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Werden Blüten zur Bedrohung und Bäume unsere Feinde? Im Frühjahr 2024 häufen sich auch in Deutschland schlagartige Blütenabwürfe bei bestimmten Bäumen. Durch die Pollenmassen kommt es zu lebensbedrohlichen allergischen Reaktionen und mehreren Todesfällen. Holger Grimm vom Umweltministerium und Anja Blass vom Gesundheitsministerium werden mit der Aufklärung dieser rätselhaften, gefährlichen Pollenschauer beauftragt.
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Seitenzahl: 554
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Im Frühjahr 2024 häufen sich auch in Deutschland schlagartige Blütenabwürfe bei bestimmten Bäumen. Durch die Pollenmassen kommt es zu lebensbedrohlichen allergischen Reaktionen und mehreren Todesfällen.
Holger Grimm vom Umweltministerium und Anja Blass vom Gesundheitsministerium werden mit der Aufklärung dieser rätselhaften, gefährlichen Pollenschauer beauftragt.
Hermann Lühr, Jahrgang 1953, verheiratet, zwei erwachsene Töchter.
Wohnt in Schöningen, Niedersachsen.
Er schreibt Romane um Rätsel der Vergangenheit oder unerklärliche Geschehnisse.
Buchveröffentlichungen: „Die Kristallpyramide“, 2008.
„Verschollene Welten“, 2013.
Beide Bücher sind auch als E-Book erhältlich.
Weitere Informationen auf der Webseite des Autors:
hermannluehr.jimdo.com
Das Buch
Der Autor
Freitag, 19. Mai 1995
Montag, 24. November 1997
Mittwoch, 4. August 2004
Samstag, 14. Mai 2005
Dienstag, 18. Juli 2006
Sonntag, 2. September 2007
Dienstag, 12. Februar 2008
Sonntag, 6. Juli 2008
Dienstag, 16. September 2008
Samstag, 20. Juni 2009
Sonntag, 8. Mai 2011
Sonntag, 26. Juni 2011
Mittwoch, 5. Oktober 2011
Sonntag, 1. Juni 2014
Samstag, 26. März 2016
Dienstag, 21. Mai 2019
Donnerstag, 14. März 2024
Montag, 25. März 2024
Mittwoch, 27. März 2024
Donnerstag, 28. März 2024
Freitag, 29. März 2024
Montag, 1. April 2024
Dienstag, 2. April 2024
Mittwoch, 3. April 2024
Donnerstag, 4. April 2024
Freitag, 5. April 2024
Sonntag, 7. April 2024
Montag, 8. April 2024
Mittwoch, 10. April 2024
Donnerstag, 11. April 2024
Montag, 15. April 2024
Dienstag, 16. April 2024
Mittwoch, 17. April 2024
Donnerstag, 18. April 2024
Samstag, 20. April 2024
Sonntag, 21. April 2024
Montag, 22. April 2024
Dienstag, 23. April 2024
Mittwoch, 24. April 2024
Donnerstag, 25. April 2024
Freitag, 26. April 2024
Samstag, 27. April 2024
Montag, 29. April 2024
Donnerstag, 2. Mai 2024
Montag, 6. Mai 2024
Mittwoch, 8. Mai 2024
Samstag, 11. Mai 2024
Montag, 13. Mai 2024
Dienstag, 14. Mai 2024
Mittwoch, 15. Mai 2024
Samstag, 18. Mai 2024
Montag, 20. Mai 2024
Donnerstag, 23. Mai 2024
Sonntag, 26. Mai 2024
Mittwoch, 29. Mai 2024
Donnerstag, 30. Mai 2024
Freitag, 31. Mai 2024
Montag, 3. Juni 2024
Mittwoch, 5. Juni 2024
Samstag, 8. Juni 2024
Montag, 10. Juni 2024
Mittwoch, 12. Juni 2024
Donnerstag, 13. Juni 2024
Freitag, 14. Juni 2024
Samstag, 15. Juni 2024
Montag, 17. Juni 2024
Dienstag, 18. Juni 2024
Donnerstag, 20. Juni 2024
Freitag, 21. Juni 2024
Montag, 24. Juni 2024
Dienstag, 25. Juni 2024
Donnerstag, 27. Juni 2024
Samstag, 29. Juni 2024
Montag, 1. Juli 2024
Mittwoch, 3. Juli 2024
Freitag, 5. Juli 2024
Samstag, 6. Juli 2024
Sonntag, 7. Juli 2024
Montag, 8. Juli 2024
Mittwoch, 10. Juli 2024
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Sonntag, 14. Juli 2024
Dienstag, 16. Juli 2024
Freitag, 19. Juli 2024
Montag, 22. Juli 2024
Mittwoch, 24. Juli 2024
Freitag, 26. Juli 2024
Sonntag, 28. Juli 2024
Dienstag, 30. Juli 2024
Freitag, 2. August 2024
Sonntag, 4. August 2024
Donnerstag, 8. August 2024
Montag, 12. August 2024
Mittwoch, 14. August 2024
Freitag, 16. August 2024
Sonntag, 18. August 2024
Dienstag, 20. August 2024
Donnerstag, 22. August 2024
Samstag, 24. August 2024
Sonntag, 25. August 2024
Freitag, 30. August 2024
Dienstag, 3. September 2024
Samstag, 7. September 2024
Mittwoch, 11. September 2024
Sonntag, 15. September 2024
Dienstag, 17. September 2024
Donnerstag, 19. September 2024
Dienstag, 24. September 2024
Samstag, 28. September 2024
Mittwoch, 2. Oktober 2024
Samstag, 5. Oktober 2024
Mittwoch, 9. Oktober 2024
Donnerstag, 17. Oktober 2024
Freitag, 25. Oktober 2024
Mittwoch, 30. Oktober 2024
Freitag, 15. November 2024
Montag, 18. November 2024
Samstag, 23. November 2024
Sonntag, 24. November 2024
Dienstag, 7. Januar 2025
Samstag, 25. Januar 2025
Samstag, 1. Februar 2025
Sonntag, 2. Februar 2025
Mittwoch, 26. Februar 2025
Donnerstag, 27. Februar 2025
Freitag, 28. Februar 2025
Montag, 3. März 2025
Samstag, 15. März 2025
Donnerstag, 20. März 2025
Montag, 24. März 2025
Samstag, 29. März 2025
Samstag, 12. April 2025
Dienstag, 15. April 2025
Donnerstag, 17. April 2025
Montag, 21. April 2025
Freitag, 25. April 2025
Sonntag, 4. Mai 2025
Mittwoch, 14. Mai 2025
Freitag, 23. Mai 2025
Samstag, 31. Mai 2025
Freitag, 6. Juni 2025
Mittwoch, 11. Juni 2025
Freitag, 27. Juni 2025
Donnerstag, 10. Juli 2025
Freitag, 25. Juli 2025
Dienstag, 19. August 2025
Samstag, 30. August 2025
Sonntag, 31. August 2025
Mittwoch, 10. September 2025
Montag, 29. September 2025
Dienstag, 21. Oktober 2025
Montag, 24. November 2025
Freitag, 12. Dezember 2025
Mittwoch, 18. Februar 2026
Samstag, 28. Februar 2026
Donnerstag, 5. März 2026
Samstag, 14. März 2026
Samstag, 28. März 2026
Sonntag, 5. April 2026
Samstag, 11. April 2026
Dienstag, 21. April 2026
Donnerstag, 30. April 2026
Montag, 4. Mai 2026
Samstag, 16. Mai 2026
Samstag, 23.Mai 2026
Freitag, 29. Mai 2026
Samstag, 30. Mai 2026
Boston, Massachusetts, USA.
Bis auf sein Labor war alles dunkel. Aber das nahm der Mann im weißen Kittel überhaupt nicht wahr, dass er mitten in der Nacht ganz alleine in dem Gebäude arbeitete. Er hing mit seiner Lupenbrille direkt an der Glasscheibe und hatte nur Augen für die vielen hellgrünen Läuse, die eifrig an den Blättern und Stängeln saugten.
Mit rückwärts verrenktem Kopf sah er zur Digitaluhr. Der Versuch dauerte jetzt genau 18 Minuten und 41 Sekunden. Die Pflanze hatte noch nicht reagiert. Wieder stieß er mit der Lupenbrille gegen das Glas und fluchte unterdrückt. Der Forscher beobachtete aufmerksam die leicht behaarten Pflanzenstiele. Dann entdeckte er den ersten Tropfen. Kurz darauf weitere an unterschiedlichen Stellen. Mit umständlichem Blick schaute er zur Uhr und notierte sich 24:38.
Außer auf den Blättern sonderte die Pflanze jetzt vermehrt ihren wässrigen Saft ab. Die Läuse krabbelten gierig zu diesen Tautropfen und labten sich daran. Lasst es euch schmecken, dachte der Mann und grinste hinterlistig.
Wie zu einer begehrten Tränke eilten die winzigen Tierchen, die in allen Altersgrößen vorkamen. Es sah aus, als ob sie bei einem Familienausflug eine Trinkpause einlegten. Die meisten Tropfen hatten sie schon aufgesaugt.
Plötzlich fiel die erste Laus herunter. Es war eine halbwüchsige, die nun auf dem Rücken lag und mit den Beinchen strampelte. Dann bewegte sie sich nicht mehr. Sofort sah der Mann zur Uhr, schrieb 32:18 auf seinen Block und kreiste es ein. Mit seiner Vergrößerung verfolgte er konzentriert den kurzen Todeskampf dieser Schädlinge, die jetzt überall abfielen.
Nach wenigen Minuten fand er kein einziges Tier mehr auf der Pflanze. Dafür war der Boden des Terrariums grün von lauter toten Läusen. Er schob die Lupe wie ein Visier zurück, blickte zur Uhr und nickte zufrieden, er notierte sich 36:21 und umkreiste es zweimal.
