Der Senex-Mann - Hermann Lühr - E-Book

Der Senex-Mann E-Book

Hermann Lühr

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Beschreibung

Was für ein Geheimnis hat dieser weißhaarige Mann? Bodo Schenk hilft ihm, denn schließlich ist er schuld daran, dass dieser zwielichtige Laborleiter auf dessen außergewöhnliche Blutwerte aufmerksam wurde und sie deshalb verfolgen lässt. Ihre Flucht führt sie bis nach Rügen und in die Vergangenheit.

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch:

Was für ein Geheimnis hat dieser weißhaarige Mann? Bodo Schenk hilft ihm, denn schließlich ist er schuld daran, dass dieser zwielichtige Laborleiter auf dessen außergewöhnliche Blutwerte aufmerksam wurde und sie deshalb verfolgen lässt.

Ihre Flucht führt sie bis nach Rügen und in die Vergangenheit.

Der Autor:

Hermann Lühr, Jahrgang 1953, verheiratet, zwei erwachsene Töchter.

Wohnt in Schöningen, Niedersachsen.

Er schreibt Romane um Ungewöhnliches, in einer spannenden Mischung aus Realität und Fiktion.

Weitere Informationen finden Sie am Ende des Buches.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Kapitel 1

Bodo Schenk dachte beim Autofahren an gar nichts, auch die Musik kam nicht ganz in seinen Kopf hinein. Hinter der Post wollte er rechts in die Kronenstraße. Dann sah er links die Frau mit dem aufreizenden Gang. Zum ersten Mal in diesen zwei Jahren nahm er eine Frau wieder als Verlockung wahr.

Er blinkte rechts und starrte nach links zu dieser rassigen Frau in der engen, figurbetonten Kleidung. Er drehte am Lenkrad, aber seine ganze Aufmerksamkeit hing an diesem Busen und dem Hüftschwung. Er bog rechts ab, doch sein Kopf schien links fixiert zu sein. Im rechten Augenwinkel registrierte er eine Bewegung. Dann gab es vorne einen knallenden Aufschlag. Schenk trat die Bremse durch und erschrak fürchterlich, als er einen Mann von seiner Motorhaube rutschen sah. Zwei weiße Briefe segelten durch die Luft.

Er hatte jemanden angefahren! Wegen seiner verdammten Gafferei! Sein Herzschlag raste und sprang ihm unter die Kehle.

Er stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und öffnete völlig unvorsichtig seine Tür, besann sich auf das Warnblinklicht und schaltete es ein. Er atmete gegen die Panik an. Drei Fußgänger waren stehengeblieben und starrten auf etwas, was vor seinem Auto liegen musste. Das monotone Klicken der Warnblinkanlage beruhigte ihn etwas.

Schenk stieg aus, schlug die Tür zu und schaute sich um. Er musste nach vorne. Gegen irgendeinen Widerstand schob er sich vorwärts. Da lag einer von den Briefen auf der Straße. Nur das Wort ‚Postfach’ konnte er deutlich lesen. Er ging weiter. Eine Windböe blies ihm sein Haar nach hinten und den Brief weg. Auf der Motorhaube war eine große Mulde. Da unten ragte eine leblose Hand hervor, als zeige sie zur Straßenmitte.

Das war ja entsetzlich! Der Schweiß brach ihm aus.

Jetzt sah er den Mann da unten liegen: auf dem Bauch, in der Mitte verkrümmt, ein Arm und ein Bein ausgestreckt, er hatte weißes Haar. Neben ihm hockte eine junge Frau, die kurz zu Schenk aufschaute. „112 hab ich schon angerufen. Die schicken auch die Polizei.“

„Ja. Danke“, stammelte er und bemerkte die vorwurfsvollen Blicke der Zuschauer, die sich inzwischen verdoppelt hatten. Verständlich, schließlich hatte er einen alten Mann beim Überqueren der Straße angefahren.

„Helfen Sie mir mal, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen“, forderte die Frau ihn auf. Sie kannte sich anscheinend in Erster Hilfe aus.

„Natürlich.“ Schenk ließ sich auf die Knie nieder und drehte den Oberkörper mit auf die Seite. Die junge Frau nahm dabei den linken Arm und schob die Hand geschickt unters Gesäß, dann überprüfte sie die Atmung. Im Gesicht des Mannes und auf dem Asphalt war Blut. Da lag auch eine kaputte Brille.

„Ist er ...?“ Er konnte es nicht aussprechen.

„Nein. Nur bewusstlos.“

Der Mann schien nicht so alt zu sein, wie die weißen Haare vermuten ließen. Er hatte eine klaffende Wunde an der rechten Schläfe, aus der Blut rann. Auch Nase und Mund waren blutverschmiert.

„Holen Sie Ihren Verbandskasten.“

„Sofort.“ Schenk war dankbar für ihre Kommandos, erhob sich umständlich und eilte nach hinten. Noch mehr Schaulustige hatten sich versammelt. Er fand gleich die Verbandstasche, ließ den Kofferraum auf und rannte nach vorne, sah dabei in keines der vielen Gesichter. Er hörte eine weit entfernte Sirene und wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn.

„Heben Sie seinen Kopf leicht an und halten ihn so.“

Schenk und die Frau knieten jetzt nebeneinander. Sie suchte sich flink ihr Material heraus, riss die Päckchen auf und legte dem Mann einen erstklassigen Kopfverband an.

„Das können Sie aber gut“, lobte er sie. Sie hätte seine Tochter sein können.

„Ich bin Altenpflegeschülerin.“

Nun konnte man zwischen zwei Sirenentönen unterscheiden, die auch rasch näher kamen.

„Da hab ich ja Glück gehabt.“ Früher hätte man sie als Mädchen bezeichnet.

„Aber der da weniger“, entgegnete sie bissig.

Er nickte schuldbewusst. „Es tut mir wirklich leid, aber ...“

Mit einem „Tja“ stand sie schnell auf und sah sich um, entfernte sich einige Schritte von ihm.

Bodo Schenk sammelte das Verpackungsmaterial auf, stopfte es in die Verbandstasche und zog den Reißverschluss zu. Dann rappelte er sich auf. Die Sirenen wurden stetig lauter, es hörte sich noch nach einer dritten an. Er hielt die Erste-Hilfe-Tasche an sich gepresst und fühlte sich wie ein Verbrecher. Sein Opfer rührte sich immer noch nicht.

Polizei, Notarzt und Rettungswagen trafen im Minutenabstand am Unfallort ein und stellten sofort die Sirenen ab, nur das Blaulicht ließen sie kreisen. Ein Polizist drängte die Neugierigen zurück, der andere fotografierte alles. Die junge Frau ging gleich zum Notarzt und redete auf ihn ein, er nickte mehrmals und marschierte weiter zu dem Verletzten. Die Sanitäter holten die Trage aus ihrem Wagen und bahnten sich rufend ihren Weg.

Schenk stand hilflos inmitten dieser Hektik, klammerte sich an seine Verbandstasche und kam sich mal wieder verloren vor. Er sah, dass die Pflegeschülerin nun mit einem Polizisten sprach und dabei auf ihn deutete. Er musste sich doch bestimmt melden, gleich seine Schuld eingestehen. Nur gut, dass er heute noch nichts getrunken hatte. Er setzte sich zögerlich in Bewegung, die Leute wichen zurück und auseinander, machten ihm großräumig Platz, als hätte er eine ansteckende Krankheit.

„Sie sind der Unfallverursacher?“, der Polizist taxierte ihn von oben bis unten.

„Ja. Bodo Schenk ist mein Name.“

„Ihre Personalien nehmen wir gleich im Auto auf.“

Er nickte nur ergeben und blickte zu der wieder hochgestellten Trage, auf dem jetzt der Angefahrene lag. Die Sanitäter rollten sie zu ihrem Fahrzeug zurück, einer hielt dabei eine angeschlossene Infusionsflasche hoch.

„Brauchen Sie mich hier noch?“, fragte die junge Frau den Polizisten.

„Sind Sie Zeugin des Unfalls?“

„Nein. Ich habe aber die Erstversorgung durchgeführt.“

„Sehr lobenswert. Dann können Sie auch gehen.“

„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hilfe“, Schenk hielt ihr die Hand hin.

