchtet und der ich nun wehrlos ausgesetzt war.
Ein Teilnehmer der fröhlichen Truppe erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Es war ein Mann um die siebzig mit grau-schwarzen Locken und einem Schnauzbart. Das Hemd war sperrangelweit offen und zeigte gekräuseltes weißes Haar auf sonnengegerbter Haut. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber das machte Rotwein oft mit mir: Menschen kamen mir bekannt vor. Er betatschte die Frauen und schnipste gegen so manchen Popsch, völlig egal, ob sie sich bereits mit jemand anderem zusammengefunden hatten oder nicht. Gegenwehr gab es nicht, nur belustigtes Geschrei und Gegacker. Es handelte sich eben um eine Type.
Krampfhaft überlegte ich, woher ich ihn denn kennen könnte. Ich hatte nicht viele Freunde in seinem Alter, ich konnte ausschließen, ihn in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren kennengelernt zu haben. Vielleicht über meine Exfrau? Unwahrscheinlich. Und meine Eltern hätten sich – Pardon, Pardon – mit solch einem Proleten nicht abgegeben. War er ein Nachbar aus meiner Kindheit? Nein, nein, das war es nicht. Einer der Bauarbeiter von damals, die unser Haus gebaut hatten? Da hatte es die eine oder andere auffällige Type gegeben. Aber auch das war es nicht. Es war zum Nägelbeißen, ich kam nicht darauf.
Jetzt knöpfte er sich ein lebensfrohes Wrack in einem viel zu engen gelben Kleid vor. Er zog es in die Mitte der improvisierten Bühne; die Frau grinste listig. Gemeinsam schmetterten sie, nein, zerschmetterten sie Nenas 99 Luftballons. Ich emigrierte in mein Inneres und musste an Afrika Bambaataa und die Anfänge des Hiphop denken.
Eine Stunde verging. Der Mann mit den grauen Locken gab immer noch Vollgas. Obwohl er gerade eine halbe Stunde an der Frau im gelben Kleid herumgedrückt hatte, hielt ihn das nicht davon ab, weitere Frauen mit dreckigen Sprüchen zu belästigen. Dann kam er in den Raum, in dem ich saß, um sich an der Schank ein Viertel Wein zu holen, und ich konnte ihn mir genauer anschauen. Er war zerknittert und seine Augen waren vom vielen Trinken wässrig geworden, aber er war immer noch geil, das verlieh ihm eine gewisse Intensität. An der Schank flirtete er minutenlang mit den anwesenden Frauen. Grölte schmutzige Witze und fasste sie an. Die Dame im gelben Kleid überlegte währenddessen, ob es sich noch auszahlte, auf diesen Hallodri zu warten. Vielleicht gab es bei ihr zu Hause einen Ehemann, vielleicht schien ihr das bisherige Geschmuse und Gegrapsche völlig ausreichend, vielleicht hatte der Mann mit den grauen Locken sie tiefer gekränkt, als sie es sich anmerken lassen wollte, jedenfalls verließ sie den Heurigen, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Es bereitete mir teuflisches Vergnügen, dem Mann dabei zuzusehen, wie es ihm dämmerte, dass er versetzt worden war. Erst stand er lange Zeit neben dem Tisch des Karaoke-Zeremonienmeisters, dann ging er unruhig vor der Toilette auf und ab, schließlich hetzte er an mir vorbei und sah sich um. Aus der Nähe fiel mir sein Halsschmuck auf: eine strahlend weiße Perlenkette. Hm, dachte ich. Interessant, dachte ich. Jüngere Generationen haben kein Problem damit, starkes männliches Selbstbewusstsein sowie eine Neigung zu Schmuck und femininer Zierde an den Tag zu legen, aber er war dafür eigentlich zu alt. Eine protzige Goldkette auf der gebräunten Brust, das hätte gepasst. Irgendwo in mir machte es da wohl schon Klick – die wiedererweckte Erinnerung begann sich in meinem Unterbewusstsein auf den Weg zu machen –, aber noch merkte ich nichts davon.
