Die Wasserwesen - Hermann Lühr - E-Book

Die Wasserwesen E-Book

Hermann Lühr

0,0

Beschreibung

Ruth Naumann ist Meeresbiologin. Deshalb bittet ihre Freundin sie um ihre Meinung über die Aufzeichnungen ihres vor kurzem verstorbenen Vaters, der als Seemann auf allen Meeren unterwegs war. Diese unglaublichen Berichte handeln von menschenartigen Wesen mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen. Ruth studiert diese bizarre Sammlung, doch als Wissenschaftlerin kann sie nicht an die Existenz solcher Wasserwesen glauben, bis sie einige Zeit später an Bord eines Forschungsschiffes ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch:

Ruth Naumann ist Meeresbiologin. Deshalb bittet ihre Freundin sie um ihre Meinung über die Aufzeichnungen ihres vor kurzem verstorbenen Vaters, der als Seemann auf allen Meeren unterwegs war.

Diese unglaublichen Berichte handeln von menschenartigen Wesen mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen.

Ruth studiert diese bizarre Sammlung, doch als Wissenschaftlerin kann sie nicht an die Existenz solcher Wasserwesen glauben, bis sie einige Zeit später an Bord eines Forschungsschiffes . ..

Der Autor:

Hermann Lühr, Jahrgang 1953, verheiratet, zwei erwachsene Töchter.

Wohnt in Schöningen, Niedersachsen.

Er schreibt Romane, die von Ungewöhnlichem handeln, in einer spannenden Mischung aus Realität und Fiktion.

Weitere Informationen finden Sie am Ende des Buches.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Prolog

498 v. Chr., Strand bei Athen.

Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ das ruhige Meer glänzen. Der Fischer folgte seinem Sohn, der wie immer voraus lief, um etwas Spannendes zu finden.

„Vater, schau hier!“, rief er begeistert und zeigte auf eine Spur im feuchten Sand.

Der Fischer schmunzelte zuerst, doch je näher er kam, umso mehr staunte er. Denn die Fußabdrücke waren zu groß für einen Menschen und zeigten eindeutig Schwimmhäute zwischen den Zehen.

„Was kann das gewesen sein?“, fragte der Junge. „Gibt es so riesige Frösche? Oder andere mir unbekannte Tiere?“

Der Fischer betrachtete nachdenklich die ungewöhnliche Spur, die ins Meer führte. Da ihm nichts Besseres einfiel und sie weiter mussten, sagte er: „Da hat sich Poseidon wohl in der Nacht wieder eine Jungfrau geholt.“

Ziemlich genau 2.500 Jahre später spazierten zwei deutsche Urlauber über den gleichen Strand zur selben Tageszeit und sahen auch solche Fußabdrücke.

„Da ist aber jemand schon früh zum Tauchen gegangen“, sagte die Frau.

Ihr Mann zuckte mit der Schulter und erwiderte: „Ich dachte immer, die ziehen ihre Schwimmflossen erst im Wasser an, weil man damit nur mühsam gehen kann.“

1

2019. Kiel.

Ruth Naumann war 54 Jahre alt, Brillenträgerin, Meeresbiologin und schon ewig Single. Sie hatte eine stämmige Statur, ohne jemals dick gewesen zu sein. Als junge Frau hatte sie geglaubt, es liege an ihrem reizlosen Äußeren, dass sich die Jungs nicht für sie interessierten. Doch Christel – ihre Freundin seit der Abi-Klasse – hatte ihr damals erläutert, dass sie einfach zu schlau für die Mehrzahl der Männer sei, die wollten lieber ein sexy Modepüppchen als eine intelligente, ehrgeizige Frau. Und auf gar keinen Fall eine Partnerin, die intellektuell über ihnen stand und erfolgreicher war.

Ihre Mutter hatte es nach unermüdlichen Versuchen bei Ende Zwanzig endlich aufgegeben, ihr hausfrauliche Tugenden und Fähigkeiten anzutrainieren, um einen möglichen Bräutigam mit ihren Kochkünsten zu verführen, wenn es schon nicht anders klappte. Liebe sollte ja bekanntlich durch den Magen gehen.

Im Laufe der Zeit hatte sie einige Liebschaften gehabt, die aber stets nur wenige Wochen andauerten. Ein Jahrzehnt hatte Ruth vergeblich auf einen geneigten Akademiker gewartet und sich immer wieder eingeredet, dass eben der Richtige noch nicht gekommen sei. Doch irgendwann gestand sie sich ein, dass sie eigentlich gar keinen Partner vermisste, und erst recht keinen für rund um die Uhr. Ihre faszinierende Forschungsarbeit füllte sie vollkommen aus, da gab es keinen Platz für einen störenden Mann, den sie womöglich noch umsorgen musste. Und Sex wurde ihrer Meinung nach deutlich überbewertet. Die paar angenehmen Minuten waren diesen ganzen Aufwand nicht wert.

Ruth war früh ergraut und trug ihr Haar kurz. Die lästige Prozedur des Färbens wurde ihr rasch zu viel, deshalb ließ sie das Grau zu. Inzwischen gefiel ihr dieses natürliche Aussehen. 'Eisblond' hatte es mal ein Kollege bezeichnet. Sie war sich nicht sicher, ob er wirklich nur die Haarfarbe gemeint hatte.

Seit fünf Jahren trug sie zwei hochmoderne Hörgeräte, die kaum auffielen. Bei einem wissenschaftlichen Tauchgang im Mittelmeer war sie durch den Angriff einer Muräne in Panik geraten und viel zu schnell an die Wasseroberfläche aufgestiegen. Dieser Schreck hatte sie zwar nicht lange vom privaten Tauchen abgehalten, aber die Schwerhörigkeit war geblieben. Seitdem ging sie nicht mehr tiefer als 10 Meter.

Zum Glück gab es noch genügend jüngere Kollegen, die ohne Einschränkungen tauchen konnten, sodass man nicht auf sie angewiesen war. Doch Ruth machte sich wie immer nichts vor: Dieses Handicap, ihre Hörgeräte und besonders ihr Alter würden leider in naher Zukunft ihre Teilnahme an Expeditionen der Forschungsschiffe verhindern. Und das bedauerte sie aufrichtig.

