Allen Gewalten zum Trotz - Erwin Rosen - E-Book

Allen Gewalten zum Trotz E-Book

Erwin Rosen

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Beschreibung

Lebenskämpfe, Niederlagen, Arbeitssiege eines deutschen Schreibersmannes - so nennt der deutsche Schriftsteller seine Autobiographie im Untertitel. Inhalt: Die Flucht aus dem Lande Gottes Der Ochse vor dem Berge Wär' ich bloß wieder in Amerika! Der Marsch an der Donau Das Glück von Ulm Zeitungsmann in Berlin Zwischenspiel in England Von Kämpfen mit der Arbeit und mit mir selber Zeitungsmann in Hamburg Vom lieben Geld und den Wucherern Von einer Todschande der Franzosen Die Geschichten von Innsbruck Vom Lokomotivführer, den Schwammerln und der Lebenskunst Geschichten in München Meine Erinnerungsbücher Vom Rausch des Erlebens und der Arbeit

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Allen Gewalten zum Trotz

Erwin Rosen

Inhalt:

Erwin Rosen – Biografie und Bibliografie

Allen Gewalten zum Trotz

Die Flucht aus dem Lande Gottes

Der Ochse vor dem Berge

Wär' ich bloß wieder in Amerika!

Der Marsch an der Donau

Das Glück von Ulm

Zeitungsmann in Berlin

Zwischenspiel in England

Von Kämpfen mit der Arbeit und mit mir selber

Zeitungsmann in Hamburg

Vom lieben Geld und den Wucherern

Von einer Todschande der Franzosen

Die Geschichten von Innsbruck

Vom Lokomotivführer, den Schwammerln und der Lebenskunst

Geschichten in München

Meine Erinnerungsbücher

Vom Rausch des Erlebens und der Arbeit

Allen Gewalten zum Trotz, Erwin Rosen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849624149

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Erwin Rosen – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller und Journalist, geb. am7. Juni 1876 in Karlsruhe, gest. 21. Februar 1923 in Hamburg. Nach einem abgebrochenen Studium wanderte Rosen bereits mit 19 Jahren in die USA aus und verdingte sich mit Arbeiten für eine texanische Farm, die Western Post und begleitete die US-Armee als Journalist beim Kampf um Signal Hill auf Kuba. Später trat er für zwei Jahre der Fremdenlegion bei.

Wichtige Werke:

Der deutsche Lausbub in Amerika(3 Teile)In der Fremdenlegion

Allen Gewalten zum Trotz

Lebenskämpfe, Niederlagen, Arbeitssiege eines deutschen Schreibersmannes

Nicht so vieles Federlesen! Laßt mich immer nur herein: Denn ich bin ein Mensch gewesen, Und das heißt ein Kämpfer sein.

Goethe, West-östlicher Divan. Buch des Paradieses.

*

Meinem Sohn Peter gewidmet

*

Dies ist ein Brief an meinen Sohn Peter, der jetzt gerade ein Jahr alt ist. Ich selbst bin auch noch sehr jung, gerade fünfundvierzig Jahre alt. Dem kleinen Mann einen offenen Brief zu schreiben, ist eine sonderbare Idee, aber der Brief ist sehr ernst gemeint. Der Mitleser wird mir das glauben, wenn er dieses Buch gelesen hat.

Hamburg, im März 1922. Erwin Carlé genannt Erwin Rosen.

Lieber Peter!

Du wirst den Brief und das daranhängende Buch schon als Junge gelesen haben, aber ich stelle mir vor, daß du Brief und Buch einmal richtig und wirklich liest, wenn du so ungefähr zwanzig Jahre alt bist und bewußt nach deinem eigenen Willen lebst und mit deinen eigenen Nöten kämpfst. Zeiten und Dinge werden sich unterdessen geändert haben. Ich weiß nicht, wie es dann aussehen wird in unserem Haus, in unserem Volk, in unserem Land: aber ich weiß, daß alle schweren Kampf gekämpft haben werden. Ich glaube, daß dieser Kampf siegreich sein wird. Solange in Menschen und Völkern die Lust am Leben und Schaffen nicht untergegangen ist, solange kann keine Niederlage das Bleibende sein: vielleicht sind Katastrophen oft nur dazu da, um Kräfte auszulösen. Es scheint mir, als hätte ich das am eigenen Leib und in der eigenen Seele erlebt. So habe ich es in höllischer Zeit fertig gebracht, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen und anderen Menschen von dieser Vergangenheit zu erzählen: besonders dir, Sohn Peter. Es sind ein Dutzend Jahre meines Lebens, von denen ich berichte, vom Jahre 1900 an etwa. Die Wesenheit des Erlebens ist die sich wiederholende Niederlage, aus eigener Schwäche entstanden, und die nicht minder sich wiederholende Kraftanstrengung, sich wieder aufzurichten. Mein Lebensweg dieser Jahre ist schier unbegreiflich krumm gewesen, und doch wieder sonderbar gerade. Die Torheiten waren dumm: die Kraft ist schön gewesen: das Geschenk an Erleben war wertvoll.

Es kommt in allem nur auf den Menschen selbst an. Gar wenig nur vermögen Verhältnisse und Zeiten ein Menschenleben zu führen und zu bestimmen. In der eigenen Seele ist die rettende Kraft verborgen.

Die Kraft kann, so fühle ich es im Rückblicken, mit vielen Namen benannt werden, mögen sie nun Begeisterung heißen, oder Arbeitsfreude, oder trotziger Lebenswille, oder roher Selbsterhaltungstrieb. Sie ist geheimnisvoll. Am schönsten aber ist neben der Begeisterung, das weiß ich mit untrüglicher Gewißheit, das verspüre ich heute mehr als je in allen Fasern meines Seins, die Freude an der Arbeit: jener Arbeit und jener Leistung, die nicht mit Heller und Pfennig rechnet wie ansammelnder Wucherer, sondern aus dem Menschen herauswächst, weil Wachsen und Werden der große Lebenstrieb sind.

Die Kräfte sind der Witz, Peter; die Katastrophen sind die Nebensächlichkeiten. Doch das wirst du erleben; ich wünsche dir alle die Freuden des Lebenskampfes und des Arbeitssiegs. Schaff' sie dir!