Ich winkte der Kellnerin zu, unentschieden, für welche der beiden Möglichkeiten ich mich entscheiden wollte: »Bitte zahlen!« oder »Bitte noch einen!«. Meine Kleidung war mittlerweile nur noch an manchen Stellen nass, an manchen sogar trocken, an den meisten feucht, es war erträglich. Während ich wartete, warf ich wieder einen Blick auf den Mann mit den grauen Locken und der Perlenkette. Er war sichtlich verärgert. Nun war es zu spät für ihn, sich umzuorientieren. Wer willig war, hatte schon seinen Partner gefunden. Einmal trennte er ein turtelndes Pärchen grob mit den Händen und versuchte sich in das Gespräch der beiden reinzustemmen, aber er erntete nur misslaunige Gesten und Gelächter.
Die Karaoke-Party wurde aufgelöst, der Zeremonienmeister verstaute den Beamer und rückte die Musikanlage an die Wand. Die Kellnerin kam und zu meiner Überraschung verlangte ich die Rechnung. Ich verließ den Heurigen.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Büsche rochen intensiv und süß nach Blüten. Da und dort hörte man noch die von den Pflanzen und Dächern fallenden Tropfen auf den Boden schlagen. Ich schlapfte den schmalen Weg zur Hameaustraße hinab. Dort blieb ich stehen, um meinen Cowboyhut zu richten. Ich warf einen Blick zurück. Dass mitten im noblen 19. Bezirk diese Ansammlung von Armut, Suff und mieser Laune stattfand! Ich begrüßte das.
Mit Tumult, Krach und Scheppern wurde die Eingangstür wieder aufgestoßen. Der Mann mit den grauen Locken und der Perlenkette stolperte nach draußen, hastete, torkelte den Weg hinab. Mit dampfend schlechter Laune rauschte er an mir vorbei. Nicht viel fehlte, und er hätte mich zur Seite gerempelt. Als ich seinen Geruch einatmete, nach Rauch, Schweiß und herben Gewürzen, kam die Erinnerung abrupt zurück, mit einem Mal erkannte ich ihn. Das war doch …!
Er wankte breitbeinig auf sein Auto zu, kramte dabei umständlich in seinen Hosentaschen. Ich konnte ihn nicht in diesem Zustand ein Auto fahren lassen, versuchte ich mein Einschreiten zu rechtfertigen. Aber wem machte ich etwas vor? Es war mir doch sonst auch egal, wenn die Straßen voll waren von Betrunkenen, Bekifften und Tablettenjunkies. Ich selbst würde mich in wenigen Minuten besoffen auf mein Rad setzen und den Weg nach Hause antreten. Nein, ich wollte ihn noch ein bisschen betrachten, bevor er wieder aus meinem Leben verschwand. Einen mentalen Schnappschuss setzen. Wofür auch immer.
Jetzt stand er vor seinem Auto, einem roten Toyota, und versuchte aufzusperren. Immer wieder fiel ihm der Schlüssel aus der Hand, und er musste sich stöhnend bücken.
»Das bringt doch nichts«, sagte ich, »sehen Sie es doch ein.«
Ich nahm ihm den Schlüssel weg. Für einen Moment wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Einerseits war das natürlich die Höhe, eine Frechheit, Entmännlichung! Andererseits war es auch erfreulich, dass jemand ihm das Auto öffnen wollte. Davon ging er zumindest so lange aus, bis ich die Schlüssel über die Hecke der angrenzenden Villa warf.
Seine Augen weiteten sich. Sein Gesicht wurde knallrot. Er zeigte mir eine Grimasse, sein düsteres Gebiss. Er wollte mir in den Bauch boxen, aber ich umgriff seine Faust, noch bevor sie mich treffen konnte. Jetzt boxte ich ihm in den Bauch – seine Idee war mir gut erschienen –, und als er sich krümmte, nahm ich seinen Kopf in beide Hände und schlug ihn auf sein Autodach. Er stöhnte laut. Das bereitete mir Vergnügen, also schlug ich seinen Kopf ein zweites Mal aufs Dach. Er ging zu Boden. Dann – ich wusste erst von meinem Plan, als ich schon daran war, ihn durchzuführen – suchte ich seinen Hals ab. Wie flink meine Hände waren. Trotz meiner Trunkenheit, trotz meiner Müdigkeit, obwohl ich nicht wusste, was ich tat, fanden meine Finger den Öffnungsmechanismus der Perlenkette. Ein Klick – und ich hatte die Kette in meiner Hand, in meiner Hosentasche, ich rannte davon, rannte zu meinem Rad.
