Allegro mordioso für Nero Wolfe - Robert Goldsborough - E-Book

Allegro mordioso für Nero Wolfe E-Book

Robert Goldsborough

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Beschreibung

Nero Wolfe wuchtet sich endlich mal wieder aus seinem Sessel. Für einen Fall, in dem Musik steckt … Der Nichte eines alten Freundes gelingt es, den Dicken aktiv werden zu lassen. Denn ihr Onkel, ein gefeierter Dirigent, erhält seit einiger Zeit merkwürdige Drohbriefe. Eines Morgens ist er tot – mit einem Brieföffner erstochen. Nero Wolfe entdeckt eine Spur, die geradewegs in eine Hölle führt … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Robert Goldsborough

Allegro mordioso für Nero Wolfe

Aus dem Amerikanischen von Friedrich A. Hofschuster

FISCHER Digital

Inhalt

Vorwort1234567891011121314151617181920212223

Vorwort

Es ist mir durchaus klar, daß über den folgenden Fall eine Menge geschrieben und gesendet wurde, nicht nur hier in New York, sondern quer durchs ganze Land. Aber niemand, nicht einmal Lon Cohen in seiner Gazette, hatte den Platz oder das Wissen zur Verfügung, um einer vollständigen Darstellung auch nur entfernt nahezukommen. Ich befürchtete übrigens selbst, daß ein ausführlicher Bericht darüber nie veröffentlicht werden würde. Lassen Sie es mich erklären. Da diese Episode bei Nero Wolfe sehr persönliche Hintergründe berührte, fand er, daß ich nichts darüber schreiben sollte. Und da er wöchentlich meine Gehaltsschecks unterschreibt, fügte ich mich seinem Wunsch, wenigstens für eine Weile. Aber selbst einen Nero Wolfe kann man zermürben, wenn man ihm lang genug zusetzt. Und lang hat es gedauert – schließlich konnte ich das Thema nicht allzuoft zur Sprache bringen –, doch zu guter Letzt gab er nach; inzwischen waren einige Jährchen vergangen. Er nannte übrigens keinen Grund dafür, sondern nickte nur, vermutlich, damit ich endlich Ruhe gebe. So, jetzt wissen Sie’s.

 

ARCHIE GOODWIN

1

November 1977

 

Nero Wolfe und ich haben viele Jahre lang darüber disputiert, welcher von den Klienten aller Wahrscheinlichkeit nach den interessanteren und lukrativeren Fall zu bieten hat: einer, der am Vormittag zum erstenmal bei uns auftaucht, oder einer, der uns nach dem Mittagessen besucht. Wolfe behauptet, daß der Durchschnittsmensch nicht in der Lage ist, einen vernünftigen Entschluß zu fassen – wie zum Beispiel ihn, Wolfe, zu engagieren –, wenn er nicht das Minimum von zwei ordentlichen Mahlzeiten im Bauch hat. Ich dagegen habe das Gefühl, daß vor allem solche Besucher in jeder Hinsicht bedeutendere Möglichkeiten bieten, die sich die ganze Nacht über zerquält haben, schließlich beim Morgengrauen erkennen, daß nur Wolfe ihr Problem lösen kann, und danach so schnell wie möglich in dieser Richtung tätig werden. Ich stelle es Ihrer Entscheidung aufgrund Ihrer Erfahrungen aus der Vergangenheit anheim, wer von uns eher den Nagel auf den Kopf trifft.

Ich könnte mir viel mehr einbilden auf mein Talent zum Erkennen des günstigsten Augenblicks, wenn ich beim Besuch von Maria Radovich an diesem regnerischen Vormittag die Chance größer als eins zu zwanzig eingeschätzt hätte, daß Wolfe mit ihr sprechen, geschweige denn wieder zu seiner Detektivarbeit zurückkehren würde. Seit Orrie Cather – übrigens mit meinem und Wolfes Segen – Selbstmord begangen hatte, waren über zwei Jahre vergangen. Damals schien Wolfe das Bewußtsein, daß einer seiner längjährigen Mitarbeiter am Tod von drei Menschen schuldig geworden war, gar nicht so viel auszumachen, aber in den Jahren seitdem war mir klargeworden, daß die Affäre ihn doch total aus dem Tritt gebracht hatte. Er würde es natürlich niemals zugeben, mit seinem Ego, das proportional seinem Körpergewicht, dem Siebtel einer Tonne, entspricht, aber es wurmte ihn immer noch, daß einer, der jahrelang an seinem Tisch gesessen, seine erlesenen Spirituosen getrunken und seinen Anordnungen Folge geleistet hatte, in der Lage gewesen war, völlig kaltblütig und vorsätzlich zu morden. Und obwohl unsere beiden Konzessionen von der Staatsanwaltschaft kurz nach Orries Tod wieder in Kraft gesetzt worden waren, schien es, als ob Wolfe von da an den Kopf in den Sand gesteckt und ihn seitdem nicht wieder herausgezogen hätte. Ich hatte versucht, ihn durch Sticheleien so zu reizen, daß er wieder an die Übernahme eines Falls dachte, aber ich war mit der Birne gegen die Wand geprallt, um einen Ausdruck zu benützen, den er nicht leiden kann.

»Archie«, sagte er bei solchen Gelegenheiten und blickte von seinem Buch auf, »ich habe Ihnen oft genug zu verstehen gegeben, daß eine Ihrer lobenswertesten Fähigkeiten in all den Jahren darin bestanden hat, mir so lange zuzusetzen, bis ich wieder einen Fall übernehme. Dieser Vorzug von damals erweist sich jetzt als Belastung. Sie können versuchen, mich anzuspornen, wenn Sie meinen, aber ich sage Ihnen, es ist verlorene Liebesmüh. Ich denke nicht daran, den Köder zu schlucken. Außerdem bitte ich Sie, von dem Begriff ›im Ruhestand‹ Abstand zu nehmen. Ich ziehe vor, zu erklären, daß ich mich aus der Praxis zurückgezogen habe.« Und damit kehrte er zu seiner Lektüre zurück, derzeit zum wiederholten Mal Jane Austens Emma.