Der Forscher war kein Mann großer Emotionen, doch jetzt riss er den rechten Arm mit geballter Faust hoch und jubelte wie ein begeisterter Fan.
Greenville, Mississippi, USA.
„Und das hier, meine Herren“, Miller tippte mit ausholender Geste auf die Entertaste seines Laptops und zauberte damit ein neues Bild auf die Leinwand, „ist Ihr schlimmster Feind.“
Ein Raunen ging durch die gut gefüllten Stuhlreihen.
„Der wissenschaftliche Name lautet ‚Diabrotica virgifera’. Es ist der Maiswurzelbohrer.“
„Corn Rootworm“, kam es vielstimmig von den Farmern zurück.
„Richtig“, Miller nickte anerkennend, „so heißt er bei uns. Oder“, er zeigte auf den gelbschwarzen Käfer mit den langen Fühlern und machte eine bedeutungsvolle Pause, „der ‚Eine-Milliarde-Dollar-Käfer’, weil er allein bei uns in den Staaten 14 Millionen Hektar Mais befallen hat und damit für jährliche Ernteausfälle von einer Milliarde Dollar verantwortlich ist.“
Die genannte Summe führte zu einem lauten Stimmengewirr.
„Bisher konnte man unseren Staatsfeind Nummer 1“, Miller deutete wieder auf den Käfer, „nur mit sehr teueren Spritzungen bekämpfen. Aber ab jetzt bieten wir Ihnen die Möglichkeit, mit unserem gentechnisch veränderten Saatgut den Maiswurzelbohrer und den ebenso gefürchteten Maiszünsler praktisch von innen heraus sehr effektiv zu vernichten. Damit Ihr Feld nicht irgendwann so“, er tippte wieder auf die Taste und ein anderes Bild erschien, „hoffnungslos aussieht.“ Das Foto zeigte eine Maisfläche, die hauptsächlich nur aus umgekippten, vertrockneten Pflanzen bestand, dazwischen ragten noch vereinzelte krumm gewachsene oder abgeknickte Stängel empor.
Ein intensives Gemurmel folgte: die Farmer tauschten sich mit ihren Nachbarn aus.
Nach einiger Zeit räusperte sich Miller, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer wieder auf sich zu lenken. „Wir haben unserem Mais das Gen eines Bodenbakteriums angezüchtet. Damit ist er in der Lage, diesen Wirkstoff eigenständig in seinen Zellen herzustellen. Diese ungiftige Vorstufe wird erst im Darm bestimmter Insekten zu einem Toxin umgewandelt und zerstört dort die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme. Unser verhasster Corn Rootworm verhungert ganz einfach.“ Er breitete erwartungsvoll die Hände aus.
Die Farmer reagierten mit Bravo-Rufen, Grölen und Pfiffen, einige klatschten auch Beifall.
Miller brachte ein neues Bild auf die Leinwand, wo die Entwicklung von Eiern über Larven bis zum Käfer dargestellt wurde. „Nur so kann dieser Mistkerl mit seinen verschiedenen Stadien der Schädigungen wirksam bekämpft werden. Und als Nebenwirkung – quasi als kostenlose Zusatzleistung –“, er vollführte eine gönnerhafte Geste, „sind unsere Pflanzen extrem widerstandsfähig gegen alle Herbizide. Sie können also etwas mehr spritzen und haben länger unkrautfreie Felder, die so herrlich aussehen können.“ Miller zeigte ein Foto, auf dem nur starke Maisstiele in Reih und Glied standen.
Aus der Mitte reckte sich ein Arm hoch.
„Ja, bitte, Mister.“
Der grauhaarige Mann stand auf und sagte: „Aber wenn ich genmanipulierten Mais anbaue, muss ich doch damit rechnen, dass bei mir irgendwelche Ökotypen und Umweltheinis auftauchen und auf meinem Feld dagegen demonstrieren und meinen Acker verwüsten.“
„Das ist nicht zu erwarten“, Miller schüttelte beruhigend den Kopf.
In der ersten Reihe meldete sich ein bärtiger Farmer in einem blau-rot karierten Hemd: „Und wenn doch, hab ich das hier.“ Er lud eine unsichtbare Pumpgun und grinste brutal.
Die Menge johlte, pfiff und applaudierte. Der Grauhaarige setzte sich mit nachdenklicher Miene.
Bei Hutchinson, Kansas, USA.
Die riesigen, lauten Fressmonster, die das Korn gierig abweideten und nur Stoppeln zurückließen, hatten die junge Maus von ihrem heimischen Feld vertrieben. Seit zwei Tagen war sie nun unterwegs, hatte einen morastigen Graben überwunden, lief lange Zeit auf einem staubigen Schotterweg und hatte dann im verdörrten Gras geschlafen. Nach dieser endlosen Steppe überquerte sie eine graue, heiße, versteinerte Fläche und fand drüben auf dem Randstreifen endlich etwas zu fressen: ein kleines Stück Keks, das ein Autofahrer weggeworfen hatte. Nachdem die Maus das harte Gebäck verschlungen hatte, setzte sie ihren Weg etwas gestärkt fort. Sie kam durch eine Einöde mit Geröll, Dornengestrüpp und wenigen gelblichen Grasbüscheln.
Irgendwann nahm sie einen vertrauten Geruch wahr, richtete sich auf und schnupperte in alle Richtungen. Sie folgte der Duftspur und erreichte ein Weizenfeld, wo man nur das Rascheln der prallen Ähren im Wind hörte, aber keinerlei verdächtige Geräusche. Jetzt hatte sie es geschafft. Da warteten köstliche Körner in Hülle und Fülle, hier konnte sie bleiben, immer satt werden und sich geborgen fühlen wie damals im Nest.
Sie kletterte gleich einen Halm empor und zerknabberte die Umhüllungen der Körner, sodass sie nach unten fielen. Die Maus hing an der schwankenden Ähre und balancierte dabei mit dem Schwanz. Als sie fast die Hälfte der Kammern geleert hatte, krabbelte sie kopfüber wieder herunter und begann mit ihrer Mahlzeit.
Plötzlich trat aus der lädierten Ähre etwas wie Staub aus und senkte sich als eine Puderwolke auf die fressende Maus. Die hob den Kopf, warf ihn hin und her, als wollte sie etwas Lästiges abschütteln. Dann taumelte sie etwas, fing sich aber wieder und eilte davon.
Am nächsten Tag verendete die junge Maus in der Nähe des Warnschildes, mit dem auf das Versuchsfeld hingewiesen wurde.
Dortmund, Nordrhein-Westfalen, Deutschland. Holger Grimm studierte Biologie, war groß und schlank und als engagierter Umweltschützer ein Gegner der Genmanipulation. Wie fast jeden zweiten Samstag stand er hier mit Gleichgesinnten vor ihrem Informationsstand in der Fußgängerzone und sprach Passanten an, denen er ihr Flugblatt anbot und damit versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, möglichst zu überzeugen und zum Ausfüllen der Unterschriftenliste zu überreden. Die meisten Leute winkten natürlich ab, mal dankend, mal unwirsch oder verärgert, aber zum größten Teil stumm. Einige nahmen den Zettel, hatten aber keine Zeit zum Reden und warfen ihn dann ungelesen in den nächsten Abfallbehälter. Ganz wenige überflogen den Text, hörten interessiert zu und stellten Fragen. Und fast alle, die zu einem Gespräch bereit waren, trugen sich dann auch in die Liste ein.
„Jede Unterschrift ist wichtig“, sagte Holger Grimm zu der jungen Mutter, beugte sich etwas herab und lächelte ihren lockigen Jungen an, der im Buggy saß und ihn mit dunklen Kulleraugen anschaute.
„Aber was ist daran denn so gefährlich?“
„Die gentechnische Manipulation ist absolut nicht kontrollier- und beherrschbar. Die Gene, die bestimmte Schädlinge beseitigen sollen, töten auch harmlose und nützliche Insekten, dadurch wird die Artenvielfalt zerstört und das Ökosystem geschädigt. Außerdem sind die Gen-Pflanzen widerstandsfähig gegen starke Unkrautvernichtungsmittel, die alles andere platt machen.“
„Man kann also noch mehr auf die Felder sprühen?“, fragte die Frau, die aufmerksam zu ihm hoch blickte.
„Richtig. Aber genauso wenig wie man verhindern kann, dass das veränderte Erbgut auch auf andere Pflanzen übertragen wird und die sich dann zu gefährlichen Abarten entwickeln können, so wenig kann man die Mutation von resistenten Super-Unkräutern und Schädlingen abwenden.“
„Aha“, die Frau wirkte etwas überfordert, nickte aber zustimmend. „Gut. Ich unterschreibe. Allein schon für meinen Sohn.“
„Ich danke Ihnen.“ Holger Grimm zeigte mit seinem langen Arm zum Info-Stand. „Kommen Sie, dort liegt die Liste.“
Eisenstadt, Burgenland, Österreich.
Herr Clemens saß wie gelähmt im Krankenhausflur und starrte auf die Zimmertür, hinter der seine Frau jetzt lag, nach Luft rang und hoffentlich erfolgreich behandelt wurde. Seiner Tochter ging es zum Glück schon wieder besser, sie war zwei Etagen höher und hatte trotz ihrer dicken Oberlippe etwas lächeln können, als er sich von ihr verabschiedet hatte.
