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Simon reist einen Tag vor Heiligabend nach Hause. Doch statt eines idyllischen Familienfests erwartet ihn wie jedes Jahr der Kampf mit seiner Mutter, die ihm ihr selbst gebackenes Kletzenbrot aufdrängt, das er nicht leiden kann. Hinzu kommt die lästige Fragerei wegen seines Singledaseins, ein Thema, das vor allem seine Tante Resi nur zu gerne aufgreift. Der einzige Lichtblick ist die Aussicht auf Hannes, ein charmanter Wiener, den er vor zwei Wochen kennengelernt hat, und den er nach den Feiertagen wieder treffen will. Als Simons Schwester Ika eintrifft und ihren neuen Freund der Familie vorstellt, fällt Simon aus allen Wolken. Der neue Schwiegersohn in spe ist niemand Geringerer als Hannes. Zwischen Familienchaos, unausgesprochenen Wahrheiten und weihnachtlicher Stimmung muss Simon herausfinden, was wirklich für ihn zählt. Ein humorvoller und herzerwärmender Roman über weihnachtliches Familienchaos, unvorhergesehenen Überraschungen und den Mut, sich der Liebe zu stellen.
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2024
Alle Jahre wieder - Ein Kletzenbrottango
Alle Jahre wieder - Ein Kletzenbrottango
Impressum
Über den Autor
Alle Jahre wieder - Ein Kletzenbrottango
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Programm
Holy Night
Noch einmal schlafen, dann ist ... Schöne Bescherung
Jessman, der Lichtelf
O du Schwierige
Über Lesben, Lebkuchen und Leidenschaft
Friedenszeit
Friedensboten
Friedensfreunde
Hans Christian Baum
Hans Christian Baum, Alle Jahre wieder - Ein Kletzenbrottango
© HOMO Littera digital
© HOMO Littera
Am Rinnergrund 14/5, A - 8101 Gratkorn
www.HOMOLittera.com
E-Mail: [email protected]
Grafik und Covergestaltung: Rofl Schek
Bildnachweis: christmas decoration © MIKHAIL – stock.adobe.com
christmas ball © stciel – stock.adobe.com
gold sparkling lights © Thanakorn – stock.adobe.com
Originalausgabe: Dezember 2024
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.
ISBN PDF: 978-3-99144-056-7
ISBN EPUB: 978-3-99144-057-4
ISBN PRC: 978-3-99144-058-1
Hans Christian Baum ist ein österreichischer Schriftsteller, der seit Jahren unter einem anderen Pseudonym erfolgreich Horror- und Fantasygeschichten schreibt. Seit 2018 veröffentlicht er bei HOMO Littera auch belletristische Literatur im schwulen Bereich. Hans Christian lebt mit seinem Lebensgefährten und zwei Hunden in der Untersteiermark.
Veröffentlichungen bei HOMO Littera:
Holy Night, Gay Romance, Weihnachten 2018
Noch einmal schlafen, dann ist ... Schöne Bescherung, Gay Romance, Weihnachten 2021
Meine Familie, ich und andere Katastrophen, Mein Leben ist ein Kitschroman, Band 1, Roman, Herbst 2019
Meine Familie, ich und andere Katastrophen, Vom Kitschroman zur Freakshow, Band 2, Roman, Winter 2019
Survival Camp - Wild Adventure in: Einfach weg – Nahrung für dein Fernweh, Winter 2018 (1. Auflage)
Plüschhasen und schwule Söhne in: Friedenszeit, Miteinanda für die Ukraine, Benefizanthologie, Herbst 2022
Kiwis und Neufundländer in: Friedensfreunde, Miteinanda für die Ukraine, Benefizanthologie, Herbst 2022
Survival Camp - Wild Adventure in: Einfach weg – Nahrung für dein Fernweh, Winter 2023 (2. Auflage)
Ich hätte nicht so früh kommen sollen. Alleine durch den Geruch des frisch gebackenen Kletzenbrots wurde mir schlecht. Aber Weihnachten ohne das verfluchte Brot ging nicht – als wäre es nicht dasselbe. Ich hätte das wissen müssen, schließlich backte Mama jedes Jahr ab der Adventszeit Kletzenbrot, Christstollen und Kekse.
Natürlich Kekse! Ein Keks zwischen den schmackhaften, aber auch viel zu üppigen Mahlzeiten ging immer. So zumindest Omas Meinung. Weihnachten war die Zeit des Mästens. Wann immer es möglich war, stopfte einem Mama oder Oma etwas in den Mund.
»Hast du Hunger?« Mama eilte durch die Küche und schob mir den Teller mit dem noch warmen Kletzenbrot zu. Sie wusste, dass ich es nicht mochte, aber wie jedes Jahr probierte sie es wieder. Das war wie die obligatorische Frage von Tante Resi, ob ich jemand kennengelernt hätte – mit dem stummen Beisatz: hoffentlich eine Frau.
»Nein, danke.« Ich nahm mir einen Lebkuchenstern von dem zweiten Teller am Küchentisch und biss lustlos davon ab. Ich fühlte mich jetzt schon überfressen, und Weihnachten war erst morgen. Morgen würde ich platzen. Aber so war das. Weihnachten war das Fest der Familie, wo es vor allem darum ging, für einen Abend so viel zu kochen, damit die Reste auch für die nächsten acht Tage noch reichten. So zumindest bei uns.
»Noch einen Kakao?« Mama nahm die Tasse an sich und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich wollte Nein sagen, weil ich einfach nicht mehr essen konnte. Seit meiner Ankunft heute Morgen wurde mir im Stundentakt Nahrung in den Mund gesteckt – und es war unmöglich, sie abzuweisen. Mama und Oma waren da etwas eigen. Wenn man nicht zumindest eine Portion kostete, waren sie regelrecht beleidigt – und ich wollte keinen Zoff so kurz vor Heiligabend. Deshalb wiegte ich auch jetzt meinen Kopf hin und her und tat so, als würde ich überlegen. Nach dem Motto: Gut wäre er schon, aber …
»Ich mach’ dir einen!« Mama wartete meine Antwort nicht ab, sondern lief durch die Küche und machte sich daran, mir eine weitere Kalorienbombe zuzubereiten. Ihr Kakao war nicht einfach Milch mit gewöhnlichem Pulver, nein, Mamas Spezialweihnachtskakao bestand aus Schlagobers, in der die üppigste Vollmilchschokolade, die sie finden konnte, geschmolzen wurde – in einer Menge, dass der Kakao so dickflüssig war, dass der Löffel darin stand. Darauf kam eine Sahnehaube, die mit Schokostreusel garniert wurde. Wäre es möglich gewesen, hätte sie den Schokolade noch mit Zimt verfeinert, aber sie wusste, ich mochte keinen Zimt, weshalb sie stattdessen einen Löffel Vanillezucker hinzufügte. Gesteigert wurde das Ganze nur noch, indem sie statt Vollmilchschokolade weiße Schokolade nahm. Nach einer Tasse Kakao mit weißer Schokolade musste man kotzen.