Aber immerhin war ihre nächste Fahrt gesichert. In sechs Wochen ging es los. Da würde sie 42 Tage auf der 'Sonne' im Pazifik verbringen und an zahlreichen Projekten mitarbeiten. Und darauf freute sie sich schon.

Ruth Naumann wartete auf Christel, die ihr unbedingt ein persönliches Buch ihres vor einem halben Jahr verstorbenen Vaters bringen wollte. Ruth hatte sich darüber gewundert, denn sie hatte Herrn Unger überhaupt nicht gekannt, weil Christels Eltern bei ihrem Anfreunden bereits geschieden waren. Aber ihre Freundin meinte, diese Aufzeichnungen handelten von seltsamen Meereslebewesen, und da sei sie doch die perfekte Fachfrau.

Ruth stellte die Kaffeekanne und Haferplätzchen auf den Tisch. Es klingelte zwei Minuten vor der vereinbarten Zeit. Sie schmunzelte und betätigte den Türöffner. Christel war stets extrem pünktlich, im Gegensatz zu ihr.

Sie begrüßten sich mit Umarmung. Christel zog ein A4-Buch aus ihrem Stoffbeutel und überreichte es ihr. Es sah aus wie ein Fotoalbum, vorne drauf klebte eine niedliche Meerjungfrau.

Ruth lächelte. „Die hatte er doch bestimmt von dir aus der Sticker- oder Arielle-Zeit.“

„Daran kann ich mich gar nicht erinnern“, antwortete sie ungewohnt ernst.

„Ist das sein Tagebuch?“

Christel schüttelte den Kopf. „Das ist eine Niederschrift über ein bestimmtes Thema, das meinen Vater lebenslang beschäftigt hat. Worüber ich gar nichts wusste. Er hat mit mir nie darüber gesprochen. Allerdings hatten wir auch wenig Kontakt. Erst jetzt beim Entrümpeln seiner Sachen habe ich es entdeckt und gelesen. Und ich kriege es einfach nicht übers Herz, dieses Buch einfach im Altpapier zu entsorgen. Wo er sich über Jahrzehnte so viel Mühe gegeben hat. Aber ich kann natürlich nicht viel damit anfangen. Du sicher schon.“

„Du machst mich ja richtig neugierig“, Ruth strich über den Fischschwanz der Nixe. „Wovon handeln denn seine Notizen?“

„Nun ja“, Christel druckste herum. „Von ziemlich merkwürdigen Vorkommnissen. Von sehr schwer vorstellbaren.“

Um das folgende, ungewohnte Schweigen zu beenden, schlug Ruth vor, sich erst einmal hinzusetzen und Kaffee zu trinken, das Buch legte sie auf ihre linke Seite.

Nach einem Plätzchen und einer halben Tasse Kaffee räusperte sich Christel und begann: „Du musst wissen, dass mein Vater über 30 Jahre als Seemann über alle Weltmeere fuhr. Es gibt wohl kein Küstenland, in dem er nicht gewesen war. Er liebte diese Eindrücke und sein freies Leben und konnte auch nicht darauf verzichten, als er eine Familie gegründet hatte und Vater war. Trotz vieler Versprechungen zog ihn das Fernweh immer wieder hinaus aufs Meer. Das machte meine Mutter natürlich nicht auf Dauer mit und reichte schließlich die Scheidung ein. Sie war ja praktisch schon Alleinerziehende gewesen, deshalb bedeutete das keinen großen Unterschied für sie. Für mich eigentlich auch nicht.“

„Aber für dich war dein Vater doch bestimmt ein Held und Abenteurer“, sagte Ruth.

„Ein bisschen schon. Aber wenn er mal da war, erzählte er auch nicht viel von seinen Reisen.“

„Der wortkarge Seebär also?“

Christel nickte. „Er war stets ein Mann der Tat, ein Anpacker, auf gar keinen Fall ein Träumer oder Spinner. Ich betone das ausdrücklich, weil seine Aufzeichnungen garantiert so auf dich wirken werden.“

„Meinst du?“, Ruth schlug das Buch auf, es wirkte wie ein altmodisches Ringbuch-Fotoalbum. Sie überflog die mit ordentlicher Handschrift beschriebene erste Seite. Es handelte sich anscheinend um den Bericht eines Schiffsuntergangs.

„Mir wäre es echt lieber, wenn du es in Ruhe alleine lesen würdest.“

„Klar. Mach ich.“ Ruth klappte das Buch wieder zu und wunderte sich erneut über die unpassende, kindische Meerjungfrau.

„Mein Vater war immer ein Realist und glaubte nur das, was er sehen konnte. Das musst du unbedingt bedenken, wenn du das liest. Es ist wichtig für den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen. Mit Märchen, Sciencefiction und Fantasy konnte er absolut nichts anfangen.“

„Außer mit Arielle“, warf Ruth amüsiert ein und bereute es sofort wieder, als sie Christels strafenden Blick sah.

„Du musst mir versprechen, das Geschriebene ernst zu nehmen und dich nicht darüber lustig zu machen. Er hat nämlich auch allerhand Zeitungsausschnitte dazu eingeklebt, die ja quasi eine öffentliche Bestätigung darstellen.“

„Aha“, Ruth schenkte Kaffee ein, knabberte an einem Plätzchen und hörte ihr weiter zu. So langsam fand sie Christels Verhalten ziemlich befremdlich. Noch nie hatte sie so viel über ihren Vater erzählt. Wenn überhaupt, dann nur knapp und vorwiegend negativ. Aber jetzt huldigte sie ihn fast als wahrheitsgetreuen Beobachter aller Weltmeere und Hafenstädte. Vielleicht befand sie sich jetzt schon in der Trauerphase, wo man sich nur noch an das Gute des Verstorbenen erinnern wollte und das Schlechte verdrängte.

Als Christel mit geröteten Augen gegangen war, räumte Ruth rasch das Kaffeegeschirr weg, setzte sich in den Sessel, klappte das Album mit der Nixe auf und begann zu lesen:

Es war meine erste Fahrt außerhalb Europas. Als junger Seemann wollte ich die ganze Welt sehen und hatte auf einem heruntergekommenen Frachter in Dubai angeheuert, mit dem Ziel Kapstadt.