Dein Vater

Die Flucht aus dem Lande Gottes

Das Land Gottes und des Teufels. – Warum die Amerikaner verrückt sind ... – Was ist echt und was ist Bluff? – Ein Kerl, sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. – Briefe aus München. – Ich bin amerikanisch verrückt. – Das Ochsenschiff. – Die sympathischen Männer der blutigen Verdammtheit. – Allerlei Luftschlösser. – Auf deutschem Boden.

Ich habe Amerika sehr geliebt. Und ich liebte in Amerika nicht nur mein eigenes junges Erleben vergangener Zeit, sondern Land und Menschen; das Land, weil es gesegnet ist mit Größe und Schönheit, die Menschen, weil sie mir eitel Kraft, Wagemut, Begeisterung schienen. Diese Liebe ist elend in Scherben gegangen durch den Großen Krieg. Im Felde hat mich der Zufall nicht gegen Amerikaner geführt, aber ich hätte mit Wonne gegen Amerikaner gekämpft; ich, der ich auf amerikanischer Seite kämpfte in Kuba. Nach dem Kriege trug ich alles in meiner Kraft dazu bei, Amerikas falsches Spiel im Weltkrieg zu schildern und vor Amerika zu warnen. Selber hatte ich am allerliebsten vergessen, was Amerika mir einmal war. Das ist mir jedoch nicht gelungen. Mag es mich wie Eiseskälte anwehen in Haß über die amerikanische Kriegsheuchelei, mag Ekel mich überkommen vor großen Worten, die mir hohl klingen, mag brutale Geldgewalt schreien, die mich empört – immer wieder ertappe ich mich auf dem Bemühen, nach gutem Klang zu horchen aus dem Riesenlande über den Wassern, nach Menschheitstat, nach begeisternder Leistung. Zerbrochener Glaube ist sogar noch in den wertlosen Stücken lebendig geblieben.

Ich empfand das so recht an irgend einem Tag im Anfang des Jahres 1920.

Ich sprach da mit einem Mann von der Wasserkante, einem alten Amerikakenner, der gerade so knallvoll mit Haß gegen Amerika geladen war wie ich selbst:

"Die Amerikaner sind ja immer verrückt gewesen!" sagte er. "Sie sind hysterisch. Sie nennen sich das Land Gottes? Das Land des Teufels, sage ich. Solch ein Amerikaner kam mir immer vor, als stürze er in rasendem Rennen dahin, aber nicht, weil er rennen wollte, sondern weil er rennen mußte, vorwärtsgetrieben von einem anderen Amerikaner, der mit der Peitsche hinter ihm herlief!"

"Hoh!" meinte ich. "Glauben Sie das wirklich?"

Der Wasserkantenmann betonte, daß er das allerdings sehr glaube. Er kenne die Amerikaner doch seit Jahrzehnten, und er kenne vor allem ihre rasende Hetzjagd und ihre verzweifelte Angst vor dem Mißerfolg. Sie stünden immer unter Druck, seien geladen wie ein Explosionsgeschoß: der Mann, das Weib, der Kaufmann, der Angestellte, ja sogar der Pfarrer. Wahre Kraft aber bedeute Ruhe. Da seien zum Beispiel diese berühmten Kraftmenschen von amerikanischen Reportern! Die seien aber nach seiner Erfahrung arme hysterische Luder: aus dem Leim gegangen, verprügelt, verrückt gemacht!

"Na, erlauben Sie mal –" regte sich in mir schon die Erinnerung ...

"Sie können mir gar nichts erzählen!" sagte der Mann von der Wasserkante. "Ich habe diese amerikanischen Reporter mehr als einmal erlebt. Sie sind zum Kotzen. Sie haben gewinselt wie die jungen Hunde. Sie haben geheult wie die alten Weiber. Sie haben mir vorgejammert, daß sie erschlagen wären, und ruiniert, und vernichtet, wenn ich ihnen nicht das Interview für ihre Zeitungen gäbe. Sie haben vor mir Ströme von Tränen vergossen, um mich zu bewegen, auf ihre dummen Fragen eine sensationelle Antwort zu geben. Sonst seien sie erschossen! Sonst würden sie zum Teufel gejagt – und so weiter – die pure Hysterie!"

"Aber da sind Sie ja hereingefallen!" lachte ich entzückt. "Das war Theater. Ein Trick war das. Die Tränen waren Krokodilstränen. Der Kummer war geheuchelt. Ich kenne das."

"Nein! Die Tränen waren echt! Das Gewinsele war unerträglich. Ich kenne Menschen. Ich habe das erlebt. Und glauben Sie mir, diese Amerikaner sind überhaupt alle verrückt! Die Männer sind hysterisch, die Weiber sind hysterisch, die Politik ist es, die Wirtschaft, das Gesellschaftsleben, die Arbeit, die Erholung ... Die heulende Reporterbande war einfach typisch!"

Dann sprachen wir von etwas anderem.

Doch die Geschichte ging mir im Kopfe herum. Es fiel mir ein, am gleichen Abend noch, daß da einmal irgend ein merkwürdiger amerikanischer Wissenschaftler die Behauptung aufgestellt hatte, die amerikanische Luft enthalte das Nervensystem schwer irritierende Bestandteile. Die Luft über den Vereinigten Staaten von Nordamerika sei eine völlig andere Luft als irgendwo anders auf der Welt. Es handle sich da um eine Art Golfstrom der Luft, der seinen Ursprung wahrscheinlich in einer Vermengung der feindlichen Strömungen über den nördlichen Felsengebirgen und den südlichen Sonnenwüsten habe. Der Professor behauptete dabei allerlei über verschiedenartige elektrische Spannungen und patentiert-amerikanische Teufeleien von Molekülen, aber er kam jedenfalls zu dem Schluß, daß die Besonderheit der amerikanischen Luft den Menschen eben ein wenig verrückt mache. Sie bewirke zwar Steigerung wertvoller Energien, aber sie steigere auch den menschlichen Hang zur Unrast, zur sinnlosen Übertreibung, zum Vordrängen der brutalsten Instinkte. Die Veröffentlichung des Professors hatte ich damals selbst für die Bedürfnisse der Leserschaft einer sensationellen Zeitung zurechtgeschneidert ... Hm, hatte sie nicht wirklich immer etwas Verrücktes an sich gehabt, die amerikanische Luft? Hieß nicht das Wort, das der Amerikaner in jedem zweiten Satz gebrauchte, crazy?