»Willst du dieses Mal weiße Schokolade? Ich habe die gute!« Mama lächelte mich lieblich an. Die gute bedeutete die üppig-sahnige.
Ich schluckte. Nein, unmöglich, die zweite Tasse Kakao wäre schon zu viel, nun eine mit weißer Schokolade zu bekommen, würde mir den Garaus machen. »Ähm, nein … lieber Vollmilch!«
»Sicher?« Mama grinste. Ich wusste, was sie dachte: Du magst doch weiße Schokolade – und ich bekoche dich so gerne. Komm schon, nimm die weiße!
Ich kann nicht! Mir ist jetzt schon schlecht! Genau das hätte ich sagen sollen, stattdessen murmelte ich: »Na, gut!«
Mama freute sich und holte zwei Tafeln weiße Schokolade aus dem Schrank – zwei Tafeln!
Ich ließ mich in die Sitzbank sinken und schwor mir, nächstes Jahr erst am 24. Dezember anzureisen. Einen Tag vorher zu kommen, bedeutete nur, noch mehr von ihr gemästet zu werden – und ich wollte kein Gramm zunehmen. Ich hatte vor zwei Wochen in einem Klub in Wien einen Mann kennengelernt, der mir regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Er war optisch ein Adonis, groß, breitschultrig und mit Muskeln an den richtigen Stellen. Nicht übermäßig aufgepumpt, aber mit Sicherheit hatte er ein Eightpack – und seine Augen, du meine Güte! Er hatte bernsteinfarbene Augen. Wenn man genau hinsah, erkannte man die goldenen Sprenkel in der Iris.
Charakterlich war er ebenso mein Typ – nicht übermäßig vorlaut und übertrieben witzig, dafür sehr redegewandt, eine Spur nachdenklich und ernst. Ich hatte ihn zufällig getroffen, weil ich damals an dem Abend gar nicht ausgehen wollte. Aber Fabian, mein Kumpel, hatte mich überredet, mitzukommen, und siehe da, da war auch Hannes. Seit rund fünf Jahren suchte ich nach meinem Traummann und war deshalb fast jedes Wochenende unterwegs gewesen – doch nichts geschah, überall gab es nur Luschen und Typen, die mich für eine schnelle Nummer flachlegen wollten. Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben, doch noch den Mann fürs Leben zu finden, als ich unerwartet auf Hannes traf. Wie ich hatte er nur einen Freund begleitet, wie ich hatte er sich in eine ruhige Ecke des Klubs zurückgezogen, um ein wenig Abstand von dem Trubel zu finden. Damit kamen wir ins Gespräch, und schließlich quatschten wir die ganze Nacht. Hannes und ich tauschten unsere Telefonnummern, und er versprach anzurufen. Er lud mich nicht noch in derselben Nacht zu sich nach Hause ein, er fragte nicht einmal, ob ich noch in ein anderes Lokal mit ihm gehen wolle, stattdessen nahm er meine Handynummer, verabschiedete sich und versicherte mir, sich am nächsten Tag zu melden.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich schreckliche Angst, dass er nicht anrief. Ich kannte diese Versprechungen: Ich ruf dich an. Ich melde mich! Natürlich rief niemand an, es waren nur leere Floskeln, um nicht zugeben zu müssen, dass die Bekanntschaft genau hier an diesem Ort endete.
Bei Hannes war es anders. Ich kann nicht genau sagen, was es war, aber ich glaubte ihm seine Worte – irgendwie.
Am nächsten Tag schrieb er mir tatsächlich eine WhatsApp, in der er mir beteuerte, wie sehr er das Gespräch mit mir genossen habe und dass er sich über ein Treffen freuen würde.
Bingo! Ich war hin und weg. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend, und es lief wie beim ersten Mal. Wir redeten viel und lachten, er hatte genau denselben Humor wie ich. Es folgten noch zwei weitere Dates – dieses Mal eindeutig Dates! –, und es knisterte augenscheinlich zwischen uns. Am liebsten hätte ich ihn jeden Tag gesehen, aber aus beruflichen Gründen war uns das nicht möglich. Er war Physiotherapeut, und seine Klientel bevorzugte die Abendstunden für ihre Therapien. Dementsprechend sendeten wir uns unzählige Whatsapp-Nachrichten. Das Erste, was ich morgens machte, war mein Handy zu kontrollieren, ob eine eingehende Nachricht für mich da war, und das Letzte jeden Abend war ihm Gute Nacht zu wünschen.
Dass uns Weihnachten voneinander trennte, passte mir nicht, aber Mama und Papa hätten nicht akzeptiert, wenn ich die Feiertage woanders verbrachte. Zu Weihnachten fuhr man nach Hause – da konnte geschehen, was wollte. Deshalb fragte ich Hannes, ob er mit mir kommen wolle, obwohl ich natürlich wusste, dass es noch viel zu früh war und ich ihn in eine Zwangslage brachte. Zu meiner Überraschung war er nicht abgeneigt, aber leider hatte er schon mit einem Freund vereinbart, die Feiertage bei ihm zu verbringen.
Tja, da kam ich wohl zu spät, und kurz war ich irritiert, weil er den Freund nie erwähnt hatte. Ich meine, er verbrachte die Feiertage mit ihm, da mussten sie sich sehr nahestehen. Aber Hannes versicherte mir, dass besagter Freund hetero sei und sie nur eine gute Freundschaft hätten.
»Magst du nicht doch ein Stück Kletzenbrot dazu?« Mama riss mich aus den Gedanken und stellte den Kakao mit weißer Schokolade vor mir auf den Küchentisch.
»Nein, danke.«
»Nur ein Stück«, bedrängte sie mich weiter, obwohl sie wusste, dass ich das Brot nicht mochte. »Koste es, dieses Mal schmeckt es ganz anders.«
Es roch aber gleich. Alleine der Geruch ließ mich die Nase rümpfen. Getrocknete oder warme Früchte waren nicht mein Gusto – und dieses vermaledeite Kletzenbrot bestand zu 60 Prozent aus Früchten.
»Nur eine kleine Scheibe!« Mama griff nach einem Stück und hielt es mir vor die Nase. »Koste zumindest.«
Ich rollte mit den Augen und nahm ihr die dämliche Brotscheibe ab. Sie würde keinen Frieden geben, ehe ich nicht davon gegessen hatte. Mit gerunzelter Stirn biss ich ab, und sofort breitete sich der grauenhafte Geschmack von getrockneten warmen Birnen und Zwetschken in meinem Mund aus. Ich kaute mindestens dreißigmal, ehe ich den ekeligen Klumpen hinunterwürgte.