Wieder und wieder lief der Film der letzten Stunden in seinem Kopf ab: Wie die kleine Laura weinend ins Vorzelt kam, mit diesen ährenförmig angeordneten, gelblichen Blüten in ihrer roten Faust, die sie sich mit der anderen Hand unentwegt kratzte. Sie stammelte etwas von ‚Blumen gepflückt’, aber man konnte sie nicht richtig verstehen, weil ihr gesamter Mund stark geschwollen war, auch unter den geröteten Augen hatte sie richtige Wülste. Seine Frau reagierte zuerst, nahm der Kleinen die unbekannten Röhrenblüten aus der Hand, roch mehrmals daran, besah sie sich kritisch und warf sie nach draußen. Dann tröstete sie das schluchzende Kind und wusch ihm Hände und Gesicht ab, während er das Auto holte.
Auf der Fahrt zum Arzt nach Rust, bekam seine Frau plötzlich keine Luft mehr, ihr Atmen verursachte quälend pfeifende Geräusche. Sie saß hinten, hatte Laura im Arm, die vor sich hin jammerte. Er sah seine leidende Frau im Rückspiegel, sie hatte geweitete Augen vor Angst und Anstrengung. Er rief ihr zu, sie solle das Fenster öffnen. Sie kurbelte es mühselig herunter, hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind und japste nach Luft. Sie kamen sofort zum Arzt, er gab beiden eine Spritze, seiner Frau sprühte er mehrfach etwas in den Mund und alamierte den Rettungswagen. Die waren auch schnell da, luden die beiden ein und rasten mit andersartigem Sirenton los. Er fuhr hinterher, hatte seinen Blick auf das Blaulicht fixiert, folgte diesem Blinken durch die fremde Landschaft bis nach Eisenstadt ins Krankenhaus, und dabei sprangen seine Gedanken zwischen Hoffen und Bangen hin und her.
Die Familie Clemens kam aus Stuttgart und stand mit ihrem Wohnwagen seit einer Woche auf dem Campingplatz bei Rust, direkt am Neusiedler See, den sie sich extra wegen seiner geringen Wassertiefe ausgesucht hatten.
Der etwa gleichaltrige Arzt stellte sich vor und setzte sich neben Herrn Clemens auf die weiße Holzbank. Der österreichische Akzent gab seiner Stimme einen angenehmen Klang: „Ihrer Frau geht’s schon wieder deutlich besser.“
„Hat sie noch Atemnot?“
„Nein. Der Asthmaanfall ist vorbei. Dank der schnellen und richtigen Erstversorgung des ortsansässigen Arztes. Sie schläft jetzt und bekommt Sauerstoff durch die Nase.“
„Das kam durch diese Blume, nicht wahr?“
„Hundertprozentig“, der Arzt nickte. „Nach Ihrer Beschreibung war’s eindeutig Ambrosia, ein sehr aggressiver Allergieauslöser. Die Gefahr einer Reaktion ist 20 mal höher als bei normalen Gräserpollen. Eine Pflanze produziert bis zu einer Milliarde Pollen.“
„Ambrosia?“, fragte Herr Clemens nachdenklich. „Kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Das soll auch die Speise der Götter gewesen sein. Aber das war bestimmt nicht dieses Zeug.“
„Wächst das auch in Deutschland?“
„Im Süden schon. Wo kommen’s denn her?“
„Aus Stuttgart.“
„Dann werden’s bald betroffen sein. In Mannheim, Karlsruhe und Ludwigshafen gab’s schon Probleme damit. Sogar um Magdeburg ist es schon aufgetaucht.“
„Mein Gott!“
„Ambrosia kommt eigentlich aus dem Süden Europas, ist aber jetzt auf dem Vormarsch nach Norden. Wahrscheinlich durch den Klimawandel. Hier nebenan in Ungarn“, der Arzt zeigte mit seinem Daumen nach hinten, „ist man schon per Gesetz verpflichtet, das Unkraut von seinem Grundstück zu entfernen.“
Bei Albany, Georgia, USA.
Erst als der Mond aufgegangen war, kamen die Wildschweine ins Maisfeld. Die Rotte bestand aus zwei Bachen mit insgesamt neun Frischlingen. Das Leittier war erfahren und wusste, wie man an das schmackhafte Futter da oben heran kam: es biss die Stängel durch, die dann umkippten und nach unten gezogen wurden, bis die Maiskolben erreichbar waren. Manche Stiele waren aber zu stark zum Abtrennen und blieben nach dem Reinbeißen stehen. Dann wandte sich das Wildschwein an eine andere Pflanze und biss dort hinein. Für den Nachwuchs rissen die Bachen die Kolben aus den Umhüllungen und überließen sie dann den quiekenden Kleinen.
Nach einiger Zeit hatte das Leittier schon eine erstaunliche Fläche verwüstet: zwischen den angebissenen, aber stehen gebliebenen Stängeln lagen die gefällten mit ihren verstreuten Überresten, überall ragten die spitzen Stümpfe aus dem Boden. Das kleinere Muttertier hatte den jüngsten Wurf um sich geschart, die vier Frischlinge knabberten gierig die Maiskörner ab.
Unbemerkt von den im Mondlicht fressenden Wildschweinen bewegte sich da etwas zwei Meter über ihnen: an den Wipfeln der angebissenen Pflanzen öffneten sich die Rispen fächerartig und zitterten heftig, bis sich Staub aus ihnen löste und nach unten sank. Das Leittier witterte die Substanz als erstes, hob schnaufend den Rüssel empor, schüttelte den mächtigen Kopf und alamierte dann die Rotte durch lautes Grunzen zur Flucht. Die jüngere Bache geriet in Panik, rutschte aus, fiel auf einen ihrer Frischlinge und drückte ihn durch ihr Gewicht in einen speerartigen Maisstumpf. Überall war jetzt das herab schwebende Pulver, die Rispen schüttelten es regelrecht heraus. Das Muttertier rappelte sich wieder hoch und folgte der Anführerin und ihrer Schar, ihre drei Kleinen rannten ihr instinktiv hinterher. Das aufgespießte Jungtier quiekte schrill vor Schmerzen, scharrte mit allen Läufen über den Boden, aber es kam nicht weg.
Magdeburg, Sachsen-Anhalt, Deutschland.
Eigentlich verfolgte Anja Blass immer aufmerksam alle Vorlesungen, doch heute dachte sie ständig an Frank, der nicht neben ihr, sondern einige Meter weiter rechts und drei Reihen tiefer saß. Es war mal wieder aus und vorbei. Er hatte am Wochenende Schluss gemacht, mit den üblichen fadenscheinigen Begründungen. Sie hatte einfach kein Glück mit ihren Beziehungen.
Der Dozent räusperte sich und fuhr fort: „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich die Zahl der unter Asthma-Symptomen leidenden Kinder in den 20 Jahren zwischen 1975 und 1995 verdreifacht. In den Ländern der Europäischen Union sind Allergien die am häufigsten vorkommenden chronischen Krankheiten in der Kindheit – in manchen dieser Länder leidet jedes vierte Kind an einer Allergie. Durchschnittlich zeigen zehn Prozent der Kinder Asthma-Symptome, wobei die Rate in Westeuropa bis zu zehn mal höher ist als in osteuropäischen Ländern.“
Anja notierte sich ‚Allergien Ost / West’ und kreiste es mehrmals ein. Klar, sie war keine Schönheit, das wusste sie selber. Aber sie war auch nicht hässlich oder übermäßig dick und schon gar nicht die Spur von dämlich. Aber wahrscheinlich war genau das ihr Problem: vielleicht war sie einfach zu schlau, zu strebsam und zu selbständig für die meisten Männer. Die wollten zwar auch kein Dummchen am Herd, aber doch lieber ein bieg- und anschmiegsames Kätzchen, als eine gebildete Persönlichkeit, die alles ausdiskutieren wollte. Sie blickte sehnsüchtig in die Richtung von Frank und fragte sich, wo sich denn nur die superklugen Männer versteckten? Dann sah sie wieder nach vorne, taxierte den Redner, aber der war leider viel zu alt für sie. Anja seufzte und hörte zu.
„Ganz entscheidend dabei ist die familiäre Krankheitsgeschichte. Das Risiko eines Säuglings, eine Allergie zu entwickeln, liegt bei 5 – 15 Prozent, wenn kein Familienmitglied allergisch ist; wenn eines der Geschwister darunter leidet, bei 25 – 30 Prozent; wenn ein Elternteil allergisch ist, bei 20 – 40 Prozent; leiden aber beide Elternteile darunter, sind es 40 – 60 Prozent; und sogar 50 – 70 Prozent, wenn sie zusätzlich dieselben Symptome zeigen. Wenn man diese Entwicklung hochrechnet, haben praktisch irgendwann fast alle Menschen eine allergische Erkrankung. Das ist einerseits eine erschreckende Vorstellung, andererseits“, der Dozent lächelte und schwenkte seinen Arm im Halbkreis über die vollen Ränge, „sichert es Ihnen später eine langfristige Vollbeschäftigung und ein gutes Einkommen.“ Das Auditorium reagierte mit Klopfen, Zustimmungsrufen und Applaus.
Anja Blass studierte Medizin, mit der Fachrichtung ‚Dermatologie und Allergologie’. Sie hatte hervorragende Noten und galt bei ihren Kommilitonen als Streberin. Bei der Grenzöffnung war sie fünfeinhalb Jahre gewesen, sie hatte ihr kindliches Geborgenheitsgefühl auf den untergegangenen Staat übertragen und ihre wenigen eigenen Erinnerungen mit vielen anderen ausgesuchten Informationen angereichert und verklärt. Deshalb fühlte sie sich hundertprozentig als Ostdeutsche und war ein unermüdlicher Fürsprecher der zahlreichen sozialen Errungenschaften der DDR.
Bei Goya, Corrientes, Argentinien.
Es war herrliches Sommerwetter. Nach dem Gottesdienst hüpfte und ging das Mädchen noch zu dem Wiesenhügel hinter dem riesigen Kornfeld, um für seine Eltern Blumen zu pflücken. Schon von weitem sah man die vielen verschiedenen Farben der Blüten. Als sie dann da im kniehohen Gras stand, atmete es tief ein und war überwältigt von der Fülle der Düfte, drehte sich hin und her. Überall um sie herum summten Bienen und Hummeln und dazwischen flatterten Schmetterlinge.