Mir war, als stünde ich wieder inmitten wüster Steinmassen, von Donnergelärme umtost, von hastender, gierig stürzender Menschenflut umbrandet, kämpfend um Luft, Brot, Leben. Ich verspürte wieder den amerikanischen Kampfdrang im Blut, der wild und rücksichtslos um sich schlug; die furchtbare amerikanische Rastlosigkeit, die den Menschen ruhelos von Stadt zu Stadt trieb, von Tun zu Tun, von gieriger Hast zu neuer Hetzjagd. Ich roch hitzegeschwängerten Asphalt, sah unstet wimmelnde Menschenmassen. blickte in harte Gesichter. Sternenbanner flatterten geräuschvoll, brüllende Redner schrien die Göttlichkeit des Landes Gottes in die Welt hinaus, große Worte ertönten durch Megaphone wie schrille Trompeten in wahnwitziger Übertreibung. Da war alles glorreich, unbegrenzt, herrlich, gigantisch, wunderbar: am besten, am edelsten, am freiesten. Da hatten die Maße keine Grenzen. Da wuchsen die Käufer in den Himmel. Da erraffte die Gier Milliarden. Da war auch nichts groß genug, nichts durfte feststehend sein, nichts sollte als unverrückbar gelten; es gab keine Ehrfurcht im Lande Gottes. Die Menschen gingen nicht, sondern sie sprangen. Sie stürmten, polterten, rasten. Ein geheimnisvoller Drang mußte in diesen Seelen wühlen, kraftvoll treibend, aber mit Gier erfüllend, mit Unrast vergiftend; nun göttlich stärkend, jetzt teuflisch schwächend, jetzt mächtig erbrausend wie herrlicher Orgelklang, nun schrill gellend wie das Geheule aller Dampfpfeifen eines Erdteils.

Lärm hörte ich; Lärm, Lärm.

Wirrwarr sah ich; Wirrwarr, Wirrwarr.

Aber erwuchsen da nicht Kräfte riesenhaft aus dem Lärm, dem Wirrwarr, dem Brodeln: Arbeit, Leistung, Tat? Wo war nun das Göttliche? Was war teuflisch?

Was war das Wesentliche?

Bestand das wirkliche Ergebnis aus einer imponierenden, ja fast beispiellosen Steigerung der Kräfte, der Leistungen, des Arbeitens, der Taten – oder wurde das Ergebnis nur vorgetäuscht, durch unverschämt schamloses Reklamegebrüll, durch eine noch nie dagewesene Heuchelei, durch eine absolut groteske Selbstbeschwindelung?

Was war echt, was war Bluff, was war Humbug?

Es überlief einen ja siedendheiß. wenn man an Wilson dachte und an seine 14 Punkte, die zusammen immerdar das prächtigste Beispiel der Vermengung von Göttlichem mit Teuflischem darstellen werden – an den mit Explosivstoffen vollgeladenen Raum der Lusitania – an das Geschrei von Humanität und die gleichzeitige Erraffung des gesamten Goldreichtums der Welt. Man mußte lächeln, wenn man an das Antialkoholgesetz dachte und sich seiner Wirkung erinnerte, die ungeheuerlichste Schiebergeschichte in Alkoholeinfuhr, gegen die die Schiebungen des Europas nach dem Kriege harmlose Waisenkinder sind. Gewiß, die Kräfte steckten auch in dem Gebrüll, im Alkoholschwindel, in der Heuchelei sogar. Aber war vielleicht diese amerikanische Kraft nur um des Erfolges willen da, des Erfolges um jeden Preis, und zwar aus den gewöhnlichst triebhaften, ichsüchtigen Motiven? Ich muß reich werden! Ich muß schneller laufen als der andere! Ich muß recht behalten! Ich muß das Rennen machen!

War diese Art von Kraft gut und nützlich im hohen Sinn?

Aber auf einmal gab ich es auf, nach Lösungen von Rätseln zu suchen, die nicht zu errechnen waren. Ich verspürte nur, daß aus irgend einem geheimnisvollen Grunde in diesem sonderbaren Amerika Kräfte stärker wirkten und Schwächen klarer zutage traten als in irgend einem anderen Lande der Welt. Ich fühlte nur, daß trotz Krieg und Hatz ich immer wieder würde horchen müssen auf die Stimme aus Amerika. Ich wußte nur, daß ich das Erinnern an meine amerikanischen Jahre nicht wegfegen konnte, weil ihr Erleben mich beeinflußt hatte weit in die Zeiten hinein: im Guten und im Bösen.

###

Im Guten und im Bösen war ich amerikanisch geworden.

Als ich an einem schwülen Sommertag in einem Hotelzimmer in New Orleans stand und auf die heiße, wimmelnde, lärmende Straße hinabschaute, war ich ein sehr starker Mann.

Hätte man mich nach meinen Größenverhältnissen gefragt, so würde ich dreist und überzeugt geantwortet haben: Ich bin sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit!

Ich kannte keine Angst. Ich fürchtete nichts. Die ganze Welt gehörte mir. Wenn ich das Meinige noch nicht eingeheimst hatte, so war das nur deshalb nicht geschehen, weil es mir gerade an Zeit fehlte. Oder weil ich etwas anderes, viel Schöneres zu tun hatte. Denn so oder so: Die ganze Welt gehörte mir! Wer sich herumgeschlagen hatte wie ich, auf der Farm, auf der Straße, auf der Eisenbahn, im Kriege, im Fabriksaal, im Geschäft, im Zeitungsgebäude, sich das Leben ertrotzend, der wußte, was die Fäuste wert waren, das Hirn vermochte, der Wille bedeutete. Stark war ich!

Meine Post kam.

Unter den Briefen waren zwei deutsche. Von meiner Mutter in München. Meine Mutter schrieb von Sorgen und veränderten Verhältnissen daheim. Wie mit einem schweren Seufzer schloß der eine Brief: "Hätten wir dich nur hier!" Es klang wie ein ganz hoffnungsloser Wunsch, wie das traurige Erwähnen einer Unmöglichkeit...