»Und?« Mama sah mich freudig an.
»Na ja, Kletzenbrot halt«, murrte ich und zuckte hilflos mit den Schultern. Es mochte ja sein, dass sie es heuer anderes gebacken hatte, aber für mich blieb es dasselbe.
»Lecker, nicht wahr? Opa sagt, es ist das beste Kletzenbrot, das er jemals gegessen hat.« Stolz drückte sie die Brust heraus und grinste breit.
»Ja … sicher.« Ich versuchte zurückzulächeln, legte das Brotstück aber vor mir auf den Küchentisch. Ich würde es nicht zu Ende essen, es reichte, wenn ich gleich eine zweite Tasse Kakao trinken musste. Das Kletzenbrot würde mich nur unnötig früh in Richtung Toilette treiben.
Aus dem Wohnzimmer drang Dean Martins I’ll be home at Christmas, und ich schwor mir ein weiteres Mal, nächstes Jahr erst am Heiligabend anzureisen. Ein Tag zu früh, war ein Tag mehr, an dem Mama mich wie eine Gans stopfen konnte. Zum Glück hatte sich Oma zu Papa und Opa ins Wohnzimmer zurückgezogen, sonst würde auch sie mich mit etwaigen Dingen füttern.
Ich griff nach dem Löffel des Kakaos und schaufelte die erste Portion Schlagobers in meinen Mund. Langsam ließ ich sie schmelzen. Hoffentlich übergab ich mich nicht, dann würden mich die Zwillinge meines Bruders Chris die ganzen Feiertage über aufziehen. Mama würde es ihnen nämlich brühwarm erzählen, und Lea und Leon, so hießen die Zwillinge, würden sich darüber lustig machen. Ich kannte sie, sie waren vierzehn und mitten in der Pubertät. Sie fanden entweder alles schrecklich oder übertrieben witzig. Dazwischen gab es nichts. Chris lebte mit seiner Frau und den beiden Kids in Wiener Neustadt, ein gutes Stück von Wien entfernt, aber nicht zu weit, um sich nicht regelmäßig zu sehen. Deshalb bekam ich viel zu viele Einzelheiten mit, wenn Lea und Leon ihren Vater den letzten Nerv raubten. Oder mir. Seit rund zwei Jahren waren sie nicht nur frech und vorlaut, sondern auch niederschmetternd und verletzend.
Ich linste auf meine Uhr, Chris hatte versprochen, bis spätestens halb vier hier zu sein, damit ich Mama und die anderen nicht alleine ausgeliefert war. Sosehr ich meine Familie liebte, so sehr konnten sie mir auch auf den Geist gehen. Am Schluss endeten wir immer wieder bei der Diskussion, dass ich unverheiratet sei und ein schäbiges Singledasein führe. Als wäre es so leicht, den richtigen Partner zu finden. Als würde an jeder Straßenecke ein passender Kandidat warten. Sollte Tante Resi noch vor Chris eintreffen, wechselte das Thema zusätzlich in jene Richtung, die wir seit über einem Jahrzehnt mieden, vor ihr auszusprechen. Nämlich, dass ich schwul war und somit keine weitere Schwiegertochter ins Haus kam. Ich hatte mich vor vierzehn Jahren geoutet, und es war von allen mehr oder weniger gelassen hingenommen worden. Mama und Papa hatten es akzeptiert, Opa auch, bei Oma war ich mir nicht sicher, ob sie verstand, was ich ihr gesagt hatte.
Eigentlich wäre alles gut, wäre da nicht Tante Resi, die sich immer wieder nach einer Frau in meinem Leben erkundigte. Einen schwulen Neffen zu haben, ging nicht in ihren Kopf, sosehr wir uns auch alle anstrengten. Selbst die Einheimischen des Dorfes hatten es hingenommen, irgendwie. Ich hatte mich nie versteckt, und wenn mich jemand darauf ansprach, stritt ich es nicht ab. Wozu auch? Schwul war schwul, Liebe gleich Liebe. Es machte keinen Unterschied, auch wenn ich zugeben muss, dass ich damals froh war, nach Wien zu gehen, um zu studieren. Als Schwuler war es dort viel einfacher, weshalb ich auch nach meinem Abschluss in Wien geblieben war.
Das Leben als homosexueller Mann in einer kleinen Gemeinde, in der jeder Einwohner alles von seinen direkten Nachbarn und darüber hinaus wusste, war hingegen viel komplizierter. Nach außen hin war meist alles in Ordnung, aber hinter vorgehaltener Hand ging es ans Eingemachte – das wusste ich, auch wenn die meisten Einheimischen mich tolerierten. Im Grunde war das eine Landsache. Es gab keine großen Medien oder riesigen Ereignisse, es gab nichts außer die Nachbarn, die Dorfprominenz – allen voran der Bürgermeister und seine Frau –, den Dörflwirt, wo man sich wöchentlich traf, sowie die Einheimischen und die Zugewanderten. Letztere waren Gesprächsstoff Nummer eins, es sei denn, es gab etwas Interessanteres, nämlich einen Schwulen. Dann rückte automatisch dieser in den Mittelpunkt des Geredes – oder nennen wir es besser innerhalb des Dorffunks, des Buschfunks. Jede noch so nichtige Neuigkeit wurde im Tempo eines Lauffeuers verbreitet, und es gab kein Pardon. Da wurde getratscht, geplappert, geredet und gehetzt. Nichts blieb ein Geheimnis, alles wurde an die Oberfläche gezerrt. Jeder wusste alles über jeden, meistens sogar mehr, als die Person selbst, über die geredet wurde. Aber so war das nun einmal in einer kleinen Gemeinde. Niemand blieb anonym, und nichts passierte ohne Folgen oder Gerede. Ich wusste, dass ich Teil des Buschfunks war, aber solang man mich in Ruhe ließ, so lange war es mir egal, was man hinter meinem Rücken sagte.
Tante Resi war die Einzige, die offen aussprach, was sonst nur hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde, nämlich, dass ich abnormal war und perversen Sex mit Männern hatte.
»Wann kommt Chris?«, fragte Mama in meine Gedanken und schob die Tür zum Wohnzimmer zu. Opa und Oma hatten den Fernseher angemacht und die Lautstärke nach oben gedreht. Nicht, dass sie schwerhörig waren, aber Weihnachtsshows mussten so laut wie möglich genossen werden. Die Wiener Sängerknaben gaben ihr Bestes und plärrten Es wird scho glei dumpa in viel zu hellen Knabenstimmen in das Mikro. Opas fistelige Greisenstimme erklang. Wie ein Echo hallte sie zu uns. Licht ins Dunkel lief, der große Spendenmarathon, der morgen seinen Höhepunkt finden würde.