Nicht, daß es uns an Gelegenheiten gemangelt hätte. Eine reiche Witwe aus Larchmont bot zwanzig Riesen als Anzahlung, wenn Wolfe versuchte, herauszufinden, wer ihren Chauffeur vergiftet hatte, aber ich brachte ihn nicht einmal dazu, daß er sich die Witwe anschaute. Der Mord wurde nie geklärt, obwohl ich mich im Zweifelsfalle an das im Haus lebende Dienstmädchen gehalten hätte, das in einer Dreiecksgeschichte der Gärtnerstochter unterlegen war. Und dann war da dieser Geldmann von der Wall Street – sein Name wäre Ihnen ein Begriff! –, der erklärte, Wolfe könne selbst das Honorar bestimmen, wenn er bereit sei, den Tod seines Sohnes aufzuklären. Die Polizei und der Coroner hatten gemeint, es sei Selbstmord gewesen, aber der Vater war überzeugt davon, daß es sich um einen Mord im Zusammenhang mit einer Rauschgiftsache handelte. Wolfe hatte den Mann höflich, aber bestimmt in einem Zehn-Minuten-Gespräch abgewimmelt, und der Tod des jungen Burschen ging als Selbstmord in die Akten.

Nicht einmal mit finanziellen Argumenten konnte ich ihn aus seiner Zurückgezogenheit hebeln. Bei einigen von unseren letzten großen Fällen hatte Wolfe darauf bestanden, daß die Honorarzahlungen ratenweise über eine lange Periode erfolgen sollten, so daß auch jetzt noch monatlich eine Serie von Verrechnungsschecks – und manche davon nicht von schlechten Eltern – eintraf. Das, zusammen mit ein paar guten Investitionen, brachte genügend ein, um das alte Backsteinhaus an der 35. Straße West nahe dem Hudson, das nun auch schon ein halbes Leben lang mein Zuhause war, in Schwung zu halten. Dabei ist es alles andere als billig, das Haus zu bewirtschaften, denn Nero Wolfe hat teure Vorlieben. Sie schließen mein Gehalt als sein persönlicher Assistent, Botenjunge und – bis vor zwei Jahren – Mann der Tat ein, ebenso wie die Gehälter von Theodore Horstmann, dem Gärtner, der sich um die zehntausend Orchideen kümmern muß, die Wolfe in seinem Gewächshaus auf dem Dach züchtet, und von Fritz Brenner, auf dessen Sieg ich sogar bei einem Wettköchen gegen alle berühmten Köche des Universums setzen würde.

Ich hatte immer noch meine Standardaufgaben, zum Beispiel die Buchführung über die Keimzeiten der Orchideensamen, das Bezahlen der Rechnungen, die Steuererklärung und Wolfes Korrespondenz. Aber jetzt gab es reichlich freie Zeit, und Wolfe hatte nichts dagegen, wenn ich diese freiberuflich nutzte. So arbeitete ich gelegentlich für Del Bascomb, einen erstklassigen Privatdetektiv in New York, und tat mich auch bei einigen Jobs mit Saul Panzer zusammen, so zum Beispiel beim Entführungsfall Masters, über den Sie vielleicht etwas gelesen haben. Wolfe ging so weit, mir zu meiner Arbeit daran zu gratulieren, woraus ich zumindest schließen konnte, daß er sich noch für Verbrechen interessierte, obwohl er es nicht gestattete, daß ich in seiner Gegenwart darüber sprach.

Abgesehen davon, daß er sein berühmtes Gehirn auf Eis gelegt hatte, fuhr Wolfe mit seiner täglichen Routine in der bekannten Weise fort: Er ließ sich das Frühstück auf dem Tablett in seinem Zimmer servieren, verbrachte vier Stunden täglich – von 9 bis 11 und von 4 bis 6 – im Treibhaus, mit Theodore, hielt lange Besprechungen ab mit Fritz über die Menüs und die Zubereitung der Speisen und genoß zu genau festgelegten Stunden die besten Mahlzeiten in ganz Manhattan. Den Rest der Zeit saß er in seinem übergroßen Sessel hinter dem Schreibtisch in seinem Büro, las und trank Bier. Und weigerte sich, zu arbeiten.

Maria Radovich rief an einem Dienstagmorgen um neun Uhr zehn an, und das hieß, daß Wolfe oben im Gewächshaus war. Fritz hatte in der Küche mit den Vorbereitungen zu einem von Wolfes Lieblingsgerichten zu tun: Kalbsbries in Bechamelsauce mit Trüffeln. Ich nahm das Gespräch an meinem Schreibtisch entgegen, wo ich gerade dabei war, die in der vergangenen Woche ausgegebenen Schecks zusammenzurechnen.

»Hier Wohnsitz von Nero Wolfe, Archie Goodwin am Apparat.«

»Ich muß Mr. Wolfe sehen – heute noch. Kann ich einen Termin vereinbaren?« Es war die etwas zitterige Stimme einer jungen Frau, mit einem Akzent, der mir irgendwie vertraut vorkam.

»Tut mir leid, aber Mr. Wolfe berät zur Zeit nicht«, sagte ich und wiederholte damit einen Satz, den ich schon seit längerem haßte.

»Bitte, es ist sehr wichtig, daß ich ihn sehe. Ich glaube, mein –«

»Hören Sie, Mr. Wolfe empfängt keine Klienten, ehrlich. Ich könnte Ihnen ein paar gute Agenturen empfehlen, wenn Sie einen Privatdetektiv brauchen.«

»Nein, ich brauche Mr. Nero Wolfe. Mein Onkel hat so viel von ihm gesprochen, und ich bin sicher, er wird mir helfen. Mein Onkel war vor vielen Jahren mit Mr. Wolfe in Montenegro, und –«

»Wo?« bellte ich heraus.

»In Montenegro. Sie sind zusammen aufgewachsen. Und jetzt mache ich mir große Sorgen um meinen Onkel …«

Seit allgemein bekannt geworden war, daß Nero Wolfe in den Ruhestand getreten ist – ich meine, daß er sich aus der Praxis zurückgezogen hat, gab es so manchen Möchtegern-Klienten, der sich die verrücktesten Geschichten ausdachte, um Wolfe dazu zu bringen, daß er für ihn arbeitete. Ich muß gestehen, daß ich auf der Seite dieser Spinner stand, aber ich kannte Wolfe gut genug, um zu wissen, daß ihn eigentlich gar nichts ins Leben zurückholen konnte. Jetzt erlebte ich es immerhin zum erstenmal, daß jemand so raffiniert war, Montenegro ins Spiel zu bringen, und ich bewundere nun mal Raffinesse.

