Sein Blut - Hermann Lühr - E-Book

Sein Blut E-Book

Hermann Lühr

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Beschreibung

Sara Buhl leidet unter Angstzuständen und merkwürdigen Albträumen und ist deshalb bei dem Psychiater Dr. Kern in Behandlung. Er findet heraus, dass sie sich in ihren Träumen 2.000 Jahre zurück befindet und erfährt Unglaubliches. Doch auch ein zwielichtiger Russe ist auf Saras außergewöhnliche Fähigkeiten aufmerksam geworden und verfolgt finstere Pläne.

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Seitenzahl: 557

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch:

Sara Buhl leidet unter Angstzuständen und merkwürdigen Albträumen und ist deshalb bei dem Psychiater Dr. Kern in Behandlung. Er findet heraus, dass sie sich in ihren Träumen 2.000 Jahre zurück befindet und erfährt Unglaubliches.

Doch auch ein zwielichtiger Russe ist auf Saras außergewöhnliche Fähigkeiten aufmerksam geworden und verfolgt finstere Pläne.

Der Autor:

Hermann Lühr, Jahrgang 1953, verheiratet, zwei erwachsene Töchter.

Wohnt in Schöningen, Niedersachsen.

Er schreibt Romane um Ungewöhnliches, in einer spannenden Mischung aus Realität und Fiktion.

Weitere Informationen finden Sie am Ende des Buches.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Hannover

Sara rieb sich die Augen. Für einen Moment wurden die Buchstaben und Zahlen auf dem Computerbildschirm wieder ganz deutlich. Doch dann verschwammen sie erneut, wurden zum hellen Schleier, aus dem jetzt wieder diese andere, fremdartige Welt auftauchte.

Wie im letzten Traum ist ihr Blickwinkel von unten, als würde sie auf dem staubigen Erdboden liegen oder ein kleines Kind sein. Sie sieht viele haarige Unterschenkel in antiken Sandalen, dahinter drei kantige Zaunpfosten.

Wieder hört sie absolut nichts. Es ist wie ein Stummfilm. Und viel wärmer als hier.

Stephaton ist auch da. Er blickt sich um, nickt jemandem zu und kommt näher. Dann bückt er sich und verbirgt durch seinen Rücken, was er dort macht.

„Frau Buhl!“

Sara erschrak durch die laute Stimme.

„Träumen Sie hier mit offenen Augen?“, fragte ihr Chef.

Die seltsamen Bilder waren verschwunden, der Monitor wieder normal. „Nein, Herr Kaufmann“, antwortete sie eingeschüchtert.

„Sah aber verdammt danach aus. Sie werden hier nämlich nur fürs Arbeiten bezahlt, nicht fürs Rumdösen.“

„Natürlich. Das weiß ich doch.“ Sara schluckte mehrmals und hoffte, ihre Tränen zurückhalten zu können.

„Dann arbeiten Sie weiter.“ Kaufmann warf ihr einen strafenden Blick zu und zog ab.

„Puh!“, stöhnte Sara. Das war knapp gewesen. Sie wischte sich über die Stirn und dann zwei Tränen weg.

Am helllichten Tag war ihr das noch nie passiert. Nur in fast jeder Nacht.

Es handelte sich eindeutig um eine Verschlechterung, dass diese Traumbilder nun auch schon bei ihrer Arbeit erschienen. Das musste sie am Dienstag unbedingt Dr. Kern berichten.

Plötzlich bekam sie furchtbare Angst, richtig geisteskrank zu werden. Sie versuchte, bewusst langsamer und tiefer zu atmen, sich zu beruhigen. Was war bloß mit ihr los?

Am Samstagabend traf sich Sara mit Heike in einer angesagten Cocktailbar, später wollten sie noch in die Disco. Auf Saras Wunsch saßen sie natürlich in einer Ecke, wo es kein Gedränge gab.

Heike war seit drei Wochen mal wieder solo, was sie einerseits ganz gut fand, andererseits sackte sie nach einigen Gläsern rasch in einen verklärten Verlustschmerz. Der Alkohol vernebelte nach kurzer Zeit die schlechten Eigenschaften ihres Ex, so dass nur noch die guten Erinnerungen übrig blieben, die sie dann sehnsüchtig bis zum Überdruss wiederholte. Je mehr sie trank, umso melodramatischer und peinlicher wurde das.

„Jetzt fang nicht wieder mit diesem Mist an“, drohte Sara. Sie konnte diesen schmalzigen Schwachsinn einfach nicht mehr ertragen.

„Aber du bist doch meine Freundin“, klagte Heike. „Mit wem soll ich denn sonst darüber reden?“

„Aber nicht jedes Mal, wenn wir weggehen. Du musst diesen Typen vergessen und dich neu orientieren. Du findest an jeder Ecke einen besseren als den.“

„Meinst´e?“ Heike sah sie leidend an und schnäuzte sich kräftig. Sie nahm ihre Handtasche und sagte: „Ich geh mal raus, eine rauchen.“

„Tu das.“ Sara wurde bewusst, dass sie ihrer Freundin kluge Ratschläge gab, aber wenn Markus jetzt zu ihr zurückkäme, würde sie ihn mit offenen Armen empfangen und alles wäre vergessen.

Sie sah sich im Lokal um, die männlichen Gäste waren eindeutig in der Minderheit und vorwiegend in fester weiblicher Hand. Die meisten Frauen saßen zu zweit zusammen, aber auch zu dritt oder noch mehr. Hier einen Mann kennenzulernen, war fast aussichtslos. Und für die Disco hatte Heike jetzt schon genug getrunken.

Es brachte nichts und machte eigentlich auch keinen Spaß mehr, mit ihr wegzugehen. Aber alleine loszuziehen war noch viel blöder. Außerdem traute sie sich das auch nicht richtig.

Wenn sie ehrlich war, bedauerte sie es hauptsächlich, weil Heike nur ihrem Ex nachtrauerte und deshalb keine neuen Kontakte mehr herstellte, so wie früher. Und davon hatte sie immer profitiert.

Sara saugte an ihrem Strohhalm und dachte an gestern, an diesen befremdlichen Tagtraum bei der Arbeit, an diesen Anschnauzer von Kaufmann.

Heike kam zurück, mit starker Ausdünstung nach Zigarettenqualm. Ihr Redeschwall lenkte sie sofort von ihren Gedanken ab. Zwischen eifrigem Erzählen leerte sie schlürfend ihr Glas und bestellte eine neue Runde.

Sara ahnte schon, wie das wieder enden würde.

Ihr Blickwinkel ist immer noch von unten, diesmal aber von viel weiter links. So kann sie sehen, was Stephaton dort macht. Er bückt sich zu dem niedrigen Bottich mit Posca und tut so, als würde er den Schwamm darin eintauchen. Durch seinen Körper verdeckt er die Sicht auf sein Handeln. So sieht kein anderer, dass er die Flüssigkeit eines handtellergroßen Beutels über den Schwamm träufelt und ihn damit tränkt.

Die Sonne hat schon den Boden erwärmt. Jetzt kommen unzählige Füße vorbei gerannt. Aber viel größere als damals. Es sind männliche und weibliche, doch nicht in diesen bis zum Schienbein geschnürten Sandalen, sondern in ganz einfachen. Plötzlich fallen drei Lanzen vor ihr auf die Erde und wirbeln den Staub auf. Alles völlig geräuschlos.

Sara zuckte zusammen und riss die Augen auf. Es war dunkel. Nur der beleuchtete Wecker zeigte 02:48 an. Natürlich. Wieder geträumt.

Genau deshalb hatte Markus sie verlassen. Weil sie in fast jeder Nacht aus einem Albtraum aufschreckte und ihn damit weckte. Wo er doch so schlecht wieder einschlafen konnte und um fünf Uhr aufstehen musste.

Er hatte natürlich nicht nur wegen ihrer Träume Schluss gemacht, sondern weil er ihre Veränderung bemerkte und ihre Zustände fürchtete, weil sie in psychiatrischer Behandlung war und Tabletten schlucken musste, weil er einfach nicht mit einer so komisch kranken Freundin zusammen bleiben wollte.

Weshalb auch? Warum sollte er ihre Probleme und Auffälligkeiten ertragen, wenn er jederzeit eine neue, normale Beziehung eingehen könnte. So toll war sie eben nicht, dass Markus das alles ihr zuliebe ausgehalten hätte.

Sara seufzte und legte sich auf die andere Seite. Hoffentlich konnte sie schnell wieder einschlafen. Eine Tablette durfte sie jetzt auf keinen Fall mehr nehmen, denn schließlich musste sie in drei Stunden aufstehen und einen klaren Kopf haben.

Bei ihrem Job durfte sie sich keinen Ausrutscher mehr erlauben. Sie war so froh, dass sie wieder arbeiten konnte, nachdem sie über ein Vierteljahr krankgeschrieben war. In dieser öden Zeit war sie aus dem Grübeln überhaupt nicht mehr herausgekommen, sondern immer tiefer in ihrem eigenen Gedankensumpf versunken.

Aber jetzt musste sie schlafen.

Dieses Mal sollte sich Sara nicht hinlegen, sondern saß Dr. Kern direkt gegenüber.

„Darf ich unser Gespräch wieder aufnehmen?“

Sara nickte nur.