Das Mädchen liebte diese Wiese voller Leben und kam oft hierher. Es bückte sich und brach die Blumen behutsam ab, dabei wartete es immer, bis die Insekten wieder gestartet waren. Bald hatte es einen schönen, bunten Strauß zusammen, lief den Hügel hinab und machte sich auf den Heimweg.
Es hielt die Blumen fest umschlossen in der rechten Hand, aufrecht und ohne zu wackeln. Trotzdem fielen bald die größten blauen Kelche ab. Das Mädchen dachte, dass die Pflanze wohl schon zu alt gewesen sei. Doch bald folgten auch die ersten roten Blütenblätter. Bei fast jedem Schritt löste sich etwas Buntes und fiel herab. Nach und nach verloren alle Blumen ihre Blüten. Das Mädchen blieb stehen, starrte fassungslos auf die trostlosen Stängel in seiner Faust. Dann stampfte es mit einem Fuß auf, warf das Grünzeug weg und rannte los.
Dortmund, Nordrhein-Westfalen, Deutschland. Der Hörsaal war nicht so überfüllt wie sonst. Holger Grimm saß auch nur hier, um eventuell einige Neuigkeiten über Gen-Mais zu erfahren. Doch das war ein Irrtum gewesen, die Vorlesung hatte ganz andere Schwerpunkte.
„Der Maiswurzelbohrer ist ein typisches Beispiel einer invasiven Art, also Pflanzen oder Tiere, die erst durch uns Menschen in Gebiete gebracht werden, in denen sie ursprünglich nicht vorkommen. In diesem Fall war die Heimat das mittlere Amerika. Die Verschleppung erfolgt über unsere Transportmittel wie Schiffe, Flugzeuge, Autos, Züge. Das erste Auftreten dieses Käfers in Europa geschah 1992 in der Nähe des Belgrader Flughafens. Zu dieser Zeit wütete der Balkankrieg und dort landeten Flugzeuge mit Hilfslieferungen aus den USA. Der Entomologe . . . “
Ein brummendes Vibrieren in seiner Hosentasche schreckte Holger auf. Er holte sein Handy hervor, klappte es auf und las die SMS von Steven, einem Mitstreiter bei seiner Umweltschutzgruppe: ‚Habe Nachrichten aus den USA und Kanada, dass auf genmanipulierten Getreidefeldern vermehrt tote Mäuse und Hamster gefunden wurden.’
„. . . Ausbreitung des Käfers in Europa kann man nicht mehr aufhalten, nur verzögern. Es ist zu befürchten, dass es auch hier zu ähnlichen Folgen für den Maisanbau kommen wird wie . . .“
Holger schrieb zurück: ‚Wurden Kadaver mitgenommen und untersucht?’ Sein linker Nachbar warf einen missbilligenden Seitenblick auf ihn, sagte aber nichts.
„. . . 1998 in Italien, ab 2002 in Österreich und seit dem Sommer 2007 verbreitet er sich auch in Deutschland, und zwar . . .“
Steven hatte geantwortet: ‚Mitgenommen ja. Untersuchungsergebnisse dauern aber noch.’
„. . . Maiswurzelbohrer ist meldepflichtig. Der Schädling gilt in der EU als Quarantäneschadorganismus und . . .“
Holger tippte ein: ‚Gut. Bis morgen Abend. Bin im Hörsaal.’
„. . . genau umgekehrt kam der ebenso gefürchtete Maiszünsler von Europa nach Nordamerika, aber bereits zwischen 1910 und . . . “
Von Steven kam nur ein knappes: ‚O K’.
Holger Grimm schickte noch eine SMS an seine neue Freundin Vanessa, dass er sich unheimlich auf das heutige Treffen freue. Dann klappte er das Handy zusammen, schob es in die Jeanstasche und rutschte wieder etwas höher.
Bei Brandon, Manitoba, Kanada.
Don Raily war Schlosser und in der hiesigen Kartonagenfabrik beschäftigt. Doch in seiner Freizeit fühlte er sich eindeutig als Holzfäller, nur in den langen Wintermonaten konnte er das nicht ausleben. Er arbeitete gerne in der freien Natur, am liebsten alleine. Nur so konnte er neben der Tätigkeit richtig tief denken. Nach der stickigen Luft und dem ständigen Maschinenlärm in der Fabrik liebte er die Einsamkeit und vollkommene Ruhe in den Wäldern, die er dann allerdings mit seiner Motorsäge empfindlich störte. Aber daran dachte er absolut nicht.
Dons Aufgabe war es, die gekennzeichneten Bäume zu fällen, ohne großen Schaden anzurichten. Anschließend musste er die Krone und sämtliche Äste sauber abtrennen. Der nackte Stamm wurde irgendwann vom Pferd eines schweigsamen Indianers aus dem Wald zur Sammelstelle gezogen. Den Rest vom Baum konnte er mitnehmen oder liegen lassen. Die dicken Äste schnitt er sich gleich hier ofengerecht zu und lud sie in seinen Pick-up.
Don war mit der Arbeit an einer bestimmt 30 Meter hohen Douglasie fertig und machte eine kleine Pause. Ab und zu hob er die linke Hand und roch den Orangenduft der zerriebenen Nadeln. In weiter Entfernung hörte er das hohle Rattern eines Spechtes. Dann stand er auf, sah zur Uhr, setzte Helm mit Sicht- und Gehörschutz auf, nahm die Säge und seine Sachen und ging zu dem nächsten Baum. Diesmal war es eine noch höhere Fichte. Er schritt um den mächtigen Stamm und suchte sich die beste Fallrichtung aus.
Don Raily warf die Motorsäge an und begann mit dem Keilschnitt an dieser Seite. Die Abgase wurden bald vom frischen Holzgeruch überdeckt. Er selber hörte nur ein an- und abschwellendes Brummen, doch im Wald war das Kreischen kilometerweit zu hören, wie ein lauter, klagender Schrei.
Nach dem ersten Schnitt bis zur Mitte setzte er nun den zweiten an, um dann den Keil herauszulösen. Der Boden war übersät mit hellen Holzspänen. Don bändigte und hatte die Kraft des Motors, die rasende Kette war sein verlängerter Arm und fraß sich gierig in den altehrwürdigen Stamm. Schließlich trafen sich die Schnitte, er zog die Säge heraus und stellte sie im Leerlauf zur Seite. Mit der Axt schlug er den großen Keil aus dem Baum, reckte sich und sah zur hohen Krone empor. Dann nahm er die tuckernde Säge und begann mit dem Schnitt an der gegenüberliegenden Seite. Da er Handschuhe trug, bemerkte er nicht das klebrige Harz an den Griffen.
Er musste jetzt genau schneiden und aufpassen. Er führte die Kette im Halbkreis, die Späne flogen gegen seine Beine. Don hörte es nicht, aber er bemerkte die kleinen Aufschläge auf seinem Helm. Er blickte nach oben, in dem Moment landete ein dicker Tropfen auf dem Sichtschutz zwischen seinen Augen. Er zog die Säge heraus, hielt sie links im Leerlauf und entdeckte auf seinen Handschuhen und auf den karierten Hemdsärmeln überall braungelbe Flecken. Das war Harz. Don schaute hoch und sah, wie es regelrecht von den Ästen tropfte. Wieder wurde sein Visier getroffen. So etwas hatte er ja noch nie erlebt. Solche Mengen von Harz.
Zum ersten Mal verspürte er Unsicherheit im Wald. Don Raily fluchte, nahm die Säge wieder hoch, gab Gas und führte sie in den Schlitz ein. Er sägte weiter, stand da in diesem eng begrenzten Platzregen mit schweren Tropfen. Er würde es diesem Baum schon zeigen. Der musste weg. Dann knackte es und es gab eine schwache Bewegung oberhalb der Kette. Don zog sie schnell heraus und ging einige Schritte zurück. Die Fichte neigte sich langsam zur anderen Seite, wurde schneller, krachte durch kleinere Bäume und Gestrüpp auf den Boden.
Für einen Augenblick fühlte sich Don als Sieger. Doch dann besah er sich seine Kleidung, die von Harzflecken übersät war. Die Handschuhe und die Klamotten konnte er wegschmeißen. Und den Helm mit Sicht- und Gehörschutz sowie die Motorsäge musste er garantiert stundenlang säubern. Verdammt!
Magdeburg, Sachsen-Anhalt, Deutschland.
Anja Blass spazierte alleine durch den Stadtpark auf der Elbeinsel. Bei dem schönen Wetter waren viele Leute unterwegs, natürlich meistens zu zweit. Wenn sie die Pärchen – besonders die offensichtlich frisch verliebten – beobachtete, empfand sie ihr Singledasein mal wieder als leer und öde.
Da Anja ihre gesamte Kraft und ihren ganzen Ehrgeiz in ihren Beruf presste und auch nur dort ihre Erfolgserlebnisse fand, waren die freien Wochenenden für sie eigentlich nur langweilig und dienten der Vorbereitung auf die nächste Arbeitswoche. Wenn ihre Kollegen auf den Freitag fieberten, sich auf zwei freie Tage freuten und von ihren geplanten Unternehmungen erzählten, empfand sie Neid und Verdruss und erfand manchmal sogar irgendwelche Aktivitäten. Oft meldete sie sich auch, um bereitwillig Wochenenddienste zu übernehmen, wenn jemand krank war oder tauschen wollte und hatte die Hoffnung, dass diese Hilfsbereitschaft sie beliebter machen würde.