Es dauerte ein bisschen, bis sie sich dazu durchrang, ihn zu berühren. „Ich habe ja dem alten Mann geholfen. Nicht Ihnen.“ Schnell zog sie ihre Hand wieder zurück.

Das tat weh. Schenk verneigte sich etwas und sagte leise: „Trotzdem danke.“ Als er aufsah, war sie bereits in der sich auflösenden Menge verschwunden. Der Rettungswagen fuhr los und schaltete nach wenigen Metern die Sirene ein. Der Notarzt folgte im Golf, aber still und ohne Blaulicht.

„Kommen Sie dann?“, der Polizist zeigte zum Streifenwagen. „Da drin nehmen wir den Unfall und Ihre Personalien auf.“

„Ihre Erste-Hilfe-Tasche brauchen Sie dabei aber nicht“, sagte sein Kollege mit unterdrücktem Spott.

„Ja, ja.“ Schenk legte sie in den offenen Kofferraum, sah dabei das nicht benutzte Warndreieck und warf die Klappe zu. Er ging zwischen den beiden Uniformierten, als schreite er zum Schafott.

Wie jeden Abend spürte er wieder die angenehme Wärme des Rotweins in sich, diesen wohligen Dämpfer im Kopf, wo vorher nur Sorgen und wirre Gedanken kreisten, Ängste und stumme Selbstgespräche. Auf den Wein konnte er sich verlassen, der half ihm. Der in den Trauben eingefangene Sonnenschein durchströmte und belebte ihn, bewirkte diesen heilsamen Effekt. Irgendwelche Stoffe im Rotwein sollten ja auch gesund fürs Herz sein. Das konnte er nur bestätigen. Der Rebensaft war seine liebste Medizin, und das schon seit zwei Jahren, seit Nina ...

Rot wie Blut. Sofort sah Schenk den blutigen weißhaarigen Mann vor sich, den er auf dem Gewissen hatte. Es würde eine Anzeige geben, hatten die Polizisten gesagt und gefragt, ob seine Brille noch ausreichend sei, ob er an einer chronischen Erkrankung leide, Medikamente eingenommen oder Alkohol getrunken habe. Als ob er krank und senil wäre. Wenn die ihn jetzt hier mit seinem Glas und der halb geleerten Flasche sehen würden. Aber nach Feierabend durfte man ja wohl mal etwas Wein trinken. Besonders, wenn er einem so gut bekam. Besser als diese ganzen Tabletten mit den vielen Nebenwirkungen.

Im Wein ist Wahrheit. Aber bei seiner Aussage hatte er ein wenig gelogen. Er sei beim Abbiegen einfach unachtsam gewesen, habe an berufliche Probleme gedacht, es eilig gehabt und in dem Moment zur Uhr geguckt, jedenfalls habe er den Fußgänger total übersehen. Das sei selbstverständlich fahrlässig und unverzeihlich gewesen. Aber so etwas sei ihm noch nie passiert. Er fahre doch schon so viele Jahre unfallfrei. Von der sexy daher stolzierenden Frau in den engen Klamotten hatte er kein Wort erwähnt.

Er bat die Polizisten um den Namen und die Anschrift des Unfallopfers, weil er sich so schnell wie möglich bei ihm entschuldigen wollte, er würde ihm Hilfe und Schmerzensgeld anbieten, eine Wiedergutmachung versuchen. Doch die Polizisten behaupteten, der Mann habe keinerlei Papiere bei sich gehabt, man müsse abwarten, bis er selber Angaben zur Person machen könne. Aber das aufnehmende Krankenhaus konnten oder wollten sie ihm nicht nennen.

Rubinroter Wein im funkelnden Glas. Als Nina noch da war, hatten sie so gut wie nie Wein getrunken, er mal ab und zu ein Bierchen und sie ganz selten mal ein Gläschen Likör oder Sekt. Erst an seinem einsamen, deprimierenden 50. Geburtstag lernte er die Vorzüge des Rotweins kennen. Bier war kalt, hatte nicht die gespeicherte Sonne in sich, konnte keine Wärme in die Adern pumpen. Und Schnaps war was für Säufer.

Blutroter Wein. Der Mann hatte helleres Blut gehabt. Weil er nur Augen für diese verführerische Frau gehabt hatte, lag der jetzt im Krankenhaus, wahrscheinlich immer noch im Koma, womöglich würde er sterben oder zumindest bleibende Schäden behalten. Nur durch sein Fehlverhalten. Nach zwei Jahren hatte ihn ein erotischer Reiz aus seinem sexuellen Dämmerzustand erweckt.

Er musste diesen Mann ausfindig machen und um Verzeihung bitten.

Sie saßen sich in der schäbigen Kneipe gegenüber. Doch sie war nur die Fassade für den geheimen Spielclub in den Hinterräumen, den man nur betreten durfte, wenn man dem Türposten bekannt war oder einen Fürsprecher dabei hatte.

„Also, Herr Doktor Imker. Was kann ich meinem Onkel ausrichten? Wie und wann werden Sie Ihre Schulden begleichen?“ Der gepflegte Türke sprach ein fast akzentfreies Deutsch und sah den dicklichen Mann mit der Halbglatze erwartungsvoll an.

„Es wird ein bisschen dauern. Im Moment habe ich einen finanziellen Engpass“, sagte Imker mit schuldbewusster Miene. Der reiche, mächtige Onkel, den alle nur ‚den Türken‘ nannten, konnte im Gegensatz zu seinem hübschen Neffen hier nur ein miserables, gebrochenes Deutsch.

„Wie lange soll denn dieses ‚bisschen‘ dauern?“ Er lächelte herablassend.

„Einen Monat. Die Bank wird die Hypothek für mein Haus erhöhen.“ Auch wenn dieser Türke erheblich gebildeter und kultivierter wirkte als die meisten seiner Landsleute, zweifelte Imker keine Sekunde daran, dass er ebenso brutal wie sie werden konnte und garantiert ein Messer oder sogar eine Knarre dabei hatte.

„Nach unseren Informationen sind Sie auch da bereits am Limit, Herr Doktor.“

„Die haben mir zugesagt, meinen Antrag wohlwollend zu prüfen. Ich habe schließlich ein gutes, geregeltes Einkommen.“ Was bildet sich dieser Türkenlümmel überhaupt ein?, dachte Imker hasserfüllt. „Mein Auto kann ich auch noch zu Geld machen. Und Familienschmuck.“

„So?“ Der Türke betrachtete seine manikürten Fingernägel und schien ihm kein Wort zu glauben.

Imker wurde mulmig zumute. Das Schweigen belastete ihn. Aber er durfte jetzt nicht zu viel und nichts Falsches sagen.

„Also, Herr Doktor. Wir treffen uns hier in einer Woche wieder. Und da erwarte ich mindestens die Hälfte Ihrer Schulden.“ Er griff in die Innentasche seines teuren Jacketts.

Imker befürchtete schon, er würde jetzt eine Pistole auf ihn richten.

„Ansonsten“, es waren vier Fotos, die er ordentlich vor ihm hinlegte, „werden Sie auch bald so aussehen.“

Imker starrte geschockt auf die fürchterlichen Aufnahmen, die ermordete, massakrierte Männerköpfe zeigten: Beim ersten war die Kehle klaffend durchgeschnitten; der zweite hatte ein schwarzes Einschussloch in der Stirn; der dritte war mit einer Drahtschlinge erdrosselt worden, seine Zunge war violett herausgequollen; dem letzten hatten sie eine Metallstange durch den Schädel getrieben, von Ohr zu Ohr. Die Augen der vier Männer waren alle im äußersten Entsetzen erstarrt.

Imker trat der Angstschweiß auf die Stirn, seine runden Brillengläser beschlugen. Panik breitete sich in ihm aus. Es ist aus, dachte er. Woher soll ich das Geld kriegen? Sie werden mich auch so bestialisch töten.

„Bilder sagen immer mehr als Worte.“ Der Türke sammelte die Fotos wieder ein und steckte sie weg. „Heute in einer Woche“, betonte er und stand auf.