Er schlug seinen Notizblock auf, schaltete das kleine Gerät ein und fragte: „Wie ist es Ihnen seit unserer letzten Sitzung ergangen? Hatten Sie wieder Angstzustände oder gar Panikattacken?“

„Nein. Ich vermeide allerdings auch Situationen, die so etwas bei mir auslösen.“

„Das ist gut, Frau Buhl. Hatten Sie wieder diese Träume?“

„Ja. Am Freitag hatte ich zum ersten Mal am Tag solch einen merkwürdigen Traum. Und das ausgerechnet bei der Arbeit.“

„Wie kam es dazu? Hatten Sie die Augen für einen Moment geschlossen?“

„Nein. Ich war mitten beim Eingeben in den Computer, als der Bildschirm plötzlich irgendwie verschwamm und diese seltsamen Bilder auftauchten.“

„Wie Fotos oder bewegte Bilder?“

„Filmaufnahmen. Wie in einem Stummfilm.“

Dr. Kern ließ sie nicht aus den Augen, registrierte jede Regung bei ihr. „War absolut nichts zu hören?“

„Nein.“

„Traten dabei Kopfschmerzen auf?“

„Nein.“

„Oder andere Beschwerden?“ Er fixierte sie regelrecht. „Zittern, Seh- oder Hörstörungen vielleicht?“

„Nein. Nichts.“

„Haben Sie deshalb bei der Arbeit Ärger bekommen?“

„Naja. Mein Chef hat mich dabei erwischt und etwas geschimpft. Der dachte, ich träume bei der Arbeit.“ Was ja auch genau zutraf, fiel ihr ein.

„Ich kann Sie auch krankschreiben, wenn Sie sich zurzeit bei ihrer Arbeit nicht voll konzentrieren können.“

„Nein, nein.“ Sara schüttelte heftig den Kopf.

„Sie sind doch bei dieser großen Versicherung mit den drei Buchstaben“, er lächelte verschwörerisch, „da würde das nicht so auffallen und auch keine ernsten Konsequenzen haben.“

„Ich will auf jeden Fall weiter arbeiten.“ Zwei Gespräche im Personalbüro hatte sie schon hinter sich und die Warnungen verstanden.

„Gut. Akzeptiert.“ Dr. Kern schob seine Brille etwas höher. „Was haben Sie denn bei diesem Tagtraum gesehen?“

„Mein Blickwinkel war wieder von ganz unten, als ob ich liegen würde oder ein Kind wäre.“

„Fühlten Sie sich dabei wie ein Kind?“

„Nein. Überhaupt nicht.“

Er kritzelte etwas auf seinen Block. „Bei Ihrem letzten besprochenen Traum sahen Sie aus dieser Perspektive ja eigentlich nur eine undeutliche Gestalt vor einer noch undeutlicheren Menschenmenge. Auch ohne Ton, nicht wahr?“

Sara nickte. „Und diesen Traum hatte ich öfter.“

„War der am Freitag denn jetzt deutlicher? Konnten Sie etwas erkennen?“

„Einwandfrei. Ich sah viele Männerbeine in solchen historischen Sandalen. Und Stephaton tat dort etwas Verborgenes.“

„Meinen Sie nicht Stefan?“

„Nein. Stephaton.“

„Woher haben Sie diesen Namen?“

„Keine Ahnung.“ Da war doch noch etwas anderes gewesen, überlegte sie.

„Frau Buhl?“

„Ja?“

„Sie wirkten gerade so abwesend.“

„Alles in Ordnung.“

„Kennen Sie diesen Mann? Diesen Ste-pha-ton?“ Er hatte jede Silbe extra betont.

„Weiß ich nicht genau. Irgendwie schon.“

„Gut.“ Dr. Kern notierte sich den Namen.

„Dieser Stephaton tauchte bei meinem nächsten Traum gleich wieder auf.“

„Auch wieder am Tage?“

„Nein. In der Nacht auf Montag.“

„Einen Moment mal.“ Mit zwei Fingern massierte er seine Geheimratsecken, mit rechts schrieb er etwas auf.

Sara wartete und betrachtete ihn. Auf der Homepage dieser Praxis wurde sein Alter mit 34 angegeben. Er war also noch nicht mal 10 Jahre älter als sie. Für einen Doktortitel und eine eigene Psycho-Praxis war er noch verdammt jung. Vielleicht hatte er deshalb schon so wenige Haare.

„Ich hab noch eine Frage zu diesem Tagtraum.“

„Ja?“

„Wie lange dauerte der?“

„Höchstens fünf Minuten. Allerdings wurde er durch meinen Chef abrupt beendet.“

„Als er Sie ansprach, verschwanden die Bilder sofort?“

„Genau.“

„Aha.“ Wieder schrieb er. „So, jetzt kommen wir zu Ihrem nächsten Traum. Wieder die gleiche Perspektive?“

„Nein. Zwar auch von unten, aber viel weiter nach links. So konnte ich sehen, was Stephaton da machte.“

„Ja?“ Dr. Kern sah sie erwartungsvoll an.

„Er tat so, als würde er einen Schwamm in einen Bottich mit Posca eintauchen. Aber in Wirklichkeit tränkte er den Schwamm mit einer Flüssigkeit aus einem kleinen Beutel.“

„Ein ganz normaler Haushaltsschwamm?“

„Ein Naturschwamm, würde ich sagen.“

„Und was ist Posca?“

„Ein einfacher Wein.“

„Woher wissen Sie das?“

Sara zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung.“

Er notierte sich den Ausdruck und kreiste ihn ein. „Und was haben Sie noch gesehen?“

„Viele Füße von Männern und Frauen. Dann fielen drei Lanzen vor mir hin. Wahrscheinlich wurden sie von den Leuten umgekippt. Dadurch wachte ich jedenfalls auf.“

„Lanzen?“, wiederholte er verwundert.

Sara nickte zweimal.

„Also spielt das alles in einer früheren Zeit?“

„Hundertprozentig. Die Männer tragen solche Sandalen wie die alten Römer, dieser eimergroße Bottich war aus Holz mit zwei Metallringen, und die Lanzen wirkten auch antik.“

Dr. Kern rückte seine Brille zurecht und sah sie prüfend an. „Also träumen Sie von einer Zeit, die mindestens 1.500 Jahre her ist?“

„Kommt mir auch so vor.“

„Merkwürdig.“ Er warf einen unauffälligen Seitenblick auf seine Schreibtischuhr.

„Wo kommt denn so was her? Was hab ich denn mit dem Altertum zu tun?“

„Darauf kann ich Ihnen noch keine Antwort geben.“

Sara beugte sich vor und sagte eindringlich: „Ich hab das Gefühl, dass da in mir noch etwas ist – eine andere Seite, die ich nicht kenne. Und das macht mir Angst.“

„Das verstehe ich vollkommen.“

„Aber was das ist, wissen Sie auch nicht?“

„Noch nicht.“

„Werde ich verrückt?“, fragte sie verzweifelt.

„Nein. Außerdem benutzen wir diesen Ausdruck nicht mehr.“

„Ist doch egal, wie man das nennt.“

„Haben Sie schon mal irgendwann Stimmen gehört?“

„Diese Träume waren bis jetzt alle stumm.“

„Nein, ich meine, so im täglichen Leben. Stimmen, die mit Ihnen Frage und Antwort spielen oder ihr Handeln kommentieren. So, als wäre es eine außenstehende, unsichtbare Person.“

Sara schüttelte den Kopf, mit einer Sorgenfalte auf der Stirn.

„Oder hatten Sie Eingebungen, dass andere Ihre Gedanken hören könnten oder sie stehlen wollten?“

„Nein. Nichts davon.“

Jetzt drehte Dr. Kern seine Uhr etwas und sagte: „Gut, Frau Buhl. Unsere Zeit ist auch wieder vorbei.“

„Können Sie mir nicht direkt helfen?“

„Soll ich Ihre Medikation erhöhen oder erweitern?“

„Nein.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Das auf keinen Fall.“

„Dann müssen wir mit der Gesprächstherapie so weiter machen. So etwas braucht immer Zeit.“ Beim Aufstehen schaltete er das Aufnahmegerät aus. „Dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder.“

„Ja.“ Sara erhob sich ebenfalls und verabschiedete sich von ihm. Als sie draußen war, hätte sie heulen können.

Sie wollte gerade mit ihrem Abendbrotteller ins Wohnzimmer gehen, als das Telefon klingelte. Im Display sah sie, dass es ihre Eltern waren; genauer gesagt, ihre Mutter, weil ihr Vater nur im Notfall anrufen würde.

Sara seufzte. Am liebsten wäre sie gar nicht ran gegangen. Aber sie nahm das Telefon mit ins Wohnzimmer und meldete sich brav: „Hallo, Mama.“

„´n Abend, Sara. Ich wollte doch mal hören, wie´s dir geht.“ Leicht vorwurfsvoll fügte sie hinzu: „Von alleine meldest du dich ja nicht.“

Sie verdrehte die Augen, stellte den Teller auf den Tisch und setzte sich. „Hätte ich schon noch getan.“

„Sag mal, willst´e nicht am Wochenende mal wieder zu uns raus kommen?“

„Du, für Samstag hab ich mich schon mit Heike verabredet, und da wird´s immer spät, sodass ich am Sonntag erst mittags aufstehen werde.“

„Na ja. Du bist ja noch jung und musst dein Leben genießen.“

„Und wie geht´s euch so?“ In Gedanken suchte sie vergeblich nach einem Genuss in ihrem Leben.

„Ach, ganz gut.“

„Alles gesund?“

„Naja, Papa hat wieder Schwierigkeiten mit seinem Knie und seinem Rücken. Und ich will nicht klagen.“

Erfahrungsgemäß sollte sie da auch nicht näher nachfragen. „Tja.“ Die Arbeit überstand ihr Vater nur noch mit mehreren Schmerztabletten.

„Und was macht die Liebe so?“

„Die macht immer noch Pause.“

„Ach, das wird schon.“

„Eben.“ Ihre Mutter gab ihr natürlich die Schuld daran, dass Markus sie verlassen hatte, weil er ihre ‚hysterischen Anfälle‘ nicht mehr ertragen konnte, wie sie es ausdrückte. Den netten Markus hätte sie gerne als Schwiegersohn gehabt.

„Aber über Ostern kommst du doch? Das musst du mir versprechen.“

„Mama, das ist doch erst in einem Monat.“

„Richtig. Deshalb melde ich uns jetzt schon an, damit du dir die Feiertage frei hältst.“

„Einverstanden.“ Es konnte nicht schaden, wenn ihre Mutter glaubte, sie müsste sich irgendwas frei halten.