»Um halb vier circa«, nuschelte ich an dem nächsten Löffel Schlagobers vorbei. »Warum?«
Mama linste durch den kleinen Türspalt ins Wohnzimmer, vermutlich um sich zu vergewissern, dass Oma und Opa nicht lauschten. Anscheinend gab es eine Neuigkeit, von der sie noch nichts wussten – oder über die Mama in ihrer Gegenwart keine Details ausplaudern wollte.
»Die Vroni kommt mit einem Mann!«, platzte es aus ihr heraus, noch während sie zu mir zur Sitzbankgruppe eilte, sich einen Stuhl herauszog und sich setzte. Sie wirkte völlig aufgelöst.
Ika, so nannten Chris und ich Vroni, und ein Mann – Ika, die seit Jahren predigte, lieber als Single zu sterben, als sich an jemanden zu binden.
»Sie wollen noch vor der Tante Resi da sein, damit sie uns ihren Mann in Ruhe vorstellen kann, ehe die Resi über ihn zu nörgeln beginnt.«
»Ein Mann?« Verwirrt sah ich von meinem Spezialkakao auf. Wenn Ika, eigentlich Veronika alias Vroni, wie sie hier im Ort genannt wurde, mit einem Mann aufkreuzte, hieß das für mich, dass ich dieses Jahr noch mehr als sonst zu einem baldigen Partner gedrängt wurde – ich wusste schon jetzt, dass Tante Resi eine offene Diskussion mit mir beginnen würde, wie schändlich es wäre, mit Männern zu verkehren. »Und sie bringt ihn mit nach Hause?«
Mama nickte eifrig. Es war ihr anzusehen, wie aufgeregt sie war. Wie ich sie kannte, hörte sie bereits die Hochzeitsglocken läuten. »Ja, die Vroni hat endlich ihr Glück gefunden. Wird aber auch langsam Zeit.« Sie machte eine Faust und schlug auf die Tischplatte, als würde das ihre Aussage unterstreichen.
Ich rührte blind in dem Kakao und starrte Mama noch immer verblüfft an. Seit Jahren gab es bei jeder Feier und den Familientreffen die Diskussion über Ikas und mein Singleleben. Ika war 35, und deshalb tickte die Uhr. Ich war zwar erst 28, aber alle glaubten, ich würde ebenfalls keinen Partner mehr finden. So zumindest die Meinung von Mama, Papa, Oma und Opa. Mit 35 galt man nicht mehr als alte Jungfer, sondern als nicht vermittelbare, verrunzelte, hässliche und alte Dörrpflaume, ich stand wohl auch kurz vor der Verwelkung. Bei jedem Treffen gab es dieselbe Diskussion, Ika und ich mussten endlich den passenden Mann finden, ehe es zu spät war. Bei Ika pochte schließlich die biologische Uhr. Das ganze Dorf zerriss sich darüber den Mund. Ika wäre am liebsten jedes Mal zurück nach St. Pölten geflohen, wo sie ein nettes Singledasein mit Überzeugung führte. Dass sie jetzt mit einem Mann aufkreuzte, wunderte mich, denn weder sie noch Chris hatten darüber ein Wort verloren. Normalerweise erfuhr ich solche Dinge noch vor Mama oder Papa. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihr Singleleben aufgab. Nicht Ika.
»Er hat seine eigene Praxis, die sehr gut laufen soll. Über 40 ist er, aber sehr gebildet und familienfreundlich«, plapperte Mama weiter und schob mir den Keksteller näher. »Iss doch ein bisserl1 was.«
Ich seufzte und steckte mir ein Vanillekipferl in den Mund. Es half ja nichts, sie gab ohnehin keinen Frieden, wenn ich nichts aß. Am besten war es, wenn ich nach den Feiertagen ein paar Runden im Dorf drehte. Erstens hatte die Gemeinde dann etwas zu quatschen, und zweitens würde ich die angefressenen Kilos wieder abbauen, zumindest einen Teil davon.
»Stell dir vor, wenn die Vroni in ihrem Alter noch ein Kind bekommt.« Mama grinste, sah sich zur Tür um und beugte sich dann zu mir. »Die Gruber Christl wirds zerreißen vor Neid.«
Ich rollte innerlich mit den Augen. Gruber Christl war eine alte Schulrivalin von Mama. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der die beiden nicht konkurrierten. Dass Ika single war und ich schwul, hatte Mama auf der Perfektes-Leben-Skala um einige Punkte zurückgeworfen. Jetzt mit einem Mann an Ikas Seite punkten zu können, würde sie wieder aufsteigen lassen, vor allem, nachdem sich Christls älteste Tochter letzten Sommer hatte scheiden lassen.
»Und sie bringt ihn zu Weihnachten mit?«, fragte ich noch einmal und wechselte das Thema von Christl zu Ikas neuem Mann zurück. Mir war der Wettkampf mit Christl egal, mich interessierte vielmehr, wer Ikas Mann war. Sie konnten noch nicht lange zusammen sein, denn dann hätte ich es gewusst. Andererseits lud man doch keinen Freund zum Weihnachtsfest ein, den man erst wenige Tage kannte. Oder?
Ich hatte Hannes ebenso ins kalte Wasser gestoßen, vielleicht hatte Ika Ähnliches getan. Der Unbekannte tat mir jetzt schon leid, Mama und Oma würden ihn wie eine Zitrone ausquetschen und danach mit allerhand weihnachtlichen Köstlichkeiten ausstopfen, bevorzugt mit Kletzenbrot.
»Ja!«, riss mich Mama wieder aus den Gedanken. Sie strahlte regelrecht vor Euphorie. »Morgen gehen wir alle gemeinsam in die Messe. Ich habe Vroni schon gesagt, dass sich ihr Mann einen Anzug mitnehmen soll. Er muss für die Christmette ordentlich angezogen sein.«
Ich nickte und rührte den restlichen Schlagobers in den dickflüssigen Kakao. Es ging nicht darum, dass Ikas Freund für die Kirche die richtige Kleidung mithatte, sondern nur darum, dass Mama den neuen Familienzuwachs dementsprechend präsentieren wollte. Wo kämen wir hin, wenn Ikas Mann mit gewöhnlichen Jeans und Jacke in die Christmette ginge? Dann wäre Mama vor Christl die Blamierte.
Mein Handy vibrierte in der Hosentasche, und ich legte viel zu schnell den Löffel zur Seite, um es herauszuholen. Eine Whatsapp-Nachricht.
Ich öffnete die App und starrte auf Hannes’ Bild, doch die Nachricht war nicht von ihm, sondern von Chris.
Ika kommt mit Mann – halt Mama zurück, damit sie nicht gleich innerhalb der ersten Minute Christl anruft 😉
Ich schnaubte leise. Dass ich als Letzter von dem neuen Freund erfuhr, nervte mich. Normalerweise teilten Ika und Chris ihre Geheimnisse mit mir – und jetzt sollte ich Mama abhalten, Christl anzurufen?