**
Erst am nächsten Tag stand ich vor meiner Wohnungstür.
Ich hatte die Nacht im Michaelerwald verbracht. Das war nicht mein Plan gewesen, ich wollte hier in meinem Bett schlafen. Vorher duschen, Zähneputzen – ich bin doch kein Monster.
Noch im Davonlaufen hatte ich gestern den Schlüssel meines Fahrradschlosses gesucht und gefunden. So schnell ich den Öffnungsmechanismus der Perlenkette geknackt hatte, so schnell hatte der kleine Schlüssel in sein Schlüsselloch gefunden. Bevor ich losfuhr, wagte ich einen Blick zurück. Der Mann mit den grauen Locken ohne Perlenkette lag auf dem Boden. Er rührte vorsichtig einen Arm, um sich abzustützen.
Da radelte ich los. Mein Pech war, dass ich glaubte, über die Hameaustraße zur Hernalser Hauptstraße fahren zu müssen. Denn gleich der erste Teil war zu steil für mich. Ich dachte, hätte ich das Plateau erst mal erreicht, würde ich beschwingt dahinbrausen, das Schlimmste wäre vorbei. Aber im Gegenteil: Auf dem Weg nach oben konnte ich meine Kräfte nicht einteilen, ich befand mich ja auf der Flucht. Sonst wäre ich an den Rand gefahren, hätte verschnauft, das Rad ein bisschen geschoben, usw. Oben angekommen, musste ich mich der Realität stellen. Mein Herz schlug schnell und laut, ich bekam kaum Luft, ich hatte mich überfordert. Ich hatte Angst, an einem Herzinfarkt zu sterben, wenn ich meinen Weg fortsetzte. Die paar Meter zum Michaelerwald schaffte ich noch, dann hüpfte ich vom Sattel und stolperte in den Wald, wo ich mich bei der erstbesten trockenen Stelle auf den Boden legte und einschlief.
Am Vormittag erwachte ich. Wie ein debiler Schrat stapfte ich aus dem Wald. Eine Joggerin, die mich sah, nahm entsetzt Reißaus. Mein Fahrrad lag immer noch mitten auf dem Weg, wo ich es hingeschmissen hatte.
Die Fahrt nach Hause war anstrengend und schmerzvoll. Immer wieder fragte ich mich, wie das weitergehen sollte. Nichts von dem schönen Rausch war mir geblieben, nur ein Gefühl, als würde mir jemand mit einer Spachtel den Schädel spalten. Viehischer Schweiß verklebte mir den Rücken.
Doch schließlich schaffte ich es, schälte mich aus der schmutzigen Kleidung und drehte die Dusche auf. Ich setzte mich vor der Duschkabine auf den Boden, um zu warten, bis die Temperatur passte. Als es aus der Kabine zu dampfen begann, hatte ich die Lust zu duschen verloren. Jetzt zu duschen. Ich würde am Abend duschen, wenn es mir besser ging. Nun war die Zeit gekommen, mich zu reparieren.
Ich kramte aus einer Küchenlade den Flaschenöffner hervor und öffnete eine Bierflasche. Ich nahm das Bier brav ein, verhielt mich mir gegenüber wie ein höriger Patient bei seinem herrischen Arzt. Ich zog mir leichte Kleidung an, machte mein Gesicht nass und stellte mir vorsorglich ein zweites Bier neben das Fernsehtischchen. Ich drehte den Fernseher auf und konnte mich eine halbe Stunde lang nicht entscheiden, was ich mir ansehen wollte.
Es war gut, dass ich das zweite Bier vorbereitet hatte, ich hätte es vermutlich nicht mehr geschafft aufzustehen. Das zweite Bier aber gab mir die Kraft, ein drittes zu holen. Außerdem ging ich in den Vorraum, am Bad vorbei, wo ich die Dusche abdrehte – das hatte ich vorher vergessen, der Tinnitus hatte das Rauschen einfach übertönt –, und holte die Perlenkette aus der Tasche meiner zerknüllt auf dem Boden liegenden Hose.