„Das ist prima. Da machen wir uns ein paar schöne Tage.“

„Ja.“ Vielleicht würde ihr das auch gut tun.

„Warst du denn gestern wieder bei deinem Therapeuten?“

„Ja.“

„Und wie läuft es so?“

„Einigermaßen.“ Den Begriff ‚Psycho‘ vermied ihre Mutter immer.

„Machst du Fortschritte?“

„Nur in kleinen Schritten. So etwas dauert halt seine Zeit.“

„Hattest du denn mal wieder diese Zustände?“

Sofort versteifte sich Sara und drückte das Telefon zusammen. „Nein.“

Das anschließende Schweigen beendete ihre Mutter rasch: „Aber du solltest natürlich vor Ostern noch mal vorbeikommen.“

„Mal sehen.“

„Du kannst doch samstags kommen und hier übernachten. Dann musst du die Strecke an einem Tag nicht zweimal fahren.“

„Ich überleg´s mir.“

„Gut. Dann mach ich jetzt Schluss. Viele Grüße natürlich auch von Papa. Tschüss.“

„Ja, tschüss. Und grüß ihn zurück.“

Sara legte das Telefon weg, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Während sie aß, zappte sie durch die Sender und dachte daran, dass ihr ein paar Tage bei ihren Eltern gut bekommen würden: Mal raus aus ihrem Dauer-Alltag, sich fallen lassen in Kindheitserinnerungen und in den unveränderbaren Ablauf ihres Elternhauses, bei Dorfspaziergängen den neuesten Tratsch von ihrer Mutter erfahren und fast vergessene Namen wieder hören.

Das war zwar alles eintönig und teilweise nervend, vermittelte aber auch gleichzeitig Geborgenheit, die behütete Umhüllung ihrer Kindheit, die ihr jetzt so allein in der Großstadt fehlte.

Diesmal ist ihr Standort viel weiter rechts, die Sichthöhe aber unverändert. Die Erde ist so trocken, dass dort nicht Grünes wächst, nur weiter hinten gelbliches Gestrüpp. Stephaton kann sie von hieraus nicht sehen.

Aber da sitzen drei schemenhafte Gestalten auf dem Boden, wie um eine Feuerstelle. Neben ihnen könnten die drei Lanzen stehen. Sind sie noch nicht umgefallen oder schon wieder zusammengestellt worden?

Diese Frage ließ sie aufwachen. Sara brauchte einige Sekunden, um sich im Dunklen zu orientieren. Da wirkte ihr Wecker jedes Mal wie ein Leuchtturm. Er zeigte 03:08 an. Sie drehte sich stöhnend auf die andere Seite, kuschelte sich ein und hoffte, gleich weiter schlafen zu können.

Jeden Donnerstagabend trafen sich Norbert Kern und Thorsten Mühlfeld zum Tennis; im Winter in der Halle, sonst natürlich draußen.

Die zwei kannten sich schon seit der 10. Klasse des Gymnasiums und hatten gemeinsam ein hervorragendes Abitur geschafft, beide mit einer 1 vor dem Komma. Norbert hatte dann Psychologie studiert und Thorsten aufs Lehramt, seine Fächer waren Geschichte und Sport. Deshalb gewann er meistens beim Tennis, er war einfach besser in Form. Aber Norbert kämpfte trotzdem bis zur Erschöpfung.

Auch während ihrer Studienzeit in weit voneinander entfernten Orten, hatten sie stets Kontakt gehalten. Sobald sie mal wieder zu Hause waren, trafen sie sich; und es kam ihnen immer so vor, als hätten sie sich nur kurze Zeit nicht gesehen.

Sie waren eben die besten Freunde. Auch ihre Frauen verstanden sich gleich gut miteinander. Die vier hatten früher sehr viel unternommen, fast ihre gesamte Freizeit zusammen verbracht. Doch als Thorsten und Elke vor drei Jahren Eltern wurden, rückte ihr Söhnchen selbstverständlich in ihren Lebensmittelpunkt. Norbert hatte auch gerne die Patenschaft bei dem kleinen Dennis übernommen.

Ihr wöchentliches Match hatten sie aber beibehalten. Obwohl Norbert zumindest eine Babypause erwartet hatte, doch Thorsten wollte auf keinen Fall darauf verzichten. So war er anfangs oft völlig übernächtigt und abgehetzt zum Tennis gekommen und hatte ihm so eine Siegesserie beschert. Damit war es aber schon lange vorbei.

Nach dem Duschen saßen sie eigentlich immer noch ein Stündchen im Vereinslokal und füllten ihren Flüssigkeitsverlust wieder auf, allerdings ohne Alkohol.

„Du hast mich ja wieder ganz schön fertiggemacht.“ Norbert hatte immer noch einen roten Kopf.

„Du solltest auch mindestens einmal pro Woche joggen, dann hättest du eine bessere Kondition.“

„Das schaff ich nicht. Ich bin schließlich kein Landesbediensteter mit geregeltem Einkommen, sondern muss mich als Selbständiger durchschlagen. Nur wenn ich einen Patienten habe, verdiene ich Geld.“

„Mir kommen gleich die Tränen.“

„Sag mal“, Norbert wischte sich den Schaum des alkoholfreien Weizens von den Lippen, „du bist doch Spezialist fürs Altertum, nicht wahr?“

Thorsten erwiderte mit gespielter Überheblichkeit: „Unter anderem. Wieso?“

„Sagt dir der Ausdruck ‚Posca‘ etwas?“

„Na klar. Das war ein billiger, saurer Wein, den die römischen Legionäre tranken.“

„Echt?“, staunte Norbert. „Aber das würde ja dann passen.“

„Was denn?“

„Eine junge Patientin von mir hat so seltsame Träume, die in der Antike spielen. Mit Lanzen, Holzbottichen und so. Sie hat auch erzählt, dass die Männer da solche Sandalen wie die alten Römer trugen.“

„Und ‚Posca‘ hast du von ihr?“

„Ja.“ Norbert strich sich über die hohe Stirn.

„Woher hat sie denn dieses Wort?“

„Das wusste sie selbst nicht.“

„Wie?“ Thorsten stellte sein Glas wieder ab. „Sie weiß nicht, woher sie es weiß?“

„Richtig. Sie kann es nicht erklären.“

„Ist sie schwer krank?“

„Nein.“

„Was hat sie denn?“

Norbert hielt sich mit einer Antwort zurück.

„Mann, ich will doch ihren Namen nicht erfahren.“

„Trotzdem ist es mir nicht recht, so über Patienten zu sprechen.“

„Du hast schließlich angefangen und mich zuerst befragt.“ Thorsten trank von seiner Apfelschorle. „Typisch Psychiater, erst bringen sie etwas in Gang und dann blocken sie gleich wieder ab.“

„Quatsch.“

„Also. Wie ist deine Diagnose bei dieser Patientin?“

„Sie hat auf jeden Fall eine schwere Angststörung. Außerdem schwanke ich noch zwischen einer leichten Schizophrenie und einer multiplen Persönlichkeitsstörung im Anfangsstadium.“

Thorsten sah ihn grüblerisch an. „Aber das hat doch alles überhaupt nichts mit den alten Römern zu tun.“

„Eben. Mir ist auch kein Krankheitsbild bekannt, wo die Träume ausschließlich aus einer Zeit vor eineinhalb Jahrtausenden kommen.“

„Eher 2.000 Jahre.“

„So?“ Norbert schob seine Brille hoch.

„Na ja, Geschichte war noch nie deine Stärke“, sein Freund grinste spöttisch. „Vor 2.000 Jahren hatte das Römische Imperium den Höhepunkt seiner Macht schon überschritten. Die größte Ausdehnung hatte es aber um das Jahr 116. Danach ging es eigentlich nur noch abwärts.“

„Typisch Lehrer.“

„Wo spielen sich denn diese Träume ab? Eher im Norden oder im Süden?“

Norbert zuckte mit der Schulter. „Kann ich dir nicht sagen.“

„Dann frag sie doch mal bei eurer nächsten Sitzung.“

„Mach ich.“

„Gibt es noch andere Worte von ihr, die du nicht kennst?“

„Einen Namen. Stephaton. Sagt dir das was?“

Thorsten überlegte und schüttelte dann den Kopf. „Aber da solltest du mal deinen kleinen Bruder fragen. Vielleicht ist Rainer dieser Name bekannt. Für mich klingt der irgendwie frühchristlich oder gar biblisch.“

„Meinst du?“ Norbert leerte sein Glas.

„Ja.“ Auch er trank aus und fragte: „Wollen wir aufbrechen?“

Sara saß am Computer und tippte. Sie sollte die Kunden mit alten Verträgen anschreiben, um sie über die angeblich besseren neuen Bedingungen zu informieren und ein Beratungsgespräch anzubieten.

In der Nacht hatte sie wieder ihren alten Dauertraum gehabt. Nur dieses Mal umkreiste sie ganz gemächlich diese Menschenmenge, die sich um eine Gestalt versammelt hatte, beides war wie üblich verschwommen. Die Landschaft konnte sie aber deutlich erkennen: ein gelbliches Geröllfeld, an einer Seite viele Olivenbäume, an der anderen einige Dattelpalmen und weiter hinten aufragende Felsen.

Während sie so auf den Monitor blickte, befürchtete sie, da könnte wieder ein Tagtraum auftauchen, wie vor genau einer Woche. Ihr kam die Idee, dass hinter dem Bildschirm diese merkwürdigen Filmausschnitte nur darauf lauerten, im geeigneten Moment den Text zu verdrängen und seinen Platz einzunehmen.