Er rennt mit den anderen Jungs von der riesigen Baustelle weg, sie machen sich über die schimpfenden Maurer lustig, besonders über den dicken Polier mit dem Führerschnurrbart. Sie laufen durch diesen Waldgürtel mit den windschiefen Kiefern. Konrad stolpert über eine Wurzel und fällt der Länge nach hin, wirbelt dabei den Sand unter der Nadelschicht auf. Sie hüpfen um ihn herum und lachen ihn aus.

Der Stationsarzt beugte sich über den weißhaarigen Mann und betonte langsam: „Hallo. Können Sie mich hören?“ Er schob ein geschlossenes Augenlid hoch, begutachtete die Pupille und ließ es wieder los. „Er ist in der REM-Phase.“ Er blickte die Krankenpflegerin an und fügte hinzu: „Er träumt.“

„Ja“, Schwester Beate ärgerte sich darüber, dass er wohl meinte, sie kenne den Fachausdruck nicht.

Diese Wurzeln verwandeln sich in Schlangen, die sich angriffslustig aufrichten.

Der Arzt sah zu den sich ständig verändernden Zahlen auf dem Monitor. „Aber die Vitalwerte und die Atmung sind stabil. Deshalb war ja auch keine Intensiv nötig.“

Die Schlangen ziehen sich zurück und erstarren wieder zu Wurzeln.

„Wie alt mag er wohl sein?“, sagte sie mehr zu sich. Die rechte Schläfe des Mannes bedeckte ein Verband. „Sein Haar sieht wie 70 aus, aber die Haut wie 40.“

„Den Laborwerten nach angeblich wie 30.“

„Wirklich?“, wunderte sie sich. „Aber dann würde er ja älter aussehen als er ist. Ich hätte genau andersherum getippt.“ Vielleicht hatte er auch eine Pigmentstörung und deshalb so weißes Haar.

„Dr. Imker war jedenfalls ganz fasziniert von seinem Blut. Der hat schon mehr Proben als üblich abnehmen lassen.“

Nach den Kiefern beginnt sofort der feinsandige Strand. Sie hören und riechen die Ostsee. Die Sonne scheint am fast wolkenlosen Himmel. Einige Möwen kreischen höhnisch.

„Wir brauchen unbedingt seinen Namen“, sagte Schwester Beate.

Der Arzt neigte sich zu dem Patienten runter und fragte laut: „Wie heißen Sie? Wie ist Ihr Name?“

Sie laufen vergnügt zum Wasser, ihre Füße sinken tief ein, schleudern Sandfontänen auf. Die Wellen belecken den Strand und dunkeln den Sand ein.

Der Arzt steigerte seine Lautstärke: „Hallo? Wie heißen Sie?“

Das Rauschen der Brandung. Aber da ruft jemand nach ihm. Der will wissen, wo er ist. Blöde Frage. Na, am Strand von „Prora“, flüsterte der weißhaarige Mann. Unter seinen Lidern zuckten die Augäpfel.

„Das ist Ihr Name? Prora?“ Der Arzt richtete sich wieder auf. „Und Ihr Vorname?“

Das Meer fließt ihnen begrüßend entgegen und schwemmt diese Stimme weg. Der Sand wird feucht und fester, man sinkt nicht mehr ein. Manche Wellen klatschen richtig, ihre Gischtränder lösen sich schnell auf. Sie jagen sich gegenseitig durch das aufspritzende Wasser, und Alfred hechtet als erster hinein.

„Immerhin haben wir seinen Nachnamen. Herr Prora also“, Schwester Beate nickte nachdenklich. „Vielleicht finde ich ja Angehörige von ihm im Telefonbuch.“

Der Stationsarzt sah auf seine Uhr und sagte: „Ich muss weiter.“

„Ja. Alles klar.“ Als er das Krankenzimmer verlassen hatte, strich sie behutsam über die Wange des Mannes, dessen Alter so schlecht zu schätzen war. Seine markanten Gesichtszüge erinnerten sie an ihren viel zu früh verstorbenen Großvater, der nie Opa genannt werden wollte.

Das Wasser der Ostsee ist kühl und schmeckt salzig. Beim Wettschwimmen gleiten ihm plötzlich deutlich wärmere Wellen über die Wangen.

Als Schwester Beate bemerkte, dass der Spanner im Nachbarbett sie beim Streicheln beobachtete, fingerte sie am Verband herum, überprüfte die Tropfenzahl der Infusion und den Überwachungsmonitor, dann ging sie zur Tür.

Der Mann im Nebenbett musterte schwärmerisch ihr Hinterteil. Für ihn war sie keineswegs zu mollig, sondern vorne und hinten genau richtig proportioniert.

Den halben Vormittag hatte Bodo Schenk damit verbracht, das Krankenhaus zu finden, in dem der Mann lag, den er angefahren hatte. Die Rettungsleitstelle verweigerte leider jede telefonische Auskunft, also musste er eine Notaufnahme nach der anderen anrufen und dort erklärungsreich nachfragen. Beim dritten Telefonat war er anscheinend an der richtigen Stelle. Man hatte zu der fraglichen Zeit ein Unfallopfer von der Kronenstraße ins Städtische Klinikum Nord gebracht. Ausgerechnet dorthin.

Er hatte lange gebraucht, bis er sich dazu entschlossen hatte, gar nichts zum Krankenbesuch mitzunehmen, hatte von Blumen über Saft bis zu Süßigkeiten alles verworfen, weil alles falsch gewesen wäre.

Es war kurz nach 17 Uhr, als er sich beim Pförtner nach der Zimmernummer des alten Mannes erkundigte, der gestern ungefähr um die gleiche Zeit hier eingeliefert wurde, nach einem Verkehrsunfall in der Kronenstraße.

Der einarmige Mann suchte im Computer und fragte: „Ein Herr Prora, nicht wahr?“

„Den Namen weiß ich nicht.“

„Das muss er sein. Prora.“

„Wird schon passen.“

„Haus 3, Station 2, Zimmer 32-14. Ein Lageplan ist gleich hier vorne.“ Er deutete mit dem Daumen nach links.

Schenk nickte. „Ich kenn mich hier aus. Danke.“ Als er das Gelände betrat, spürte er alte innere Narben.

Das schöne Wetter war vorbei. Der Himmel hing voller dunkler Regenwolken, und bald fielen die ersten Tropfen. Schenk beschleunigte seinen Schritt und dachte daran, dass er vor über zwei Jahren jeden Tag hier gewesen war, um Nina zu besuchen und ihr immer wieder Mut zu machen. Aber auch hier konnten sie ihr nicht helfen. Niemand konnte das. Nirgendwo.

Er war froh, dass er hier nicht abbiegen musste zu Haus 1 mit den Krebsstationen. Wie oft war er diesen Weg gegangen: hin mit Sorgen und winzigen Hoffnungsschimmern, zurück voller aussichtsloser Verzweiflung.

Als er schließlich vor der Zimmertür stand, klopfte er nicht an, sondern wollte sich doch lieber vorher im Stationszimmer melden.

„Guten Tag. Kann ich Herrn Prora besuchen?“

„Ja. – Aber einen Moment mal.“ Die Krankenschwester mit dem roten Gesicht erhob sich und kam zu ihm. „Wir benötigen ganz dringend seine Krankenversicherungskarte. Kommen Sie in seine Wohnung?“

„Nein.“

„Kennen Sie seine Adresse, seinen Vornamen und sein Geburtsdatum?“

„Nein.“

„Sind Sie ein Verwandter?“ Die robuste Schwester sah ihn skeptisch an.

„Auch nicht“, Schenk zog eine entschuldigende Miene.

„Aber Sie kennen ihn?“

„Na ja, kennen wäre übertrieben.“

Die Schwester verdrehte genervt die Augen. „Wer sind Sie denn?“

„Ich ...“ Hitze schoss ihm in den Kopf und brachte die Wangen zum Glühen. „Ich habe den Unfall verschuldet.“

„Ach, so.“ Schlagartig schien sie sämtliches Interesse verloren zu haben. „Er liegt auf Zimmer 32-14.“ Sie drehte sich um und stampfte zurück zu ihrem Schreibtisch.

„Können Sie mir etwas über die Schwere seiner Verletzungen sagen?“

„Kann ich schon, darf ich aber nicht.“ Sie ließ sich schwer auf den Stuhl nieder.