»Tut mir leid, daß Sie sich Sorgen machen«, sagte ich, »aber Mr. Wolfe ist äußerst hartherzig. Ich dagegen habe einen Ruf als Softie. Bis wann kann Ihr Onkel hier sein? Ich bin Mr. Wolfes persönlicher Assistent und würde mich freuen, ihn zu sehen, Miss …«

»Radovich. Maria Radovich. Ja, ich erinnere mich an Ihren Namen. Mein Onkel weiß nicht, daß ich anrufe. Er wäre sehr böse. Aber ich komme gleich, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Ich versicherte ihr, daß ich tatsächlich nichts dagegen einzuwenden hatte, und legte auf; dann starrte ich auf das Scheckheft, das aufgeschlagen vor mir lag. Es war natürlich ein Schuß ins Blaue, aber wenn es mir irgendwie schaden konnte, daß ich mit ihr sprach, so war ich nicht in der Lage, zu erkennen, warum. Und vielleicht war das mit Montenegro ja auch wirklich wahr. Montenegro ist, für den Fall, daß Sie es nicht wissen, eine kleine Provinz in Jugoslawien und das Land, aus dem Nero Wolfe stammt. Er hat noch einige Verwandte dort; dreien von ihnen schicke ich monatlich einen Scheck. Was die ehemaligen Freunde betrifft, so bezweifelte ich stark, daß noch jemand von ihnen dort lebte. Sein bester Freund, Marko Vucic, war Jahre zuvor ermordet worden, was zur Folge hatte, daß Wolfe und ich einige Zeit durch die montenegrinischen Berge marschierten, um seinen Tod zu rächen. Und obwohl Wolfe alles andere als gesprächig ist, was seine Vergangenheit betrifft, glaubte ich genug darüber zu wissen, um die Möglichkeit ausschließen zu können, daß aus dieser Zeit und dieser Gegend noch ein naher Freund und Kamerad auftauchen würde. Aber gegen die Hoffnung ist bekanntlich kein Kraut gewachsen.

 

Ich konnte sie mir genau und in Ruhe anschauen durch das Einwegglas in unserer Haustür, als sie draußen im Nieselregen stand und klingelte. Dunkelhaarig, mit dunklen Augen und schlank; ihr Gesicht erinnerte ein wenig an Mia Farrow. Und wie die Farrow in manchen ihrer Rollen wirkte sie verängstigt und unsicher. Aber selbst durch das Fenster in der Tür war ich davon überzeugt, daß es bei Maria Radovich keine Schauspielerei war, sondern Wirklichkeit.

Sie zuckte zusammen, als ich die Tür öffnete. »Oh! Mr. Goodwin?«

»Der nämliche«, antwortete ich mit einer leichten Verbeugung und einem ernsten Lächeln. »Und Sie sind, wenn ich nicht irre, Maria Radovich. Bitte, kommen Sie aus dieser zwanzigprozentigen Möglichkeit zu Regenschauern ins hundertprozentig Trockene.«

Ich hängte ihren Trenchcoat an die Garderobe in der Halle und deutete in Richtung auf das Büro. Da ich hinter ihr ging, konnte ich feststellen, daß ihre Figur, die von einem Rock in der modischen Länge betont wurde, ein wenig voller war, als ich es von Mia Farrow in Erinnerung hatte, doch dagegen war nichts einzuwenden.

»Mr. Wolfe kommt erst in einer Stunde und zehn Minuten herunter ins Büro«, sagte ich und deutete auf den gelben Stuhl, der neben meinem Schreibtisch stand. »Und das ist gut so, denn er würde Sie nicht sehen wollen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Er glaubt, daß er sich aus dem Detektivberuf zurückgezogen hat. Ich dagegen nicht.« Ich klappte mein Notizbuch auf und drehte mich dann mit dem Sessel so, daß ich ihr ins Gesicht sehen konnte.

»Ich bin sicher, wenn Mr. Wolfe von den Schwierigkeiten meines Onkels wüßte, würde er sofort etwas dagegen unternehmen«, sagte sie, knetete einen Schal auf ihrem Schoß und beugte sich gespannt vor.

»Sie kennen ihn nicht, Miss Radovich. Er kann unnachgiebig, reizbar und wütend sein, wenn er will – und das ist meistens der Fall. Ich fürchte, Sie müssen sich vorerst mit mir begnügen. Vielleicht gelingt es uns später, daß wir Mr. Wolfe für den Fall interessieren, aber dazu muß ich erst einmal genau wissen, worum es geht. Wie zum Beispiel: Wer ist Ihr Onkel, und warum machen Sie sich Sorgen um ihn?«

»Er ist eigentlich mein Großonkel«, antwortete sie und saß noch immer auf dem vorderen Viertel des Stuhlpolsters. »Und er ist sehr bekannt. Milan Stevens. Ich bin sicher, Sie haben den Namen schon gehört – er ist Chefdirigent beim New York Symphony Orchestra.«

Da ich nicht blöd aussehen und sie auch nicht enttäuschen wollte, oder beides, nickte ich vorsichtshalber. Ich war vier- oder fünfmal im Symphoniekonzert gewesen, immer in Begleitung von Lily Rowan, und die Idee war jedesmal von ihr gekommen. Es war durchaus möglich, daß Milan Stevens das eine oder andere Mal dirigiert hatte, aber ich hätte keinen Eid darauf geschworen. Der Name war mir im besten Fall flüchtig bekannt.