Sara schüttelte den Kopf und schmunzelte. Sie hatte wirklich ´ne Macke. Sie hörte das Pling ihres Handys. Also zurück in die Realität. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr Chef nicht in der Nähe war, beugte sie sich runter und kramte ihr Handy aus der Tasche. Es war eine Nachricht von Heike: ‚Sorry. Aber ich kann morgen nicht. Ich bin wieder mit Sven zusammen. Sei mir bitte nicht böse.‘

Blöde Kuh, dachte Sara und schrieb zurück: ‚Schade wegen morgen. Du musst ja wissen, was du machst.‘

Sie ließ das Handy wieder in die Tasche fallen und lehnte sich zurück. Das war nicht der erste Rückfall von Heike – und sicherlich auch nicht der letzte. Dieser Sven schaffte es immer wieder, sie rumzukriegen, wenn er ein gewisses Bedürfnis verspürte, das er woanders nicht befriedigen konnte. Jedenfalls nicht so einfach und schnell.

War sie etwa nur neidisch? Sara horchte in sich hinein und kam zu der ehrlichen Überzeugung, dass sie lieber allein bleiben würde, als sich mit so einem Typen einzulassen und ihm gefällig zu sein.

Sie hatte kurz erwogen, bei ihren Eltern anzurufen und sie doch zu besuchen. Doch die vielen zu erwartenden Fragen und notwendigen Erklärungen schreckten sie ab.

Also verbrachte sie den Samstag mit putzen, bügeln, lesen und Fernsehen gucken. Am Abend musste sie aber doch mal raus an die frische Luft. Während ihres Spaziergangs meldete sich Hunger. Deshalb ging sie auf dem Rückweg zu dem Türken in ihrer Nähe und überprüfte von draußen erst mal die Lage.

Sie konnte nur in Geschäfte, Lokale, Aufzüge oder öffentliche Verkehrsmittel gehen, wenn dort nicht viele Leute waren. Jegliches Gedränge empfand sie als unerträglich und verursachte bei ihr Beklemmungen und Atemnot. Je dichter die Menschen kamen, umso schlimmer wurde es.

Vor dem Tresen stand nur ein älterer Kunde, die dunklen Männer dahinter unterhielten sich gelangweilt, nur einer arbeitete. Also traute sich Sara hinein.

Doch kaum stand sie mit zwei Metern Abstand zum anderen Kunden an der Bedienungstheke und sah einen der Dönermacher auf sich zukommen, da stürmte eine Horde junger Männer laut in den Imbiss und verteilte sich um sie herum. Voller Entsetzen spürte sie links und rechts leichte Körperkontakte und zuckte zurück. Sofort brach ihr der Schweiß aus.

„Ja, bitte?“, fragte der stoppelbärtige Türke. „Was möchten Sie?“

Sie bekam Angst, an den Tresen gedrückt zu werden und atmete schneller.

„Bitte schön?“ Der dunkle Mann sah sie erwartungsvoll an.

Sie war umzingelt und würde gleich eingequetscht. Ihr Brustkorb fühlte sich jetzt schon so an.

Der Türke und seine Kollegen blickten sie argwöhnisch an.

Hinter ihr sagte jemand: „Was ist denn mit der?“

„Können wir bestellen?“, fragte ein anderer.

Ein unsichtbarer Ring schnürte ihre Brust zusammen. Sie japste nach Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Jetzt wurden Bestellungen gerufen. Der ihre aufnehmen wollte, wandte sich von ihr ab und übernahm eine.

Von hinten wurde sie noch mehr bedrängt. Sie musste raus. Sofort. Sara drehte sich um, kämpfte sich durch diese Mauer aus Körpern, schubste welche zur Seite, drängelte sich durch. Die Typen maulten und meckerten.

„Was hat die denn für´n Problem?“, hörte sie.

Sara riss die Tür auf und war draußen, inhalierte hektisch die kühle Luft. Sie rannte los. Schweiß und Tränen vermischten sich auf ihrem Gesicht. Sie lief in die nächste Querstraße, stellte sich in einen Hauseingang, lehnte sich an die Wand, beugte ihren Oberkörper vor und versuchte, ruhig, gleichmäßig und tief ein und aus zu atmen.

Es hatte sich so ergeben, dass die beiden Brüder alle zwei Wochen am Sonntagvormittag miteinander telefonierten: Dr. Norbert Kern und der 10 Jahre jüngere Rainer Kern, der in Marburg Theologie studierte.

Sie hatten über familiäre Neuigkeiten gesprochen, über aktuelle Themen und das politische Geschehen. Nachdem sie alle wichtigen Punkte ihres vierzehntägigen Informations- und Meinungsaustausches erledigt hatten, schob sich Norbert in seinem Sessel etwas höher und sagte: „Ich wollte dich noch etwas fragen. Thorsten meinte, es würde vielleicht dein Fachgebiet betreffen.“

„So? Was denn?“

„Sagt dir der Name ‚Stephaton‘ etwas?“

„Ja. Aber ich kenne nur einen einzigen – und den meinst du bestimmt nicht.“

„Weiß nicht.“ Norbert sah nach draußen in den trostlosen, durchnässten Garten. Letzte Woche hatte es noch geschneit und nachts gefroren, dann ließ dieses mildere Regenwetter die weiße Pracht verschwinden.

„Woher hast du denn diesen Namen?“

„Von einer Patientin. Sie hat Träume, die vor 2.000 Jahren spielten. Und da gibt es einen Stephaton.“

Nach einer Pause fragte sein Bruder: „Wirklich?“

„Ja. Und wer ist dein Stephaton? Wann hat der gelebt?“ Norbert beobachtete zwei Amseln, die über den nassen Rasen hüpften.

„Genau zu dieser Zeit.“

„Echt?“

„Nun, nach der christlichen – allerdings außerbiblischen – Überlieferung war es der römische Soldat Stephaton, der Jesus am Kreuz einen mit Essig getränkten Schwamm reichte, kurz bevor er starb.“

„Was?“, Norbert schnellte mit dem Telefon am Ohr nach vorne. „Einen Schwamm? Genau. Das ist er. Dasselbe hat sie auch gesagt.“ Er massierte seine Stirn. „Das gibt´s doch nicht!“

„Stimmt das?“

„Ja. Nur dass dieser Stephaton den Schwamm nicht in Posca tauchte, sondern etwas anderes darauf träufelte.“

„‚Posca‘ hast du also auch von ihr?“

„Ja.“

„Das war ein minderwertiger, saurer Wein, geschmacklich wohl nahe am Essig.“

„Den Ausdruck kannte Thorsten auch.“

„Ist deine Patientin religiös? Ist sie katholisch? Wollte sie mal Nonne werden? Oder ist jemand aus ihrer Familie in einer kirchlichen Einrichtung?“

„Keine Ahnung.“

„Ist sie entsprechend vorgebildet über die Zeit von Jesus?“

„Glaub ich nicht.“

„Interessant“, murmelte Rainer.

„Ja, schon. Aber ich weiß absolut nicht, wie ich das alles bei ihr einordnen soll, wie es mir bei der Therapie helfen soll.“

„Dazu solltest du erst mal ihren religiösen Hintergrund erforschen. Entschuldige, aber als ihr Psychiater weißt du erschreckend wenig darüber.“

„Stimmt.“

„Vielleicht hat sie sich durch einen Schicksalsschlag in die Welt der Bibel verkrochen und fühlt sich dort sicherer als in der Gegenwart. Vielleicht hält sie sich für Maria Magdalena. Vielleicht will sie sich mit ihren Traumgeschichten auch nur wichtigmachen. Vielleicht ist sie auch abgerutscht in den religiösen Wahn oder Fanatismus.“

„Gute Anhaltspunkte, kleiner Bruder“, Norbert schob die Unterlippe vor und nickte anerkennend. „Vielleicht wärst du auch der bessere Psychiater geworden.“

„Nun haben wir aber genug Vielleichts in die Welt gesetzt.“

„Aber als Seelsorger müsstest du ja auch auf diesem Gebiet arbeiten.“

Rainer räusperte sich. „Richtig.“

„Auf jeden Fall werde ich meine Patientin bei der nächsten Sitzung nach ihrem Glauben und ihrem Bibelwissen befragen.“

„Das könnte der Schlüssel zu ihrem Problem sein.“

„Ja.“ Norbert ärgerte sich, weil er nicht selber darauf gekommen war. „Also, dann mach ich jetzt Schluss.“

„Und beim nächsten Mal will ich alle Neuigkeiten in dieser Sache erfahren.“

„Natürlich.“

„Und einen lieben Gruß an meine Schwägerin.“

„Werde ich ausrichten. Die macht oben ihre Yoga-Übungen.“

„Elvira könntest du auch zu Rate ziehen. Mit ihrem Wissen über Transzendenz könnte sie dir neue Richtungen zeigen und so helfen.“

Norbert verdrehte die Augen. „Na ja, ich muss schon wissenschaftlich bleiben.“

„Auf seelischem Gebiet versagt die aber oft.“

„Dafür seid ihr ja dann zuständig.“

„Gut. Also tschüss, großer Bruder.“

„Tschüss, Rainer. Schönen Sonntag noch.“

„Danke gleichfalls.“

Norbert legte das Telefon auf den Tisch und schüttelte nachdenklich den Kopf. Er sah hinaus auf den Rasen, wo jetzt drei Amseln herum hüpften.

Diesmal hat sie einen ganz normalen Blickwinkel. Sie sitzt bei den anderen Frauen in der Nähe des offenen Lehmofens. Es ist abends, und die noch abstrahlende Wärme tut gut. Der Innenhof ist rechteckig und bietet viel Platz. Als Sonnenschutz sind mehrere Weinranken nach oben auf ein Gestell geleitet worden, so bilden sie ein großes Blätterdach. Statt der heißen Sonne wirft jetzt das bleiche Mondlicht den Schatten.

In einer Ecke sitzt Stephaton einem Mann gegenüber, von dem sie nur den breiten Rücken sieht. Beide tragen die Tunika der römischen Legionäre und hantieren an irgendetwas herum.

Didymus und ein etwas älterer Unbekannter gesellen sich zu ihnen und lassen sich etwas zeigen. Der Fremde blickt zwischendurch misstrauisch zu ihnen herüber. Das macht ihr angst.