„Sind sie lebensbedrohlich? Wird er wieder ganz gesund?“

„Medizinische Auskünfte gibt nur der Stationsarzt. Und eigentlich nur an Familienangehörige.“

„Und wo finde ich den?“

„Heute hier nicht mehr“, antwortete sie lakonisch. „Der ist schon im Wochenende. Aber morgen ist die Stellvertretende da.“

„Und wann kann ich mit der sprechen?“ Allmählich verlor Schenk die Geduld.

„Am besten so zwischen 10 und 12.“ Der Gesichtsausdruck der Krankenschwester zeigte überdeutlich, dass sie sich zunehmend belästigt fühlte und wichtigere Arbeiten zu erledigen hatte.

„Gut.“ Er wollte sich wegdrehen.

„Aber wundern Sie sich nicht, wenn er nicht reagiert“, sagte sie ohne aufzublicken. „Er war noch nicht bei Bewusstsein.“

„Verstehe.“ Einen Dank schluckte er runter und ging zum Zimmer.

Als er es betrat, sah er als erstes den weißhaarigen Mann mit geschlossenen Augen. Er war an einer Infusion und an einem Überwachungsgerät angeschlossen. Außer ihm lag noch ein anderer Mann im Zimmer, der seinen Kopf anhob und ihn neugierig beäugte.

„Guten Tag“, Schenk nickte ihm zu.

„Hallo.“

Dann stand er voller Schuldgefühle vor dem Bett seines Opfers, verfolgte einen Moment die vor- und rückwärts springenden Zahlen auf der Anzeige. Der Mann hatte wirklich schlohweißes Haar und schien friedlich zu schlafen. Die Stirn war weniger verbunden als gestern. Unten am Bett hing ein halbvoller Urinbeutel.

Schenk wandte sich an den Bettnachbarn: „Hat er schon mal gesprochen?“

„Nur ein einziges Mal. Seinen Namen.“

„War er schon mal wach? Hatte er die Augen mal auf?“

„Nee. Nicht mal, als die Schwester ihn getätschelt hat.“ Er zog eine lüsterne Grimasse. „Bei der würde ich aber überall wach werden.“

„Aha.“ Schenk drehte sich wieder zu dem weißhaarigen Mann, der womöglich gar nicht viel älter war als er selbst. Die leichte Hakennase und die ausgeprägten Wangenknochen dominierten seine Gesichtszüge. Unter den Augenlidern regte sich nichts.

„Hallo. Nicht, dass ihr euch über das Pflaster wundert. Ich war gerade bei Herrn Prora und hab ihm noch mal Blut abgenommen.“

„Schon wieder?“, Schwester Beate sah ihre Kollegin erstaunt an. „Habt ihr die Proben verworfen oder seid ihr unter die Vampire gegangen?“

„Nein. Aber Dr. Imker kann nicht genug davon bekommen. Irgendetwas an dem Blut ist wohl ungewöhnlich.“

„Also werdet ihr diesen armen Mann, der sich nicht wehren kann, weiterhin jeden Tag anzapfen?“

„Keine Ahnung. Chef ist Chef.“ Kerstin, die MTA vom Labor, warf einen Seitenblick auf die schreibende Ärztin. „Das kennst du doch auch. Tschüss dann.“ Sie hielt ihr kleines gefülltes Tablett mit einer Hand hoch wie eine Kellnerin und watschelte davon.

Schwester Beate fand das mit den vielen Blutproben ziemlich seltsam, wollte im ersten Impuls die gegenübersitzende Ärztin deshalb ansprechen; doch die hatte heute wieder ausgesprochen schlechte Laune, wie eigentlich bei jedem Wochenenddienst. Also verkniff sie sich jeglichen Kommentar, kritzelte weiter ihr Handzeichen in die Krankenakten und nahm sich vor, bei Gelegenheit mal die Laborwerte des weißhaarigen Mannes zu studieren.

Nach einer halben Stunde erschien ein Mann so um die fünfzig vor dem Schwesternzimmer. Beate reagierte absichtlich nicht, sondern wollte es mal der Ärztin überlassen.

Da sich keine der beiden Frauen rührte, räusperte sich der Mann und sagte: „Guten Morgen. Mein Name ist Schenk. Sind Sie die stellvertretende Stationsärztin?“

„Nein“, Beate musste lächeln und schüttelte den Kopf. „Aber Sie sind hier schon richtig.“ Sie vollführte eine ausladende Handbewegung zu der Frau gegenüber.

Die sah jetzt auf und fragte mürrisch: „Sie wünschen?“

„Ich war gestern Nachmittag schon mal hier, um mich nach dem Gesundheitszustand von Herrn Prora zu erkundigen. Und da wurde mir gesagt, dass nur die Ärzte medizinische Auskünfte geben.“

„Korrekt.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einige Fragen beantworten würden. Ist er lebensgefährlich verletzt? Wird er ohne Beeinträchtigungen aus dem Koma erwachen? Wann wird das sein? Was ...“

„Halt, halt“, die Ärztin stoppte ihn mit wedelnder Hand. „Können Sie mir denn irgendwelche Informationen über ihn geben?“

„Leider nicht.“

„Also sind Sie kein Familienangehöriger?“, fragte sie lauernd.

Schenk zögerte mit der Antwort. „Nein, bin ich nicht. Aber ich ...“

„Dann darf ich Ihnen auch keinerlei Auskünfte geben.“

„Auch nicht, ob er es ohne bleibende Schäden überleben wird?“

„Nein.“

„Auch keine Tendenz zum Guten oder Schlechten?“ Er kam sich wie ein Bittsteller vor.

Die Ärztin schwenkte gefühlskalt den Kopf hin und her. „Wir haben hier ganz strikte Anweisungen.“

„Und Sie können auch keine kleine Ausnahme machen?“ Schenk sah hilfesuchend zu der Schwester, die ihr Gespräch interessiert verfolgte und bestimmt nicht so stur war. Ihre Miene verriet, dass sie ihm gerne helfen würde, aber hier schweigen musste.

„Nein“, betonte die Ärztin deutlich lauter.

„Aber besuchen darf ich ihn doch?“

„Sicher.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Flur. „Zimmer 32-14.“ Sofort widmete sie sich wieder ihrer Schreibarbeit, als hätte er sich aufgelöst.

Bodo Schenk ging bekümmert zum Zimmer, klopfte an und trat ein. Er begrüßte den Bettnachbarn und betrachtete dann den weißhaarigen Mann, dessen Augenlider immer noch geschlossen waren.

„Hat er inzwischen mal die Augen geöffnet?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Auch nicht gesprochen?“

„Nee.“

Nach einem flüchtigen Klopfen kam die Krankenschwester aus dem Stationszimmer herein, drückte die Anwesenheitstaste und stellte sich zu Schenk ans Bett des Weißhaarigen. „Ich bin Schwester Beate. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Das wäre sehr nett.“

„Herr Prora hat keine schwerwiegenden Verletzungen.“

„Da bin ich aber erleichtert.“ Er fühlte sich gleich besser. Anscheinend gab es hier doch freundliches Personal.

„Eigentlich wundern wir uns, dass er noch nicht bei vollem Bewusstsein ist und rechnen jederzeit damit.“ Beate warf einen Seitenblick auf den Kerl im zweiten Bett, der sie wieder gierig anglotzte, als wäre ihr Kittel durchsichtig. „Er hat ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, drei Rippen sind gebrochen, die Platzwunde an der Stirn wurde genäht. Außerdem hat er natürlich zahlreiche Hämatome und Hautabschürfungen.“

„Sonst ist nichts weiter gebrochen? Und auch keine inneren Verletzungen?“

„Nein. Sie sind so erstaunt darüber. Haben Sie den Unfall gesehen?“

„Ja. Beziehungsweise ...“ Plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. „Ich ...“

„Vielleicht sollten wir besser nach draußen gehen.“

„Ja. Gerne.“

Der andere Mann schaute sie argwöhnisch an.

Auf dem Flur stellten sie sich neben die Zimmertür. Beate hatte extra das Anwesenheitslicht angelassen und stand so, dass sie den Fahrstuhl und das Dienstzimmer im Blick hatte.