»Mr. Goodwin, seit zwei Wochen erhält mein Onkel Briefe mit der Post – schreckliche, gemeine Briefe. Ich glaube, jemand will ihn umbringen – aber mein Onkel wirft die Briefe einfach in den Papierkorb. Ich habe Angst um ihn; ich bin sicher, daß –«

»Wie viele von diesen Briefen hat er erhalten, Miss Radovich? Und – können Sie mir einen davon zeigen?«

Sie nickte und langte in ihre Umhängetasche, die sie auf den Boden gestellt hatte. »Bis jetzt drei, und sie sind alle gleich.« Sie reichte mir die zerknüllten Blätter, zusammen mit den Umschlägen, und ich breitete sie auf meinem Schreibtisch aus. Jeder dieser Briefe war auf einem Notizblatt im Format 14 mal 21 Zentimeter geschrieben, das von einem billigen Block abgerissen zu sein schien. Die Briefe waren jeweils handschriftlich verfaßt, mit einem schwarzen Filzschreiber. Der erste, den ich jetzt betrachtete, lautete:

MAESTRO!

VERSCHWINDEN SIE VOM PODIUM!

SIE SCHADEN EINEM GROSSARTIGEN ORCHESTER. LEGEN SIE DEN TAKTSTOCK WEG UND VERSCHWINDEN SIE! WENN SIE NICHT FREIWILLIG GEHEN, WIRD MAN SIE ENTFERNEN – FÜR IMMER!

Ich stellte übrigens fest, daß nicht alle drei Briefe genau gleich waren. Das eine oder andere Wort war anders, obwohl die Texte den gleichen Sinn ergaben. In einem Brief fehlte das ›freiwillig‹, und nach dem ersten Satz gab es bei einem anderen kein Rufzeichen. Maria hatte die drei auf der Rückseite vorsichtig mit Bleistift numeriert: eins, zwei, drei, um die Reihenfolge festzuhalten, in der sie eingetroffen waren. Die Umschläge waren ebenfalls billig und handschriftlich an Milan Stevens und eine Straße in den Siebzigern Ost adressiert. »Seine Wohnung?« fragte ich.

Maria nickte. »Ja, er und ich wohnen dort, seit wir in dieses Land gekommen sind, vor etwas mehr als zwei Jahren.«

»Miss Radovich, bevor wir weiter über diese Briefe sprechen, sollten Sie mir etwas über Ihren Onkel und über sich selbst erzählen. Sie sagten am Telefon, daß er und Mr. Wolfe sich aus Montenegro kennen.«

Sie lehnte sich zurück und nickte. »Ja, mein Onkel – in Wirklichkeit heißt er Stefanovic, Milos Stefanovic … Wir stammen beide aus Jugoslawien. Ich bin in Belgrad geboren, aber mein Onkel ist Montenegriner. Das ist ein Gebiet an der Adria. Doch das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, ich bin sicher, Sie wissen es von Mr. Wolfe.

Mein Onkel hat in ganz Europa dirigiert: vor allem in Italien, Österreich und Deutschland. Bevor wir hierherkamen, leitete er ein Orchester in London. Übrigens war er gemeinsam mit Mr. Wolfe vor langer Zeit in eine Auseinandersetzung verwickelt – in Montenegro. Ich weiß nicht viel davon, aber ich glaube, es hing mit der damaligen Unabhängigkeitsbewegung zusammen. Mein Onkel will nicht darüber sprechen, und er hat mir gegenüber auch nie Mr. Wolfe erwähnt, bis auf einmal, als Mr. Wolfes Foto in den Zeitungen erschien. Es hatte irgend etwas mit einem Mord oder einem Selbstmord zu tun – ich glaube, Ihr Foto wurde damals auch veröffentlicht.«

Ich nickte. Das mußte damals gewesen sein, als Orrie starb. »Was hat Ihr Onkel über Mr. Wolfe gesagt?«

»Ich nehme an, sie hatten im Lauf der Jahre den Kontakt zueinander verloren. Aber er schien auch nicht sonderlich daran interessiert zu sein, den Versuch zu unternehmen und Mr. Wolfe zu sprechen. Damals habe ich zu ihm gesagt: ›Wie wundervoll, daß ein alter Freund von dir hier in New York ist. Du rufst ihn natürlich an, oder?‹ Aber Onkel Milos sagte nein, das sei ein Teil der Vergangenheit. Und aus der Art, wie er sich verhielt, entnahm ich, daß es zwischen den beiden irgendwelche Differenzen gegeben haben mußte. Doch das alles liegt so lang zurück!«

»Wenn Sie das Gefühl hatten, daß Ihr Onkel Mr. Wolfe nicht gerade freundlich gesinnt war, warum haben Sie dann hier angerufen?«

»Nachdem er mir gesagt hat, daß er Mr. Wolfe aus Montenegro kennt, betrachtete er noch einmal das Foto in der Zeitung und nickte dazu. Dann sagte er zu mir: ›Dieser Mann hat den schärfsten Verstand, dem ich jemals begegnet bin. Ich wollte, ich könnte dasselbe über seine Neigungen und Launen sagen.‹«

Ich hielt mit Mühe ein Lächeln zurück. »Aber Sie hatten den Eindruck gewonnen, daß Ihr Onkel und Mr. Wolfe seinerzeit enge Freunde gewesen sein mußten?«

»Absolut«, antwortete Maria. »Onkel Milos erzählte mir auch, daß sie gemeinsam schwere Zeiten durchgemacht hätten. Er zeigte mir sogar dieses Foto aus einem alten Album.« Sie langte wieder in ihre Umhängetasche und reichte mir eine auf Karton geklebte, verblichene Fotografie, deren Ränder ausgerissen waren.

Das Bild, das ich sah, entsprach weitgehend meiner Vorstellung von einer Partisanengruppe, obwohl keiner der Abgebildeten älter als zwanzig Jahre zu sein schien. Es waren neun junge Männer, die vor einer hohen Mauer posierten. Vier knieten vorn, fünf standen dahinter in zweiter Reihe. Manche trugen lange Mäntel, andere hatten dicke Wollpullover an, und zwei trugen Helme auf den Köpfen, wie sie meines Wissens im Ersten Weltkrieg getragen wurden. Natürlich erkannte ich Wolfe auf den ersten Blick. Er war der zweite von links in der hinteren Reihe, hatte die Hände auf dem Rücken, und über eine Schulter hatte er einen Patronengurt geschnallt. Sein Haar war damals dunkler gewesen, und er wog mindestens einen Zentner weniger, aber das Gesicht entsprach erstaunlicherweise weitgehend dem Gesicht, das mich noch gestern abend bei Tisch angeschaut hatte. Auch sein Blick hatte die gleiche Intensität und wirkte auf diesem verblichenen Foto genauso wie im Büro, wenn er findet, daß ich ihm mit meinem Gerede auf die Nerven gehe.