Dadurch wachte Sara auf. Mit einem Auge schielte sie zum Wecker. Es war 03:32 Uhr. In zweieinhalb Stunden würde er erbarmungslos klingeln. Sie seufzte und drehte sich zur anderen Seite. Bloß an nichts denken. Nur schlafen.

Kapitel 2

Thorsten Mühlfeld ärgerte sich, weil seine Mutter zu ihrem 60. Geburtstag ihren Bruder aus Russland eingeladen hatte. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass der ein Krimineller war und sicherlich zur russischen Mafia gehörte. Mittlerweile stellte sich Boris Grujakow zwar als seriöser Geschäftsmann dar und ließ es sich einiges kosten, in die bessere Gesellschaft aufgenommen zu werden. Aber den Hauptteil seines Vermögens hatte er durch alle möglichen Verbrechen erworben, und er verfügte auch weiterhin über heimliche Kontakte zur Unterwelt.

Die Mutter seiner Mutter war deutschstämmig gewesen, deshalb durfte die Familie Ende der 70er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen, nur der halbstarke Boris wollte lieber in der damaligen Sowjetunion bleiben.

Seine Mutter kam mit der Kaffeekanne zurück, goss ihn ein und setzte sich. „Das musst du doch einsehen, dass ich meinen Bruder bei dieser großen Feier dabei haben möchte.“

Thorsten schüttelte nur den Kopf, trank Kaffee und nahm sich ein Plätzchen.

„Boris ist der letzte aus meiner Familie. Der muss dabei sein.“

„Ich will jedenfalls nicht in seiner Nähe sitzen.“

„Brauchst du ja auch nicht.“ Sie führte die Tasse zum Mund.

„Mir ist es auch peinlich, dass wir einen russischen Gangster in der Familie haben.“

Seine Mutter stellte klirrend die Tasse ab und empörte sich: „Wie kannst du es wagen, so von deinem Onkel zu sprechen?“ Nur wenn sie sich mal so aufregte, klang ihr russischer Akzent noch etwas durch.

„Weil es wahr ist.“ Thorsten verabscheute es, wenn sie sich so anhörte.

„Boris ist ein guter Ehemann und ein fürsorglicher Vater, er ist ein fleißiger, erfolgreicher Geschäftsmann und ein frommer Mensch. Er geht fast jeden Tag in die Kirche.“

„Damit ihm wohl seine vielen Sünden vergeben werden.“

„Unsinn!“ Sie presste die Lippen zusammen. „Außerdem war er der einzige, der uns immer geholfen hat, wenn wir in Not waren.“

„Das war doch eine bequeme Geldwäsche für den.“

„Thorsten!“, ermahnte sie ihn.

„Kommt seine Familie etwa auch mit?“

„Natürlich. Die gehören doch dazu.“

„Wenn du meinst.“ Er nahm sich noch ein Plätzchen.

„Du solltest nicht so abweisend und überheblich sein. Vielleicht wärst du gar kein Lehrer geworden, ohne die Hilfe deines russischen Onkels.“

„Was?“ Thorsten verschluckte sich, bekam die Krümel in die Luftröhre und musste mehrmals husten.

„Ohne seine finanzielle Unterstützung hätten wir uns dein Studium nicht so einfach leisten können.“

Ihr Sohn sah sie befremdet an. Nach einem Schluck Kaffee sagte er: „Soll ich mich jetzt womöglich auch noch bei dem netten Onkel Boris dafür bedanken?“ Seine Wut konnte er nicht so einfach runter schlucken.

„Das nicht. Aber Dankbarkeit und Achtung könntest du schon zeigen, zumindest empfinden.“

„Da kannst du aber lange drauf warten.“ Thorsten stand auf. Er musste raus hier, ehe ihm etwas Falsches über die Lippen kam, was ihm später leidtun würde.

„Du hast ja deinen Kaffee noch gar nicht ausgetrunken.“

„Ich muss jetzt gehen.“

Seine Mutter erhob sich und sah ihn besorgt an. Sie verabschiedeten sich mit deutlicher Distanz.

„Und grüß mir Elke und den Jungen“, rief sie ihm noch hinterher.

Sara hatte eine Kundin am Telefon, es ging um die Auszahlung einer Lebensversicherung. Die Frau hatte ihr schon den halben Leidensweg ihres kürzlich verstorbenen Mannes erzählt.

Ihre monotone Stimme empfand sie zunehmend als ermüdend. Das Gesagte drang gar nicht mehr in ihren Kopf, war nur noch ein dumpfes, einschläferndes Getuschel. Als auch noch ihr Blick auf den Bildschirm undeutlicher wurde und langsam verwischte, tauchte da schemenhaft die Menschenmenge aus ihrem Dauertraum auf.

Sara erschrak, schüttelte den Kopf, richtete sich auf und rieb sich die Augen. Der Monitor war wieder normal. Die Kundin redete immer noch am Telefon.

Sara räusperte sich. „Frau Meier, ich muss jetzt leider zu einer wichtigen Besprechung. Ich hab mir alles notiert und werde mich um Ihren Fall kümmern.“

„Melden Sie sich dann wieder?“

„Ja, ja. Sobald alles geprüft ist und ich das Datum der Auszahlung erfahre, rufe ich Sie umgehend an.“

„Wirklich?“, fragte die Frau irgendwie leidend.

„Aber sicher. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Gut. Danke. Auf Wiederhören.“

„Wiederhören, Frau Meier.“ Sara legte erleichtert den Hörer auf und trank Mineralwasser aus ihrer mitgebrachten Flasche.

Keine Tagträume, prägte sie sich ein, und schon gar nicht bei der Arbeit.

Sara hörte das Pling ihres Handys. Sie sah sich um, ob die Luft rein war, dann holte sie ihr Handy aus der Tasche. Es war eine Nachricht von Heike: ‚Hallo. Bist du noch sauer? Wollen wir uns nicht am Freitag um 17 Uhr bei Starbucks treffen?‘

Die hat wohl schon wieder genug von ihrem Sven, dachte Sara und schämte sich gleich für ihre Schadenfreude. Sie schrieb zurück: ‚Tolle Idee. Ich komme gerne. Bis übermorgen.‘

Sie ließ das Handy zurück in die Tasche fallen. Dann schaute sie zur Uhr, atmete tief durch und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Das Telefon klingelte. Sara legte ihr Buch weg und warf einen Blick aufs Display. Sie dachte eher vergnügt als genervt: Was wäre ein Mittwochabend auch ohne den Anruf meiner Mutter?

„Hallo, Mama.“

„´n Abend, Sara. Ich will nichts unversucht lassen und deshalb wieder nachfragen, ob du am Wochenende nicht vorbeikommen willst?“

Ihre Beharrlichkeit war wirklich rührend. Das musste mal belohnt werden. „Einverstanden.“

„Wirklich?“, sagte ihre Mutter überrascht.

„Ja. Ich hätte mich morgen sowieso gemeldet.“

„Prima. Das ist schön.“

Sara wollte es aber auch nicht übertreiben. „Allerdings komme ich nur am Sonntag.“

„Aber dann musst du ja zweimal die Strecke fahren.“

„Das macht nichts.“

„Also hast du am Samstag wieder was vor?“

„Ja“, log sie. „Aber dafür fahre ich gleich am Sonntagmorgen los und bin pünktlich zum Mittagessen da.“

„Gut. Wir freuen uns. Hast du einen besonderen Essenswunsch?“

Sara war erleichtert, dass ihre Mutter nicht weiter bohrte und sie nicht umstimmen und beeinflussen wollte. „Rouladen, Klöße und Rotkohl wäre toll.“

„Gerne.“

„Aber nur, wenn´s nicht zu viel Umstände macht.“

„Das ist kein Problem.“

„Klasse.“

„Und sonst geht´s dir gut?“

„Ja. Alles in Ordnung.“

„Tja …“ Erstaunlicherweise fiel ihrer Mutter wohl nichts mehr ein. „Gut. Dann mache ich jetzt Schluss. Am Sonntag können wir uns ja ausführlich unterhalten.“

Saras Stimmungslage war viel zu gut, um das als Drohung zu empfinden. „Klar.“

„Tschüss, dann. Viele Grüße auch von Papa.“

„Tschüss, Mama. Und grüß ihn zurück.“

Von sich aus hätte Norbert mit dem Thema nicht wieder angefangen, weil es ihm nach wie vor unangenehm war, mit anderen über seine Patienten zu sprechen. Doch kaum saßen sie im Vereinslokal an der Theke und hatten ihren ersten Durst gelöscht, da fragte Thorsten gleich nach Neuigkeiten in dem Fall. Norbert erklärte, dass er die betreffende Patientin auch noch nicht wieder gesehen habe, erst am Dienstag sei ihr nächster Termin. Er wollte alles abschwächen, das Interesse seines Freundes erst gar nicht wecken.

Doch der blieb hartnäckig und fragte: „Hast du dich denn bei deinem Bruder nach diesem Stephaton erkundigt?“

Norbert nickte nur und trank von seinem alkoholfreien Weizen.

„Und?“

„Was?“

Thorsten brummte und rollte mit den Augen. „Mann, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

Norbert zuckte mit der Schulter und erwiderte müde: „Ich bin eben kaputt.“

Sein Freund ließ nicht locker. „Kennt Rainer einen Stephaton?“

„Ja.“

„Und?“, kam es fordernd von Thorsten, der selber seine schnelle Reizbarkeit seit vorgestern spürte, als er sich mit seiner Mutter wegen Onkel Boris gestritten hatte.

„Es ist unglaublich, aber es handelt sich dabei um den römischen Soldaten, der Jesus einen mit Essig getränkten Schwamm reichte, als er da am Kreuz hing.“

„Echt?“ Thorsten starrte ihn verblüfft an. „Jesus?“

„Ja.“ Norbert schob seine Brille hoch. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass es sich um diesen Stephaton handeln muss, denn von diesem Schwamm hat meine Patientin auch berichtet.“

„Das ist ja faszinierend.“ Thorsten schüttelte erstaunt den Kopf. „Die träumt von der Kreuzigungsszene?“

Norbert nickte und dachte daran, was sein Bruder alles gesagt hatte, besonders ‚religiöser Wahn‘ blinkte da wie bei einem Alarm.