Schenk wischte sich die Tränen weg und sagte: „Ich habe den Mann angefahren.“ Als Haltepunkt starrte er auf das Namensschild der Krankenschwester. „Ich bin schuld an seinem Zustand. Es tut mir so leid. Ich mache mir die schwersten Vorwürfe.“

„Es war ein unvorhersehbarer Unfall.“

„Nein. Ich bin schuldig, weil ich nicht aufgepasst habe.“

„Aber sicherlich nur für den Bruchteil einer Sekunde. So etwas kommt andauernd vor. Nur meistens geht es gut aus.“

Er sah sie leidend an und presste die Lippen zusammen.

„Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen.“ Sie strich ihm zweimal über den Unterarm. „Herr Prora wacht bestimmt bald auf und kann in ein paar Tagen wieder nach Hause. Die Fäden wird ihm dann sein Hausarzt ziehen.“

Schenk genoss die Ermutigung dieser lieben Schwester. „Hat sich denn hier immer noch kein Angehöriger gemeldet?“

„Nein. Wir haben auch keine Krankenversicherungskarte von ihm, gar nichts. Wir kennen nur seinen Nachnamen und warten darauf, dass er uns seine Daten mitteilen kann.“ Beate ließ das Stationszimmer nicht aus den Augen. Sie würde mächtig Ärger kriegen, wenn die Ärztin von diesem Gespräch etwas mitbekäme. „Ich habe sogar im Telefonbuch gesucht. Aber in ganz Braunschweig gibt es erstaunlicherweise überhaupt niemanden mit diesem Namen.“

„Merkwürdig.“ Er sollte kein Telefon haben?

„Es scheint wohl ein sehr seltener Name zu sein.“

„Tja.“ Er runzelte die Stirn und rückte die Brille zurecht. „Also kann es durchaus sein, dass er nach dem Koma genauso ist wie vorher?“

„Er war nie im Koma. Es gibt verschiedene Stufen des Bewusstseins. Das kann man an der Pupillenreaktion, den Reflexen, den Vitalwerten und so weiter feststellen. Er befindet sich meistens in einem Tiefschlaf, es gab aber auch schon Anzeichen für intensive Traumphasen. Dieses Abtauchen ist eine Schutzfunktion des Gehirns, es schaltet auf Sparflamme, um sich wieder zu ordnen.“

Bodo Schenk hätte die Frau umarmen und küssen können. „Das beruhigt mich ja ungemein. Wirklich.“

„Aber jetzt muss ich auch wieder zurück an die Arbeit“, sie machte eine Kopfbewegung zum Stationszimmer.

„Ich hätte noch ein Anliegen.“ Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und überreichte sie. „Hier sind alle meine Telefonnummern drauf. Würden Sie mich bitte anrufen, wenn Herr Prora aufwacht? Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

Wie immer, wurde ihre Gutmütigkeit gleich wieder ausgenutzt. „Ich lege sie in die Krankenakte“, sie steckte die Karte unbesehen in ihre Brusttasche, „und mache einen Vermerk dazu.“

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“

Beate legte ihren Zeigefinger an die vollen Lippen. „Aber kein Wort über meine Informationen.“

„Natürlich nicht. Vielen Dank.“ Schenk gab dieser liebenswürdigen Schwester die Hand, verneigte sich und ging.

Kapitel 2

Da liegt Nina in ihrem Sarg. Der Tod hat ihre verbitterten Mundwinkel nicht entspannt. Ihr vorwurfsvoller Gesichtsausdruck ist geblieben, hat sich während ihrer Leidenszeit zu tief eingeätzt und ist nun versteinert. Sie hat auch allen Grund dafür gehabt. Diese Ungerechtigkeit eines frühen Todes hat sie absolut nicht verdient. Nur ihr Kopf im Sarg wird irgendwie angeleuchtet, ansonsten herrscht tiefe Dunkelheit.

Plötzlich wird dieser schwarze Raum heran gezoomt, oder er schwebt selber hinein in diese Finsternis. Dann taucht in unendlicher Entfernung ein heller Punkt auf, der durch zunehmende Geschwindigkeit rasch größer und weißer und zu einem senkrechten Strich wird. Immer schneller fliegt er darauf zu. Es sieht aus wie eine längliche Lichtgestalt. Ist das Gott? Oder Nina als Engel? Er rast darauf zu und wird kurz vor dem Zusammenprall abrupt abgebremst.

Es ist der weißhaarige Mann, der von innen beleuchtet scheint. Er steht da mit geschlossenen Augen, groß und schlank und weiß, aber ohne die Verletzung an der Schläfe. Mit einem Mal öffnet er die Augen und sie strahlen noch weißer als sein gesamter Körper. Dieser weiße Blick ist so furchtbar grell und blendend.

Bodo Schenk bekam sofort Kopfschmerzen und erwachte davon. Er richtete sich erschrocken etwas auf und sah sich um. Er lag im Bett, sein Herz raste, er hatte geschwitzt und einen trockenen Mund. Hinter seiner Stirn pochte es, im Sekundentakt stach etwas Brennendes tief in sein Gehirn. Was war das denn für ein verrückter Traum gewesen? Er rieb sich den Schädel, wischte die nasse Hand am Schlafanzug ab. Und dieses entsetzliche Kopfweh. Er hätte wohl gestern zum Schluss doch keinen Weißwein trinken sollen. Er stöhnte und wälzte sich nach rechts.

Der Anblick von Ninas leerer Bettseite war furchtbar deprimierend. Vielleicht hätte er das Bettzeug doch drauf lassen sollen. Immerhin war es doch eine überflüssige Arbeit. Aber so wirkte es wie ein zur Hälfte amputiertes Ehebett. Er drehte sich auf die andere Seite, dabei verstärkte sich das Stechen in seinem Kopf. Eigentlich war alles überflüssig, und er an erster Stelle.

Schenk sah zum Wecker. Er zeigte 7:18 Uhr an. Viel zu früh für einen Sonntagmorgen. An den Seiten des Rollos leuchteten Streifen von Sonnenlicht. Aber lange nicht so hell wie der weiße Blick des Mannes im Traum. Zumindest schien wieder schönes Wetter zu sein. Viel leicht sollte er später etwas spazieren gehen. Die frische Luft würde seinem dröhnenden Kopf gut bekommen. Wäre er bloß bei seinem gewohnten Rotwein geblieben. Ach, egal. Durch ein unsichtbares Gewicht wurden seine Lider so schwer und immer mehr heruntergedrückt. In dieser zusammengekrümmten Lage schmerzte der Kopf nur noch unterschwellig. Er würde einfach noch ein bisschen so liegen bleiben und dösen.

Als er wieder zum Wecker blickte, stand er auf 9:36 Uhr. Er hatte tatsächlich noch zwei Stunden geschlafen. Erstaunlich. Die Lichtränder am Fenster waren intensiver geworden. Er hob vorsichtig den Kopf an, er schien zwar voll schwerer Watte zu sein, aber das heiße Stechen blieb aus.

Nach einigen Minuten schlug er die Bettdecke zurück und stand langsam auf. Er gähnte und kratzte sich den Rücken. Als er zu Ninas Seite sah, presste die Einsamkeit seinen Magen und alles zusammen. Schenk musste wegschauen. Ein halbleeres Doppelbett war sehr schwer zu ertragen. Er würde es heute oder morgen wieder beziehen und so herrichten wie früher. Das war zwar dumm und ein Betrug. Aber es würde ihm helfen, würde nicht mehr so weh tun.

Als er das Rollo hochzog, wurde er fast so geblendet wie im Traum. Aber es war die Sonne, es war das Leben. Nichts mit Tod und Finsternis. Trotzdem tat ihm dieses grelle Licht nicht gut, es brannte durch seine Augen in seinen Kopf und weckte dort wieder den stechenden Schmerz.

Nach einer ausgiebigen Dusche mit bedächtigen Bewegungen, zwei Aspirin-Brausetabletten und der ersten Tasse Kaffee fühlte er sich etwas besser. Der Toast schmeckte wie Pappe, ohne Flüssigkeit konnte er gar nicht schlucken. Das Radio hatte er nicht eingeschaltet, um diese dumpfe, aber mittlerweile schmerzfreie Ruhe im Kopf nicht zu gefährden. Er schaute aus dem Fenster wie in eine andere Welt, wo die Sonne schien, alle Farben leuchteten und die Menschen irgendetwas vorhatten. Er musste unbedingt nach draußen, Sauerstoff in seinen schlappen Körper pumpen.