Am frühen Morgen des 16. Aprils 1962 kamen wir vor Madagaskar in einen schweren Sturm. Die altersschwachen Pumpen schafften es nicht, die auf Bord stürzenden Wassermassen zu entfernen. Das Schiff bekam bald Schlagseite und kenterte. Jeder wollte natürlich auf das einzige verbliebene Rettungsboot. Doch es war marode und bereits hoffnungslos überladen. Trotzdem versuchten die in Panik geratenen Männer sich von allen Seiten an Bord zu ziehen. Morsche Planken brachen, Wasser trat ein. Das Rettungsboot versank noch vor dem Frachter.

Wer konnte, hielt sich an einem Stück Treibgut fest. Nach einiger Zeit waren wir noch sechs Männer, die weit auseinander gezogen ums Überleben kämpften. Später nur noch drei. Vielleicht lag es auch an Haien, aber gesehen habe ich keinen. Es hat jedenfalls niemand geschrien, alle gingen lautlos unter.

Ich schließlich auch. Ich bekam fürchterliche Krämpfe in den Beinen und konnte mich einfach nicht mehr über Wasser halten. Mit offenen Augen sank ich immer tiefer. Und dann erblickte ich ihn. Oder es.

Er kam mir von unten schnell entgegen, fasste mich unter die Achseln und zog mich kräftig nach oben. Ich hatte keine Luft mehr. Dem starken Drang, den Mund aufzureißen, um nach Luft zu schnappen und einfach Wasser einzuatmen, konnte ich kaum noch widerstehen. Bevor mir schwarz vor Augen wurde, betrachtete ich dieses Wesen ganz genau: Es war ein haarloser nackter Mensch mit winzigen Ohren und Schwimmhäuten an den Händen und Füßen.

Was?, dachte Ruth, ein Fischmensch? Was ist denn das für eine verrückte Geschichte?

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Strand einer Komoreninsel. Von meinem Lebensretter war nichts zu sehen. Nur einige froschähnliche Abdrücke neben mir im feuchten Sand.

Verständlicherweise glaubte mir kein Mensch mein Erlebnis. Die Ärzte und alle offiziellen Stellen schoben es auf Halluzinationen durch den Sauerstoffmangel. Irgendeiner hatte zwar schon mal von Delfinen gehört, die Schiffbrüchige an Land gezogen haben sollen, aber so ein Flossenmensch, wie ich ihn geschildert hatte, sei wirklich zu absurd und reine Fantasie.

Das hätte ich auch gesagt, dachte Ruth. Jetzt weiß ich auch, warum Christel so viel Wert darauf legte, ihren Vater als wahrheitsliebenden Realisten darzustellen.

Doch ich wusste, was ich gesehen hatte und ließ mich niemals davon abbringen. Ich wurde von einem menschenartigen Wasserwesen vor dem Ertrinken gerettet. Die Suche nach ähnlichen Berichten beschäftigte mich mein Leben lang. In meiner Zeit als aktiver Seemann hielt ich in sämtlichen Häfen und Ländern danach Ausschau und sammelte diese Informationen. Die meisten können durch Zeitungsausschnitte belegt werden, die mir einer von der vielsprachigen Mannschaft übersetzte. Einige schickten sie mir auch noch zu, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten.

Erst im Ruhestand begann ich damit, meine losen Notizen und Artikel zu ordnen und in diesem Buch chronologisch aufzuschreiben. Ich hoffe, dass eines Tages jemand meine Arbeit fortsetzt und weiter nach diesen Wasserwesen sucht.

Und das soll ich wohl sein, liebe Christel?, fragte sich Ruth verdrießlich.

Denn dieses unbekannte, mit uns eng verwandte Volk lebt in den Tiefen und Weiten der Ozeane, von denen wir weniger wissen als vom Weltall.

Nils Unger, Februar 2006.

Da hat er allerdings recht, dachte sie, in der unerforschten Tiefsee werden andauernd neue Spezies entdeckt. Aber selbstverständlich keine, die wie Menschen aussehen.

Ruth legte die erste kartondicke Seite um. In der Mitte befand sich die ehemals weiße Ringspirale, an der die zahlreich gelochten Seiten befestigt waren. Auf der linken Hälfte klebte eine vergilbte Zeitungsmeldung in englischer Sprache. Ruth las sie und dann die schöne Handschrift von Unger auf der rechten Hälfte:

16. Juni 1965. Brisbane, Australien.

Als ein jahrzehntelang erprobter Skipper mit seiner Segeljacht in seinem australischen Heimathafen an Land ging, berichtete er den Behörden zusammen mit seiner Ehefrau von einem sonderbaren Vorfall:

Mitten auf See bei Neukaledonien sei in ihrer Nähe plötzlich ein kahlköpfiger Mensch aufgetaucht. Er habe keinerlei Taucherausrüstung gehabt und sei anscheinend zum Luft holen an die Oberfläche gekommen, denn er habe intensiv eingeatmet. Der Segler und seine Frau konnten ihn genau beobachten, dabei fielen ihnen seine merkwürdigen Ohren auf. Sie hielten ihn für einen Extremsportler und machten durch lautes Rufen auf sich aufmerksam, um eventuell Hilfe zu leisten. Doch der Taucher drehte sich erschrocken um und verschwand sofort wieder unter Wasser.

Ein Schwammtaucher?, überlegte Ruth. Aber dann hätte ja irgendwo ein Boot sein müssen. Wahrscheinlich war es eine kleine Walart. Oder eine verirrte Seekuh.

Oder womöglich eine Meerjungfrau mit Glatze?

Ruth schlug belustigt die stabile Seite um und betrachtete links den nächsten Zeitungsausschnitt mit vermutlich chinesischen Schriftzeichen und las Ungers Text auf der rechten Seite:

23. September 1969. Gaoxiong, Taiwan.

Bei seiner Rückkehr meldete der Kapitän eines Trawlers der Polizei, dass sie einige Meilen vor der Küste einen lebendigen Menschen im Netz gehabt hätten. Als sie zum zweiten Mal das Netz eingeholt hätten und es da gut gefüllt hing, habe einer der Mannschaft den Menschen zwischen den vielen Fischen entdeckt. Sie hätten das Netz geöffnet und den Fang auf Deck fallen lassen. Dieser Mensch sei einen Moment vor Schreck erstarrt und mit geballten Fäusten zwischen den zappelnden Fischen stehen geblieben, sodass sie ihn kurz begutachten konnten. Er sei vollkommen nackt und haarlos und kein Asiate gewesen. Die Geschlechtsteile und Ohren schienen verkümmert zu sein.