Sie setzte sich auf eine freie Bank und blickte auf das niedrige Wehr in der Alten Elbe, über das unaufhörlich die Wassermassen nach unten strömten und dort Gischt erzeugten. Anja Blass hatte ihr Medizinstudium mit Auszeichnung abgeschlossen und arbeitete seit Anfang des Jahres als Assistenzärztin im Universitätsklinikum Magdeburg. Selbstverständlich wollte sie promovieren. Sie hatte die Planung und Vorbereitung abgeschlossen und gerade die ersten Seiten ihrer Dissertation geschrieben. Sie hatte lange zwischen zwei Themen geschwankt, einmal die unterschiedliche Häufigkeit von Allergien in Ost und West, zum anderen die besorgniserregende Ausbreitung von Ambrosia und die rasante Zunahme von schweren allergischen Reaktionen durch Kontakte mit dieser Pflanze, die man überall bekämpfte, in Süddeutschland brannte man mittlerweile die befallenen Brachflächen einfach ab.
Anja hatte sich aber für ‚Allergien in Ost- und Westdeutschland’ entschieden, weil es ihr natürlich ein Bedürfnis war und Vergnügen bereitete, zu beweisen, dass nicht alles in den neuen Bundesländern schlechter war. In den alten kamen jedenfalls Asthma, Neurodermitis, Heuschnupfen und Lebensmittelallergien viel öfter vor als im Osten. Viele Faktoren des westlichen Lebensstils waren dafür wohl verantwortlich: die Wärmedämmungen und Isolierver-glasungen der Wohnungen, die zu einer Zunahme von Schimmelpilzen führten; mehr Hausstaubmilben durch die vielen Teppichböden; trockene Heizungsluft und chemische Ausdünstungen der Einrichtungen; zahlreichere Haustierhaltungen, oft mit verschiedenen Arten; häufigeres Duschen und massive Duftzusätze in Kosmetikartikeln; mehr Reisen, Autoabgase, Lärm, Stress und Medikamente; vielfältigere, geschmacksverstärkte und exotische Lebensmittel; Vereinzelung und Verhätschelung durch geringere Geschwisterzahlen.
Wobei ihr klar war, dass die Erhebung schon 15 Jahre alt war und damals das andere – eventuell gesündere – Leben in der DDR noch viel stärkere Auswirkungen hatte. Die nächste Untersuchung würde sicherlich eine Angleichung der Lebens- und Allergieverhältnisse zeigen.
Anja Blass schaute auf ihre Uhr, erhob sich und ging in Richtung zur Fußgängerbrücke. Sie war zum Kaffee bei ihren Eltern eingeladen. Ihr Vater würde wieder nach ihrer Arbeit und den Fortschritten ihrer Doktorarbeit fragen, ihre Mutter nach etwaigen neuen Bekanntschaften, mit dem Hinweis auf Alter, Heirat, Kind und so.
Bei Vierzon, Centre, Frankreich.
Es war kurz nach Sonnenaufgang, im Osten verbreitete sich das Orange am grünblauen Himmel, im Westen war er noch richtig dunkel. Die Feuchtigkeit der Nacht löste sich aus dem Boden und den Pflanzen und stieg hoch. Über der nahen Wiese schwebte dieser Morgennebel wie eine dunstige Abdeckung, die alles unwirklich erscheinen ließ.
Acht Rehe waren im blühenden Rapsfeld, hielten untereinander einen Abstand von ungefähr zwei Metern. Man sah sie nur, wenn sie nach dem Abbeißen bestimmter Blätter die Köpfe wieder hoben und beim Kauen nach allen Seiten wachsam Ausschau hielten.
Die unzähligen gelben Blüten bildeten oben eine üppige Traube. Viele der oberen Blüten waren noch geschlossen, aus den geöffneten ragten die Pollenstängel weit hervor. Der Raps hatte eine intensive Ausdünstung nach süßlich fauligem Kohl.
Die Rehe wanderten gemächlich durch das dichte Feld, blieben dabei in gewohnter Distanz zusammen. Wenn sie kauend über die gelbe Fläche spähten, richteten sie ihre Ohren in verschiedene Richtungen. Sie waren noch vorsichtiger als sonst, weil sie nichts anderes riechen konnten als den schweren Rapsgeruch.
Die Rehe waren sehr wählerisch und rupften nur ausgesuchte Blätter ab. Von ihnen unbemerkt sprangen immer mehr Blüten auf und reckten ihre Staubgefäße heraus. Die Sonne verstärkte ihr warmes Licht und verdrängte den Nachthimmel gen Westen. Beim Absenken bekam ein jüngeres Tier etwas Blütenstaub an die Schnauze, warf den Kopf hin und her und schnaufte heftig. Dadurch brachte es Unruhe in die Gruppe. Die Rehe tänzelten aufgeregt herum, knickten einige Pflanzen mit ihrem Hinterteil um und zertrampelten sie.
Plötzlich löste sich aus jeder einzelnen Blüte die winzige Pollendosis, die aber in ihrer Gesamtheit gelbliche Wolken bildeten, die sich auf die Tiere absenkten. Ihre schwarzen Schnauzen färbten sich gelb, sie schnieften und schüttelten die Köpfe, um den Blütenstaub loszuwerden. Sie drehten sich im Kreis, bekamen schlecht Luft und wurden immer panischer. Der Bock gab das Signal zur Flucht, mit hohen Sätzen sprang er voraus, die Rehe folgten ihm in dichter Reihe.
Die Sonnenstrahlen hatten mittlerweile die Nebelschicht über der Wiese verdampft und brachten nun das Gelb der Rapsblüten zum Leuchten.
Braunschweig, Niedersachsen, Deutschland.
Holger Grimm stand nach Arbeitsschluss noch am offenen Autofenster seines Kollegen, stützte sich dabei auf sein Fahrrad ab und erkundigte sich nach dem neuesten Gerücht. „Und das soll wahr sein?“
„Ja. Ich hab’s vom Personalrat.“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Die da oben arbeiten daran.“
„Aber so einfach kann man doch eine Bundeseinrichtung nicht privatisieren.“
„Man kann“, sagte der Kollege. „Es wird nur seine Zeit dauern.“
„Das glaub ich nicht.“
„Für dich ist es ja noch schlechter, wo du doch gerade erst eine Familie gegründet hast.“
„Tja.“ Holger presste die Lippen zusammen.
„Aber auch bei einer Übernahme können sie uns ja nicht alle gleich rausschmeißen. Aber langfristig wird es dann für uns sicherlich schlechter. Dann ist nichts mehr so sicher wie jetzt.“
„Ach, was ist schon sicher?“
„Dass ich jetzt los muss.“ Der Kollege griente und zeigte auf den Monitor mit der digitalen Uhrzeit. „Also, schönen Feierabend noch.“
„Gleichfalls. Tschüss.“ Holger nahm sein Fahrrad zur Seite und stieg auf. Das Auto fuhr weg. Einen schönen Feierabend hatte er schon lange nicht mehr. Zu Hause wartete nun niemand auf ihn. Obwohl er ja eigentlich eine komplette Familie hatte.
Er stand mit seinem Rad in der Ausfahrt und war unschlüssig. Schließlich nahm er nicht den Heimweg nach links, sondern fuhr den Messeweg rechts runter. In Riddagshausen stellte er sein Fahrrad an einen Pfosten und sicherte es mit der langen Kette. Dann machte er sich auf den Weg um den Kreuzteich.
Holger Grimm hatte sein Studium mit gutem Diplom abgeschlossen und arbeitete nun seit fast zwei Jahren bei der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Braunschweig. In der halbjährigen Probezeit hatte er nur ein möbliertes Zimmer gemietet und war jedes Wochenende zu seiner Vanessa nach Dortmund gefahren. Danach hatte er hier eine schöne Wohnung gesucht, gefunden und renoviert. Im Herbst 2010 schloss Vanessa ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin ab, kurz vorher stellte sie ihre Schwangerschaft fest.
Sie hatten dann in Dortmund eine recht große Hochzeit gefeiert und waren anschließend nach Braunschweig gezogen. Statt Flitterwochen hatten sie ihre Wohnung eingerichtet, sein geplantes Arbeitszimmer wurde zum Kinderzimmer. Alles war wunderbar gewesen: ihre Liebe, der anschwellende Bauch, ihr Zusammenleben, seine interessante Arbeit, die gute Bezahlung, die Wohnung mit Gartenanteil.
Am 2. Mai 2011 wurde ihr Sohn Bastian geboren. Natürlich war er bei der Geburt dabei gewesen; sie war das tiefste, bewegendste und beste Ereignis seines Lebens. Bastian war ein Sonntagskind. Aber zumindest seinen Eltern brachte das kein Glück.
Holger beobachtete einen Vater, der mit seinen beiden kleinen Kindern die zahlreichen Enten fütterte. Ob er jemals so etwas machen würde?
Als Vanessa dann mit dem Baby nach Hause kam, war auch noch alles in Ordnung. Er wollte von Anfang an das Kind auch mit versorgen, es wickeln, baden, füttern, anziehen, beruhigen, ausfahren. Er wollte ein aktiver Vater sein. Zuerst verlief es eigentlich ziemlich harmonisch, obwohl sie zunehmend mürrisch wurde und unzufrieden wirkte. Er schob das auf die übliche Hormonsache und die wenigen Kontakte zu anderen. Doch irgendwann fiel ihm auf, dass Vanessa jede seiner Handlungen an Bastian kritisierte, verbesserte oder gleich komplett wiederholte. Als er sie darauf ansprach, explodierte sie sofort und es kam zu ihrem ersten richtig großen Streit, mit zwei Tagen Schweigen anschließend.