Nach diesem Frühstück ohne Appetit und Geschmack räumte er im Wohnzimmer etwas auf. Das Bett würde er später machen. Nur nicht viel bücken. Fast hätte er den Rest Weißwein in die Spüle gekippt, weil er ihn für den Verursacher seiner Kopfschmerzen hielt. Andererseits sollte man auch nichts verschwenden. Ein einzelnes Gläschen würde schon nicht schaden. Also stellte er ihn in den Kühlschrank, der auch einen traurigen Anblick bot. Als er die Rotweinflasche noch in die überfüllte Leergutkiste zwängte, nahm er sich vor, morgen unbedingt beim Altglascontainer vorbeizufahren. Diese säuerlichen Ausdünstungen aus den vielen leeren Weinflaschen regten Ekel in ihm, der sich gleich auf die Magensäure auswirkte. Jetzt bloß nicht noch brechen, dachte er angewidert und schloss schnell die Tür zum Abstellraum.

Als er in der Küche schlückchenweise Wasser trank, klingelte das Telefon. Bestimmt verwählt. Wer sollte ihn schon anrufen?

„Ja? Hier Schenk.“

„Hallo. Ich bin Schwester Beate vom Klinikum Nord. Sie haben mir gestern Ihre Visitenkarte gegeben.“

„Ja. Müssen Sie schon wieder arbeiten?“ Er ging mit dem Telefon ins Wohnzimmer. „Und das am Sonntag?“

„Ich habe jedes zweite Wochenende Dienst. Das ist nun mal so in dem Beruf. Die Patienten müssen ja jederzeit versorgt werden. Aber dafür habe ich morgen und übermorgen frei.“

„Das haben Sie sich dann aber auch verdient.“ Schenk setzte sich wie ein alter Mann in den Sessel.

„Ich rufe an, weil Herr Prora erwacht ist.“

„Wirklich?“ Er reckte den Oberkörper vor, was die träge Masse in seinem Kopf in ein unangenehmes Schaukeln versetzte.

„Ja. Er ist so gegen 9 Uhr aufgewacht.“

„Hat er gesprochen?“

„Ja. Aber sehr wenig.“

„Und wie heißt er mit Vornamen?“

„Er hat unsere Fragen nur mit Ja oder Nein beantwortet.“

„Also keine weiteren Auskünfte zu seiner Person?“

„Bis jetzt nicht. Das kommt noch. Er muss sich erst mal stabilisieren. Aber er hat sogar etwas getrunken und gegessen.“

„Das hört sich ja gut an.“

„Ich wollte Sie nur gleich benachrichtigen, weil Sie es so gewünscht hatten.“

„Das ist sehr nett von Ihnen. Ich komme dann am Nachmittag vorbei. Was kann ich für Herrn Prora denn mitbringen?“

„Vielleicht so’n Multivitaminsaft.“

„Und etwas Süßes? Kekse oder so?“

„Lieber nicht. Wir müssen noch abwarten, was und wie viel er zu sich nehmen darf. Eine Flasche Saft reicht vollauf.“

„Gut.“

„Dann mach ich jetzt auch Schluss. Tschüss, Herr Schenk.“

„Ja. Auf Wiederhören, Schwester Beate. Und vielen Dank für Ihren Anruf.“

„Gern geschehen.“

Er starrte noch eine Weile auf das Telefon in seiner Hand und dachte an den weißen, blendenden Blick des Mannes in seinem Traum. Ob sein Unterbewusstsein das Erwachen dieses Weißhaarigen vorhergesehen hatte? Waren das hellseherische Fähigkeiten? Konnte er womöglich in die Zukunft träumen? – Blödsinn. Er rieb sich die Stirn. Er musste raus an die frische Luft.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang bei herrlichstem Wetter hatte er echten Hunger bekommen und in einem türkischen Imbiss eine Riesenportion Döner mit allem verspeist und Cola dazu getrunken. Nachdem er sich zu Hause auf die Couch gelegt und in der Zeitung gelesen hatte, überkam ihn eine wohlige Müdigkeit, sodass er sich ein Nickerchen genehmigte.

Als Schenk aufwachte und sich reckte, schien immer noch die Sonne, nur jetzt auf das gegenüberliegende Haus, wo die Fenster blinkten. Er musste zweimal auf seine Armbanduhr gucken, bis er kapierte, dass es schon 16:37 Uhr war und er ja noch ins Klinikum wollte. Er schwang sich von der Couch und fühlte sich prima.

Da er nicht wusste, ob der Krankenhaus-Kiosk noch geöffnet hatte, fuhr er beim Bahnhof vorbei und kaufte dort eine Flasche Vitaminsaft und nach einigem Abwägen den Stern; der war ein gutes Mittelmaß, nicht zu viel Politik, aber auch kein Seifenblatt.

Als er schließlich vor dem Stationszimmer stand und die rotgesichtige Pflegerin vom Freitag erkannte, wurde ihm erst richtig klar, dass die nette Schwester Beate natürlich nicht mehr im Dienst war, was er sehr bedauerte.

Eigentlich wollte er schon ‚Guten Abend’ sagen, entschied sich aber noch für: „Guten Tag.“ Schenk hielt die Flasche hoch. „Ich gehe Herrn Prora besuchen.“

„Der ist nicht da.“

„So? Ist er zu einer Untersuchung?“

„Der ist weg.“

„Wurde er verlegt?“

„Nein. Der ist abgehauen.“

„Was?“ Er musste sich mit der freien Hand am Türrahmen festhalten. „Wie bitte?“

„Der ist unbemerkt verschwunden, dieser Herr Prora. Und wir bleiben mal wieder auf den Kosten sitzen.“

„Aber er ist doch heute Morgen erst wieder zu Bewusstsein gekommen.“

„Zum Weglaufen war er anscheinend fit genug“, sagte die Schwester abfällig. „Er hat die Infusion zugedreht und den Zugang gleich mit rausgezogen, er hat alle Überwachungsanschlüsse entfernt, den Katheter abgestöpselt, sich angezogen und ist weg. Und wenn er den Katheter nicht zugeknotet hat, wird er bald ’ne nasse Hose gehabt haben“, sie grinste schadenfroh, „denn hier hat er ihn nicht durchgeschnitten.“

„Das gibt’s doch gar nicht.“

„Öfter, als Sie glauben. Typischer Fall von Sozialbetrug.“

„Aber konnte er sich denn schon so bewegen und sicher gehen?“

„Offensichtlich ja.“ Sie nickte mit schiefem Mund. „Es muss zwischen Mittagessen und Kaffee passiert sein. Zwischen den Schichten. Sein Bettnachbar hat geschlafen und überhaupt nichts von seiner Flucht mitgekriegt.“

„Das ist ja wirklich unglaublich.“

„Er wird keine Krankenversicherung haben“, sagte sie mit einem Achselzucken. „Und wir haben keine Adresse, nur einen unauffindbaren Nachnamen.“

„Kann ich noch mal kurz in das Zimmer gehen und mit dem anderen Mann sprechen?“

„Sicher. Aber der weiß auch nichts.“

„Gut. Danke. Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehen.“

Schenk ging wie betäubt über den Flur, kam sich blöd vor mit seinen überflüssigen Mitbringseln. Er klopfte an, betrat das Zimmer und sagte: „Guten Abend.“

„Hallo.“

Das Bett des Weißhaarigen war bereits gegen eines ausgetauscht worden, das mit Klarsichtfolie abgedeckt war.

„Das ist ja ein Ding mit diesem Herrn Prora“, er deutete zu dem frischen Bett, das auf den nächsten Kranken wartete.