„Gehört so etwas überhaupt zu einem Krankheitsbild?“

„Nicht, dass die Träume immer vor 2.000 Jahren spielen. Sie müssten wirrer sein und durch alle Zeiten springen. Aber womöglich leidet sie doch an einer multiplen Persönlichkeitsstörung.“

„Und das heißt?“

„Sie hat zwei oder sogar noch mehr Persönlichkeiten in sich, die meistens nichts voneinander wissen und nie gleichzeitig in Erscheinung treten.“

„So wie in dem Film ‚Psycho‘, mit dieser blutigen Duschszene? Der irre Typ hatte doch auch seine Mutter irgendwie in sich.“

„Blödsinn!“, konterte Norbert unwirsch und bereute es, schon zu viel erzählt zu haben. „Ich beteilige mich nicht an solchen dämlichen Vergleichen mit reißerischer Unterhaltung.“

„Ist ja gut“, Thorsten hob beschwichtigend die Hände. „Entschuldigung.“

„Das war absolut unpassend.“ Norbert verzog das Gesicht und leerte sein Glas.

„Ich finde deinen Fall da ungeheuer interessant. Hältst du mich weiterhin darüber auf dem Laufenden?“

Norbert überlegte einen Moment und erwiderte dann: „Aber keinesfalls auf diesem Niveau wie gerade.“

„Nein, nein. Das war ein Ausrutscher von mir. Darf ich dir zur Wiedergutmachung noch ein Bier ausgeben?“

„Heute nicht. Ich will nach Hause.“

„Dann hast du beim nächsten Mal noch eins gut.“

„Meinetwegen.“ Mit schmollender Unterlippe winkte Norbert die Bedienung heran.

Sara war schon eine halbe Stunde vor der Zeit im Lokal gewesen, um einen für sie geeigneten Platz auszusuchen: in einer Ecke und direkt am Fenster. Sie hatte einen Latte macchiato vor sich, blickte nach draußen und dachte an ihren Chef, der sich heute wieder so angeschlichen hatte, dass sie ihn erst bemerkte und aufschreckte, als er direkt neben ihr stand. Kaufmann wollte sie eindeutig kontrollieren und ihr wohl gerne etwas anhängen.

Heike kam für ihre Verhältnisse überpünktlich. Die beiden umarmten sich, Heike bestellte auch einen Latte und klagte gleich über den Stress bei ihrer Arbeit.

Nachdem ihr erster Redeschwall abgeebbt war, fragte Sara nach Sven.

„Alles noch prima.“ Heike nickte mehrmals. „Er hat sich echt geändert und gibt sich große Mühe.“

„Na, hoffentlich bleibt es auch so.“

„Bestimmt.“ Heike strahlte förmlich. „Und wie läuft´s bei dir so?“

„Wie immer. Nichts Besonderes.“

„Du solltest vielleicht im Internet versuchen, jemanden kennenzulernen. Das machen heute doch viele.“

„Ja?“ Sara sah sie skeptisch an.

Heike erzählte begeistert von zwei Kolleginnen, die auf diesem Weg den richtigen Partner gefunden hatten.

Sara hörte nur oberflächlich zu und täuschte Interesse vor, dabei musste sie unentwegt an Markus denken.

Nach Heikes Zigarettenpause wollte sich Sara wieder mehr auf ihre Freundin konzentrieren. Sie bestellten noch eine Runde Latte und unterhielten sich über Eltern und Kinder kriegen, gemeinsame Bekannte, blöde Typen, Gewichtsprobleme, lustige und ärgerliche Begebenheiten, zickige Kolleginnen und angesagte Filme und Musik.

Sara genoss das Reden und Lachen und war froh, mal wieder mit Heike zusammen zu sein.

Die Sichthöhe ist wieder niedrig. Sie befindet sich noch etwas weiter nach rechts. Es kann doch kein Holzzaun sein, weil nach den drei kantigen Pfosten keine mehr kommen.

Die drei sitzenden Gestalten da sind römische Legionäre. Sie machen etwas in ihrer Mitte, aber es ist keine Feuerstelle. Neben ihnen stehen tatsächlich die drei sorgfältig zusammengestellten Lanzen.

Kommen jetzt wieder diese stampfenden Füße? Sie spürt die Angst, die sie als kleines Mädchen hatte, dass die Menge sie zertrampeln könnte.

Werden die Lanzen gleich wieder umfallen?

Wieso eigentlich alles immer dreifach?

Diese Fragen ließen Sara aufwachen. Sie hob den Kopf und suchte den Wecker. Es war 03:48 Uhr. Irgendwie wurde es immer später.

Aber heute würde der Wecker nicht klingeln. Sie konnte ausschlafen. Sara summte erleichtert, wälzte sich auf die andere Seite und kuschelte sich wohlig ein.

Sara war im Kino gewesen. Obwohl ihr der Film gefallen hatte, war sie doch froh, jetzt wieder draußen zu sein. Natürlich hatte sie gewartet, bis die Masse verschwunden war. Sie hatte sich unwohl gefühlt so allein. Sie hatte das Empfinden gehabt, der einzige Single im ganzen Saal zu sein und von allen Pärchen beobachtet zu werden.

Die kühle Nachtluft tat ihr gut. Sie schlenderte an den beleuchteten Schaufenstern entlang. Als die Geschäfte weniger wurden, beschleunigte sie ihren Schritt.

Ein Mann mit einem großen Schäferhund kam ihr entgegen. Sara wechselte sofort die Straßenseite. Sie hatte Angst vor Hunden, deshalb ging sie ihnen lieber aus dem Weg.

Schließlich kam sie bei dem Türken vorbei, wo sie vor genau einer Woche in Panik herausgerannt war. Beschämt schaute sie in den Imbiss. Es war kein Kunde darin. Zwei dunkle Männer stützten sich auf dem Tresen ab und lasen in einer ausgebreiteten Zeitung. Bestimmt hatten sie bald Feierabend.

Sara ging rasch weiter. Hier würde sie sich nicht so schnell wieder hinein trauen.

Frankenhain

„Das war aber lecker.“ Ihr Vater strich sich zufrieden über den gewölbten Bauch.

„Das hatte sich Sara gewünscht.“

„Du solltest öfter kommen.“ Ihr Vater schmunzelte. „Natürlich nicht nur wegen des Essens.“

„Dann hätte ich ja bald einige Pfunde drauf.“ Sara blähte ihre Wangen auf.

„Du kannst doch noch einiges vertragen“, ihr Vater zwinkerte ihr zu.

„Nee, nee. Lieber nicht.“

Frau Buhl beobachtete ihren Mann und wunderte sich über seine gute Laune und seine Gesprächigkeit.

Sara erhob sich und begann das Geschirr zusammenzustellen.

„Lass doch“, ihre Mutter winkte ab.

„Ich muss mich ein bisschen bewegen. Bleib du mal sitzen. Schließlich hast du dieses tolle Essen gekocht.“

„Das mach ich doch gerne.“

Sara trug alles in die Küche, leerte Teller und Schüsseln und stellte sie ordentlich in den Geschirrspüler, das Besteck sortierte sie in den Korb.

Ihre Mutter folgte ihr mit zwei Gläsern und sagte: „Die Töpfe wollte ich aber gleich abwaschen.“

„Gut. Das machen wir natürlich zusammen. Ich trockne ab.“ Sara griente wie ein kleines Mädchen. „So wie früher.“

„Schön.“

„Ist noch was drüben?“

„Nur noch das Glas von Papa.“

„Ich hol es.“ Sara ging ins Esszimmer und sah gerade, wie ihr Vater sich abstützte und mühsam aufstand, beim Aufrichten stöhnte er verhalten. Es war offensichtlich, dass er Schmerzen hatte. „Na, macht dir dein Rücken wieder zu schaffen?“

Sofort verbesserte er seine Haltung. „Na ja. Es geht so. Man wird halt nicht jünger.“

„Kannst du keinen rückenschonenden Arbeitsplatz bekommen?“

„Nicht für das gleiche Geld.“

„Aber wenn´s deiner Gesundheit dient? Geld ist auch nicht alles, Papa.“

„Dann wäre ich für alle nur der Hiwi, würde erheblich weniger verdienen und später auch noch ´ne geringere Rente kriegen.“

„Tja. Musst du wissen.“ Sara nahm sein leeres Glas und ging zurück in die Küche.

Ihre Mutter hatte bereits mit dem Spülen angefangen.

„Können wir nachher einen Rundgang durchs Dorf machen? Ich brauche unbedingt noch Bewegung.“ Sara machte Pustebacken und klopfte sich auf den Bauch.

Ihre Mutter lächelte merkwürdigerweise etwas gequält, dann besann sie sich und nickte bejahend.

Ihr Vater hatte keine Lust zum Spazierengehen gehabt. Er lag auf dem Sofa und blätterte in der Zeitung. Ihre Mutter meinte, ihm würden bald die Augen zuklappen, und er würde ein Nickerchen halten. Er sei eben von der Arbeit völlig erschöpft und müsse sich am Wochenende erholen.

Draußen schien zwar keine Sonne, doch es war trocken und relativ mild. Im Unterschied zu Hannover sah man hier ringsum freies, welliges Land: Waldstücke, braune Äcker, strohfarbene Brachflächen, Gebüschreihen und grüne Felder.

Zum ersten Mal ging es im Gespräch zwischen Mutter und Tochter nicht um Saras Probleme, sondern um die ihrer Eltern. Das war eine ganz neue Erfahrung. Sara fand es unanständig, darüber erfreut zu sein, aber unangenehm war es ihr auch nicht.