»Und? Was Interessantes?« Mama beugte sich über den Tisch, um mitlesen zu können.
Ich schloss die App und schüttelte den Kopf. »Nur Chris, sie kommen bald.«
Mama klatschte in die Hände und sprang vom Stuhl hoch. »Dann muss ich mich beeilen, ich bin noch nicht ganz mit dem Essen fertig.« Sie eilte zur Küchenzeile zurück und hantierte am Herd herum. Dem Geruch nach zu urteilen, gab es Faschierten Braten – schön üppig, damit sich unser Magen für morgen auf das Weihnachtsessen einstellen konnte.
»Wenn die Vroni jetzt auch einen Mann hat, dann bist nur mehr du übrig«, plapperte Mama aufgeregt, während sie den Braten im Rohr mit Sahne übergoss.
Na, da war es ja, das jährliche Thema bezüglich meines fehlenden Partners.
Wütend biss ich die Zähne aufeinander, ehe ich einen riesigen Schluck von dem Kakao nahm. Das hatten Chris und Ika ja schön eingefädelt. Jetzt hatten sie beide Familie und waren aus dem Schneider, während ich die alleinige Nörgelei über mich ergehen lassen musste.
Konnte Mama nicht bis heute Abend warten? Dann wäre wenigstens auch Tante Resi anwesend, und wir konnten die Angelegenheit mit einem einzigen Gespräch hinter uns bringen.
»Vielleicht hab’ ich ja jemanden«, murrte ich und trank noch einmal von der üppigen Brühe.
»Ja?« Mama drehte sich um und sah mich erwartungsvoll an. Sie zog eine Braue hoch, als würde sie an meinen Worten zweifeln. Als könnte sie sich nicht vorstellen, dass ich einen Partner hatte. »Wie heißt sie?«
Verwirrt sah ich zu ihr, die Kakaotasse schwebte vor meinem Mund. »Sie?«, fragte ich.
»Ich meine … er. Wie heißt er?« Sie winkte ab, als hätte sie sich nur versprochen.
Vermutlich hatte sie das, denn es gab seit meinem Outing kein Problem bezüglich meiner Homosexualität – zumindest nicht, solange Tante Resi nicht da war. Andererseits war es seltsam. Ich schluckte, ein Knoten bildete sich in meinem Magen – womit der Kakao endgültig keinen Platz mehr hatte. Mir wurde schlecht.
»Simon?« Mama schaute mich noch immer an. »Wie heißt er?«
»Hannes«, erwiderte ich und presste die Lippen aufeinander. Ihrem Blick nach zu urteilen, zweifelte sie an meiner Antwort. Oder war es, weil es tatsächlich der Vorname eines Mannes war? Wäre es ihr vielleicht doch lieber, wenn ich hetero wäre?
Ich schüttelte den Gedanken ab und nippte noch einmal an dem Kakao. Die Aussicht, dass ich dieses Jahr bezüglich meines Beziehungsstatus der Meute allein ausgeliefert war, brachte mich ganz durcheinander. Mama liebte mich, egal, ob ich hetero oder schwul war. Im Prinzip war das doch egal. »Wann kommt denn Tante Resi?«, wechselte ich das Thema, weil ich mich auf das Zusammentreffen psychisch vorbereiten wollte.
»Die Resi«, brummte Mama und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Tante Resi war ihre Schwägerin, aber sie mochte sie nicht. Nur Papa zuliebe luden wir sie jedes Jahr ein. »Am Abend erst, irgendwann nach sieben, hat sie gesagt – und sie hat eine Überraschung für uns.« Sie warf mir einen eindeutigen Blick zu. »Was wird das schon sein? Wahrscheinlich hat sie wieder irgendeine Weltreise gebucht und führt Papa vor, wie sie unser Erbe verprasst.«
Mama hielt ihr noch immer vor, dass sie Papas Elternhaus, ohne zu fragen, verkauft und den Großteil des Geldes eingesteckt hatte. Nicht, dass Papa nicht genug Geld hatte, aber da ging es Mama ums Prinzip.
»Sie nervt mich jetzt schon«, nuschelte ich in meine Kakaotasse. Normalerweise war ich nicht Resis alleiniges Opfer, Ikas Singledasein mit 35 wog genauso schwer wie meine Homosexualität, aber wenn Ika einen Mann mitbrachte, war ich ihr allein ausgeliefert. Sie würde jede Minute nutzen, um mich bloßzustellen. Vielleicht sollte ich heute noch hetero werden.
»Hm«, machte Mama und musterte mich. »Natürlich nervt sie dich – sie nervt uns alle, aber sie ist Papas einzige Verwandte, die noch am Leben ist. Genau deshalb ist sie auch eingeladen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schon, deshalb darf sie sich dennoch nicht alles erlauben«, antwortete ich müde. Ich wusste, Mama war auf meiner Seite, aber sie fühlte sich auch Papa gegenüber verpflichtet, vor allem, weil Papa Resi liebte. Resi durfte sich alles leisten, er nahm ihr nichts übel. »Ich will mir nicht jedes Mal sagen lassen müssen, dass ich abnormal bin.« Ich ließ den Löffel los und schob die Tasse über den Tisch. »Ich kann nicht mehr, mir ist schlecht.« Nicht nur der Kakao nagte an mir, sondern auch Tante Resis baldige Ankunft. Sie würde die nächsten Tage nur ein Gesprächsthema kennen. Der Knoten in meinem Magen wuchs. Warum war ich nur nach Hause gekommen? Seit Jahren schlug Fabian vor, Weihnachten im Süden zu verbringen. Weißer Sandstrand und türkisblaues Meer, keine Familie, kein Stress – und was machte ich? Kletzenbrot, Kekse im Übermaß und eine Tante, die homophob war. Nicht zu vergessen, der neue Mann von Ika, der mir verschwiegen worden war. Womöglich war auch er schwulenfeindlich. Vielleicht war das der Grund, warum weder Chris noch Ika mir etwas von ihm erzählt hatten.
Scheiße, dann bekäme Tante Resi einen Verbündeten.
Wenn ich es recht bedachte, war ich froh, wenn Weihnachten vorbei war. Dann konnte ich zurück nach Wien und mich wieder mit Hannes treffen. In Wien war mein Leben gewöhnlich normal.
Was machte Hannes überhaupt? Warum schrieb er mir nicht? Er hatte versprochen, sich zu melden, sobald er bei seinem Freund ankäme. War ich bereits nach so kurzer Zeit abgeschrieben?
»Ich glaube, da sind sie!«, rief Mama und trat an mir vorbei, um aus dem Küchenfenster Richtung Hauseinfahrt zu blicken. Aufgeregt schob sie die Gardinen zur Seite. »Ja, da sind sie. Der Chris und die Vroni sind da!« Sie lief aus der Küche.