Ich verstand nichts von Perlen. War das gut, dass sie weiß waren oder sollten sie weißlich sein, mit wertvollen Sprenkeln?
Sachte ließ ich die Perlen durch meine Finger rieseln, sie einzeln auf dem Glas des Tischchens dribbeln. Klack! Klack! Klack! Es beruhigte mich so.
Die erste Szene von Clemens’ Roman beginnt mit einem Hustenanfall in der Küche. »Es ist nichts«, sagte seine Mutter und winkte mit dem Geschirrtuch in der Hand ab, obwohl es eben noch aus ihrer Lunge nach Aufruhr und Geröll geklungen hatte. »Es ist nichts«, sagte sie auch, als sie eine halbe Stunde lang beim Spazierengehen auf einer Parkbank sitzen musste. Sie rang nach Atem und versuchte dies mit einem leisen schnellen Hecheln zu verbergen. Sie konnte nicht fokussieren, ihr Blick war glasig, rasend, eine verrückte Murmel unter einem Schleier. Sie war diese halbe Stunde nicht ansprechbar, und Clemens, so schrieb er, konnte es nicht recht glauben, als seine Mutter die Rast mit einer schlecht durchschlafenen Nacht rechtfertigte.
Clemens’ Mutter weinte in der IKEA-Kantine; das konnte vieles bedeuten, aber sie erklärte es damit, dass sie sich mit ihrer Putzfrau überworfen hatte.
Einmal im Supermarkt, als sie sich einfach neben den Dosen auf den Boden setzte und er sie trösten wollte, bemerkte er beim Massieren, dass die linke Schulter seiner Mutter eiskalt und die rechte brennheiß war.
Wenn sie sich ihre Mentholzigaretten anzündete, musste er ihre Hand halten, sonst näherte sich das Feuer immer mehr ihrem Auge, ohne dass sie etwas dagegen unternahm. Clemens probierte es auch aus. Wie weit kann man das Feuer dem Auge nähern? Schon lange bevor die Hitze grausam wurde, war es das Licht, das helle Weiß, das ihn den Versuch abbrechen ließ.
Sie begegnete einem distinguierten Herrn auf der Alser Straße und kannte seinen Namen. Da war ihre Lunge bereits unheilbar vom Krebs befallen.
Sieben Seiten über die Verfärbungen ihres Rocks, als sie sich auf den Boden einer Konditorei entleerte.
Schließlich das große Coming-out: Sie breitete die Arme aus, stapfte in großen Schritten durch die Wohnung. Sie wollte dramatisch wirken – letzte Arie vor dem Vorhang –, aber Clemens wollte ihr gar nicht zuhören. Sie wirkt wie ein Tanzbär, dem man quer durch den Kopf geschossen hat, schrieb Clemens in seiner grausamen, gestelzten Sprache.
Sie erzählte ihm alles. Vom Lungenkrebs, vom Brustkrebs, von den Geheimtüren des Körpers, durch die sich die Metastasen schlichen. Vom Parkinson. Von dem einen Arzt, der es trotz des traurigen Zustands ihres Körpers nicht geschafft hatte, ein Rülpsen zu unterdrücken.
Clemens irritierte das blöde Gesicht, das sie während des Erzählens machte. Halb Lustspiel, halb Dorfdepp! War sie auch noch stolz, so kaputt zu sein? Sich zu spät um Hilfe gekümmert zu haben? Was war los mit seiner Mutter?
Clemens erschrak über seine Gedanken. Jeder reagierte natürlich anders auf traumatische Erlebnisse, aber das machte es nicht besser. Während der Körper seiner Mutter verdarb, ging er seiner kalten Wut auf den Grund.