Als sie ihn ansprachen, sei er schnell zur Reling gelaufen, über Bord gesprungen und unter getaucht. Er müsse aber Schwimmflossen getragen haben, weil sie noch entsprechende Spuren auf Deck sahen. Die gesamte Besatzung des Schiffes habe die Schilderung des Kapitäns in allen Punkten glaubhaft bestätigt.

Ruth nahm die Brille ab und rieb ihre Nasenwurzel. Das wurde ja immer bizarrer. Konnte das nicht einfach ein trainierter Freitaucher gewesen sein, der im letzten Moment ins hoch gezogene Netz geraten war? Aber wieso hatte er keine Geschlechtsmerkmale und war sofort geflohen? Oder sie.

Sie setzte die Brille wieder auf. Das war schon alles extrem ungewöhnlich. Aber auch interessant. Doch als Wissenschaftlerin war sie ausschließlich auf Fakten angewiesen. Bis jetzt handelte es sich nur um fantasiereiche Berichte ohne Beweise.

Ruth drehte die Seite um. Links befand sich ein kleiner Zeitungsausschnitt in amerikanischer Sprache. Erst las sie ihn und anschließend den Abschnitt von Christels Vater auf der rechten Hälfte:

2. November 1972. New York City, USA.

Eine Frau aus Brooklyn, die in der Abenddämmerung am East River auf einer Bank gesessen hatte, meldete auf dem nächsten Polizeirevier, dass sie dabei in ziemlicher Entfernung beobachtet habe, wie ein völlig nackter Mann ohne Haare zuerst aus dem Fluss gestiegen sei, sich längere Zeit die schon beleuchtete Skyline von Manhattan angeschaut habe und wieder ins Wasser zurückgekehrt und untergegangen sei.

Auf Nachfrage der Redaktion erklärte ein Polizeisprecher, dass auf eine Suchaktion verzichtet worden sei, da selbst ein bekleideter Mensch bei diesen Wassertemperaturen nur wenige Minuten überleben könne.

Also ein exhibitionistischer, unentschlossener Selbstmörder, Ruth griente und staunte wieder über ihre absurden Einfälle. Das lag natürlich daran, dass sie diese ganzen Schilderungen nicht ernst nehmen konnte.

Sie blickte zur Uhr und klappte Ungers Buch zu. Für heute hatte sie genug Mysteriöses gelesen. Besser gesagt: Absurdes.

Morgen war Sonntag, da hatte sie genug Zeit und konnte vielleicht noch den Rest schaffen und abends Christel Vollzug melden. Dann war die Angelegenheit hoffentlich erledigt.

2

Nach dem Frühstück widmete sich Ruth Naumann gleich wieder der Lektüre von Christels Vater. Sie musste sich eingestehen, dass sie gestern Abend beim Fernsehen noch oft daran gedacht hatte. Sie suchte den Artikel aus New York und schlug die Seite um. Diesmal gab es links keinen Ausschnitt, sondern rechts nur Handschriftliches:

6. Oktober 1976. Balikpapan, Indonesien.

Drei Überlebende eines Schiffsuntergangs vor Borneo fanden sich an einem Strand in der Nähe von Balikpapan wieder. Keiner wusste, wie sie hierher gekommen waren. Ihre gemeinsame letzte Erinnerung war, unter Wasser geraten und versunken zu sein. Um sie herum seien überall menschenartige Abdrücke im feuchten Sand gewesen. Das Unglaubliche sei aber, dass sie eindeutig Schwimmhäute an Händen und Füßen hatten.

Also auch so ein Amphibienmensch wie bei Nils Unger, stellte Ruth fest. Sie konnte schon verstehen, warum er sich so mit dem Thema beschäftigte. Gerade diese Meldung war ja identisch mit seiner Geschichte, über 14 Jahre nach seiner Rettung. Das musste ihn doch darin bestätigt haben, dass es tatsächlich diese Wasserwesen in den Meeren gab.

Ruth blätterte weiter. Links klebte ein Ausschnitt in französischer Sprache. Rechts stand:

14. Juli 1979. Cherbourg, Frankreich.

Die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague teilte der Redaktion mit, dass in den letzten beiden Wochen der drei Meter unter Wasser liegende Auslauf der Abwasserleitung mehrmals mutwillig verstopft worden sei. Die Taucher, die die Blockade beseitigten, berichteten von sorgfältig ineinander verkeilten Steinen, die nur mühsam zu entfernen waren.

Nach jeweils vier Tagen wurde das Rohr wieder auf die gleiche Weise verschlossen. Trotz erheblich ausgeweiteter Kontrollen des Werkschutzes konnte niemand gefasst werden. Am Strand entdeckte man nur zahlreiche Spuren von Schwimmflossen. Der Betreiber geht davon aus, dass diese Froschmänner zu einer militanten Umweltschutzgruppe gehören.

Nur wegen dieser Fußabdrücke glaubte Unger, dass es seine Wasserwesen waren?, fragte sich Ruth. Diesmal als Atomkraftgegner? Das war ja wohl wirklich zu weit hergeholt. Er konnte doch nicht weltweit jede Schwimmflossenspur mit ihnen in Verbindung bringen. Das war eindeutig übertrieben.

Für sie hatte diese Meldung nichts Geheimnisvolles an sich. Nur Ärgerliches und Bedrohliches. Nicht nur als Meeresbiologin, sondern auch als engagierte Bürgerin, war sie gegen Kernenergie und besonders gegen diese gefährliche Anlage in der Normandie, die leider immer noch in Betrieb war. Seit Jahrzehnten gab es dort Störfälle, aber auch Proteste und Aktionen von Umweltschützern, die sie voll unterstützte.

Sie wusste einiges über La Hague. In dieser Plutoniumfabrik wurde mehr Radioaktivität freigesetzt, als in sämtlichen französischen Atomreaktoren zusammen. Jeden Tag wurden 400 Kubikmeter radioaktives Abwasser in den Ärmelkanal geleitet. Und das war legal, weil nur das Versenken von Atommüllfässern im Meer verboten war, die direkte Einleitung der belasteten Abwässer dagegen nicht.