Was? Unmöglichkeit?

Grell und blitzschnell schoß mir der Gedanke durch den Kopf:

Ich will heim!

Ich sah ein altes liebes Gesicht. Ich vernahm die Stimme. Ich gehörte nach München hin. Hoffnungslosigkeit? Unmöglichkeit? Das gab es nicht. Ich hatte genügend Geld, nichts hinderte mich, ich war ja stark. Ich fuhr jetzt sofort nach Deutschland.

###

Und nun wurde ich amerikanisch verrückt.

Ein Fieber schüttelte mich. Ich hätte schreien können vor Ungeduld. Es war Unerträglichkeit, daß sich Meere anmaßten, zwischen mir und meinem Ziel zu liegen. Es war eine Feindseligkeit, daß Zeit vergehen mußte, ehe mein Wunsch erfüllt war. Nur schnell! Keine Zeit verlieren! Ich rannte zur Telegraphenstelle an der Ecke, gab das Telegramm auf, das mir einen Kajütenplatz in New York bestellte, lief zurück zum Hotel, und stellte hastig fest, wann der nächste Zug nach New York abfuhr. In zwei Stunden. Ich packte den Koffer. Es war nicht schwierig: man schleppte nicht viel mit sich herum: Einen zweiten Anzug, die Wäsche, das Bündel Zeitungsausschnitte, ein paar Briefe, Waschzeug ... Man war nicht an Ort oder Menschen gebunden, wodurch denn? Die Plötzlichkeit von Entschluß und Ausführung war nichts Neues. So hatte man es schon hundertmal gemacht.

Auf dem Bahnhof, mitten im Gewühl am Schalter, fiel es mir ein, daß auch von New Orleans aus Dampfer nach Europa fuhren. Halt, das war die Idee! Da schwamm man vielleicht morgen schon auf dem Wasser!

Ich stürzte zum Hafen –

"Nächster Dampfer nach Europa?" antwortete einer. "Wilson-Linie, schätze ich. Schneller Ochsendampfer nach England. Abfahrt heute, glaube ich."

"Englanddampfer?" sagte der Mann auf dem Wilson- Büro. "Jawohl. Fährt morgen abend sechs Uhr. Auf den Schlag. Ochsendampfer, aber schnell. Sie wünschen?"

"Passage!"

"Passagiere nehmen wir nur in besonderen Fällen –"

"Dies ist ein besonderer Fall!"

In drei Minuten war die Angelegenheit erledigt.

"Ochsenmann?" fragte der Matrose am Steg. "Passagier!" sagte ich. "Wo ist meine Kajüte?" Und da war ich wieder sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. Als eine Riesengestalt von Ochsenmann mich grob anfuhr, ich sollte mich gefälligst aus dem Wege scheren, antwortete ich ihm prompt und süß in so gepfeffertem Texasamerikanisch. daß er erstaunt den Mund aufriß und dann beifällig nickte. Man zeigte mir die Kajüte. Aber bald war ich wieder oben auf Deck. Es wimmelte von Ochsen. Der alte Kasten, es will mir nicht mehr einfallen, wie er hieß, war von oben bis unten vollgepfropft mit Hornvieh für den englischen Markt. Immer noch kamen Ochsenscharen über eine breite Brücke hinaufgetrampelt, um von wilden Männern mit gräßlichem Gefluche in Verschlage hineinbugsiert zu werden. Ich fluchte mit: man konnte doch nicht einfach dastehen und zugucken. Dann pfiff eine Dampfpfeife, Maschinen dröhnten, und der schwimmende Stall dampfte los. Ich setzte mich oben auf der Brücke in einem Winkel hin und saß stundenlang da, bis es anfing, zu dämmern, und der helle Landstreifen dunkel wurde, neblig zerfließend.

Meine fünf Mitpassagiere in der Kajüte waren Amerikaner und Engländer: Vertreter des amerikanischen Verkäufers und des englischen Käufers des Ochsentransports; sehr nette Leute. Wenn wir bei den Mahlzeiten und zu den Trinkzeiten in der engen Kajüte saßen, pflegte es laut und deutlich zuzugehen. Diese überaus sympathischen Männer nannten sich gegenseitig Söhne einer Kanone, rothaarige Pferdediebe, ungehängte Kälberstehler. Wenn sie sich ihre Zuneigung zeigen wollten, verdammten sie gegenseitig ihre Augen oder wünschten ihre Seelen in die Hölle. Die Engländer brachten in diese liebenswürdige Offenheit noch einen feinen Reiz hinein, indem sie bei allen unpassenden Gelegenheiten ihr nationales "blutig" verwendeten. Während der Amerikaner schlicht sagte: "Verdamme deine Augen!" verzierte der Engländer: "Verdamme deine blutigen Augen!" Das Schiff war blutig, der Kapitän war blutig, die Ochsen waren blutig, das Essen war blutig.

Aber es waren sehr ordentliche Leute.

Mir gefielen sie ausgezeichnet. Wenn einer da anfing–

" Well, ich will verdammt sein. Gleich morgen will ich in der Hölle braten, wenn's nicht christlich wahr ist! Trieben die Strich-Quadrat-Strich-Herde des alten Jenkins. Nach Kansas City. Fühlten uns verdammt wohl. Verwette meine Augen, daß der Koch schuld war, denn der Kanonensohn gab uns höllisch gutes Futter. Da kam es uns auf einmal verdammt so vor, als ob uns so an die hundert Stück fehlten. Da steckten wir natürlich die blödsinnigen Köpfe zusammen! Und ich will verdammt sein, wenn wir nicht schon am nächsten Tag die verfluchten Halunken erwischten. Reit' ich da so aufs Geratewohl in eine Senkung hinein, und da seh' ich die gentlemen! Sind eben dabei, ein Prachtstück von einem Ochsen neu zu branden. Machten die Kerle einfach aus unserem Brand Strich-Quadrat-Strich ein Kreuz-Netzquadrat-Kreuz. Ich also 'raus mit dem Schießeisen –"

– dann schwelgte ich in Seligkeit.