In den nächsten Wochen hielt er sich zurück, erledigte immer weniger Arbeiten an dem Kind, weil er verunsichert war und keinen neuen Ärger wollte. Dieses Verhalten war natürlich auch wieder vollkommen falsch. Vanessa hielt ihm Faulheit und Machogehabe vor, machte ihm bittere Vorwürfe, dass sie ständig mit dem Kleinen alleine sei und auf alles verzichten müsse und beklagte ihr verlorenes Leben als einsames Hausmütterchen; sie habe schließlich alles für ihn geopfert: Eltern, Schwester, Freundinnen, Heimatstadt und Berufsleben.
Holger sah zwei Höckerschwäne in stolzer Pose und geringem Abstand übers Wasser gleiten. Wenigstens die blieben ein Leben lang ein Paar.
Die Tage ohne Zankerei wurden immer seltener, die mit eisigem Schweigen oder gereizter Stimmung immer häufiger. Deshalb hatte er es überhaupt nicht mehr eilig, nach Hause zu kommen, weil dort sowieso nur Ärger auf ihn wartete. Also täuschte er immer öfter Überstunden für ein wichtiges Projekt vor und fuhr mit dem Rad durch die Gegend oder spazierte um die Riddagshausener Teiche und grübelte darüber nach, wie er sein junges Familienleben wieder in den Griff bekommen könnte.
Vor einer Woche rief Vanessa nach Feierabend auf der Arbeit an, doch da war nur noch sein Chef, der von Überstunden nichts wusste. Natürlich gab es dann einen heftigen Streit, bei dem Vanessa richtig hysterisch wurde und ihn anschrie, dass er ja wohl eindeutig ein Verhältnis habe, dass er sie und das Kind schändlich betrüge, dass sie jetzt endlich wisse, was los sei und warum er sich so zum Nachteil verändert habe.
Es half alles nichts, er konnte sie nicht beruhigen und ihr nichts erklären. Sie packte dann am Wochenende ihre und Bastians Sachen zusammen, belud das Auto damit und verließ ihn am Tag der Deutschen Einheit. Das war vorgestern gewesen. Vanessa wohnte wieder bei ihren Eltern in Dortmund und wollte absolut nicht mit ihm sprechen. Er hatte jetzt keine Frau, keinen Sohn und kein Auto mehr, circa 1.000 Euro Bargeld weniger und eine Wohnung mit vielen kahlen Stellen.
Bei Kaifeng, Henan, China.
Das Wasser reichte ihnen bis zum Schienbein. Barfüßig und gebückt stapften sie die unendlichen Reihen der Reispflanzen ab und passten auf, dass sie nichts Grünes beschädigten. Der Junge und das Mädchen suchten das Wasser nach toten Schnecken, Raupen und Käfern ab, denen das Knabbern am Reis nicht bekommen war. Diese treibenden Tiere, die durch die Wellen ihrer Schritte wieder in Bewegung kamen, sammelten sie auf und warfen sie in ihre großen Körbe. Gelegentlich fanden sie auch kleine Fische und winzige Krebse.
Meistens redeten sie viel, der Junge brachte das Mädchen oft zum Kichern oder klatschte in die Hände und vertrieb so die Reiher. Manchmal schwiegen sie aber auch lange oder zählten ihre Funde laut vor sich her. Sie wurden von ihren Eltern jeden Sonntag auf verschiedene Abschnitte der gefluteten Reisfelder geschickt. Die aufgesammelten Tierchen waren ein begehrtes, gutes, kostenloses Futter für die zahlreichen Hühner. Auf den riesigen Wasserflächen, mit den bis zu den Bergen reichenden exakt gleichmäßig geordneten Reisbüscheln, sah man überall gebückte Kinder.
Norderney, Niedersachsen, Deutschland.
Dr. Anja Blass saß in der Sonne auf der Promenade und schaute aufs wasserlose Meer. Es war Ebbe, und genauso fühlte sie sich auch: so leer, so ungeschützt offen, ohne Inhalt, mit den sichtbaren Spuren am Grund, den Rillen und Dellen ihres Lebens.
Am Montag würde sie ihrer Chefin die Kündigung zum 30. 6. überreichen, dann war sie eineinhalb Jahre hier in der Hautklinik gewesen. Das reichte vollkommen. Sie würde nur private Gründe vorgeben: zu weit entfernt von der Heimat, das Inseldasein, erfundener Beziehungsstress und so weiter. Auf keinen Fall würde sie die Wahrheit sagen, dass sie die vielen Hautkranken einfach nicht mehr ertragen konnte. Jede Untersuchung und besonders jegliche Berührung kostete ihr enorme Überwindung. Sie ekelte sich vor dem rohen Fleisch der Patienten mit Neurodermitis oder Schuppenflechte, vor den nässenden Wunden, den entzündeten Pusteln und Pickeln.
Anja hatte eingesehen, dass sie zwar eine hervorragende Medizinerin mit Doktorwürde war, aber eben keine richtige Ärztin, die Kranken helfen und sie heilen konnte. Sie war keine Frau der Praxis, sondern der Theorie. Das musste sie sich eingestehen. Dieses hippokratische Versagen ärgerte sie maßlos und wurde von ihr stumm nach unten gedrückt, zu all der anderen Bitternis. Selbst ihren Eltern offenbarte sie nicht den wirklichen Grund ihres Wechsels, sondern gab an, dass sie auf dieser Insel beruflich nicht vorwärts komme, keine entsprechenden Aufstiegschancen habe und sowieso lieber wieder im Osten leben wolle.
Eine große Möwe flog über sie hinweg und zum Strand hinunter, ihr klagender Schrei passte gut zu Anjas Stimmung.
Obwohl, so verzweifelt war sie nun auch wieder nicht. Sie wusste ganz genau, was sie wollte und nicht wollte. Sie hatte sich auf eine vielversprechende Stelle im Magdeburger Gesundheitsamt beworben und würde dort gleich am 1. Juli anfangen und ihren gesamten Ehrgeiz einbringen. Die Zeit hier war auch nicht verloren – obwohl es Anja gefühlsmäßig so vorkam –, sondern machte sich ausgezeichnet in ihrer beruflichen Biografie, war eine wichtige Sprosse in ihrer Karriereleiter.
Bei Phuket, Insel Phuket, Thailand.
Die tschechischen Touristen waren noch nie an einem Palmenstrand gewesen. Es waren drei befreundete Paare mit insgesamt fünf Kindern, drei Mädchen und zwei Jungen. Die Eltern rekelten sich auf den Sonnenliegen und fühlten sich herrlich, sie lasen oder dösten, ein Mann schnarchte leicht. Die Kinder waren ungefähr 50 Meter entfernt, für die Lautstärke immer noch viel zu dicht. Sie spielten unter den hohen Kokospalmen, wo unter dem Schopf mit den langen, gefiederten Blättern die grünen Früchte in kleinen Trauben hingen. Die beiden Jungens hatten in jeder Hand einen Stock und trommelten damit auf die Stämme. Die Mädchen rannten hin und her, fingen sich gegenseitig und kreischten dabei.
Gestern hatten sie gemeinsam einen Ausflug zu diesen bekannten Felsenbuchten gemacht, wo einzelne mächtige Gesteinsbrocken wie gigantische Faustkeile aus dem Wasser ragten, als hätte ein Riese sie dort hineingerammt. Sie verjüngten sich nach unten, abgeschliffen durch die Kraft des Meeres. Manche Felsen waren haushoch und mit Bäumen bewachsen.
Die Jungs trommelten ihren wilden Rhythmus auf die Palmenstämme, der aber von den schrillen Stimmen der Mädchen übertönt wurde. Als die erste Kokosnuss herunterfiel, freuten sich die Kinder; die grüne, unten spitz zulaufende Frucht wanderte von einem zum anderen und wurde bestaunt. Die Jungs benutzten sie als Ball, warfen sie sich gegenseitig zu und entfernten sich dabei etwas. Dann landete die zweite Nuss wie eine Kanonenkugel im Sand, dicht daneben die nächste. Das Lachen der Mädchen verstummte. Sie schauten besorgt hoch zu den fast 20 Meter hohen Palmen, die mit ihren langen Blättern friedlich wedelten. Jetzt lösten sich überall die kopfgroßen, circa zwei Kilo schweren Kokosfrüchte. Ein Mädchen wurde an der Schulter getroffen und brüllte auf. Dem jüngsten knallte eine Nuss auf den Kopf, es sackte zusammen, Blut färbte das blonde Haar, versickerte im Sand. Das älteste Mädchen schrie mit geballten Fäusten. Die Jungs standen wie erstarrt, der eine ließ das grüne Wurfding los, als hätte er sich verbrannt.
Die Mütter hörten zuerst die Schreie der Mädchen und liefen sofort los. Eine Frau stieß ihren schlafenden Mann an, sodass er mitsamt der Liege umkippte. Die beiden anderen Männer sprangen auf und folgten ihren Frauen. Der übergewichtige Schnarcher rappelte sich mühsam auf. Vereinzelt fielen noch Kokosnüsse herunter, auf dem Strand lagen über 20 Stück. Und dazwischen die blonde, bewegungslose Kleine. Ein Junge stützte das an der Schulter getroffene, schluchzende Mädchen. Die Mütter rannten und riefen die Namen ihrer Kinder. Der andere Junge beugte sich zu dem leblosen Mädchen herunter, sah das viele Blut, taumelte einige Schritte weg und übergab sich. Die beiden Männer hatten die Frauen überholt. Einer schrie dem zurückgebliebenen Dicken zu, er solle irgendetwas zum Verbinden mitbringen.
Berlin, Deutschland, EU.
Holger Grimm saß vor seiner Medienwand und verfolgte gespannt den Bericht über den Zwischenfall im Münchner Englischen Garten. Dort war eine Kindergartengruppe in einen massiven Pollenregen einer Erle geraten, dadurch kam es bei mehreren Kindern zu schweren allergischen Reaktionen.