Aber mit diesen vermeintlichen Wasserwesen hatte das absolut nichts zu tun. Das war offensichtlicher Quatsch.

Sie drehte die Seite um. Links befand sich ein schmuddeliger Ausschnitt in englischer Sprache. Ruth las ihn und dann auf der rechten Hälfte Ungers Schrift:

30. August 1983. Winisk, Kanada.

Der Kapitän einer Walbeobachtungsfahrt in der Hudsonbay meinte den charakteristischen runden, weißen Kopf eines Belugas erspäht zu haben und machte seine acht Ausflügler darauf aufmerksam. Sofort legten alle ihre Ferngläser an und betrachteten ihn, dabei erfuhren sie über diese weißen Wale, dass sie vorwiegend in küstennahen arktischen Gewässern vorkämen, bis zu sechs Metern lang werden könnten, sehr gesellig seien und meistens in Familienverbänden von ungefähr 10 Tieren lebten.

Alle warteten deshalb gespannt darauf, dass noch mehr Köpfe auftauchten. Der Kapitän versuchte vorsichtig, ein Stück näher heranzukommen. Plötzlich drehte sich die weiße Kugel zu ihnen um, reckte sich kurz über die Wellen und verschwand unter Wasser.

Sämtliche Leute an Bord schworen später, dass sie durch ihre Ferngläser ganz deutlich ein menschliches Gesicht gesehen hätten.

Belugas haben wirklich eine sehr ausgeprägte Wölbung an der Stirn, dachte Ruth, die kann man echt für einen Glatzkopf halten.

Dass an die zehn Zeugen versicherten, einen Menschen erkannt zu haben, war schon bemerkenswert. Da musste wohl was dran sein. Viel leicht hatten sie einen Triathlonsportler beim Schwimmtraining gesehen.

Ruth blätterte weiter. Links gab es keinen Zeitungsartikel, aber dafür eine kindliche Zeichnung, die auf einem Strich anscheinend die Oberhälfte eines Schneemanns darstellen sollte. Rechts stand:

3. Juli 1988. Almeria, Spanien.

Zwei deutsche Jungs ( 10 und 8 Jahre alt ), die sich erst hier auf dem Campingplatz kennengelernt hatten, waren seit drei Tagen ständig mit dem Schlauchboot des Älteren auf dem Meer. Dabei befolgten sie die Anweisung ihrer Eltern, stets in Strandnähe zu bleiben und nicht über die roten Bojen hinaus zu fahren.

Heute hielten sie sich allerdings nicht daran und paddelten ungestüm über diese Sichtmarkierung, weil sie spielten, einen riesigen weißen Hai zu verfolgen. Bei der Hitze waren sie natürlich schnell erschöpft und schwitzten. Um sich abzukühlen, sprangen sie johlend ins Wasser. Der ältere Junge hatte sogar daran gedacht, sich die Leine des Boots am Fuß festzuknoten, um es nicht zu verlieren.

Womit sie aber überhaupt nicht gerechnet hatten, war die Schwierigkeit, sich aus dem Wasser heraus an den runden, glatten Außenseiten wieder aufs Schlauchboot zu ziehen. Sie strampelten wie wild und versuchten auf jede erdenkliche Art, wieder an Bord zu gelangen. Doch sie schafften es nicht und bekamen langsam Angst. Der Strand war weit entfernt und schreien sinnlos. Also entschlossen sie sich dazu, sich am Boot festzuhalten und mit den Beinen Schwimmbewegungen zu machen, um so irgendwann das rettende Ufer zu erreichen.

Da tauchte plötzlich ein Mann neben ihnen auf, lächelte ihnen zu und wuchtete sie nacheinander scheinbar mühelos zurück ins Schlauchboot. Dabei sagte er kein einziges Wort und verschwand gleich wieder unter Wasser. Die Jungs konnten nur seinen Oberkörper sehen und beschrieben ihn später als haarlos, mit winzigen Ohren und Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Sie fertigten auch die eingeklebte Skizze an.

Ihre Eltern hielten ihren Bericht für eine sehr fantasiereiche Vertuschung ihrer Verfehlung und glaubten ihnen nicht. Ein früherer Seekamerad war zufällig Nachbar auf diesem Campingplatz und schickte mir die Geschichte.

Da bin ich ganz der Meinung dieser Eltern, dachte Ruth. Sie hätte nicht erwartet, dass Unger so eine Kindergartenzeichnung überhaupt in seine Sammlung aufgenommen hatte. Aber offenbar nahm er alles, was er kriegen konnte.

Ihr Telefon klingelte. Sie angelte es sich vom Tisch und schaute aufs Display. Es war Christel.

„Guten Morgen.“

„Hallo, Ruth. Störe ich? Bist du beim Kochen oder so?“

„Ich kann doch nicht kochen.“

„Es ist mir ja unangenehm, aber ich kann es einfach nicht mehr abwarten: Hast du schon in dem Buch meines Vaters gelesen?“

Die hat´s aber eilig, wunderte sich Ruth. „Ja. Ich habe mehrere Seiten gelesen.“

„Wie weit bist du denn?“

„Ist das Buch vollgeschrieben?“

„Beinahe.“

„Dann hab ich wohl schon fast die Hälfte geschafft. Ich bin gerade bei den zwei Jungs im Schlauchboot vor Almeria. Dem Bericht mit dieser komischen Zeichnung.“

„Und?“, erkundigte sich Christel lauernd. „Kannst du schon irgendeine Aussage machen?“

„Na ja, es ist extrem ungewöhnlich.“

„Du glaubst es also nicht.“

Ruth wollte es vorsichtig formulieren: „Zumindest kann ich es mir momentan nicht vorstellen.“

„Aber er hat sich das auf keinen Fall nur ausgedacht.“

„Das habe ich auch nicht behauptet.“

„Und was hast du für eine Erklärung dafür?“, fragte Christel.

„Er hat sich meiner Meinung nach zu sehr auf Schwimmflossenabdrücke und Kahlköpfe fixiert und sie automatisch mit seinem Wasserwesen gleichgesetzt.“

„Und die Fischer, die so einen im Netz hatten?“

„Das muss ein nackter Mensch mit Anomalien gewesen sein.“

„Und wenn nicht?“

„Tja ...“, Ruth ließ das Ende offen. Das anschließende Schweigen belastete sie. „Bist du jetzt sauer?“

„Nee. - Nur enttäuscht.“

„Von mir?“

„Nein. Auch. Weil dir diese Geschichte nicht genauso wichtig ist wie mir.“

Ruth schluckte betroffen. „Hör zu. Ich werde die Aufzeichnungen deines Vaters bis zum Ende lesen und die Sache ausgiebig durchdenken. Danach rufe ich dich an und teile dir meine Einschätzung mit. Einverstanden?“

„Ja“, antwortete Christel leidend.