Oh, wir tranken so ein bißchen Whisky. Wir pokerten. Desgleichen biederten wir uns an. Ich fühlte mich geschmeichelt, als der rothaarige Pferdedieb mir einmal, als er nicht mehr nüchtern war, freundschaftlich zugestand, daß er mich unter Umständen vielleicht als dritten Gehilfen des Kochs ganz gut verwenden könnte. Es war herrlich. Die verschiedenen Seelen, die in meinem Gemütsbetrieb ständig Hokuspokus trieben, kamen glänzend auf ihre Rechnung. Denn ich verschwand einfach in meine Koje, wenn ich der Verdammtheit müde wurde, und schmökerte wundervoll in englischen Schundromanen, die ich dem zweiten Maschinisten abgeluchst hatte. Den hatte ich kennen gelernt, als er gerade in ein schwirrendes Wespennest von sausenden Stahlstangen und Stahlzylindern hineinspuckte, weil das nach altem Maschinistenglauben reelles Glück brachte. Da er grundsätzlich auf großer Fahrt nur Wasser trank, schätzte er es besonders, daß ich ihn zu einem Schnaps einlud. Und darauf gab er mir die Schmöker. – Dann wieder schlich ich mich aus der Kajüte, wenn es spät nachts war, und die Sterne glitzerten, und das Golfwasser schimmerte. Dann hockte ich in einem dunklen Deckwinkel, und guckte in die Sterne, und betrachtete den Mond. Meine Frau im Mond lächelte mich holdselig an. Es entstanden viele Luftschlösser. Da fuhr ich hin, in mir die neue Zeitung für das alte Deutschland tragend, und wurde machtvoll und reich. Ich warf mit schleudernder Sand das Gold unter die Menschen. Alle sollten sie glücklich sein! Alle sollten sie haben, was sie sich wünschten! – In einer solchen Stunde fiel mir auch einmal die Legende ein vom verlorenen Sohn. Es war doch erstaunlich, daß dieser merkwürdige Kerl Träber gefressen hatte! Doch das war wohl bildlich? Da lachte ich zu meiner Frau im Mond empor. Hörst du? Ich bin kein verlorener Sohn! Ich habe keine Träber gefressen. Ich bin ein Kerl! Stark bin ich! Was ich will, geschieht! Verstehst du?

###

Die vierzehn Tage auf dem Meer waren sehr schön. Breit stand ich da und stark; jung und froh. Zum letztenmal erlebte ich eine Zeitspanne, in der es keinen Zweifel und keine Unsicherheit gab. Das Leben brachte später unendlich Größeres und unbeschreiblich Schöneres: aber so herrlich töricht jung bin ich nie wieder gewesen und kann es nimmer sein. Nur einmal noch, im schwäbischen Ulm, war ich wirklich ganz jung. Doch da hatte mir schon manches weh getan. Ich will mich immerdar hüten, zu lächeln, wenn Kraftprotzentum der Jugend meinen kühlen Verstand herausfordert, denn nie ist der Mensch gottähnlicher als in dem winzigen Zeitraum, in dem er sich ohne Fehl und sonder Makel erscheint und auch nicht leisester Zweifel ihn überschleicht.

###

Es war sehr schön!

Verstimmend und ärgerlich wirkte es nur, wenn tote Ochsen, die die Meerfahrt nicht vertragen hatten, über Bord geworfen werden mußten; aber da tröstete immerhin der geringe Prozentsatz dieser Verluste, und überdies waren Ochsen damals weder politisch noch wirtschaftlich so wertvoll wie heutzutage. Und so kamen mir, in glänzender, blutiger, verdammter Laune, in den Kanal, dampften ehrbar nach Hull, wurmten uns durch Hafenschleusen, legten an, gingen mit blutigen, verdammten, herzlichen Segenswünschen auseinander.

Und da war das Ochsenschiff schon vergessen.

Heimwärts ging es jetzt.

Eile hatte ich. Ich raste los. Ein Argodampfer fuhr am gleichen Tag nach Bremen. Und da war ich in Bremen. Als da so irgendwo beim Einfahren in Bremerhaven auf irgend einem Hafengebäude eine mächtige deutsche Flagge straff und stolz dastand im frischen Wind, drückte etwas auf meine Kehle, und es wurde mir ganz merkwürdig zumute. Das war meine Flagge! Und da lag mein Land! Eine große Freude kam über mich. Aber ich hatte furchtbare Eile! Die Tat war erst vollendet, der Wille geschehen, wenn ich im alten München war. Da wechselte ich hastig Geld, merkwürdig klein erscheinende Goldstücke eintauschend für meine Dollarscheine, und eilte zum Bahnhof.

Der Ochse vor dem Berge

Ich war in München.

Durchgesetzt hatte ich meinen Willen. Nun mochten sie sich hüten, die Sorgen und die Verhältnisse; jetzt fuhr ich dazwischen ...

Und, bei Gott, ich war wieder der Winerle!

In aller Herrgottsfrühe wachte ich auf am ersten Morgen. Die Sonne lachte so lustig durch die gelben Vorhänge, daß ich nicht mehr schlafen konnte. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich erstaunt fest, daß es erst five forty, nein, ich war ja in Deutschland, daß es erst zwanzig Minuten vor sechs Uhr war. Aber es litt mich nicht mehr im Bett! Ich war daheim! In München war ich! Ein Sonnenmorgen war es auch noch! Ich mußte schnell aufstehen und mich freuen! Doch da hieß es leise sein, und auf Zehen schleichen, um die Mammy nicht zu wecken, die sicher sehr müde sein mußte, weil wir so spät zu Bett gegangen waren. Ein Gedanke kam mir: Jetzt wollen wir ein bißchen zaubern! Ich schlich mich in die Küche, suchte, und fand alles, was ich brauchte. Dann machte ich ein Höllenfeuer im Herd an, setzte Wasser auf, kochte Haferflocken, holte Backpulver herbei, knetete Teig, fing an zu backen, stellte die Eier handgerecht hin, schnitt den Speck in dünne Scheiben. Nichts rührte und regte sich. Endlich kam das Dienstmädchen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen:

"Jesses, was macht denn der gnä' Herr?"

" Don't make such a noise!" sagte ich ärgerlich. " Don't you see that this is on the quiet? Now just be a good girl –"

"Jesses!" rief das Mädel entsetzt ...