Rechts neben Wolfe stand Marco Vukcic; er hatte ein Gewehr an der Seite hängen. »Welcher ist Ihr Onkel?« fragte ich Maria.

Sie beugte sich herüber zu mir, so daß ich ihr Parfüm riechen konnte, und deutete auf einen der Männer, die in der vorderen Reihe knieten. Er war dunkelhaarig und mit angespannten Zügen wie die anderen, kam mir aber kleiner als die meisten vor. Keiner der neun freilich wirkte so, als ob er versuchte, einen Sympathietest zu gewinnen. Wenn diese Burschen so hart gewesen sind, wie sie aussahen, konnte ich nur froh sein, daß ich nie gegen sie kämpfen mußte.

»Dieses Foto ist in den Bergen aufgenommen«, erklärte Maria. »Onkel Milos hat es herausgekramt, um mir Mr. Wolfe zu zeigen. Er wollte nicht über die anderen Männer sprechen und nicht über das, was sie taten.«

»Sie sind bestimmt nicht auf dem Weg zu einem Picknick gewesen«, bemerkte ich. »Aber so genau will ich es vorläufig gar nicht wissen. Kommen wir jetzt zu Ihnen, Miss Radovich. Wieso leben Sie bei Ihrem Großonkel?«

Sie erzählte mir von ihrer Mutter, die früh ihren Mann verloren hatte und gestorben war, als Maria noch als Kind in Jugoslawien gelebt hatte. Stefanovic, der Onkel ihrer Mutter, hatte sie daraufhin offiziell adoptiert. Geschieden und kinderlos, war er glücklich, die Neunjährige bei sich aufnehmen zu können. Maria sagte, er habe ihr alle elterliche Liebe gegeben, die man sich wünschen konnte, obwohl er auch streng mit ihr sei. Er hatte sie auf seinen Reisen durch Europa mitgenommen, wo er im Laufe der Zeit immer bessere und renommiertere Engagements als Dirigent bekam. Bevor sie nach England zogen, hatte er sich den Künstlernamen Stevens zugelegt – wann das war, konnte sie nicht mehr so genau sagen. Als sie in London lebten, erhielt er das Angebot, den Posten des Chefdirigenten und Musikdirektors beim New York Symphony Orchestra zu übernehmen. Maria, die damals gerade dreiundzwanzig geworden war, zog mit ihm in die Vereinigten Staaten und war jetzt Tänzerin bei einer kleinen Ballett-Truppe in New York.

»Mr. Goodwin«, sagte sie, beugte sich wieder vor, und ich merkte deutlich, wie sie sich versteifte, »mein Onkel hat sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, um diese Position und diesen Ruf zu erlangen. Und jetzt versucht jemand anscheinend, ihm alles wieder wegzunehmen.« Nervös packte sie meinen Unterarm.

»Und warum gehen Sie nicht einfach zur Polizei?« fragte ich und zuckte mit den Schultern.

»Genau das habe ich Onkel Milos vorgeschlagen, und er ist sehr wütend geworden. Er befürchtete, es könnte an die Zeitungen gelangen und einen Skandal beim Orchester hervorrufen. Das könnte ihm selbst und dem Orchester schaden. Er meinte, diese Briefe kämen von einem Verrückten oder von jemandem, der sich einen besonders schlechten Scherz mit ihm erlaubt. Ich war bei ihm, als er den ersten Brief geöffnet hat, sonst wüßte ich wahrscheinlich gar nichts von der ganzen Sache. Er hat den Zettel gelesen und dann ein Wort auf Serbokroatisch gesagt, das soviel wie ›Blödsinn‹ heißt; danach hat er den Brief zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Aber an dem Abend hat er kaum noch ein Wort gesprochen.

Ich habe gewartet, bis er draußen war, dann habe ich den Zettel aus dem Papierkorb geholt. Und später habe ich Onkel Milos vorgeschlagen, zur Polizei zu gehen. Er hat sich furchtbar aufgeregt und gesagt, das sei bestimmt ein dummer Scherz und stamme vielleicht von einem Konzertabonnenten, dem seine Programmauswahl für diese Saison nicht gefällt.«

»Wann kam dann der nächste Brief?« fragte ich.

»Von da an habe ich die Post überwacht. Sechs Tage später bekamen wir wieder einen Brief, der genauso beschriftet war wie der erste. Ich habe ihn natürlich nicht aufgemacht – ich öffne nie die Post meines Onkels. Aber danach habe ich wieder einen zerknüllten Brief im Papierkorb neben seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer gefunden. Diesmal habe ich Onkel Milos nicht darauf angesprochen, und er sagte mir nichts, aber er kam mir wieder in Gedanken versunken und bedrückt vor.

Der dritte Brief kam gestern, also sechs Tage nach dem vorhergehenden, und ich habe wieder den Zettel im Papierkorb gefunden. Onkel Milos weiß nicht, daß ich die beiden letzten Zettel gefunden, und erst recht nicht, daß ich alle drei aufgehoben habe.«

»Miss Radovich, hat Ihr Onkel Ihres Wissens Feinde? Kennen Sie jemanden, der einen Vorteil davon hätte, wenn er den Posten als Chefdirigent aufgeben würde?«

»Der Musikdirektor eines großen Orchesters hat immer Kritiker und Neider.« Sie atmete tief ein. »Es gibt immer Leute, die glauben, sie könnten es besser machen. Manche sind einfach eifersüchtig, anderen macht es Spaß, talentierte Menschen zu verspotten und in den Schmutz zu ziehen. Wissen Sie, mein Onkel spricht zu Hause nicht viel über seine Arbeit, aber ich weiß von ihm und von anderen, daß es in den Reihen der Orchestermitglieder eine Opposition gegen ihn gibt. Trotzdem glaube ich nicht, daß einer von ihnen solche Briefe … Ach, ich weiß nicht.«