„Wenn der Name mal nicht auch falsch ist.“

„Wieso denn das?“

„Er hat mich gefragt, warum die ihn ausgerechnet so nennen.“

„Wie ausgerechnet?“

„Keine Ahnung.“

„Merkwürdig“, wunderte sich Schenk. „Sein Name war doch das einzige Wort gewesen, das er während seiner Bewusstlosigkeit gesagt hatte.“

„Der ganze Typ war merkwürdig.“

„Und Sie haben nichts bemerkt?“

„Nee. Ich hab gepennt.“

„Also hat er sich mit Ihnen unterhalten?“

„Das wär zu viel gesagt. Das war echt ein komischer Kauz“, der Mann zog die Augenbrauen hoch. „Zum Personal hat er nur Ja oder Nein gesagt. Aber mich hat er richtig ausgefragt, was das für ein Krankenhaus sei, was für ein Tag heute wäre, wie spät es sei und alles so was.“

Ob er sich auch nach dem Autofahrer erkundigte, der ihn angefahren hatte? „Aber er konnte ganz normal reden?“

„Klar. Doch auf meine Fragen hat er nie geantwortet.“

„Wahrscheinlich war er ja schwerhörig.“

„Glaub ich nicht.“ Er betrachtete die Saftflasche und die zusammengerollte Zeitschrift.

„Hat er zufällig erwähnt, wo er wohnt?“

„Nee.“

„Hat er von dem Unfall erzählt?“

„Auch nicht.“

„Gut. Dann will ich Sie auch nicht länger belästigen. Sie brauchen ja Ihre Ruhe.“

„Ach, davon hab ich hier schon genug“, der Mann verdrehte die Augen. „Das ist echt langweilig, wenn man hier so liegt. Das einzig Interessante ist der Blick auf die Unterwäsche der Schwestern, die sich unter ihren weißen Kitteln abzeichnet.“ Er grinste lüstern.

„Zur Abwechslung können Sie ja diese Zeitschrift durchlesen“, Schenk überreichte ihm die Rolle und die Flasche. „Bitte schön.“

„Für mich?“

„Na ja. Sonst muss ich es ja wieder mit zurückschleppen.“

„Stimmt. Vielen Dank.“ Er stellte den Saft auf seinen Nachttisch, streifte das Gummi von der Zeitschrift und war sichtlich enttäuscht. Er hatte wohl auf etwas über Fußball, Autos oder Sex gehofft.

„So. Dann gehe ich mal wieder. Ich wünsche Ihnen gute und baldige Besserung. Auf Wiedersehen.“

„Ja. Tschüss.“ Er blätterte lustlos im Stern herum.

Draußen auf dem Flur überholten ihn zwei junge Schwestern. Automatisch sah Schenk auf die sichtbaren BH-Rückenteile und verabscheute sich selber, weil er auch nicht besser war als der lüsterne Spanner im Krankenbett. Als ihm dann auch noch gleich der aufreizende Grund für seinen Unfall einfiel, fühlte er sich wie ein mieses, altes Schwein. Er musste schnell nach Hause, um diesen Ekel mit Rotwein herunter zu spülen.

Bodo Schenk saß in seiner 7,5 Quadratmeter großen Zelle, die sie ihm damals zynisch als eigenes Büro angepriesen hatten, als er nach Ninas Tod wieder ins Amt kam, nachdem er über sechs Monate krankgeschrieben war.

Andererseits konnte er hier machen, was er wollte. Oder auch gar nichts machen. Ein Vorgesetzter ließ sich in diesem Loch nie blicken.

Die vielen Tabletten nahm er schon lange nicht mehr. Rotwein dämpfte sein Gedankenkarussell besser und ließ ihn leichter einschlafen. Um bei seinem Hausarzt kein Misstrauen zu erregen, hatte er sich regelmäßig die Antidepressiva und Tranquilizer aufschreiben lassen, wenn die Packungen aufgebraucht wären. So wurde er nachweislich medikamentös therapiert und konnte sich jederzeit auf eine Verschlechterung berufen und sich problemlos krank melden.

Anfangs hatte er die ganzen Tabletten aufgehoben und in einem Schrank gestapelt. Als er mal wieder in einem dunklen Tief hing und er lange vor dieser akkurat aufgebauten Wand aus unzähligen Schachteln stand, keimte der Drang in ihm auf, all diese Tabletten auf einmal zu nehmen und endlich Schluss zu machen. Er spürte eine verführerische Sehnsucht nach einem Ende, nach einem süßen Schlaf ohne Wiederkehr, er wollte einfach sachte fallen und loslassen und weggleiten. Mit zwei Flaschen Wein überlebte er diesen Abend und diese Nacht und stopfte am nächsten Tag alle Medikamente in einen schwarzen Müllsack und warf ihn in den Container. Inzwischen löste er die Rezepte gar nicht mehr ein, sondern zerriss sie zu Hause.

Am Vormittag hatte er beim Einwohnermeldeamt angerufen, die Nummer seines Diensttelefons genannt und um Amtshilfe beim Auffinden eines gewissen Herrn Prora gebeten. Nach einer Viertelstunde rief die sympathische Frauenstimme zurück und erklärte verwundert, dass es zwar schwer vorstellbar sei, aber in der gesamten Stadt sei niemand mit diesem Namen gemeldet. Schenk erwiderte, das habe er beinahe erwartet, es handele sich nämlich um einen Fall von Missbrauch eines Schwerbehindertenausweises. Er musste die empörte Frau regelrecht beruhigen, weil sie sich über die vielen Sozialbetrüger in Deutschland aufregte, für die nicht einmal Behinderungen tabu seien; sie schimpfte besonders über jüngere Hartz-IV-Empfänger und Ausländer aller südlichen und östlichen Nationalitäten. Nachdem er sie beschwichtigt hatte, bedankte er sich vielmals für ihre Hilfe und beendete behutsam das Gespräch.

Auch wenn Herr Prora scheinbar etwas zu verbergen hatte und offizielle Stellen mied, weil er womöglich keine Krankenversicherung hatte oder zu Unrecht irgendwelche Sozialleistungen bezog, war er trotzdem ein vollkommen unschuldiges Unfallopfer. Sein Opfer. Ohne seine unnötige, leichtfertige Unachtsamkeit wäre er ja gar nicht erst in diese heikle Lage gekommen und hätte jetzt keine gebrochenen Rippen, keine frisch genähte Kopfwunde und Prellungen am ganzen Körper.

Nein, wenn er in staatlich ordnungsgemäßen Verhältnissen leben würde und überall korrekt registriert wäre, dann hätte er nach dem Erwachen auf seine Kosten ein Einzelzimmer mit Chefarztbehandlung beansprucht; und sein Rechtsanwalt hätte bereits die Schadensersatzklage gegen ihn eingereicht, mit einer für ihn unbezahlbaren Schmerzensgeldforderung.

Am Dienstagabend saß Schenk vor seinem Computer und suchte im Internet. Er erwartete nicht, dort etwas über Herrn Prora zu entdecken. Doch er wollte nichts unversucht lassen, sein Opfer zu finden, um sich bei ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu entschuldigen. Außerdem kam nichts Gescheites im Fernsehen, und er hatte Langeweile. Ab und zu warf er einen schmachtenden Blick auf das gefüllte Weinglas, das in einigen Metern Entfernung auf dem Wohnzimmertisch neben der Flasche stand und so lockte. Rot wie Blut. Gut, dass er das Glas nicht hierher gestellt hatte, denn dann wäre es garantiert schon mindestens einmal leer gewesen. So zögerte er den Genuss heraus, quälte sich ein bisschen selber und freute sich auf den Wein, der sein Blut erwärmen würde. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Er fand etwas unter dem Stichwort ‚Prora’. Und alle anderen Einträge bezogen sich darauf. Aber es hatte absolut nichts mit dem weißhaarigen Mann zu tun, den er am Donnerstag angefahren hatte.

Bei Wikipedia las er den ersten Absatz: ‚Das Seebad Prora war ein zwischen 1935 und 1939 geplantes und zum Teil auch errichtetes Seebad auf Rügen. Nach seiner Fertigstellung sollten hier durch die Organisation Kraft durch Freude (KdF) 20.000 Menschen gleichzeitig Urlaub machen können. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Bauarbeiten jedoch eingestellt, sodass heute der Koloss von Prora den Kern des Komplexes bildet. Dies sind acht auf einer Länge von etwa 4,5 Kilometern entlang der Küste aneinandergereihte baugleiche Häuserblocks, die ursprünglich Gästehäuser werden sollten. Da die zukünftige Nutzung weiterhin ungeklärt ist, verfällt der denkmalgeschützte Komplex zusehends.‘

Schenk staunte über die Abbildungen des gigantischen Bauwerks, die Fensterfront schien bis zum Horizont zu reichen; es wirkte wie eine Stadt, die nur aus einem einzigen Gebäude bestand. Dem Plan nach lag die Anlage direkt am Ostseestrand, dazwischen gab es als Trennungslinie nur einen schmalen Grünstreifen.