"San S' still!" begütigte ich. Dieses Münchener Mädel auf amerikanisch angeredet zu haben, war ein starkes Stück! "Ich koch' ein Frühstück! Das soll nämlich eine Überraschung geben! – Also san S' still, Lina, und verderben S' mir die G'schicht' net!"

"Ja, ja!" machte die Lina zweifelnd.

Ich freute mich, dah ich noch bayrisch konnte, und hantierte weiter. Die Überraschung gelang glänzend. Als meine Mutter in die Küche kam, dampfte der Kaffee, der Haferbrei war schön von weißem Rahm umrandet, die Speckscheiben leuchteten golden, die Eier standen Parade in den Eierbechern, und meine amerikanischen Morgenbrötchen waren knusperig –

"Winerle! Aber Winerle! Was machst denn, Winerle?"

###

Der Winerle war ich wieder! Da stand das alte Schülerpult, auf das ich einmal eine Kerze so nahe an den Fenstervorhang gestellt hatte, daß der Vorhang in Flammen aufging und die Ohrfeigen nur so flogen. Ich fand noch Hefte, in denen ich unter anderem den pythagoreischen Lehrsatz so mit Ach und Krach bewiesen hatte, und andere Hefte, in denen ich unter anderem die Jungfrau von Orleans auf ihre weiblichen, kriegerischen, zeitpolitischen, übersinnlichen und allgemein menschlichen Eigenschaften in geradezu erstaunlicher Weise würdigte. Da war das alte Tintenfaß noch. Dort hing die lange Pfeife, die ich als geheimer Mitraucher meines Vaters zur Glorie eines wohlangerauchten Pfeifenkopfes miterhoben hatte. Es war da auch das alte Jungensbett, und hier stand der kleine Schreibtisch aus gebeiztem Tannenholz mit der tintenverschmierten, bekritzelten, von Messerschnitten mißhandelten Platte.

Auch fand ich das Demissionszeugnis, das mir bei meinem Hinauswurf aus dem Gymnasium von Burghausen mitgegeben worden war. Es lautete:

in der Religion +++++++++++++gut in der deutschen Sprache +++++++++++++gut in der lateinischen Sprache noch+++++++++++++ gut in der griechischen Sprache +++++++++++++genügend in der französischen Sprache +++++++++++++genügend in der Mathematik +++++++++++++gut in der Geschichte +++++++++++++gut im Turnen noch sehr +++++++++++++gut.

"Bei seiner guten geistigen Befähigung hätte er weit Besseres leisten können, wenn er mehr Eifer für das Studium besäße und wenn sein Fleiß verlässiger und weniger oberflächlich wäre. Im deutschen Aufsatz zeigte er eine gewisse Gewandtheit."

"Weil du nur wieder da bist, Winerle!"

Das war wie ein Streicheln.

Ich hätte am liebsten geheult wie ein Schloßhund. Um diese unmännliche Regung zu verbergen, erzählte ich groß und breit, laut und dreist darauf los. Ich war immer im Recht gewesen, immer stark, immer tüchtig. Ich war in der scheußlichsten Weise sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit: aus lauter Gerührtsein, und Verlegenheit über dieses Gerührtsein. Die tollsten Reportergeschichten tischte ich auf, laute Farben noch greller schreien lassend, gebärdete mich wie ergrauter alter Krieger, tat zum Kugeln lebensweise, polterte tollpatschig:

"Das Glück ist angebunden an mich! Das Glück und ich sind Zwillingsbrüder! Also – wir werden das alles schon kriegen!"

"Ach Winerle! Bub'!"

Und der Winerle war glücklich. Auch ging der Winerle ins Hofbräuhaus, Bier trinkend und ein Mordsstück Tellerfleisch dazu essend, für vierzig Pfennige: lächerlich billig für amerikanische Begriffe. Ich hätte am liebsten ganz München umarmt: das lustige Münchner Mädel, den schnauzbärtigen Droschkenkutscher mit seinem weißlackierten Steifhut, das knochige Trambahnweib, das brummig die Schienen säuberte, den feisten Vierbürger sogar. Jedem Menschen hätte ich es eigentlich in die Ohren schreien müssen, so war mir zumute, daß ich, ich, jetzt wieder da sei; zu meiner unbeschreiblichen Freude und zum großen Vorteil für München und das Bayernland. Ich klimperte mit dem Geld in meinen Hosentaschen: was kostet's? In diesem gesegneten Land war alles so billig. Ich ging ins alte Maxgymnasium. Es war gerade große Pause. Auf dem Hof wimmelte es von lärmenden Lateinschülern, die Spiele spielten wie wir Lausbuben damals sie gespielt hatten. Beinahe hätte ich einen Professor angeredet – den da, mit dem großen Vollbart – und ihm gesagt: "Sie! Herr Professor! Ich bin auch einer von den Maxeln! Wie geht's denn, wie steht's? Ich komm' nämlich direkt aus Amerika!" Auch ging ich auf den Viktualienmarkt. Ich aß dort die alten Weißwürste, in der alten Bude, von wohlbekannter alter Frau verkauft, von denen ich so manches Mal geträumt hatte, da drüben in Amerika, wenn der Hunger im Magen zwickte. Ich hatte viel zu tun. Ich mußte in die alte Pinakothek, in die mein Vater mich so oft geschleppt hatte, um mich zur Ehrfurcht vor der Kunst zu erziehen. Auch kaufte ich emsig Brezeln, schleppte Gänse nach Hause vom Viktualienmarkt, erstand gebratene Täubchen im Franziskaner als Mitbringsel für die Mammy, wurde guter Kunde von alten Weibern, die junge Blumen verkauften. Des weiteren mußte ich wissen, und das war mühselig herauszubekommen, was jetzt eigentlich der Castell trieb, wo der Zirmgiebel war, was aus dem Schumacher geworden war, und dem Wolfskehl, und vielen anderen. Der eine war Leutnant, der andere Referendar, ein dritter Beamter; irgend so etwas. Ich fand sie und redete, Gott verzeihe es mir, gar laut und deutlich. Ich mußte doch diesen kümmerlichen Schulbankfreunden klar machen, daß ich ein amerikanischer Reporter war!