„Ich melde mich dann.“

„Danke, Ruth. Schönen Sonntag noch. Und entschuldige. Tschüss.“

„Alles klar. Tschüss.“ Sie drückte auf den roten Hörer und starrte noch einige Zeit aufs Telefon, bevor sie es weg legte.

Christel tat ihr leid. So traurig hatte sie sich schon ewig nicht angehört. Aus irgendeinem Grund waren ihr diese abstrusen Berichte ihres nie präsent gewesenen Vaters äußerst wichtig. Sie reagierte überempfindlich auf jegliche Kritik und verteidigte sie. Vielleicht empfand sie es als späte Wiederherstellung einer guten Vater-Tochter-Beziehung.

Das Kapitel Eltern war bis zu deren Tod auch bei ihr ein schwieriges Thema gewesen. Aber diese Art von Verklärung hatte sie nie betrieben. Oder einfach erfolgreich verdrängt.

Ruth holte sich ein Glas Wasser, nahm das aufgeschlagene Buch wieder hoch und legte die starre Seite um. Sie betrachtete die linke Hälfte. Dort gab es oben einen winkligen Ausschnitt in englischer Sprache. Sie überflog ihn und las dann Ungers Version rechts:

11. Februar 1991. London, Großbritannien.

Einem abendlichen Jogger an der Themse fiel ein nackter Mann auf, der an der Wasserkante stand, ihm den Rücken zukehrte und sich scheinbar die beleuchteten Sehenswürdigkeiten anschaute. Er hielt ihn für einen abgehärteten FKK-Eisschwimmer. Beim Weiterlaufen und Näherkommen beobachtete er, wie der Nackte mit Storchenschritten im Wasser verschwand.

Seltsam fand er, dass der Mann überhaupt nicht mehr auftauchte und riesige Fußabdrücke im Ebbeschlick der Themse hinterließ.

Ruth zog ein überdrüssiges Gesicht. Das war ja die gleiche Story wie in New York.

Sie sah zur Uhr und überlegte, ob sie jetzt schon zu einem Spaziergang aufbrechen oder noch warten sollte. Und was war eigentlich mit Essen? Aber dafür war es noch zu früh. Also blätterte sie eine Seite weiter.

Diesmal klebte links eine schöne Urlaubspostkarte. Sie zeigte vermutlich eine kleine Südseeinsel mit Palmen, weißem Strand, einem Bootssteg und einer runden Hütte mit Blätterdach. Das Wasser in Strandnähe leuchtete türkisfarben, weiter draußen hatte es ein dunkleres Blau als der wolkenlose Himmel. Rechts stand:

4. April 1995. Male, Malediven.

Ein ehemaliger Seekamerad betrieb einen Bootsverleih im Urlaubsparadies der Malediven. Er fuhr ein deutsches Ehepaar zum Tauchen hinaus. Als sie zurück an Bord kamen, erzählten sie ihm von einem Erlebnis, das er mir später in einem Brief mit dieser Postkarte mitteilte:

Zum Ende ihres Tauchgangs in der wunderbaren Welt der Korallenbänke hätten sie einen anderen Taucher ohne Badehose und ohne Ausrüstung erblickt. Zuerst hätten sie ihn für einen Einheimischen gehalten, doch seine Haut sei weiß gewesen. Er habe sie dann ebenfalls entdeckt und sei mit ausholenden Armbewegungen weggeschwommen. Sie hätten ihn ein Stück verfolgt, aber er sei viel schneller vorwärtsgekommen. Dabei hätten sie ganz genau gesehen, dass seine überdimensionalen Füße wie Schwimmflossen paddelten und seine Hände eine größere Fläche hatten. Allerdings konnten sie keine Haare und Ohrmuscheln erkennen.

Ruth besah sich die paradiesisch anmutende Insel auf der Karte und grübelte über das Gelesene nach. Irgendwie kam ihr diese Schilderung echt vor. Zumindest fand sie nicht auf Anhieb eine Erklärung für eine optische Täuschung, und die Äußerungen von Tauchern hatten für sie bei so einem Lebewesen eine höhere Glaubwürdigkeit als andere. Immerhin sahen sie unter Wasser – besonders bei den Malediven – eine ungeheure bunte Artenvielfalt, bei der sie mit einem Blick die jeweilige Spezies identifizieren mussten, um sie als eventuell gefährlich einzustufen und entsprechend zu reagieren. Es könnte nämlich schmerzhaft bis lebensbedrohend sein, wenn man nicht wusste, ob ein Fisch oder eine andere Kreatur angriffslustig oder auf irgendeine Art giftig war.

Ruth trank einen Schluck Wasser und sah wieder die auf sie zu schnellende und nach ihr schnappende Muräne vor sich. Sie kannte die Effektivität ihres Mauls: Die scharfen Zähne waren nach hinten gerichtet, damit das Opfer nicht mehr entkommen konnte. Der Oberkiefer hatte eine doppelte Zahnreihe, der Unterkiefer nur eine. Wenn die im Ganzen verschluckte Beute groß war, bildete die Muräne zwei Windungen, um sie mit ihrem Körper im Verdauungstrakt zu zerquetschen.

Ruth legte das Album so aufgeschlagen auf den Tisch, reckte sich gähnend und erhob sich. Es war Zeit, sich an der frischen Luft etwas zu bewegen.

3

Ruth Naumann spazierte durchs Düsternbrooker Gehölz, ihrem Lieblingsgelände im Kieler Stadtgebiet. Es handelte sich um eine Mischung zwischen Wald und Park mit vielen miteinander verbundenen Wegen. Im östlichen Randbereich konnte man schon die frische Seeluft der Bucht mit allen Sinnen spüren.