Er sah sich die Fotos von innen an und überlegte, was wohl passiert wäre, wenn 20.000 Leute gleichzeitig aufs Klo gegangen wären. Er schmunzelte sogar über seinen humorvollen Einfall.

Bei einem anderen Absatz blieb er hängen und las ihn genau durch: ‚Die Planungen sahen vor, für die Unterbringung der Urlauber acht jeweils 550 Meter lange, sechsgeschossige, völlig gleichartige Häuserblocks mit insgesamt 10.000 Gästezimmern zu errichten. Durch diese langgestreckte, über etwa fünf Kilometer entlang der Küstenlinie reichende Bauweise sollte erreicht werden, dass alle Zimmer Meerblick hatten, während die Flure zur Landseite hin gelegen waren. Die geplante Ausstattung der nur 2,5 mal 5 Meter großen Zimmer, von denen jeweils zwei mittels einer Tür verbunden werden konnten, war an heutigen Maßstäben gemessen recht karg: zwei Betten, eine Sitzecke, ein Schrank und ein Handwaschbecken. Weitere sanitäre Einrichtungen fanden sich jeweils in den landwärts gerichteten Treppenhäusern der Blocks. Alle Gästezimmer sollten über Lautsprecher verfügen.‘

Schenk überflog den weiteren Text noch etwas und fand das alles sehr interessant. Aber mittlerweile verspürte er einen quälenden Durst, seine Augen wurden müde, und das Glas Rotwein zog ihn an wie ein Magnet.

Als Schwester Beate nach zwei freien Tagen bei der morgendlichen Dienstübergabe erfuhr, dass Herr Prora gleich am Sonntag verschwunden war, konnte sie es nicht fassen und fragte im Kollegenkreis nach, doch keiner zeigte für seinen Fall irgendeine Anteilnahme.

Während des Herrichtens der Morgenmedizin grübelte sie nur über diesen weißhaarigen Mann nach, der ihrem verstorbenen Großvater ähnelte. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie sich immer noch nicht die Laborergebnisse von Herrn Prora angeschaut hatte.

Gleich nach dem Verteilen der Medikamente und des Frühstücks an die Patienten durchsuchte sie die eingehängten Krankenakten. Seine war noch da, steckte ganz hinten und verkehrt herum. Beate zog sie heraus und sah sie durch, doch sie fand keinen einzigen Laborbericht, sie blätterte vor und zurück, auch die Visitenkarte von diesem Schenk war weg. Das war doch alles sehr sonderbar. Sie las den Eintrag des Spätdienstes vom Sonntag über sein erst um 15 Uhr bemerktes Fortstehlen. Vor diesem Bericht hatte sie sein Aufwachen um 8:52 Uhr dokumentiert, mit allen Vitalzeichen und Reaktionen.

Warum war der alte Mann trotz seiner Verletzungen bloß weggegangen? Angstzustände durch eine Amnesie? Er hatte ja nur mit Ja oder Nein geantwortet. Doch dafür gab es sonst keinerlei Anzeichen. Aber warum hatte er sich heimlich verdrückt? Und wo waren die Laborwerte geblieben? Und diese Visitenkarte? Mit einem Kopfschütteln hängte sie die Akte wieder an ihren Platz und setzte sich nachdenklich hin, die sie umgebende Geräuschkulisse drang nicht zu ihr durch.

Als sie sich dann instinktiv den herumliegenden Kugelschreiber in die Brusttasche steckte, fiel ihr ein, dass sie sich Schenks Telefonnummern auf einen Zettel notiert und auch dort aufbewahrt hatte, weil sie ihn außerhalb des Dienstzimmers anrufen wollte, damit die Ärztin nicht meckerte. Dieser Zettel musste noch oben in ihrem Spind liegen, weil sie am Sonntag beim schmutzigen Kittel alle Taschen entleert und heute Morgen nur die wichtigsten Dinge in den sauberen gepackt hatte.

Sie strich sich über die Stirn, pustete die Luft hörbar aus und angelte sich das Telefon, um im Labor mal nachzufragen.

„Imker“, meldete sich eine autoritäre Stimme.

Verdammt, jetzt hatte sie auch noch den Chef persönlich am Apparat. „Guten Morgen. Hier ist Schwester Beate von Station 32. Ich hab mal eine Frage zu unserem verschwundenen Patienten Herrn Prora.“

„Sie sollten besser auf Ihre Kranken aufpassen.“

Sie ignorierte diese Stichelei. „Bei diesem Herrn Prora wurde von Ihren Mitarbeitern ja mehrmals Blut abgenommen.“

„So?“

„Ja. Es hieß, Sie wären sehr an seinem ungewöhnlichen Blut interessiert.“

„Wer hat das gesagt?“, fragte er drohend.

„Eine junge Assistentin von Ihnen.“

„Dummes Gerede.“

„Unser Stationsarzt Müller hatte das auch schon erwähnt gehabt.“

„Ach, so. Ja, ich erinnere mich. Das Blutbild war für einen Mann seines wahrscheinlichen Alters wirklich außergewöhnlich.“

„Jetzt sind aber keinerlei Laboranalysen mehr in seiner Krankenakte.“

„So?“ Imker räusperte sich. „Wohl falsch abgeheftet, wie?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Auf Ihrer Station scheint ja sowieso einiges nicht so nach Vorschrift zu laufen, wenn die Patienten kurz nach dem Erwachen einfach so abhauen können.“

Beate zwang sich, nicht darauf einzugehen. „Jedenfalls befindet sich kein einziges Laborblatt mehr in der Akte.“

„Seltsam. Aber Ihr Dienstzimmer ist ja zum Glück nicht mein Zuständigkeitsbereich.“

„Und die Visitenkarte eines Besuchers ist auch weg.“

„Na und?“, entgegnete er gereizt. „Wollen Sie mich etwa für Ihre Schlamperei da oben verantwortlich machen?“

„Natürlich nicht, Dr. Imker. Aber ...“

„Sonst noch was? Ich habe viel zu tun.“

„Die Originalberichte über Herrn Prora sind doch auf Ihrem PC gespeichert. Wäre es möglich ...“

Er unterbrach sie ankläffend: „Hören Sie mal zu! Nur weil auf Ihrer Station unsere Blutanalysen verschludert wurden, werde ich hier nicht im Computer herum suchen. Ist das klar?“

„Ja, schon. Aber ...“

„Nichts aber! Basta!“ Er hatte aufgelegt.

Idiot, dachte Beate und wurde von einer Kollegin gerufen.

Bodo Schenk hockte in seinem winzigen Büro und dachte mal wieder an diesen unbekannten Herrn Prora. Der musste schon sehr schwerwiegende Gründe gehabt haben, dass er sich alle Schläuche und Drähte entfernt und in seinem Zustand das sichere Krankenhaus verlassen hatte. Er musste große Angst verspürt haben, entdeckt zu werden, für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ob er eine Straftat begangen hatte und polizeilich gesucht wurde? In seinem Alter konnte man doch eigentlich nur noch durch Betrügereien mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Auf jeden Fall wollte der Weißhaarige vermeiden, seine Personalien und seine Adresse nennen zu müssen. Er wollte unbedingt verheimlichen, wo er wohnte, nichts von sich preisgeben. Aber warum? Was hatte er verbrochen oder was befürchtete er? Oder ob er nur verwirrt war durch die Kopfverletzung?

Schenk betrachtete abwesend seinen ziemlich leeren Schreibtisch, sein Blick blieb an dem Posteingangskorb hängen, in dem nur zwei jämmerliche Briefe lagen. Er nahm sie heraus, drehte sie hin und her, starrte sie an und kaute dabei auf seiner Oberlippe, aber er sah durch sie hindurch in das intensive Weiß dieses Traumes.