Ein Mittelteil widmet sich Jugenderinnerungen, in denen er sich seiner Mutter erst mit scharfem Urteil, dann immer milder annäherte. Sie war eine stolze Frau, sie konnte Fröhlichkeit verbreiten wie keine andere, aber es war ihr wichtig, dass die Dinge nach ihrem Willen liefen. Wenn nicht, wehe, wehe. Durch das Schreiben über sie, schrieb Clemens, konnte er die Perspektive des Sohnes verlassen und seine Mutter als das erkennen, was sie war. Eine vom Schicksal gebeutelte Person mit schweren Fehlern, die es sich und anderen nicht leicht machte, und nicht anders konnte, als alle mit ihrer Liebe zu erschlagen.
Gut, dass er nicht mehr bei ihr lebte, weil er schon beinahe vierzig war und nicht mehr dreizehn, und sich außerdem in Bayern versteckt hielt, beschrieb Clemens seine Gedanken in seinem Roman Das untröstliche Sterben meiner Mutter, so konnte er, wenn es zu viel wurde, Abstand halten und seine Gedanken ordnen.
Wie sie Clemens mit ihrem Geständnis überfallen hatte, auf der Terrasse des Krankenhauses, mit der einen Hand den fahrbaren Tropf haltend, der die Chemotherapie in ihre Adern einschlich, mit der anderen die Mentholzigarette. An diesem Abend, unter kaltem dunklem Himmel, offenbarte die Mutter ihre gesamte sexuelle Geschichte. Clemens hörte, ob er wollte, oder nicht, wie sein Vater im Bett war, wie sein Vater zu verschiedenen Zeiten in ihrem Leben im Bett war. Ob er es hören wollte oder nicht, zählte sie ihm alle Liebhaber auf, mit denen sie Clemens’ Vater betrogen hatte, sie zählte die wenigen Male auf, bei denen sie ihren zweiten Mann mit Clemens’ Vater betrogen hatte; sie zählte die Dinge auf, die sie beim Sex erregten und die Clemens’ Vater nicht hatte machen wollen, für die es sich aber lohnte, eine Beziehung zu beenden; und sie zählte, ob Clemens es hören wollte oder nicht, all die sexuellen Betätigungen auf, für die sich ein Seitensprung, nicht aber das Ende einer Beziehung lohnte. Sie kritzelte die für sie ideale Form eines Penis auf ein Blatt Papier und meinte, dass Clemens’ Vater diesem Penis in nur fünf Punkten nicht entsprach. Sie rauchte, sie weinte; vor Clemens’ Augen wurde sie Mensch.
Dann fasste sie ihn an der Hand und schwieg. Sie blickte ihm tief in die Augen, intensiv, brennend, und sagte, dass sie – er solle sich nicht schämen, das sei etwas Natürliches – in der letzten Zeit wahnsinnig geil geworden sei. Die Chemotherapie hätte sie, ganz entgegen der Voraussagen der Ärzte, unerhört, fast unbewältigbar lüstern gemacht. Ihr Unterleib glühe, brenne, schmettere, sie wolle nicht so ungestillt aus dem Leben gehen. Es gäbe einen Arzt in diesem Krankenhaus, einen wunderschönen Arzt, mit grau melierten Schläfen, ob Clemens nicht vorfühlen könne, vom Arzt erfragen, ob er Interesse hätte an einem sinnlichen, keine Bedenken kennenden fleischlichen Akt mit einer frohen Person, die lebenserfahren genug sei, um all die sexuellen Tricks der Natur sehr fein zu beherrschen.
Was Clemens prompt tat, weil er sich über diese Distanzlosigkeit so ärgerte, dass er seine Mutter blamieren wollte, und dann ärgerte sich der Arzt, und das ärgerte Clemens wiederum. Wie konnte der Arzt nur so humorlos, so ohne Mitleid, ohne Augenzwinkern reagieren, wie konnte er sich so gehen lassen, dass man ihm die Genervtheit so ansehen konnte, dass er sie in rohe Sätze verpackte, das war doch schließlich Teil seines Berufs: Gute Miene zu den grausamen Albernheiten zu machen, die beim Krepieren eben so auftraten.
Zwei Seiten über Ärzte.
Dann schrieb Clemens gute zwanzig Seiten über den Kindergeburtstag einer Bekannten, den er besucht hatte. Anlässlich der Fröhlichkeit der Kinder sinnierte er über seine Kindheit. Wann hatte er sich wirklich glücklich gefühlt, war da immer nur diese nervöse Angst gewesen? An dieser Stelle kam sogar ich vor, in einem Satz: Wir waren, dreizehn Jahre alt, zusammen im Urlaub, waren Skifahren, stritten mit einer Göre, wollten das Rauchen beginnen und schafften es nicht.