Vergessen war meine Anklage Tante Resi gegenüber, stattdessen siegte ihre Neugierde. Ikas Mann stand für die nächsten Stunden im Mittelpunkt.
Na, hoffentlich war er unserer Familie gewachsen. Er tat mir jetzt schon leid.
»Die Kinder sind da«, hörte ich Mama im Vorraum rufen, damit Papa, Oma und Opa Bescheid wussten. Das hektische Geräusch, als Mama das Sicherheitsschloss der Haustür aufsperrte, war bis in die Küche zu hören. Wie ich sie kannte, überlegte sie gerade, ob sie Ika entgegengehen sollte – für den Fall, dass sie zu viel Gepäck hatte. Das oder etwas Ähnliches würde sie vorschieben, wenn wir sie fragten, warum sie bei der Kälte nach draußen gehe. In Wirklichkeit wollte sie nur die Erste sein, die Ikas Mann sah.
Aus dem Wohnzimmer drang ein Schlürfen und Stolpern von ungelenken Füßen. Oma und Opa machten sich auf den Weg, die Ankömmlinge zu begrüßen. Beide schnatterten aufgeregt, nur Papa murrte laut. Die vielen Leute nervten ihn, obwohl es sich um seine eigenen Kinder handelte. Seit er in Pension war, war ihm alles zu hektisch und zu laut geworden. Tante Resi lud er dennoch ein, obwohl sie es war, die jedes Weihnachtsfest zum angespannten Verwandtschaftstreffen machte.
Ich hörte Geschnatter und Gelächter. Es war wohl an der Zeit, Chris, seine Familie und Ika mitsamt neuem Mann zu begrüßen. Ich wollte mich eben erheben, als mein Handy vibrierte. Ich entsperrte es und überflog die eingegangene Nachricht.
Hannes – na, endlich. Mein Herz stolperte, als ich seinen Namen antippte.
Bin eben bei meinem Freund zu Hause angekommen. Ich versuche, mich heute Abend aus dem Haus zu stehlen und dich anzurufen. Wie läuft es bei dir? Der Familienclan bereits vollständig? Gruß, Hannes
Hastig antwortete ich ihm.
Gerade sind meine Geschwister mit Anhang gekommen. Ich muss los, sie begrüßen. Freu mich, am Abend deine Stimme zu hören. Simon
Am liebsten hätte ich ein Love you oder Miss you angefügt, aber es war zu früh. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde klammern – jetzt schon, noch bevor wir uns richtig kannten.
»Simon, kommst du?« Mama schaute zur Küche herein und winkte heftig, dann flüsterte sie: »Der Mann von der Vroni ist ein Riese!« Sie zwinkerte, dann war sie wieder weg.
Ich seufzte laut, steckte mein Handy ein und schlüpfte aus der Sitzbank, ehe ich zu den anderen ins Vorhaus ging.
Wie die Heiligen Drei Könige standen Papa, Opa und Oma aneinandergereiht vor dem Stiegenaufgang in den ersten Stock und warteten gespannt auf Chris, Ika und den Rest. Sie trugen Festtagskleidung, und ich wusste augenblicklich, dass Mama sie dazu genötigt hatte. Vor dem neuen Schwiegersohn in spe sollten sich wohl alle von ihrer besten Seite zeigen.
Zu mir hatte sie nichts gesagt – na, ich war ja auch nicht eingeweiht worden, was bedeutete, dass auch Oma und Opa von Ikas Mann wussten.
Waren etwa alle unterrichtet worden, nur ich nicht?
Wütend biss ich die Zähne aufeinander. Heute Abend, wenn alle im Bett waren, würde ich zu Chris gehen und mich beschweren, dass ich außen vor gelassen worden war. Mich nervte nichts mehr, als vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.
»Dazu sagt die Mami nix?« Papa zeigte auf meine blauen Jeans, während er an seinem Krawattenknoten zog. »Warum müssen wir uns herausputzen, während du in der Bluejeans herumstehst?«
Weil ich nicht eingeweiht worden bin!, lag mir auf der Zunge, doch ich verkniff es mir. Papa konnte nichts dafür. Außerdem wollte ich keinen Streit beginnen, den würde ich erst später mit Chris und Ika vom Zaun brechen, wenn sie allein waren, ohne Ikas Lover.
Ich zuckte mit den Schultern und gab mich ahnungslos, was Papa ein weiteres Murren herauslockte. Er hasste Anzüge, vor allem Krawatten. Sobald er Letztere tragen musste, war seine Laune gegen null. Opa war da klüger gewesen, denn er hatte seinen Steireranzug an, und statt der Krawatte hatte er ein Trachtenband um den Hals gebunden, das viel lockerer saß. Oma hatte ein dunkelbraunes Kleid ausgewählt, darunter eine weiße Bluse mit Spitzenkragen. Um ihren Hals hatte sie die Kunstperlenkette, die ihr Mama vor einem Jahr gekauft hatte, angelegt. Der Modeschmuck passte nicht zu den Spitzen, aber das kümmerte sie nicht – auch nicht, dass ihre Füße in knöchelhohen Hausschuhen steckten. Es war Winter, damit trug sie die Plüschpelzschuhe bis ins Frühjahr, da konnte kommen, was wollte. Selbst eine Hitzewelle würde nichts daran ändern.
»Kommt rein – es ist ja so kalt draußen!«, plapperte Mama aufgeregt, und am Klang ihrer Stimme erkannte ich, wie nervös sie war. Sie wollte sich von ihrer besten Seite zeigen. Der neue Schwiegersohn in spe sollte nicht sofort das Weite suchen.
Wäre er klug, würde er genau das tun. Mama würde ihn die nächsten Tage wie eine Glucke bemuttern, während wir anderen uns freundlich und aufgeschlossen zeigen mussten.
Na, hoffentlich hatte sie da an Lea und Leon gedacht. Die Zwillinge würden keine Sekunde auslassen, sich von ihrer schlechtesten Seite zu präsentieren.
Chris umarmte Mama zur Begrüßung und zwängte sich dann durch die Tür, weil Mama Ausschau nach Ika und ihrem Mann hielt. Der Sohnemann war nicht mehr wichtig genug.
»Ist wer gestorben?«, fragte Chris und zeigte auf Papas Anzug, ehe er zu Oma und Opa schaute. Dann grinste er breit, weil er den lächerlichen Aufzug kapierte. »Ah, wegen der Ika und ihrem Mann.« Er schaute zu mir. »Und du wurdest verschont?« Er stellte den Koffer ab und umarmte mich brüderlich.
»Nein, ich wusste nur bis eben nichts!« Ich hörte selbst die Anklage in meiner Stimme, aber es war mir egal. Er sollte ruhig ein schlechtes Gewissen haben.