»Jemand muß sie ja wohl geschrieben haben, Miss Radovich. Ich möchte gern noch mehr über diese Opposition gegen Ihren Onkel hören, aber Mr. Wolfe wird in ein paar Minuten unten sein, und es ist besser, wenn Sie dann nicht hier sind. Es ist durchaus möglich, daß ich ihn für Ihr Problem interessieren kann, aber ich möchte ihn gern selbst auf meine Art damit vertraut machen, weil ich ihn kenne und weiß, wie man ihn am besten von einer Sache überzeugt.«

Zum drittenmal griff Maria in ihre Tasche. Diesmal fischte sie ein Bündel Scheine heraus und streckte sie mir hin. »Das sind fünfhundert Dollar«, sagte sie. »Dafür, daß Sie versuchen, herauszufinden, wer diese Briefe schreibt. Wenn es Ihnen gelingt, die Person zu entdecken, und sie darüberhinaus noch zum Aufhören zu bewegen, bezahle ich weitere viertausendfünfhundert Dollar.« Fünftausend Dollar – das war weit entfernt von dem, was Wolfe normalerweise als Honorar bekam, aber ich dachte mir, daß es für Maria Radovich sehr viel Geld sein mußte. Ich wollte ihr schon die Scheine zurückgeben, behielt sie dann aber doch und lächelte.

»Ein faires Angebot«, sagte ich. »Wenn es mir gelingt, Nero Wolfe in Bewegung zu setzen, behalten wir das als Anzahlung. Andernfalls bekommen Sie es zurück. Aber jetzt muß ich Sie von hier wegbringen. Sie hören in Kürze von mir – so oder so.« Ich schrieb ihr eine Quittung für das Geld aus, behielt den Durchschlag und eilte dann mit ihr hinaus in die Halle, wo ich ihr in den Mantel half.

Auf meiner Armbanduhr war es zehn Uhr achtundfünfzig, als sie über die kurze Treppe hinunterging auf die Straße. Ich lief schnell ins Büro zurück, legte die Drohbriefe, Geld und Quittung in den Safe und arrangierte dann Wolfes Morgenpost in einem ordentlichen Stapel auf seiner Schreibunterlage. In dem Stapel steckte auch etwas, was kein Postbote gebracht hatte: eine ausgebleichte, fünfzig Jahre alte Fotografie.

2

Ich hatte gerade Zeit, um Papier in die Schreibmaschine zu spannen und mit der Übertragung des Diktats von gestern zu beginnen, als ich den Lift hörte, der vom Gewächshaus auf dem Dach herunterkam. »Guten Morgen, Archie, haben Sie gut geschlafen?« fragte Wolfe, als er quer durch den Raum zu seinem Schreibtisch ging, eine purpurne Cattleia-Rispe in die Orchideenvase steckte und sich dann in den einzigen Sessel, den er mochte, niederließ und nach Bier klingelte.

»Jawohl, Sir«, antwortete ich und blickte auf. Ich bin immer wieder verblüfft, daß Wolfe sich trotz seines enormen Umfangs – sein Gewicht beträgt immerhin das Siebtel einer Tonne! – so gelenkig und flink bewegt. Manchmal glaubt man, er würde etwas umstoßen oder sich sonst irgendwie ungeschickt benehmen, wenn er sich hinter seinen Schreibtisch begibt, doch das ist bisher nie der Fall gewesen. Seine Bewegungen sind fließend, ja sogar anmutig – wenn man dieses Wort auf einen Mann mit seinem Umfang anwenden kann. Und dann sein Äußeres: dicken Menschen sagt man oft nach, daß sie sich schlampig kleiden – aber nicht Nero Wolfe. Heute trug er wie üblich einen dreiteiligen Anzug, diesmal in hellem Tweed, mit einem leuchtend gelbem Hemd und einer braunen Seidenkrawatte, die zum Hemd passende, schmale gelbe Streifen aufwies. Sein welliges Haar, immer noch braun, aber mit einem gehörigen Anteil Grau durchsetzt, war sorgfältig gebürstet und gekämmt. Er würde es nie zugeben, weder gegenüber mir noch jemand anderem, aber Nero Wolfe verbrachte jeden Morgen einige Zeit vor dem Spiegel, und dazu gehörte auch die Naßrasur mit einem einfachen Rasierapparat, etwas, was ich vor Jahren aufgegeben habe, als ich es leid war, jeden Morgen mein eigenes Blut sehen zu müssen.

Ich warf weiter verstohlene Blicke in seine Richtung, während er den Stapel mit der Post durchging. Das Foto steckte etwa in der Mitte des Stapels, aber es dauerte seine Zeit, bis er so weit war, weil er zuvor auf den Katalog einer Sämerei stoßen würde, den er sorgfältig durchblättern mußte. Also tippte ich erst einmal weiter.

»Archie!« Es war das bekannte hochwertige Bellen, das erste, das er seit Monaten von sich gab.

Ich blickte auf und tat so, als sei ich überrascht.

»Wo kommt das her?« fragte er und stocherte mit dem Zeigefinger nach dem Foto.

»Um was handelt es sich, Sir?« Ich zog eine Augenbraue hoch, was ihn grundsätzlich ärgert, weil er das nicht fertigbringt.

»Das wissen Sie ganz genau. Wie ist das hierhergekommen? Wo ist der Umschlag, in dem es gesteckt hat?«

»Ach, das. Mal nachdenken … Ja, natürlich, beinahe hätte ich es vergessen. Eine junge Frau hat es gebracht – eine hübsche junge Frau. Sie dachte, Sie wären vielleicht daran interessiert, ihr bei einem Problem zu helfen.«

Wolfe funkelte mich an, dann beugte er sich über den Tisch und betrachtete das Foto. »Die müssen inzwischen schon alle tot sein … Zwei davon sind bei einem Feuerkommando umgekommen, einer bei einem verwegenen Duell; einer ist im adriatischen Meer ertrunken. Und Marko …«

»Nicht alle sind tot«, bemerkte ich. »Sie zum Beispiel leben noch, zumindest dem Buchstaben nach, obwohl Sie sich seit zwei Jahren mit gutem Erfolg totgestellt haben. Und ansonsten lebt mindestens noch ein Mann auf diesem Foto.«