Früher war sie im Sommer oft mit ihren Eltern an den Stränden am Ostufer der Kieler Förde gewesen. Sie hatte nicht mit anderen Kindern geplantscht oder gespielt, sondern lieber mit Taucherbrille und Kescher kleine Tiere im Wasser gefangen, die ihre Untersuchungen selten überlebten.

Pünktlich zum Frühlingsanfang in drei Tagen zeigten sich violette und weiße Krokusse. An den Forsythien lauerten bereits die halb geöffneten gelben Blüten.

Jetzt um die Mittagszeit war hier nicht viel Betrieb. Sie sah hauptsächlich Leute, die ihre Hunde ausführten – oder umgekehrt. Bis auf gelegentliches Bellen gab es eine wohltuende Ruhe, nur die Meeresbrise rauschte in den Bäumen. Sonst war es hier erheblich lauter durch viele lärmende Kinder, die irgendein neues Fortbewegungsmittel ausprobierten, Fangen oder Ball spielten, in ihren Karren oder an ihren Eltern plärrten. Zum Glück machten die wohl jetzt alle ihren Mittagsschlaf zu Hause.

Es dauerte nicht lange, bis Ruth wieder in Gedanken bei den Berichten von Christels Vater war. Dabei fiel ihr die 'Volkszählung der Meere' ein, die vor 10 Jahren nach langjähriger Arbeit veröffentlicht worden war. Bei dieser großen wissenschaftlichen Gemeinschaftsaktion von 80 Nationen weltweit sollte eine Bestandsaufnahme der Meeresbewohner durchgeführt werden, bei der man zwangsläufig unbekannte aufspüren würde.

Die Ergebnisse der 540 Einzelexpeditionen – auch durch ihr Institut – wurden in drei Büchern über den Zustand der Ozeane zusammengefasst. Man konnte mehr als 1200 neue Arten von Meerestieren ausführlich beschreiben, über 5000 weitere wurden entdeckt, aber noch nicht abschließend bestimmt.

Trotz vieler neuer und überraschender Erkenntnisse dieser gewaltigen Analyse mussten die Wissenschaftler aber auch zugeben, dass sie nur verschwindend kleine Stücke untersucht hatten und der größte Teil der Weltmeere wahrscheinlich immer unerforscht bleiben würde.

So gesehen war alles möglich. Aber menschliche Wesen mit Flossen?

Ein junges Liebespaar kam Ruth eng umschlungen entgegen. Ihr kam die Idee, dass man doch auch mal untersuchen müsste, wie sich dieses Gefühl und ihre Beziehung im Laufe der Zeit entwickelte. Wie lange hielt sich diese Verliebtheit? Waren die beiden in einem Jahr noch ein Paar? Hatten sie in fünf Jahren Kinder und kamen dann auch hierher? Führten sie in 25 Jahren eine gute Partnerschaft, wenn die Kinder wieder aus dem Haus waren? Fuhren sie als Großeltern ihre Enkel hier herum? Saßen sie in 40 Jahren dort auf einer Bank und dachten an den Anfang ihrer Liebe? - Oder ging in ein paar Monaten jeder wieder seinen eigenen Weg allein?

Auf dem Rückweg von ihrem ausgedehnten Spaziergang hatte Ruth bei dem türkischen Imbiss angehalten, bei dem sie schon fast als Stammkunde gelten konnte. Sie hatte sich einen Hähnchen-Döner und einen kleinen Bauernsalat mitgenommen und beides in ihrer Küche sofort genüsslich aufgegessen. Wegen des Zazikis musste sie auf niemanden Rücksicht nehmen, und mit Küssen rechnete sie nicht mehr.

Ruth trank noch ein Glas Wasser und fühlte sich gestärkt genug, um noch einige seltsame Berichte von Christels Vater zu lesen. Sie nahm das bei der Palmeninsel-Karte aufgeschlagene Buch vom Tisch und drehte die Seite um. Links gab es einen englischsprachigen Ausschnitt mit viel roter Schrift und der Abbildung eines skelettierten Fußes. Die Aufmachung erinnerte sie an die Bi ld-Zeitung. Die fette Überschrift lautete: 'Ist das der Fuß von Goliath?'

Ruth stieß einen Überraschungspfiff aus und überflog den Artikel. Bei den zusammengefügten Fußknochen handelte es sich um ein Ausgrabungsfoto mit den üblichen rechtwinkligen Messstäben. Etwas belustigt las sie auf der rechten Hälfte den Text von Unger:

26. Januar 1998. Tel Aviv, Israel.

Der amerikanische Archäologe Clark Foster entdeckte bei Ausgrabungen im Gebiet von Tel Maresha die vollständigen Knochen eines riesigen menschlichen Fußes. Es handelte sich um den rechten, er hatte eine Länge von 51 Zentimetern und eine Breite von 19 Zentimetern. Leider konnte er bis jetzt keine weiteren Stücke des Skeletts oder Artefakte finden.

Die Altersbestimmung der Knochen ergab exakt 1000 v. Chr.. Das war die Zeit von David und seines Zweikampfes mit dem Philister-Riesen Goliath, der laut Bibel über drei Meter groß gewesen sein soll.

Foster verknüpfte beide Punkte und glaubte so, den gewaltigen Fuß von Goliath gefunden zu haben und wollte weiter nach den restlichen Knochen suchen. Er erwog aber auch, dass nur der einzelne abgetrennte Fuß als Trophäe an diesen Ort verschleppt worden sein könnte.

Die Fachwelt unterstützt allerdings keineswegs Fosters Hypothese und wollte den Fund nicht weiter kommentieren.

Das wundert mich nicht, dachte Ruth. Das ist eine sehr fantasiereiche Spekulation und passt haargenau in Ungers Denkweise. Da wird ein gigantischer Fuß in einer Wüstengegend ausgegraben, und er ist sofort davon überzeugt, dass es sich um den rechten Paddelfuß eines Wasserwesens handelt. Das Knorpel- und Hautgewebe seiner beliebten Schwimmhäute hat sich natürlich inzwischen aufgelöst.

Ruth stöhnte und massierte ihre Schläfe. Das war schon verzwickt. Wie sollte man einen menschlichen Fuß von einem halben Meter Länge erklären? Er schien ja bis auf die Größe keinerlei Anzeichen einer Missbildung zu haben. Sie nahm sich vor, mal im Internet nach Foster und seiner ungewöhnlichen Entdeckung zu recherchieren.