Clemens merkte, wie sehr er seiner Mutter verzeihen wollte, einfach um seine Ruhe zu haben, einfach weil man das so tat, wenn jemand dermaßen in den Schmerz und die Verirrung gestoßen wurde, ein einfaches Menschlein in Todesangst.
Eine Begegnung mit einem Priester, die Clemens forsch heraufbeschwor. Sonore Stimme, Rotwein, ein oranger Himmel in der Wachau. Thema: Versöhnung. Clemens wollte große Antworten auf diese Frage, ein endgültiges Gebot, gründlich überlegt durch all die Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Aber ab der Hälfte bog der Priester geistig ab, er hatte zu viel getrunken, und dann noch einmal so viel. Er redete nicht mehr vom Verzeihen, sondern darüber, dass man vor dem Verzeihen erst über Schuld reden müsse. Was sei Schuld? Wann sei man schuldig? Reiche eine Anschuldigung, um schuldig zu sein? Wenn zwei Menschen etwas Schönes miteinander erlebten, könne man dann Jahrzehnte später mit dem Finger auf sie zeigen und sagen, dass über das Gemeinsame nicht gemeinsam bestimmt wurde, dass Tricks im Spiel gewesen seien? Zärtlichkeit könne doch aufbauend sein. Wir wären doch alle Kinder Gottes. Wer habe denn hier wen reingelegt? Letztendlich sei es einfach in geworden, den Priester aus der eigenen Schulzeit anzuschmieren, ganz gleich, wer in wem gesteckt sei, und so weiter, und so fort. Mit sich drehenden Gedanken verließ Clemens die Wachau.
Ein langes Gespräch mit seiner Mutter im Park, im Verlaufe dessen sie vergaß, wer Clemens war, wer sie selbst war, warum sie hier im Park war. Sie begann mit einem Ast auf Clemens einzuschlagen.
Eine unangenehme Beschreibung des Anblicks einer von Krebs befallenen Brust, der Tumore unter der Haut.
Ein dichter Absatz über seinen Vater, den er zwar liebte, der ihm aber immer fremd geblieben war. Clemens konnte sich nicht erklären, wie seine Eltern zueinandergefunden hatten. Die Zurückgezogenheit, das Schweigen, die Strenge, die lauwarmen Gefühle des Vaters konnte er sich allerdings gut erklären.
Ein weiteres Gespräch mit seiner Mutter, in dessen Verlauf Clemens vor Wut mit der Hand ausholte, gegen dessen Ende sie sich aber umarmten und weinten.
Hundert Seiten detaillierte Schilderung des qualvollen Sterbens seiner Mutter in einer langen Nacht, die Clemens angetrunken in einer Hotelbar zubrachte. Zelle für Zelle: Wie sich der Körper ausschaltete, welche Gedanken seiner Mutter durch den Kopf gingen, die Abwechslung von Schmerz und Erleichterung, welches Zischen und Brutzeln in ihrem Gehirn dafür verantwortlich war, dass scheinbar zufällige Erinnerungen abgerufen wurden. Schmerz, Finsternis, in einer klaren Sprache. Ein schwieriger Mensch ging aus der Welt und es war die traurigste Angelegenheit.
Nach dem Gehirntod wählte Clemens noch eine gekünstelte Erzählperspektive aus dem Inneren des Körpers, beschrieb, was die Mikroben und Bakterien erlebten, während der Gastkörper längst verstorben war; vom stehenden Blut in den Adern, von den Gasen in ihren Gedärmen. »Sie ging aus der Welt wie ein zitternder Aal«, lautete der letzte Satz dieses Kapitels, der aus dem Zusammenhang gerissen alberner klang als im Roman.
Der Roman endete mit einer akribischen Aufzählung all der Kosten, die auf Clemens zukamen, als er das Begräbnis seiner Mutter ausrichten musste.
Schon Wochen bevor Das untröstliche Sterben meiner Mutter