Das großformatige Bild zeigte eine Grünanlage und einen prächtigen Baum mit einer viereckigen Absperrung durch rotweißes Band, womit die drängelnden Menschenmassen von dieser Stelle ferngehalten wurden. Rechts standen drei Rettungswagen mit Blaulicht. Sanitäter, Ärzte und Polizisten eilten außerhalb dieses Quadrats hin und her. Innerhalb bewegten sich nur vier Feuerwehrleute mit Atemschutzgerät und sammelten die herumliegenden Sachen der Kinder auf: bunte Mützen und Jacken, kleine Rucksäcke mit lachenden Tierköpfen drauf und niedliche Brottäschchen. Die Männer schüttelten den hellen Puderbelag von diesen Gegenständen und packten sie dann in blaue Müllsäcke. Das Bild wurde herangezoomt, und man konnte auf dieser abgesperrten Fläche ganz deutlich eine gelbliche Schicht aus Blütenkätzchen und Pollenstaub erkennen, die bestimmt zwei Zentimeter dick war.
Die Kamera glitt wieder zurück und etwas nach links, wo jetzt der Reporter mit Mikrofon erschien und berichtete: „Nach den Aussagen der begleitenden Erzieherinnen hatten die Kinder unter dieser Erle gespielt und getobt, als plötzlich auf einem Schlag sämtliche Pollen auf die Gruppe herabrieselten und sie bedeckten. Sechs Kinder erlitten schwere allergische Reaktionen, zwei davon sogar einen lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock. Diese Kinder sind schon in der Klinik und werden dort versorgt. Hier in den Rettungswagen“, er deutete zu dem Blaulicht, „werden die anderen Kleinen untersucht, beruhigt und dann ihren wartenden – aber glücklichen – Eltern übergeben. Ein vergleichbarer Fall ist zumindest in Deutschland bis jetzt noch nicht bekannt geworden. Damit gebe ich zurück ins Studio.“ Der Nachrichtensprecher las einige Kurzmeldungen vor, dann kam ein Filmausschnitt von den unüberwindbaren Grenzanlagen an der Straße von Gibraltar, die Afrika abriegeln sollten.
Sehr merkwürdig, dachte Holger Grimm, von solch einem Pollenschauer hatte er auch noch nichts gehört. Die Erle musste irgendeine unbekannte Krankheit haben.
Er war immer noch groß und schlank, trug aber schon lange eine Brille und hatte mittlerweile richtige Geheimratsecken, die sich wohl in naher Zukunft zu einer Stirnglatze vereinigen würden. Von Braunschweig war er für drei Jahre nach Hannover ins Umweltministerium gegangen und dann Mitte 2019 ins Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Nuklearsicherheit. Dieses BMU war 1986 gegründet worden, einige Wochen nach der schweren Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, der ersten damals.
Unter Junik Adomir, dem jetzigen und ersten türkischstämmigen Bundeskanzler von Deutschland, wurde der Begriff ‚Reaktorsicherheit’ in ‚Nuklearsicherheit’ umbenannt, weil es deutlich weniger Atomkraftwerke gab, dafür aber mehr Gewicht auf die Endlager gelegt wurde.
Holger arbeitete in der Abteilung N, die für Natur- und Artenschutz, Gentechnik sowie Umweltfragen der Land- und Forstwirtschaft zuständig war. Beruflich war er vollkommen zufrieden und hatte viel mehr erreicht, als er sich während seines Studiums erträumt hatte. Privat war es nicht so gut verlaufen. Seit über 10 Jahren war er nun geschieden, hatte auch nie wieder geheiratet und meistens nur Beziehungen, die einige Monate hielten; die längste hatte von Ostern bis kurz vor Weihnachten gedauert. Seinen Sohn sah er nur alle paar Jahre für wenige Stunden. Das letzte Mal einen Nachmittag lang am Tag nach seinem 10. Geburtstag. Beide hatten nichts miteinander anzufangen gewusst, quälten sich irgendwie durch die Zeit. Bastian war ihm fremd, und er ihm natürlich auch. Sein Sohn hatte einen neuen Vater und eine Schwester, und seine Mutter hatte ihm garantiert jede Menge Instruktionen und Tabuthemen eingetrichtert.
„Fernsehen aus!“, sagte Holger Grimm. Das Bild verschwand, und rechts oben an der Medienwand erschienen automatisch die Wechselfotos von Bastian. Darunter kam bei Benutzung das Bildtelefon und dann die Gegensprechanlage.
Er sah die Schnappschüsse der Entwicklung seines Sohnes: kurz nach der Geburt mit zerknautschtem Gesicht, als Säugling mit diesen winzigen Fingerchen, als lachendes Baby mit beschmiertem Mund, beim Baden, im Kinderwagen, beim Krabbeln, die ersten Schritte, auf dem Dreirad, im Kindergarten, bei Geburtstagen, die Einschulung mit Zahnlücken vorne, das erste Fahrrad. Je älter Bastian wurde, desto größer wurde der Abstand zwischen den Aufnahmen.
„Fotos weg! Radio an!“, befahl Holger. „Lauter!“
Die beiden Arbeiter zerratterten mit ihren Presslufthämmern die Asphaltschicht, zwei andere schippten das gelöste Material in einen Container und stützten sich dann wieder auf ihre Schaufeln ab. Es war nur eine kleine, begrenzte Baustelle auf der Straße Unter den Linden, die aber trotzdem den Verkehr erheblich behinderte. Wenn die Männer mal eine kurze Pause machten, sahen sie rechts die genervten Autofahrer und links den parkähnlichen Zwischenstreifen mit den vielen Bäumen an beiden Seiten, die in der Mitte schon teilweise ein grünes Blätterdach bildeten. Die Arbeiter verstanden nicht, dass bei dem herrlichen Wetter keine Leute auf den Bänken saßen. Natürlich hatte ihr knatternder Lärm schon alle vertrieben und hielt andere fern. Sie selber vernahmen durch ihren Gehörschutz ja nur das übliche dumpfe Trommeln.
Die Rentnergruppe aus Celle hatte die Zeit zur freien Verfügung zu einem Bummel entlang der Schaufenster der Friedrichstraße genutzt und sich mal wieder darüber gewundert, wie protzig sich der ehemalige Osten so entwickelt hatte. Die drei Männer regten sich darüber auf, dass dieser Luxus hier von ihren Solidaritätszuschlägen und Steuergeldern bezahlt worden sei und stritten gleich wieder über den richtigen politischen Weg. Die fünf Frauen bestaunten die Auslagen und Preise der Schaufenster. Sie wären auch gerne mal in die Kaufhäuser und Geschäfte gegangen, doch dafür reichte die Zeit nicht mehr. In einer Stunde war Treffen und Busabfahrt am Pariser Platz. Nun bogen sie rechts in die imposante Straße Unter den Linden ein. Die Frauen schlugen vor, doch auf dieser wunderbaren Allee des Mittelstreifens zu gehen. Die Männer hätten lieber das moderne Laufband auf dem breiten Gehsteig benutzt, fügten sich aber der weiblichen Mehrheit. Als sie den Baulärm hörten, lästerten die Männer sofort wieder, dass da ja schon wieder ihr Geld verbraten werde.
Die Arbeiter vibrierten mit ihren Maschinen, in ihrem Blickfeld waren nur ihre Schuhe, der rasende Meißel und die Asphaltstücke. Die Männer gingen zwei Schritte hinter den Frauen und sprachen darüber, warum man denn noch keine leiseren Presslufthämmer erfunden hatte. Als die Frauen auf der Höhe der Baustelle waren, fiel vereinzelt etwas von den vier höheren Bäumen, die hier im Karree standen. Eine Frau fing mit der offenen Hand ein Blütenteil auf, roch daran und meinte, es würde gesund riechen. Dann rieselten immer mehr traubenförmige Blütenkätzchen herab, zusätzlich schwebte weißlicher Pollenstaub herunter.
Die Leute aus Celle wedelten oder wischten es mit den Händen weg und begannen zu husten. Jetzt lösten sich richtige Puderwolken von den Bäumen, bedeckten die Menschen wie mit einer Mehlschicht. Der jüngste der Männer bekam keine Luft, er fingerte an seinen Hosentaschen herum, zog sein Asthmaspray heraus, sein Atem ging schwer und pfeifend, das Spray fiel ihm hin. Zwei Frauen krochen auf allen Vieren aus diesem Bereich, husteten und japsten nach Luft. Ein Mann rief die Gattin des Asthmakranken, der umgefallen war, bläuliche Lippen hatte und röchelte.
Die an den Presslufthämmern hörten nichts und ratterten weiter. Die gerufene Ehefrau rutschte auf diesem Blütenbelag aus, stürzte aufstäubend der Länge nach hin und regte sich nicht mehr. Eine Frau kreischte, ihr Mann stand vornübergebeugt und Luft schnappend. Die anderen beiden Bauarbeiter ließen ihre Schaufeln fallen und rannten zu der Gruppe. Der eine Mann hatte das Spray gefunden, kniete sich neben den Asthmatiker, der jetzt eine violette Nase und verdrehte Augen hatte, glasiger Schleim lief aus dem Mund, Schweiß rann von seiner bleichen Stirn, das Atmen war nur noch ein brummendes Gurgeln. Der Mann schob ihm das Mundstück zwischen die blauen, leblosen Lippen und drückte, schrie seinen Namen und drückte.
Natürlich hatte Anja Blass Karriere gemacht. Seit vier Jahren arbeitete sie nun im Bundesministerium für Gesundheit. Sie hatte nie geheiratet und war immer noch Single.
Jetzt saß sie im Vorzimmer ihres Chefs Dr. Ohlenberg, der sie schon fast 10 Minuten warten ließ und beobachtete seine aufgedonnerte Sekretärin bei ihren Tätigkeiten. Typisch Männer, dachte Anja, egal in welcher Position, die gingen immer nur nach dem Äußeren.