Was wäre das eigentlich für eine Schuhgröße?, fragte sich Ruth amüsiert und blätterte eine Seite weiter. Links klebte ein Zeitungsausschnitt mit vermutlich chinesischen Schriftzeichen. Sie las Ungers gleichmäßige Schrift rechts:

7. Mai 2001. Schanghai , China.

Ein Geschäftsmann kam nach einer Party in der Nacht auf Sonntag vom Weg ab und landete mit seiner neuen Limousine im Hafenbecken. Das Auto sank schnell. Nach eigenen Angaben geriet der Mann in Panik und sei unfähig gewesen, die Tür oder ein Fenster zu öffnen. Starr vor Schreck habe er den Grund erreicht, immer noch mit eingeschaltetem Licht. Das Wasser im Wageninneren stieg rasch und habe ihm bald bis zum Hals gestanden.

Dann sei außen plötzlich ein nackter Mann aufgetaucht und habe an die Scheibe geklopft. Der Autofahrer habe seinen Mund zum Wagendach gestreckt und in der verbliebenen Luftblase geatmet. Trotzdem habe er genau gesehen, dass die ausgestreckte Hand an der Fensterscheibe Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte. Der Nackte habe die Fahrertür geöffnet, ihn abgeschnal lt und mit kräftigen Beinbewegungen an die Wasseroberfläche und zur Kaimauer gebracht. Dort habe er ihn sich über die Schulter geworfen und die Leiter hoch geschleppt. Oben habe er ihn vorsichtig abgelegt und sei wieder ins Wasser gesprungen.

Die Polizei teilte mit, dass bei dem Autofahrer ein Alkohol- und Drogentest durchgeführt wurde, beide seien positiv gewesen.

Also waren die Schwimmhäute nur eine Halluzination durch den doppelten Rausch, stellte Ruth fest. Und der Retter war verschwunden, um Hilfe zu holen. Alles leicht zu erklären.

Sie schlug die Seite um. Links befand sich kein Ausschnitt, rechts stand:

16. Januar 2005. Bangkok, Thailand.

Ein ehemaliger Schiffskoch teilte mir in einem Brief mit, was vier junge Überlebende genau drei Wochen nach dem verheerenden Tsunami in einer thailändischen Fernsehsendung berichtet hatten:

Jeweils zwei seien in Khao Lak und bei Phuket von der gewaltigen Flutwelle mit vielen anderen unter Wasser gedrückt worden. Sie hätten es immer wieder geschafft, an der tosenden Oberfläche Luft zu schnappen, bevor sie erneut überschwemmt wurden. Sie seien sich vorgekommen wie in einem riesigen Mixer, der alles durcheinander wirbelte: tote Menschen und Tiere, Einrichtungsgegenstände, Palmenwedel, Bootsteile, Fahrräder, Wellblechstücke und jede Menge Holz.

Die vier Jugendlichen schwörten, dass sie schließlich von einem hellhäutigen, kahlköpfigen Mann ohne Badehose, aber mit fleischfarbenen Schwimmflossen und Handschuhen aus den Fluten gerettet worden seien, der anscheinend ohne Hilfsmittel sehr lange tauchen konnte. Der Mann mit winzigen Ohren habe sie wortlos auf eine erhöhte Stelle an Land in Sicherheit gebracht und sei sofort wieder im Wasser verschwunden.

Durch diese Sendung wollten sie sich bei ihren unbekannten Lebensrettern bedanken. Es wurde eine Telefonnummer eingeblendet, bei der sich die beiden Männer doch bitte melden sollten, um ebenfal ls eingeladen zu werden und eine Belohnung zu erhalten.

Ruth staunte darüber, dass diese Katastrophe schon 15 Jahre her war. Nach einem Seebeben hatte am 2.Weihnachtstag ein ungeheurer Tsunami ganz Südostasien überrollt und insgesamt über 200.000 Todesopfer gefordert, darunter auch viele Urlauber. Danach wurde dort ein Tsunami-Frühwarnsystem eingerichtet, damit nie wieder so viele Menschen dadurch sterben sollten.

Für die vier Jugendlichen hatte sich die Sendung garantiert finanziell gelohnt. Trotzdem musste an dieser Geschichte etwas dran sein. Immerhin hatten sie an unterschiedlichen Orten übereinstimmende Erlebnisse mit gleich aussehenden Rettern.

Sogleich meldete sich die skeptische Wissenschaftlerin in ihr. Vielleicht hatten die sich die Story ausgedacht und sich abgesprochen, um damit bei einem kommerziellen Sender Geld zu machen.

Ruth nahm die Brille ab und wischte sich über die Stirn, um alles Fantastische aus ihrem Kopf zu kriegen. Sie musste objektiv bleiben.

Sie blätterte eine Seite weiter. Links klebte ein Artikel in amerikanischer Sprache. Sie las ihn und wunderte sich wieder, wie schnell doch die Zeit verging. Unger hatte rechts geschrieben:

12. September 2005. New Orleans, USA.

Nach den Dammbrüchen durch Hurrikan Katrina und den sintflutartigen Regenfällen standen 80 Prozent des Stadtgebiets von New Orleans bis zu siebeneinhalb Metern unter Wasser. Die Hauptstraßen wurden zu Strömen, alle Straßen zu Flussarmen. Die Menschen konnten sich nur noch mit Booten fortbewegen. Durch den kompletten Stromausfall war kein Abpumpen möglich.

Leider kam es überall zu Plünderungen und Gewalttaten. Die Polizei stellte jetzt nach zwei Wochen eine erschreckende Bilanz vor. Sie berichtete aber auch von zwei kuriosen Begebenheiten, bei denen die geständigen Einbrecher wie Mumien verschnürt auf Verandadächern lagen. In beiden Fällen beteuerten die verängstigten Kriminellen, dass sie von einem nackten, abnormen Mann überwältigt worden seien, dessen Hände und Füße wie bei einem Frosch ausgesehen hätten.

Allerdings stellte sich heraus, dass die Gefesselten nicht nur stehlen wollten, sondern in den betreffenden Häusern auch versucht hatten, ein Mädchen sowie eine Frau zu vergewaltigen und nur von dem Unbekannten davon abgehalten wurden. Die Opfer gaben übereinstimmend zu Protokoll, dass ihr Retter auf ihre Hilfeschreie hin erschienen