Das war etwas! Das war kolossal! Das kam gleich hinter Bismarck!

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Diese deutschen Zeitungen hatten keine Ahnung ...

Ich las so an den Abenden die Münchener Neuesten Nachrichten und begleitete das Lesen mit Hohngelächter. Bei Gott, der ganze Fetzen war nicht umfangreich genug, um mir auch nur genügend Zeilenraum zur Beschreibung eines einzigen großen Feuers zu geben! Ich stellte mit Verachtung fest, wie spärlich die Inserate waren! Es war mir unbegreiflich, daß in diesen kümmerlichen Spalten so wenig an geschilderter, lebendiger, berichteter Wirklichkeit sich vorfand! Es kam mir vor, als lebten diese Zeitungsverleger, diese Schriftleiter, auf einer einsamen Insel; in einem Land von vorgestern, in dem es noch keinen einzigen guten Reporter gab! Und es überkam mich ein Frohlocken: Ich bin ja da! Ich will euch die Zeitung bringen! Ich will euch den Tag schildern! Ich kann euch die Geheimnisse lehren! Ich will euch weisen, wie man totes Papier lebendig macht!

Ich komme schon!

Und eines schönen Tages – ich hatte mich gar nicht damit beeilt; es gab zu viel zu tun mit lauter Freuen – eines schönen Tages also kam ich ...

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Die ungeheure Frechheit, mit der ich Hopplahopp- Menschenkind mich vermaß, der deutschen Zeitung die journalistischen Anfangsbegriffe beizubringen, ist mir eine entzückende Erinnerung. Das war die richtige Reporterfrechheit!

Es war die Frechheit des amerikanischen Zeitungsmannes, die in aller Welt immer wieder die Vorstellung auslöst, dieser amerikanische Reporter sei schließlich nichts mehr und nichts weniger als letzte, größte, aufdringlichste Frechheit. Frechheit schlankweg!! Die menschgewordene Frechheit, die alles über den Haufen rennt, die Leute unverschämt ausfragt, brüllende Überschriften ersinnt, spaltenlang lügt, die unglaublichsten Gerüchte aus immer vollem Lügenbeutel flattern läßt; frech aber auch bereit ist, heute den Nordpol zu entdecken, morgen das innerste Afrika zu erforschen, übermorgen den Präsidenten von Frankreich zu interviewen, und dazwischen über eine Predigt zu berichten, gegen die Spielhöllen einer Großstadt den Zeitungsfeldzug zu inszenieren, die Tuberkulose zu bekämpfen, einen Raubmord aufzuklären, und vielleicht sogar in eigener Person den Raubmörder zu verhaften ... Frech! Sensationell! Amerikanischer Reporter!

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In Wirklichkeit ist diese Frechheit ein Entwicklungsstadium.

Im ersten Stadium wird dem jungen Journalisten mit empfindlichen Hammerschlägen eingehämmert, daß er, der Herr Reporter, ein Dreck ist, eine Gleichgültigkeit, eine belanglose Nebenerscheinung, und daß es seine Pflicht ist, immerdar zum lieben Gott zu flehen, daß er würdig werden möge, einem so wundervollen, aussichtsreichen, herrlichen, begeisternden Beruf als winzig kleiner Schmierfink dienen zu dürfen! Er wird erbarmungslos geplagt. Er muß immer da sein. Er muß immer zur Verfügung stehen. Er hat seine Zeitung, nur seine Zeitung als Lebensinhalt zu betrachten. Es ist eine kaum begreifliche Liebenswürdigkeit dieser Zeitung, daß sie ihm gestattet, anderweitig zu schlafen; denn von Gottes und Rechts wegen müßte das Männchen sein Bett in irgend einem Winkel des Druckersaales aufschlagen, und in den Schlaf singen müßte ihn das Donnergetöse der Rotationsmaschine. So wird Begeisterung gezüchtet! So wird das Männchen diszipliniert! Es erlebt eine scheußliche Zeit. Was es schreibt, ist Mist. Was es denkt, hat der Stadtredakteur schon längst vor ihm gedacht. Was es bringt, wird widerwärtig und mit ekelhafter Geringschätzung beschnuppert. Aber dann und wann bekommt es Zuckerbrot. Dann und wann ist dieser unnahbare Redakteur erfreut über irgend eine Leistung, eine Schilderung, das schnelle Erfassen einer Idee, und er sagt dann wohl: "Das ist nicht ganz so schlecht, wie ich das eigentlich erwartet hatte!"

So nach und nach kommt dann der Reporter in das zweite Stadium. Dieses Stadium ist das Frechheitsstadium, nach dem wir das amerikanische Reportertum einzuschätzen pflegen.

Jetzt hat der junge Zeitungsmann auf einmal gemerkt, daß er etwas kann. Er hat begriffen, daß es nur an ihm liegt, schleunigst hoch und höherzukommen. Er hat vor allem gemerkt, daß man sich bei der furchtbaren Zeitung ganz entsetzlich rühren und regen muß, wenn man es zu etwas bringen will. Er steht auf eigenen Füßen jetzt. Er ist noch keineswegs belastet mit Programmen, erzieherischen Absichten, politischen Überzeugungen, wohlüberlegten Zukunftsplänen. Er hat nur gemerkt, daß er fabelhaft lebendig sein muß! Jetzt macht er die gräßlichen Überschriften. Jetzt hat er solche Eile, daß er die Leute über den Haufen rennt. Jetzt ist er in der Geistesverfassung, ehrlich überzeugt zu sein, daß die Welt untergehen wird und er selber unter den Trümmern begraben, wenn seine Schilderung von dem brennenden Wolkenkratzer, die natürlich die beste, schnellste, und ausführlichste ist, nicht noch heute in der Abendnummer erscheint. Dieses Stadium schließt die Laufbahn der meisten amerikanischen Reporter endgültig ab. Sie kleben an dem Errungenen, vermögen nicht, weiter zu sehen, und werden sehr bald weggeworfen.