Ihr Vorgesetzter hatte sie gestern ins Krankenhaus geschickt, um mit den dort untergebrachten Rentnern aus Celle zu reden, die am Montag die Opfer dieser rätselhaften Pollenattacke wurden, bei der sogar ein Mann starb. Zwei Frauen und ein Mann waren nur noch zur Beobachtung dort, sie hatten alles gut überstanden und nur noch gerötete Augen, sie unterhielten sich mit Anja in der Cafeteria. Die Ehefrau des Toten hatte bei ihrem Sturz eine ungefährliche Kopfverletzung erlitten. Sie lag im mittlersten Bett eines Dreierzimmers, zwischen zwei noch viel älteren Frauen, die schon ziemlich dement wirkten und Infusionen bekamen; die eine summte ständig und verzog dabei den zahnlosen Mund, die andere reagierte immer zuerst auf Anjas Fragen mit einem lauten Was? oder Wie?
Die Witwe hatte einen perfekten Kopfverband und beantwortete alles sehr langsam und einsilbig. Bei ihr konnte man nicht abschätzen, ob die geröteten Augen vom Allergen oder vom Weinen kamen. Der Rest der Rentnergruppe, zwei Frauen und ein Mann, lagen auf einer anderen Station und zeigten unterschiedlich starke Symptome der schweren allergischen Reaktion, alle erhielten noch Sauerstoff durch die Nase.
„So, Sie können jetzt hinein“, sagte die Sekretärin.
Anja stand auf, warf einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr, klopfte an die Tür und trat ein. Ihr Chef kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen und begrüßte sie mit einem knappen Kopfnicken: „Guten Morgen, Frau Dr. Blass. Bitte setzen Sie sich doch.“
„Guten Morgen, Herr Dr. Ohlenberg.“ Sie folgte seiner gezeigten Richtung und nahm gleichzeitig mit ihm Platz.
„Entschuldigen Sie die Wartezeit, aber ich hatte noch ein längeres Gespräch mit meinem Kollegen aus dem BMU.“ Er deutete kurz zu der ausgeschalteten Medienwand, dann stützte er beide Ellenbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände wie beim Gebet. „Wir haben uns auf ein schnelles, behördenübergreifendes Vorgehen bei diesen merkwürdigen Vorkommnissen geeinigt.“
„Also gibt es noch mehr Fälle von ungewöhnlichen Allergieauslösern?“
„Haben Sie denn nichts von der Sache in München gehört?“, fragte Ohlenberg vorwurfsvoll. „Die Kindergartengruppe im Englischen Garten?“
„Nein.“ Anja befürchtete, rot zu werden. „Wann war das denn?“
„Na, erst vor zwei Wochen. Auch dort ist ein Kind an den Folgen gestorben.“
„Schrecklich!“ Es rächte sich mal wieder, dass sie sich lieber Soaps als Nachrichtensendungen ansah und im Auto nur Musik hörte. „Da hatte ich abends pausenlos Termine“, log sie und hob entschuldigend die Schultern.
„Soso.“ Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Auf jeden Fall sind das besorgniserregende Vorfälle, wenn innerhalb von eineinhalb Wochen an weit voneinander entfernten Orten irgendwelche Bäume ihre gesamten Pollen fallen lassen und dadurch mehrere Menschen verletzt und sogar zwei getötet werden. Da müssen wir unbedingt rasch handeln.“
„Finde ich auch.“
„Wir müssen ja nicht warten, bis uns die Sensationsmedien mal wieder Untätigkeit und Versagen vorwerfen. Deren primitive, Angst verbreitende Schlagzeilen und Sendungen beunruhigen die Bürger schon genug.“ Ohlenberg legte seine Hände auf den Schreibtisch und drehte an seinem Ehering. „Wie gesagt, deshalb habe ich mit dem Umweltministerium gerade ein gemeinsames Vorgehen verabredet. Sie werden sich heute um 14 Uhr an der Unglücksstelle Unter den Linden mit einem Mitarbeiter des BMU treffen, und zwar“, er nahm von rechts einen Zettel, las ihn und überreichte ihn Anja, „mit einem gewissen Herrn Grimm. Er ist groß und schlank und trägt eine blaue Jacke. Anschließend werden Sie nach München fliegen und sich über den dortigen Fall informieren.“
„Nur wir beide?“
„Erst einmal ja. Aber Sie bekommen natürlich jegliche Unterstützung sämtlicher Behörden und Einrichtungen.“
„Wer von uns beiden ist weisungsbefugt?“
„Keiner. Oder beide gleichberechtigt.“ Er verzog zynisch den Mund. „Aber inoffiziell sind wir selbstverständlich federführend. Sie werden sich schon nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, nicht wahr, Frau Dr. Blass?“
„Nein“, sie versuchte zu lächeln und dachte nach. Deshalb hatte der Alte sie also ausgewählt, weil sie als resolut, ehrgeizig und durchsetzungsfähig galt. Eben der richtige Kampfdackel für so einen Einsatz.
„Sie berichten ausschließlich an mich. Und Herr Grimm an seinen Vorgesetzten. Aber ich“, er grinste hinterlistig, „will die neuesten Nachrichten natürlich als erster haben.“
„Klar.“
„So, dann berichten Sie mal von Ihrem gestrigen Krankenhausbesuch.“
„Drei Personen werden wahrscheinlich schon heute entlassen, bei drei weiteren werden noch die Folgen der allergischen Reaktion behandelt. Die frische Witwe hat eine mittelschwere Kopfverletzung durch ihren Sturz. Ihr verstorbener Mann litt schon lange an allergischem Asthma. Er hat bei diesem Pollenregen leider sein Aerosol verloren, wurde rasch zyanotisch und starb dort an einem akuten Asthmaanfall.“
„Wenn er ein paar Hübe genommen hätte, hätte er die Sache überlebt?“
„Bestimmt. Laut der Ehefrau war er allergisch auf Haselnuss, Weide und Birke. Was waren das denn für Bäume?“
„Das weiß ich doch nicht!“, entgegnete Ohlenberg unwirsch.
„Nun, normalerweise tritt die Belastung nur durch den windbewegten Pollenflug auf, nicht durch solch eine geballte Ladung. Die wichtigsten Allergieauslöser jetzt im Frühjahr sind Birken-, Weiden-, Erlen- und Hasel-Pollen.“
„Das in München war wohl eine Erle.“
„Aha“, Anja nickte und sagte leicht sarkastisch: „Ich weiß natürlich auch nicht, ob Unter den Linden nur Linden wachsen.“
„Genau deshalb sollen sie ja dorthin. Und werden beraten und unterstützt von dem Diplombiologen Grimm.“
„Na, dann.“ Sie dachte an die Märchenbrüder.
Die Stimme der Sekretärin kam aus irgendeinem Lautsprecher: „Herr Özdak-Primmel ist in der Leitung.“
„Noch eine Minute.“ Ihr Chef erhob sich, Anja auch. „Ich muss unser Gespräch jetzt beenden. Aber wir waren ja fertig. Auf Wiedersehen, Frau Dr. Blass. Interessante Neuigkeiten also sofort an mich.“
„Jawohl. Auf Wiedersehen.“
„Bitte durchschalten!“, rief Ohlenberg, stellte ihren Stuhl vor die Medienwand und setzte sich darauf.
Beim Rausgehen blickte Anja zurück und sah auf dem Bildschirm den feisten, schnurrbärtigen Kopf von Özdak-Primmel, einem hohen Tier beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Nachdem sie sich auf diesem Alleestreifen begrüßt und vorgestellt hatten, fragte Holger Grimm etwas schelmisch: „Muss ich immer Doktor sagen?“ und dachte, dass diese robuste Frau mit den maskulinen Zügen und der strengen Brille wirklich blass war.
„Nein, nein.“ Anja lächelte zu dem langen Kerl hoch, der wahrscheinlich älter war als er wirkte, denn auf seiner Stirn lichteten sich schon die Haare.
„Dann sind wir also ab sofort ein Zweierteam?“
„Sieht so aus.“ Der Typ trug jedenfalls keinen Ehering, dafür aber eins von diesen Headsets, die man ständig im Ohr hatte und auf Sprachsteuerung reagierten; das Gerät war nur so groß wie ein altmodisches Hörgerät, zur Wange hin ragte ein dünner Bügel mit einem winzigen Mikrofon.
„Das ganze Blütenzeug hat die Straßenreinigung ja schon entfernt.“ Holger ging in die Hocke und suchte den Boden ab. Er fand drei vollständige Blütenkätzchen, ließ sie in einen verschließbaren Klarsichtbeutel fallen und richtete sich wieder auf. „Eine Probe haben wir schon mal.“
„Von welchen Bäumen rieselten die Pollen denn herab?“
„Von diesen vier Pappeln hier.“
„Ich dachte immer, Pappeln sind lang und schmal“, sagte Anja und dachte: so wie der hier, der garantiert ein Wessi war.
„Was Sie meinen, sind Pyramidenpappeln. Das hier sind Schwarzpappeln.“
„Aha. Gibt es hier keine Birken, Weiden oder . . .“
„Die Pappeln gehören doch zur Familie der Weidengewächse.“
„Ach, ja.“ Anja bekam heiße Ohren und verfluchte ihre Dummheit. Natürlich hatte sie das mal gewusst. „Auf Weide war der tote Asthmatiker jedenfalls allergisch.“
„Schon länger?“
„Ja. Er nahm auch täglich Medikamente ein und hatte immer sein Spray dabei. Nur hat er es beim Anfall während dieses massiven Pollenfalls verloren.“
„Haben Sie schon einmal von so einem schlagartigen Blütenschauer gehört?“, fragte Holger.