„Er unternimmt leider nichts dagegen“, beklagte sich ihre Mutter. „Er schluckt haufenweise Tabletten und spült sie mit Bier runter. Er weigert sich, eine Reha zu beantragen. Er will kein Funktionstraining machen, keine Rückengymnastik, nicht schwimmen, keine Muskelübungen – nichts.“ Ihre Mutter bekam feuchte Augen. „Aber durch die Schmerzen hat er ständig eine Stinklaune, regt sich über alles auf und schottet sich ab. An manchen Abenden reden wir nur ein paar Worte miteinander.“ Sie drehte sich zur Seite und wischte einige Tränen weg.

„So schlimm ist es?“ Vielleicht fragt sie deshalb so oft nach, ob ich vorbeikomme?, dachte Sara.

Ihre Mutter nickte und rieb sich die Augen.

Sollte ausgerechnet sie die Therapie für ihren Vater sein? „Wahrscheinlich müsste er an den Bandscheiben operiert werden.“

„Angeblich hat der Arzt davon abgeraten.“

„Glaubst du ihm nicht?“, fragte Sara verwundert.

„Ich weiß nicht. Er dreht sich gerne alles passend.“

„Vorhin hab ich ihm auch empfohlen, sich um einen rückenschonenden Arbeitsplatz zu kümmern.“

„Und?“ Ihre Mutter holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte kräftig. „Was hat er dazu gesagt?“

„Dadurch hätte er zu hohe Geldeinbußen. Und er will kein Hilfsarbeiter sein.“

„Siehst´e.“

Bis jetzt war ihnen noch niemand im Dorf begegnet.

Auch das gab Sara zu denken: Ob ich deshalb Angst vor Menschenansammlungen habe, weil ich es in meiner Kindheit nicht gewohnt war und es hier so etwas nur beim Schützenfest gab? Vielleicht sollte ich Dr. Kern mal nach etwaigen Untersuchungen fragen, ob Menschen in kleinen Ortschaften häufiger an entsprechenden Angststörungen leiden als welche aus größeren Städten?

„Willst´e wirklich nicht zum Abendbrot bleiben?“, fragte ihr Vater auch noch mal.

„Nee“, Sara stöhnte, „sonst platze ich noch. Außerdem fahre ich lieber im Hellen los.“

„War schön, dass du mal wieder hier warst“, sagte ihre Mutter, ihr Vater nickte zustimmend und strahlte sie an.

„Fand ich auch.“ Und das war nicht gelogen.

Ihre Eltern begleiteten sie zum Auto. Sie verstaute zuerst die beiden Plastikdosen mit einer kompletten Mahlzeit von heute und mit Kuchen. Die Verabschiedung war herzlich, Sara umarmte beide und gab ihnen einen Kuss auf die Wange. Dann stieg sie ein und fuhr los, ihre Eltern winkten ihr noch hinterher.

Ihr Vater war den ganzen Tag über fröhlich und unterhaltsam gewesen. Als ihre Mutter in der Küche den Apfelkuchen aufschnitt, nutzte sie die Gelegenheit und kam noch mal auf seinen Rücken zu sprechen. Doch er schwächte und wiegelte alles ab. Für ihn war anscheinend die Sicherheit seines gut bezahlten Arbeitsplatzes das Allerwichtigste.

Während der Rückfahrt musste sie noch oft an ihre weinende Mutter denken. Von dieser Seite kannte sie sie überhaupt nicht. Die Opferrolle ist doch wohl für mich reserviert, dachte Sara mit ungewohnter Selbstironie.

Hannover

Wieder dieser Innenhof im Mondlicht. Die Weinblätter werfen gezackte Schatten auf den Boden. Sie sind dichter zum Lehmofen gerückt. Sie flüstern und kichern, aber sie hört nichts.

Didymus und der etwas ältere Unbekannte stehen auf. Stephaton und der andere Römer bleiben sitzen. Didymus winkt ihnen zum Abschied zu. Der besser gekleidete Fremde guckt auch nicht mehr so finster. Sie ziehen hinter sich die Pforte zu.

Von diesem Geräusch erwachte Sara. Der Wecker zeigte 05:28 an. So spät war es ja noch nie gewesen. Sollte sie gleich aufstehen oder noch eine halbe Stunde dösen?

Sie entschied sich, das Klingeln im warmen Bett abzuwarten.

Sara saß Dr. Kern wieder gegenüber. Wie immer hatte sie nichts dagegen, dass er ihr Gespräch aufnahm. Zuerst fragte er nach Angstzuständen seit der letzten Sitzung. Sara berichtete von dem Zwischenfall in dem türkischen Imbiss, wo sie Panik bekam und flüchten musste. Er war zufrieden mit ihrem Verhalten, es sei einfach Pech gewesen, dass das Lokal plötzlich doch voll wurde.

Sara dachte innerlich belustigt an ihre Idee, sich bei ihm nach den unterschiedlichen Angststörungen in Stadt und Land zu erkundigen.

„Hatten Sie denn auch wieder diese Träume?“

„Natürlich.“

„Auch am Tage?“

„Nein.“ Sie überlegte kurz. „Doch, einmal, aber nur für Sekunden.“

„Und sonst? Spielten die Träume alle wieder in der Römerzeit?“

„Ja.“

„Wieder nur stumm?“

Sara nickte.

„Und die Perspektive von unten?“

„Nicht immer.“

„So?“ Norbert Kern betrachtete sie aufmerksam.

„Es gab auch einen neuen Schauplatz. Und zwar einen abendlichen Innenhof, mit einem Sonnenschutz aus Weinblättern. Dort und bei der Menschenmenge hatte ich einen ganz normalen Blickwinkel.“

„Das lässt doch vermuten, dass es sich um eine südländische Gegend handelt, nicht wahr?“

„Eindeutig. Es ist viel wärmer als hier. Ich sah Olivenbäume, Palmen und verdorrtes Land. Es muss irgendwo im Mittelmeerraum sein.“

„Würde ich auch annehmen“, sagte er und dachte: Also wahrscheinlich das heutige Israel. „Gab es auch neue Personen?“

„Ja. Frauen und Mädchen und zwei Unbekannte: einen Römer und jemanden von uns.“

„Was meinen Sie mit ‚von uns‘?“

„Na, er gehört zu unserem Volk.“

„Hm.“ Warum sagt sie nicht ‚Juden‘?, fragte er sich, weiß sie es nicht oder tut sie nur so?

„Aber ich kenne ihn nicht. Er wirkt wohlhabender.“

„Gibt es auch neue Namen?“

„Ja. Einen. Didymus, heißt er.“

„Aha.“ Dr. Kern notierte sich mehrere Worte in seiner Schnellschrift, den Namen kreiste er ein. „Wer ist das?“

„Weiß ich nicht. Aber ihn kenne ich.“

„Und Stephaton? Tauchte der auch wieder auf?“

„Ja. Der ist in diesem Innenhof mit Didymus und den beiden Fremden dabei. Die vier sitzen zusammen und begutachten da etwas in ihrer Mitte. Und weiterhin ist er bei der Szene mit dem Schwamm und den drei Lanzen und Balken und so.“

Er sah sie nachdenklich an. Wenn sie eine gespaltene Persönlichkeit wäre, dürfte sie die Namen und diese Bilder ihres zweiten Ichs eigentlich nicht kennen. „Haben Sie eine Ahnung davon, was dieser Stephaton mit dem Schwamm vorhat?“

„Nein.“

„Hat es irgendetwas mit Jesus zu tun?“

Jetzt überlegte sie einen Moment. „Kann sein.“

„Haben Sie ihn in diesen Traumausschnitten gesehen?“

„Nein. Jedenfalls nicht bewusst. – Aber …“

„Ja?“

„Er könnte die Gestalt vor der Menschenmenge sein.“

Norbert dachte wieder an die Ausführungen seines Bruders, an religiösen Wahn. Es gab psychisch Kranke, die sich die Wundmale von Jesus Christus selber zufügten, sie ständig zum Bluten brachten und dadurch nicht heilen ließen. Durch die Stigmatisation wollten sie auf sich aufmerksam machen und für Auserwählte oder gar Heilige gehalten werden. „Frau Buhl, haben Sie sich schon mal geritzt?“ Er beobachtete ihre Reaktion. „Oder sich sonst wie absichtlich verletzt?“

„Nein“, entgegnete sie verstört.

„Sind Sie eigentlich religiös?“

„Nicht besonders. So wie die meisten, schätze ich mal. Ich wurde getauft und konfirmiert. Aber in die Kirche gehe ich auch nur zu Weihnachten.“ Sie verzog schuldbewusst das Gesicht.

„Kennen Sie sich in der Bibel aus?“

„Ich weiß nur, was vom Religions- und Konfirmandenunterricht hängen geblieben ist.“ Sara beäugte argwöhnisch, wie er wieder einiges aufschrieb und manche Worte unterstrich.

„Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der sehr gläubig ist? Oder war?“

Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich über seine seltsamen Fragen.

„Finden Sie, dass Ihre Träume in letzter Zeit häufiger vorkommen und intensiver sind?“

„Ja. Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, dass ich mich an die Szenen herantaste, dass ich ihnen langsam näher komme und sie dadurch deutlicher werden.“

„Interessant.“ Er schob seine Brille hoch und machte sich wieder Notizen. Das passte absolut nicht zu einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Die beiden Ichs dürften nichts voneinander wissen. „Glauben Sie, dass Ihre Träume die Auslöser für Ihre Probleme sind?“

„Das nicht. Meine Angstzustände haben sich schon vorher entwickelt. Aber diese fremdartigen Traumbilder verunsichern mich, bringen mich noch mehr durcheinander.“

„Aber Sie verspüren keine Furcht dabei?“

„Nein.“ Sara lächelte. „Es ist komisch, ich bin sogar neugierig darauf, wie´s weitergeht. Es kommt mir vor, als ob mir diese Träume etwas zeigen oder mitteilen wollen.“

„So?“ Vielleicht ist da der Schlüssel, dachte Dr. Kern, vielleicht sollte ich da tiefer suchen, ihr durch Hypnose in diese Welt folgen.