Der wirkliche Zeitungsmann tritt nun in das dritte Stadium ein. Er begreift, daß dieses Gehetze, dieses Geschildere, dieses Wettrennen mit anderer Zeitung, zwar sehr wichtig sind – daß solche Arbeit aber nur Schnellphotographie ist, Wegweisermalerei, gedankenlose Filmaufnahme. Er setzt sich hin und denkt. Er wird nun etwas wollen! Er will etwas bewirken! Er fühlt die Verantwortung, daß er bei Hunderttausenden eine Meinung bilden, einen Schaden erzeugen oder einen Nutzen bewirken kann! Jetzt wirft er sich auf soziale und politische Erscheinungen; Mißstände ausspürend, Wert bewertend, Unweit verdammend. Er ist fähig, nicht nur das Gesehene, Gehörte, Erlebte lebendig zu beschreiben, sondern aus dem Sehen, Hören, Erleben die Konsequenzen zu ziehen; zu loben oder zu tadeln, Vorschläge zu machen, Verbesserungen zu ersinnen, Falsches zu entdecken: kurz, zu kämpfen! Er greift mit seiner Feder ein in das öffentliche Leben. Bleibt er stehen, so ist er zwar brauchbar und wertvoll, wird sich aber langsam abrackern und müde und schäbig werden wie ein Droschkengaul. Kann er schreiten, so wird er bald Schriftleiter werden, oder die eigene Zeitung begründen, oder in das kaufmännische Leben großen Stils abschwenken, um dann fast immer in die große politische Laufbahn einzubiegen. Die Privatsekretäre der amerikanischen Präsidenten, Männer von ungeheurem Einfluß, sind seit einem halben Jahrhundert ohne Ausnahme aus dem Journalismus hervorgegangen. Der jetzige Präsident Harding begann sein Arbeitsleben als kleines Reportermännchen und ist noch jetzt als Präsident Besitzer seiner Zeitung. Roosevelt begann in New York mit Reportage seinen Weg. Staatssekretär Lansing war Zeitungsmann. In allen wichtigen politischen Stellungen ist in Amerika immer wieder der ehemalige Zeitungsmann zu finden. Auch an die gigantischen Zeitungsschöpfungen des Reporters Hearst sei erinnert und des Reporters Pulitzer. Gordon Vennett war zuerst Reporter. Unvergeßlich aber ist jedem Zeitungsmann der Name Stanley, des Reporters, den der New York Herald nach Afrika schickte, um Emin Pascha zu suchen. Diese berühmte afrikanische Expedition, die für alle Zeiten der Geschichte angehören wird, war – ein Reporterstück!

Sie alle hatten gelernt, Führung an sich zu reißen, diese früheren Reporter ...

Mir scheint, das ist gar kein übler Entwicklungsgang. Man könnte ihn, mit geringen Abänderungen, auf jeden anderen Beruf übertragen.

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Ich war also, im bayrischen München, amerikanischer Reporter so ungefähr in den ersten Anfängen des zweiten Stadiums! Ich muß zum Brüllen komisch gewesen sein! Es ist eine Lebensgemeinheit, daß ich die Komik meiner damaligen Lage gar nicht ausschöpfen kann, weil ich unterdessen mir einige Lebenserfahrung und eine gewisse Beurteilungsfähigkeit angeeignet habe, und weil diese schönen Errungenschaften mich zwingen, das Erinnern mit allerlei überaus gescheiten Erkenntnissen zu verhunzen.

Wie traurig das ist!

Wie herrlich wäre es, könnte man noch so richtig dumm sein, so – begeistert, so süß frech, – – unbelastet!

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Und ich kam zur deutschen Zeitung ...

Ich kam, voll des Glaubens an mich selbst. Es ist etwas Schönes um diesen Glauben. Er funktioniert aber manchmal nicht nach außen; das hat dann immer seine ganz bestimmten Gründe ... Als ich da so dem Schriftleiter der Münchener Neuesten Nachrichten gegenübersaß, redete ich sicher sozusagen mit Engelszunge. Mein Ton war warm, meine Augen leuchteten, meine Begeisterung sprudelte –

"Sehr interessant!" sagte der Schriftleiter der Münchener Neuesten Nachrichten. "Wann fahren Sie wieder hinüber? Bleiben Sie längere Zeit in München?"

"Immer!" erwiderte ich. "Ich fahre gar nicht wieder hinüber! Ich will hier Journalist werden! Ich bin doch Deutscher! Ich will Journalist werden bei den Münchener Neuesten Nachrichten! Ich werde Ihrem Blatte beweisen, was ich kann!"

Hierauf erklärte der Schriftleiter mit der wohlberechneten Trockenheit, die man in solchen Fällen anzuwenden pflegt und die mit schöner Unverbindlichkeit die Interessen beider Teile berücksichtigt, daß die Münchener Neuesten Nachrichten meine Einsendungen nicht nur mit Vergnügen, sondern auch mit dem altüberlieferten Wohlwollen den so wünschenswerten jungen Kräften gegenüber gern prüfen würden. Als sich der Schriftleiter dieser stereotypen Erklärung entbunden hatte, wurde er wärmer, setzte mir auseinander, ein wie merkwürdiges Gebilde die deutsche Zeitung sei, entwickelte Kenntnisse des amerikanischen Zeitungsbetriebs, die mich entsetzten, weil ich auf diese Kenntnisse das alleinige Monopol zu besitzen glaubte, deutete leise an, was ich von der deutschen Zeitung alles nicht wüßte – wurde noch wärmer, riet mir einige Juristerei zu betreiben und etwas Nationalökonomie und verschiedene wünschenswerte allgemeine Studien. Im übrigen war er jedoch der Meinung, und er verhehlte diese Meinung nicht, daß jemand, der das Amerikanische so betonte, von Gottes und Rechts wegen eben – nach Amerika gehörte ... Auf gar keinen Fall aber sei auch nur daran zu denken, daß die Münchener Neuesten Nachrichten jemals auf den Einfall kommen könnten, jemand nur deshalb in ihren Stab aufzunehmen, weil er ein bißchen amerikanisch reportert hatte! Dagegen sprächen nämlich Gründe. Erhebliche Gründe!

"Sehr interessant!" sagte er endlich. "Also wir werden Ihre Einsendungen mit Vergnügen prüfen! Jawohl! – Jawohl, ebenfalls! – Es hat mich sehr gefreut–"

Und da war ich also gekommen!

Und da war ich nun also gegangen!