Wolfe wandte sich wieder der Fotografie zu, beschäftigte sich diesmal länger als eine Minute damit. »Stefanovic.« Er sprach den Namen ganz anders aus, als ich es getan hätte. »Meines Wissens ist er noch am Leben.«

»Bravo! Sie haben unseren Hauptpreis, eine Kiste Mineralwasser gewonnen«, sagte ich. »Er atmet nicht nur auf dieser schönen Erde, er lebt sogar hier, direkt vor Ihrer Nase, in New York. Und obendrein ist er auch noch berühmt. Natürlich hat er seit der Zeit, in der Sie ihn kannten, seinen Namen geändert.«

Wolfe warf mir wieder einen wütenden Blick zu. Sein Zeigefinger malte Kreise auf die Armlehne seines Sessels, das einzige äußere Zeichen seines Zorns. Es gab etwas, worüber ich mehr wußte als er, und ich zwang ihn auch noch, Fragen zu stellen; das machte es noch schlimmer.

»Archie, ich habe Ihre Unverschämtheiten länger ertragen, als ich das jemals für möglich gehalten hätte.« Er zog eine Schnute. »Zum Henker, so erzählen Sie schon!«

»Jawohl, Sir«, sagte ich und behielt vorsichtshalber die düstere Miene bei. Und dann entlud ich mich sozusagen Wort für Wort, von Marias Anruf bis zu den fünfhundert Dollar Anzahlung. Als ich bei den drei Drohbriefen angekommen war, öffnete ich den Safe und nahm sie heraus, doch Wolfe weigerte sich, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Während meines ganzen Berichts saß er mit geschlossenen Augen da und hatte die Finger über seinem Nullmeridian verschränkt. Zweimal unterbrach er mich, um Fragen zu stellen. Als ich fertig war, blieb er schweigend sitzen und hatte die Augen immer noch geschlossen.

Nach etwa fünf Minuten fragte ich: »Sind Sie eingeschlafen, oder warten Sie darauf, daß ich einen Porträtmaler rufe, damit er Sie in Ihrer Lieblingspose konterfeit?«

»Archie, halten Sie den Mund!« Das war schon das zweite Bellen an einem Tag. Ich versuchte, mir etwas Schlaues auszudenken, womit ich ein drittes hervorrufen und damit einen Rekord aufstellen könnte, aber Fritz kam herein und teilte mit, daß der Lunch fertig sei.

Es war ein bis dahin nie gebrochenes Gesetz bei Wolfe, daß während der Mahlzeiten keine geschäftlichen Dinge besprochen wurden, und dieses Gesetz war in den vergangenen zwei Jahren mühelos einzuhalten gewesen, da es keine geschäftlichen Dinge zu besprechen gab. An diesem Tag jedoch war ich in Gedanken anderswo und hatte kaum Sinn für das großartige Kalbsbries, das uns von Fritz zubereitet worden war. Wolfe dagegen bediente sich dreimal in seiner normalen, gelassenen Ruhe und sprach zwischendurch über die Frage, warum eine dritte Partei bei amerikanischen Wahlen seit jeher erfolglos gewesen war.

Schließlich kehrten wir zurück ins Büro, wo uns der Kaffee serviert wurde. Im Verlauf des Mittagessens war mir klargeworden, daß ich Wolfe genügend angeschubst hatte und den nächsten Schritt ihm nun selbst überlassen mußte. Wir saßen einige Minuten schweigend da, und ich war schon dabei, meine Strategie in Gedanken umzustellen, als er plötzlich aufstand und zum Bücherregal ging. Er nahm den großen Weltatlas heraus, brachte ihn zum Schreibtisch und setzte sich wieder. Dann schlug er den Atlas auf, befaßte sich eingehend mit einer Seite und wandte sich dann wieder der Fotografie zu, die er sachte berührte und in die Hand nahm.

»Archie?« Er sog ein Fuder Luft ein und stieß es dann langsam aus.

»Ja, Sir?«

»Sie kennen Montenegro – zumindest oberflächlich.«

»Ja, Sir.«

»Sie wissen auch – ich habe es Ihnen gesagt –, daß ich in meiner Jugend, die ich dort verbrachte, ungestüm und unbesonnen gewesen bin und daß mir manchmal jegliches Urteilsvermögen fehlte.«

»Das haben Sie gesagt, ja.«

»Vor einem halben Jahrhundert, in Montenegro, waren Milos Stefanovic und ich verhältnismäßig gute Freunde, auch wenn ich nie sein zeitverschwendendes Interesse für die Musik teilte. Wir kämpften gemeinsam, zusammen mit Marko und anderen auf dieser Fotografie, für eine Sache, an die wir felsenfest glaubten. Bei einer bestimmten Gelegenheit, in Cetinje, hat mir Stefanovic das Leben gerettet. Später trennten wir uns, aus Gründen, die heute bedeutungslos sind, und diese Trennung erfolgte nicht ohne einen gewissen Groll. Seit damals habe ich ihn nicht mehr gesehen, und ich habe vermutlich seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Ich erwähne das, weil ich Ihnen damit klarmachen will, daß wir es mit außergewöhnlichen Umständen zu tun haben.«

»Ja, Sir.« Obwohl Wolfe in seinem Oberstübchen über viel mehr PS verfügt als ich, kannte ich ihn gut genug, um zu bemerken, wenn er sich der Vernunft ergab. Ich unterdrückte ein Lächeln.