„Hört sich verrückt an, wie?“ Sie lachte auf. „Ach ja, das sagt man ja nicht mehr.“

„Richtig.“ Er schielte zu seiner Schreibtischuhr. „Frau Buhl, hätten Sie grundsätzlich etwas gegen eine Hypnosetherapie?“

Sie sah ihn erschrocken an. „Ist das auch ungefährlich?“

„Aber ja.“

„Und was soll das bringen?“

„Ich verspreche mir davon einen tieferen Einblick in Ihre Träume, damit ich die besser verstehen kann.“

„Aber ich bin nur einverstanden, wenn Sie das machen. Ich will nicht noch zu einem anderen Psychiater.“

„Nein, nein. Die Hypnose werde ich natürlich durchführen. Ich habe die Zusatzqualifikation als Hypnotherapeut.“

„Okay.“

„Dann versuchen wir das mal bei der nächsten Sitzung. Nicht jeder lässt sich nämlich hypnotisieren.“

„Ach, so. – Na ja“, sie griente, „ich bin bestimmt gleich weg.“

„Werden wir sehen.“ Dr. Kern sah nun auffällig zur Uhr. „Dann ist unsere Zeit auch schon wieder rum.“ Er schaltete das Aufnahmegerät aus und erhob sich.

„Tja.“ Sara stand auch auf und folgte ihm zur Tür.

Bei der Verabschiedung warf er einen verstohlenen Blick auf ihre Handflächen, konnte aber nichts entdecken.

Frau Mühlfeld legte das Telefon zur Seite. Sie hatte gerade mit ihrem Bruder Boris in Moskau geredet. Wenn sie ihn anrief, ging sie jedes Mal nach oben ins Gästezimmer, um sich ungestört mit ihm auf Russisch zu unterhalten. Ihr Mann mochte es nämlich nicht, wenn sie ihre geliebte Muttersprache benutzte. Aber wenigstens hatte er nichts gegen einen Besuch ihres Bruders, erst recht nichts gegen seine Teilnahme an ihrem 60. Geburtstag. Nicht so wie ihr Herr Sohn. Selbstverständlich hatte sie Boris kein Wort von Thorstens frechen und beleidigenden Anschuldigungen gesagt. Sie schämte sich für sein Verhalten.

Sie staunte immer darüber, wie gläubig ihr kleiner Bruder geworden war. Obwohl er bei ihr stets die Rolle des großen Bruders und Beschützers übernommen hatte, auch wenn er vier Jahre jünger war. Boris besuchte fast täglich die Kirche. In ihrem Elternhaus wurden sie zwar zum russisch-orthodoxen Glauben erzogen, aber nur auf unterem Standard, keinesfalls übertrieben. So wie bei den meisten Familien damals, denn von offizieller Seite war die Kirche in der kommunistischen Sowjetunion schließlich verpönt und jede Religiosität verdächtig.

Die Frömmigkeit ihres Bruders hatte sich erst herausgebildet, nachdem sie mit ihren Eltern nach Deutschland ausgesiedelt war, ins gelobte Land des Wohlstands. Boris wollte ja unbedingt in der Heimat bleiben, setzte seinen Dickkopf gegen alle Widerstände durch. Doch so ohne den Halt der Familie geriet er in schlechte Gesellschaft und musste für zwei Jahre ins Gefängnis, obwohl er vollkommen unschuldig war. Dort fand er zu Gott und entwickelte seinen tiefen Glauben.

Als sie in der Küche war, klingelte es. Zuerst dachte sie, es wäre der Mittwochabendanruf ihrer Mutter, trotz des kürzlichen Besuchs. Doch es war ihr Handy. Heike rief an. Sara hatte nämlich von der Arbeit aus per SMS nachgefragt, ob sie nicht mal wieder zusammen zum Schwimmen gehen könnten.

„Hallo, Heike!“, meldete sie sich begeistert.

„Hei!“

„Schön, dass du dich meldest.“

„Klar. Das ist ´ne tolle Idee, mal wieder zu schwimmen.“

„Eben. Hab ich schon ewig nicht mehr gemacht.“

„Ich auch nicht.“

„Und wann passt es dir mal?“

„Wie wär´s mit Samstagvormittag?“

„Am Wochenende?“, wunderte sich Sara. „Ist das nicht reserviert für Sven?“

„Ansonsten schon. Aber diesen Samstag muss er seinem Vater bei irgendwas helfen.“

„Ach, so.“

„Also? Einverstanden?“

„Aber sicher. Super! Wann wollen wir uns treffen?“

„Sagen wir um zehn Uhr vor dem Schwimmbad?“ Heike räusperte sich. „Dann können wir wenigstens etwas länger schlafen.“

„Wunderbar!“ Um die Zeit war sicherlich noch nicht so viel Betrieb.

„Gut. Dann bis Samstag. Tschüssi!“

„Ja. Tschüss, Heike.“

Sara legte das Handy weg und freute sich, nun etwas vorzuhaben, mit ihrer Freundin einige Zeit zu verbringen und mal wieder zu schwimmen.

Sie holte sich ein Glas Wasser und einen Joghurt, dann schaltete sie den Fernseher ein, zappte durch die Sender und blieb bei einer Mysteryserie hängen. Als sie sah, wie dort jemand aus dem Jenseits auftauchte, dem attraktiven Helden eine wichtige Botschaft überbrachte und sich dann wieder auflöste, musste sie an ihren Dauertraum denken, der sie heute Morgen gegen drei Uhr geweckt hatte.

Beim Umkreisen der Menschenmenge war sie langsam dichter herangekommen. Deshalb konnte sie die Leute und den Mann vor ihnen deutlicher sehen. Alle trugen kuttenartige Gewänder bis zu den Knien oder länger. Ihre einfache Kleidung war hauptsächlich grau, braun oder beige, nur vereinzelt fielen einige farbigere Personen auf. Der Mann, der offensichtlich zu der Versammlung sprach, hatte dunkles, langes Haar und einen Bart.

Es handelte sich wohl tatsächlich um Jesus. Unfassbar!

Aber wieso hatte Dr. Kern das vermutet? Wie kam der darauf? Und was hatte sie damit zu tun? Wieso träumte sie so etwas? Wo kam das her? Was war da Unbekanntes in ihr? Was wollte sich da zeigen und anscheinend wieder heraus? Wieso sah sie Jesus und Filmausschnitte aus seinem Leben? Das war doch wirklich irre!

Trotz der vielen beunruhigenden Fragen schnaufte Sara erheitert. Sie trank einen Schluck Wasser und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den gut aussehenden Serienhelden.

Kapitel 3

Thorsten Mühlfeld prostete ihm zu und sagte: „Dein Erdinger geht auf mich.“

„Wie?“ Norbert Kern stutzte, dann fiel es ihm wieder ein. Er wischte sich den immer noch austretenden Schweiß von der Stirn, hob sein kühl betautes Glas, nickte ihm zu und trank mit gierigen Schlucken.

„Und ich werde auch nie wieder irgendwelche blöden Vergleiche mit Psychothrillern anstellen.“

„Das hoffe ich.“ Norbert leckte sich den Schaum von den Lippen.

„Also darf ich hoffen, dass du mich weiter auf dem Laufenden hältst?“

„Nur, wenn du das strikt befolgst.“

„Versprochen.“ Thorsten faltete die Hände und verneigte sich mehrmals.

„Übertreib mal nicht gleich wieder. – Oder hast du eine Übungsstunde bei meiner Frau abgehalten?“

Beide lachten und lästerten etwas über Elviras fernöstliche Orientierung und ihren übersinnlichen Eifer.

„Hat deine Patientin wieder solche fantastischen Träume gehabt?“

„Ja.“ Norbert rückte seine Brille zurecht und fand, dass dieser Fall auch allmählich ins Übernatürliche abdriftete.

„Und?“

„Ihre Träume spielen eindeutig im Heiligen Land. Also im heutigen Israel.“

„Unglaublich! Hat sie Jesus eigentlich auch schon richtig gesehen?“

„Nicht deutlich. Aber sie hat einen Dauertraum mit einer Gestalt vor einer Menschenmenge.“

Thorsten schwenkte beeindruckt den Kopf. „Das ist wirklich sensationell.“

„Ja.“

„Hat sie diese Gestalt – also Jesus – auch predigen gehört?“

„Nein. Alle Träume waren bis jetzt absolut geräuschlos. So wie Stummfilme.“ Norbert verzog belustigt das Gesicht und fügte hinzu: „Nur leider ohne Untertext.“

„Gibt es auch immer wieder andere Szenen?“

„Im Moment sind wir bei drei Schauplätzen: Stephaton mit dem Schwamm da, einen Innenhof mit mehreren Leuten und die genannte Menschenansammlung.“

„Kennt sie noch weitere Namen?“

Norbert imponierten die logischen Fragestellungen seines Freundes. „Ja. Einen gewissen ‚Didymus‘. Schon mal gehört?“

Thorsten überlegte und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Aber da kann dir dein Bruder bestimmt wieder weiterhelfen.“

„Ich werde ihn fragen.“

Beide tranken und schwiegen einen Moment.

„Ist deine Patientin denn religiös?“

„Nicht besonders.“

„Und ihr Umfeld?“

„Auch nicht.“ Norbert strich sich über die Stirn. Von der geplanten Hypnose würde er ihm heute nichts erzählen. Außerdem war jetzt ein Themenwechsel fällig. „Und wie macht sich Dennis so im Kindergarten?“

„Sehr gut.“ Thorsten bekam gleich das stolze Vaterlächeln und berichtete von einigen lustigen Begebenheiten.

Es ist dunkler geworden in dem Innenhof. Die Frauen werden sich bald zurückziehen. Vorher soll sie Stephaton und dem anderen Römer Wasser und eine Schale mit Datteln bringen.

Als sie zu ihnen kommt, hört sie den mit dem breiten Rücken kopfschüttelnd irgendwas von „… crura fracta …“ sagen. Dann ist alles wieder stumm wie sonst.