Chris’ Arme lagen noch immer auf meinen Schultern, und seine Augen hafteten auf mir. »Ich erklär’ es dir später, okay?«, murmelte er, ehe er mich endlich losließ.
»Sicher«, war meine patzige Antwort, weil ich es ihm nicht so einfach machen wollte. Aus dem Wohnzimmer erklang Still, still, weils Kindlein schlafen will, als wäre es eine weitere Anklage. Ich grinste Chris an, er schnaubte leise.
Der Vorraum füllte sich. Anna und die Zwillinge zwängten sich an Mama vorbei. Erstere küsste mich auf die Wangen, die Zwillinge gaben mir nicht einmal die Hand, sondern musterten mich mit gerümpfter Nase, als würde ich streng riechen. Höfliche Begrüßungen waren wohl nicht mehr in Mode.
Oma nahm darauf keine Rücksicht, sie presste beide Kids an ihre üppige Brust, als wären sie aus Watte, und tätschelte ihnen den Rücken. Lea stöhnte laut, Leon brummte, sie hatten dennoch keine Chance.
Ich grinste schadenfroh. Die Zwillinge in einer so misslichen Lage zu sehen, machte den vielen Ärger, den sie mir in letzter Zeit zumuteten, eine Spur wett.
Erneut rümpften Leon als auch Lea die Nase, beide runzelten die Stirn und musterten Oma. Sie hatte ihr Lieblingsparfüm 4711 Kölnisch Wasser aufgetragen, ich konnte es bis hierher riechen – nichts für verwöhnte Näschen wie Leas oder Leons. Vermutlich trug Lea Chanel N° 5 und Leon Hugo Boss – oder Leon trug gar nichts, bei ihm konnte man sich nicht sicher sein.
Ich wandte mich zur Tür. Mama strich sich unruhig die Bluse glatt, als endlich Ika mit ihrem Mann im Vorhaus auftauchte. Ein großer Kerl schob sich durch die Tür und streckte Mama freundlich die Hand entgegen. Seine zweite ruhte auf Ikas Mitte. Es wirkte vertraut und genau so, wie es bei einem Pärchen sein sollte – und dennoch erschien es mir falsch. Es war falsch.
Ich schluckte trocken, und in mir stieg Hitze auf. Ich spürte, wie mir der Unterkiefer leicht nach unten sank und ich hektisch einatmete.
Der Kerl trat an Mama vorbei und hielt mir die Hand entgegen, als er unerwartet innehielt. Sein Blick haftete auf mir, und wie ich auf ihn starrte er auf mich, als wäre ich eine Erscheinung. Sein Lächeln verschwand, stattdessen schnappte er überrascht nach Luft.
Ich ergriff die Hand und schüttelte sie ganz automatisch, ohne etwas zu sagen. Das konnte ich einfach nicht. Es war unmöglich, denn vor mir stand Hannes.
There’s no place like home for the holidays, hallte es aus dem Wohnzimmer zu mir ins Bad. ’Cause no matter how far away you roam/If you want to be happy in a million ways/For the holidays, you can’t beat home, sweet home/There are no place like home for holidays.
Ja, schönes Zuhause. Meines lag in Trümmern vor mir. Wie konnte es sein, dass Hannes hier war, obwohl er doch bei einem Freund feiern wollte? Wie konnte es sein, dass dieser Freund mein Bruder Chris war – und wie, zum Henker, war es möglich, dass Ika, meine Schwester, Hannes’ Freundin war?
Hatte Hannes mich verarscht? Waren die Gespräche und die vielen Whatsapp-Nachrichten nur eine Farce gewesen? War er bisexuell?
Shit! Ich stützte mich auf das Waschbecken und starrte auf mein Spiegelbild. In meinen Augen lag Verzweiflung, Panik und Angst. Warum passierte so etwas ausgerechnet mir? Wie konnte ich Ika klarmachen, dass ihr zukünftiger Mann auch mich datete? Dass wir bei unserem letzten Treffen Händchen gehalten hatten – also nicht richtig, aber Hannes hatte meinen Handrücken berührt und mit dem Daumen darübergestrichen. Es war eine harmlose, aber intime Berührung gewesen, und ich war mir sicher, dass er es ernst meinte.
Jetzt war er hier, an der Seite meiner Schwester und stellte sich als ihr Freund vor. Ich war so sprachlos, dass ich nichts sagen konnte, und als Ika mich zur Begrüßung umarmte, brachte ich es nicht über mich, die Katze aus dem Sack zu lassen. Stattdessen hatte ich Hannes angestarrt, als wäre er eine Erscheinung.
Was hätte ich auch sagen sollen? Ich hätte es nicht über mich gebracht, vor versammelter Menge klarzustellen, dass Hannes ein doppeltes Spiel spielte. Ika sah glücklich aus, als hätte sie endlich den Mann fürs Leben gefunden.
Dummerweise hatte ich das auch, das hatte ich zumindest gedacht. Noch vor wenigen Minuten war alles in Ordnung gewesen, ich hatte mit Hannes eine Nachricht ausgetauscht. Wie hätte ich ahnen sollen, dass er gleich zur Tür hereinspazierte? Dass Chris besagter Freund war, bei dem er Weihnachten verbrachte?
Karma is a bitch! Wenn Hannes gedacht hatte, ein Doppelleben führen zu können, war er ins offene Messer gelaufen. Pech für ihn, dass genau ich der Bruder von Ika war.
Oh, there’s no place like home for the holidays. Das Lied hallte in meinen Ohren nach. Fast war es wie ein Hohn, und ich wünschte mich zurück nach Wien. Warum war ich nicht dortgeblieben, dann wüsste ich nichts von Hannes’ Spiel. Dann wäre noch immer alles in Ordnung und ich glücklich. Andererseits hätte ich die Wahrheit irgendwann herausgefunden, und es hätte vermutlich noch mehr wehgetan.
Vom Wohnzimmer drang Gelächter, die Musik lief nur mehr im Hintergrund. Was machte ich nur? Konnte ich mich dazusetzen und so tun, als würde ich Hannes nicht kennen? Als wäre alles okay? Wie konnte ich Ika in die Augen sehen, ohne zu stottern?
»Simon?« Chris klopfte an die Badezimmertür. »Alles okay bei dir?«
»Ich komme gleich«, rief ich und wusch mir die Hände. Es war unmöglich, allen die Freude zu verderben, indem ich jetzt nach draußen ging und verkündete, dass Hannes ein Intrigant war und sowohl Ika als auch mich verarschte. Außerdem wusste ich nicht, wie Hannes reagierte. Vorhin hatte er mich nur erschrocken angesehen, während Ika an ihm hing und ihn bei jeder Gelegenheit küsste.
»Simon?« Noch immer Chris.
»Ich komme ja schon.« Ich drehte mich um und öffnete die Badezimmertür.