»Also ist es meine Pflicht, diese Frau zu empfangen.« Er breitete die Hände aus in einer Geste, die bei ihm so etwas wie dramatisch betonte Hilflosigkeit bedeutet. »Ich habe keine andere Wahl. Sagen Sie ihr, sie soll um drei Uhr herkommen. Außerdem fällt mir ein, daß Mr. Cohen schon lange nicht mehr unser Gast beim Dinner gewesen ist. Rufen Sie ihn an und laden Sie ihn für heute abend ein. Sagen Sie ihm, wir servieren den Cognac, den er so liebt.«

Ich war natürlich hocherfreut darüber, daß Wolfe von sich aus vorgeschlagen hatte, Maria zu empfangen. Und daß er Lon Cohen zum Abendessen einlud, war ein zusätzlicher Bonus. Lon arbeitet bei der Gazette, wo er sein Büro zwei Türen neben dem Verleger hat, im zweiundzwanzigsten Stockwerk des Verlagsgebäudes. Ich weiß nicht, was für Titel und Preise er gewonnen hat, aber es gibt wohl keine bedeutende Story in New York, über die er nicht mehr weiß, als jemals in der Gazette gestanden hat oder in irgendwelchen anderen Zeitungen. Lon und ich kommen einmal wöchentlich zum Pokern zusammen, aber Wolfe besucht er höchstens zweimal im Jahr zum Dinner und rein zufällig fast immer dann, wenn Wolfe Informationen von ihm braucht. Lon hat nichts dagegen, denn er hat im Gegenzug von uns schon ein ganzes Archiv voll Exklusivstorys bekommen, abgesehen von manchen Drei-Sterne-Mahlzeiten.

Wie sich herausstellte, hatte Lon Zeit, aber er wollte wissen, worum es ging. Ich sagte ihm, er müßte abwarten, aber dafür gebe es das eine oder andere Glas Remisier, mit dem er sich nach dem Essen den Bauch wärmen könnte. Dafür, sagte er, würde er sämtliche Staatsgeheimnisse verraten, die er in seinem Büro liegen habe. Und auch Maria konnte um drei Uhr nachmittags hier sein. »Heißt das, Mr. Wolfe übernimmt den Fall?« fragte sie atemlos am Telefon.

»Wer weiß?« antwortete ich. »Immerhin ist er bereit, Sie zu empfangen, und das ist bereits ein gewaltiges Zugeständnis.«

Danach ging ich in die Küche, um Fritz zu sagen, daß wir zum Abendessen einen Gast erwarteten.

»Archie, hier geht heute etwas vor sich, das kann ich deutlich spüren«, erklärte er. »Wird er wieder arbeiten?«

Fritz machte schon seit jeher ein Mordstheater, wenn Wolfe einen seiner periodischen Anfälle von Arbeitsscheu erlitt. Dann tat er, als wären wir stets am Rande der Pleite, und wenn Wolfe nicht ständig Meisterstücke der Detektivkunst vollbrachte, befürchtete er, es sei nicht genug Geld da, daß er sein Gehalt beziehen und – noch wichtiger – die Rechnungen der Feinkostlieferanten begleichen konnte. Überflüssig zu sagen, daß die beiden letzten Jahre, in denen Wolfes detektivische Talente brachlagen, Fritz dazu veranlaßten, seine Visage auf Dauer schmerzhaft zu verziehen, und ich hatte ihn mehrmals dabei überrascht, wie er in der Küche die Hände rang, gen Himmel blickte und in französischer Sprache Stoßgebete murmelte. »Archie, er muß einfach arbeiten«, sagte Fritz in solchen Fällen zu mir. »Dann schmeckt ihm auch das Essen besser. Die Arbeit verstärkt seinen Appetit.« Ich erwiderte meist, daß mir sein Appetit bereits jetzt stark genug vorkomme, aber er schüttelte dazu nur traurig den Kopf.

Diesmal jedoch hatte ich das Vergnügen, ihm berichten zu können, daß sich die Aussichten besserten. »Drücken Sie die Daumen und die Tranchiermesser«, sagte ich, »und schicken Sie ein Stoßgebet zu Brillat-Savarin.«

»Ich werde noch mehr tun als das«, erwiderte er. »Heute abend koche ich Ihnen, Mr. Wolfe und Mr. Cohen ein Menü, an das Sie alle noch lange denken werden.« Pfeifend drehte er sich um und machte sich an die Arbeit, und ich pfiff auch ein bißchen auf dem Weg zurück ins Büro.

3

Maria kam zehn Minuten zu früh, und sie sah genauso erschreckt aus wie am Vormittag. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt eine zart pfirsichfarbene Angelegenheit aus einem weichen Wollstoff, eines von den Kleidern, die man ebensogut am Tag wie zum Dinner oder zum Tanzen tragen kann. Ich hätte sie am liebsten umarmt, aber stattdessen führte ich sie zum roten Ledersessel und legte wieder die drei Zettel, die Stefanovic erhalten hatte, auf die Schreibunterlage von Wolfes Schreibtisch. Selbst Genies brauchen schließlich gewisse Anhaltspunkte.

Wolfe war in der Küche und besprach das Abendessen mit Fritz: Tournedos vom Rinderfilet mit Sauce Béarnaise, Kürbis mit Sauerrahm und Dill, Sellerie- und Melonensalat und als Dessert eine Heidelbeertorte. Als ich ihm sagte, daß Maria eingetroffen sei, schnitt er eine Grimasse. Die Vorstellung, eine Frau im Haus zu haben, bringt ihn stets auf die Palme, und es ist um so schlimmer, wenn ihre Anwesenheit bedeutet, daß er wieder an die Arbeit muß. Ich ging zurück ins Büro, und zwei Minuten später kam er herein, machte einen weiten Bogen um Maria und neigte den Kopf einen Viertelzentimeter in ihre Richtung, ehe er sich setzte. Das ist seine Version einer Verbeugung.

»Madam«, sagte er, »Mr. Goodwin hat mich über Ihren Besuch heute vormittag informiert. Er hat Ihnen auch korrekterweise mitgeteilt, daß ich derzeit nicht aktiv als Privatdetektiv tätig bin. Aber Ihr Onkel, Milos Stefanovic – wenn es sich tatsächlich um ihn handeln sollte –, ist ein Mensch, dem ich in unschätzbarer Weise verpflichtet bin. Diese Verpflichtung allein ist mir Grund genug, Sie bei mir zu empfangen.

Allerdings muß ich Sie vor allzu hochgespannten Erwartungen warnen«, sagte er und drohte ihr mit dem Zeigefinger, »da diese Besprechung keineswegs zwangsläufig auf ein Engagement meinerseits hinauslaufen muß.«

Maria nickte langsam und zog zugleich die Stirn in Falten. »Mr. Wolfe, Sie sagten vorhin, ›wenn es sich tatsächlich um ihn handeln sollte‹. Bezweifeln Sie, daß ich die Nichte von –«