Skeptisch musterte er mich. »Alles okay?«
»Ja, nein. Mir ist schlecht. Mama hat mir zwei Tassen Kakao aufgezwungen, einer davon war mit weißer Schokolade.« Es war die beste Lüge, die mir einfiel, und wenn ich lang genug darüber nachdachte, war es nicht einmal gelogen. Mama hatte mir den Kakao aufgedrängt und mir war schlecht geworden. Ob aus physischen Gründen oder psychischen, konnte ich nicht genau sagen. Aber gleich würde ich auf Ika und Hannes treffen, und wenn er dann wieder seinen Arm um sie legte, würde ich wissen, warum mir übel war.
»Zwei Tassen? Warum trinkst du denn so viel?« Chris schüttelte den Kopf, als wüsste er nicht, wie hartnäckig Mama sein konnte.
»Du kennst sie – selbst wenn ich Nein gesagt hätte, hätte sie mich mit Essen und Getränken vollgestopft.«
Er nickte und setzte zum Sprechen an, aber da kam Mama aus dem Wohnzimmer und fuchtelte aufgeregt mit den Händen.
»Ist Ikas Freund nicht toll? So ein großer, attraktiver Mann, und auch noch so intelligent.« Sie fächerte sich vor Aufregung Luft zu. »Dieses Mal hat sie den richtigen Handgriff gehabt, dieses Mal hat sie den Mann fürs Leben gefunden.« Zappelig strich sie über ihre Bluse, als dürfte sie Hannes gegenüber nicht zeigen, dass ihre Kleidung hin und wieder Falten warf.
»Ja, ganz bestimmt«, murrte ich in einem Ton, der sowohl Mama als auch Chris aufhorchen ließ. Skeptisch sahen sie mich an. Chris schüttelte kaum sichtbar den Kopf, als wollte er mir mitteilen, bloß still zu sein. Ja, was sollte ich auch sagen? Dass Hannes ganz bestimmt nicht der Mann für Ikas Leben war? Dass er sie nur enttäuschen würde?
»Ein wenig nervös ist er«, plapperte Mama weiter und beugte sich zu uns, als wäre sie ein kleines Mädchen, das ihren Schulfreundinnen ein Geheimnis anvertraute. »Er ist zwischenzeitlich richtig abwesend und vergisst, worüber wir gesprochen haben.« Sie kicherte, als wären ihre Worte selbstverständlich.
Ja, ich wäre an seiner Stelle auch abgelenkt. Schließlich konnte ich jederzeit die Bombe platzen lassen.
»Na ja, Ika und er kennen sich noch nicht lange, und ihn jetzt gleich der ganzen Familie vorzustellen, vor allem zu Weihnachten, ist für ihn sicher auch nicht Alltag«, sagte Chris mit Überzeugung. Fast war es, als würde er Hannes’ Verhalten rechtfertigen.
Mama nickte verstehend. Ihre Augen flogen über ihn, als würde sie über seine Worte nachdenken. »Du kennst ihn näher, nicht wahr? Wie ist er denn so?«
Näher kennen! Wenn ich Hannes’ Worte glauben konnte, waren sie gut befreundet. Sehr gut, sogar.
Super, noch jemanden, den ich entweder belügen musste oder verletzte, wenn ich die Wahrheit sagte.
»Wir sind seit dem Studium befreundet«, erklärte Chris angebunden. Es war eindeutig, dass er nicht weiter auf die Freundschaft eingehen wollte.
»Aber er ist ein guter Fang, oder?« Mama grinste breit. Vermutlich hörte sie bereits die Hochzeitsglocken läuten – und Christl vor Neid platzen!
»Man kann sich auf ihn verlassen, wenn du das meinst. Er wird Ika sicherlich nicht das Herz brechen, so einer ist er nicht.«
Mama freute sich sichtlich, sie lächelte über das ganze Gesicht.
In mir bildete sich dafür ein Knoten, der sich hastig verdichtete und mir die Speiseröhre hochkletterte.
Das Herz brechen! Nein, mit Sicherheit würde Hannes das nicht tun. Er doch nicht!
»Ich freu’ mich ja so für Vroni. Dann kann sie in ihrem Alter doch noch eine Familie gründen.« Mama legte Chris den Arm auf die Schulter, als würde sie ihm für den guten Freund danken. »Die Kinder werden hübsch, bestimmt. Bei dem Vater?« Sie lachte hell.
Wie ich sagte, Mama plante bereits die Hochzeit und sogar schon die Taufe, der nicht vorhandenen Kinder.
»Ja, ähm …« Chris zwang sich ein Lächeln auf. Ich kannte ihn, so lachte er nicht. Es war eindeutig künstlich. Anscheinend fand auch er die Vorstellung, dass Mama bereits über Kinder nachdachte, nicht sehr freudig. »Das geht ein wenig schnell, oder? Ich meine, Ika und Hannes kennen sich ja erst seit rund zwei Wochen.«
Zwei Wochen. Zur selben Zeit hatte ich Hannes kennengelernt. Mein Pulsschlag beschleunigte sich, mein Herz sprang mir fast aus der Brust und ich schnappte nach Luft. »Mir ist schlecht«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und floh ins Badezimmer zurück. Hektisch schloss ich die Tür ab und lehnte mich dagegen. Wie sollte ich die Feiertage überstehen?
Zwei Wochen! Hatte Hannes mich gleichzeitig mit Ika gedatet? War das der Grund, warum er so selten Zeit für mich gehabt hatte?
Shit! Magensäure schoss mir hoch, und in der nächsten Sekunde hing ich auch schon über der Toilette und übergab mich. Die Situation überforderte mich. Hannes war mein Traummann gewesen, und jetzt war er der neue Freund meiner Schwester, die eine Familie mit ihm plante. Was machte ich nur?
»Simon?« Chris klopfte gegen die Tür. »Brauchst du Hilfe?«
»Nein!«, keuchte ich mit brüchiger Stimme und übergab mich erneut. Der scheiß Kakao mit den vielen Keksen kam mir hoch – und der Bissen Kletzenbrot. Grund genug mich mehrmals würgen zu lassen, ehe ich abermals kotzte.
Warum geriet ich immer an die falschen Männer? War ich zu leichtgläubig, zu naiv – oder einfach nur dumm? Warum zog ich Arschlöcher magisch an?
»Das war bestimmt dein Kakao«, hörte ich Chris zu Mama sagen, die die Übelkeit natürlich meinem empfindlichen Magen zuschrieb. Schon als Kleinkind hätte ich sehr sensibel auf fette Nahrung reagiert.
Ja, und warum gab sie mir dann immer wieder diese Fettsachen – wo sie doch wusste, wie empfindlich ich reagierte?
Die Erinnerung an den Kakao mit dem Bissen Kletzenbrot ließ mich erneut würgen. Ich übergab mich noch einmal.