Alles ändert sich - Sybille und Matthias - Lise Gast - E-Book

Alles ändert sich - Sybille und Matthias E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Sybille liebt Großfamilien. Deshalb ist die Freude auch riesig, als ihre Eltern endlich beschließen, den kleinen Gösta in die Familie aufzunehmen. Für Sybille scheint vorerst alles gut zu sein, wenn da nicht das eine oder andere Problem auftauchen würde... Der hilfsbereite Matthias steht ihr stets zur Seite. Aus der Freundschaft scheint sich allmählich mehr zu entwickeln...ALLES ÄNDERT SICH erzählt von den Gefühlen und Erfahrungen junger Menschen und ihren ersten Annäherungen an das Erwachsenenleben. Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Alles ändert sich - Sybille und Matthias

Saga Egmont

Alles ändert sich - Sybille und Matthias

Copyright © 1972, 2017 Lise Gast og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711508213

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Die Reiter kamen schräg auf Annette zu hinter einem Waldstück hervor. Sie hatte sie vor einer Weile schon gesehen, als sie noch sehr viel weiter entfernt waren, klein, filigranzart gegen den Himmel – wie Spielzeug, wie Bleisoldaten. Annette war neulich mit ihrer Klasse in einem Museum gewesen, da hatten sie unter einer Glasplatte eine Schlacht bewundert, Hunderte von winzigen Figuren, fast nur Reiter, aufgestellt in einer Landschaft aus Gips und aus mit Sand bestreuter Pappe. Daran hatte sie denken müssen, als sie diese lebendigen Reiter vorhin sah, flüchtig, kaum bewußt. Jetzt kamen sie näher, man unterschied Einzelheiten: schwarze Kappen, Jacketts, Pullover, auch ein wenig von den Gesichtern konnte man erkennen.

Gerade fielen die Pferde in Galopp. Jetzt, zur Zeit der geschnittenen Wiesen, war ihre gute Zeit, die beste – außer dem Herbst natürlich, der klassischen Jahreszeit des Reitens. Annette war stehengeblieben und beobachtete, wie der Pulk sich auseinanderzog. Erst war die Gruppe dicht und breit gewesen, jetzt wurde sie immer länger. Der erste Reiter sprang; es mußte dort ein Hindernis liegen, nicht hoch, vielleicht nur ein dicker Baumstamm – man sah es von hier aus nicht. Hopp und hopp und hopp – es wirkte, als ahmten die Folgenden den ersten nur nach. Unwillkürlich zählte Annette: elf – zwölf – dreizehn –

Dreizehn, natürlich. Alle vorherigen waren glatt hinübergekommen, Nummer dreizehn hatte Pech. Annette sah, wie der Reiter ein wenig abgehoben wurde – er ging nicht mit in der Bewegung des Pferdes, er sprang nicht, sondern wurde gesprungen –, und schon war die Einheit, die Pferd und Reiter bilden müssen, zerstört. Sie trennten sich, das Pferd sprang, der Reiter räumte den Sattel. Danach sprangen noch einige, vielleicht vier oder fünf – Annette zählte nicht mehr. Sie war, eigentlich ohne es selbst wahrzunehmen, losgelaufen, sehr schnell. Blitzstarts waren immer ihre Stärke gewesen. Außerdem trug sie, wie meist jetzt in der heißen Jahreszeit, kurze Hosen und Turnschuhe – so war sie eher bei dem Gestürzten als dessen Reiterkameraden, die ja ihre Pferde erst im Tempo einfangen und wenden mußten.

Er lag ganz still, seitlich, die Wange am Boden, die schwarze Kappe noch auf dem Kopf. Einen Augenblick lang glaubte Annette, es sei eine Frau. Das weißblonde Haar, dick aus dem Kragen herausquellend, sah sehr nach Dauerwelle aus. Aber das schmale Gesicht war jünglingshaft streng, die Augen geschlossen; abweisend sah es aus und etwas hochmütig, obwohl die eine Wange, schmutzig und aufgeschrammt, bereits anzuschwellen begann. Annette kniete bei dem Liegenden und versuchte, seinen Kopf vorsichtig ein wenig zu wenden, die Schultern anzuheben, damit man den unter dem Körper liegenden Arm hervorziehen und bequemer legen konnte. Er war so merkwürdig abgewinkelt, sicher gebrochen. Jetzt faßten auch andere Hände mit zu, behutsam, geschickt. So, nun lag er besser.

Er? Doch eine Frau.

»Sie wird gleich wieder, es ist nur der Schock. Da – na, Blanche, wieder da? Wer macht denn solchen Quatsch? Bei der Höhe dieses Hindernisses auszusteigen! War’s schlimm?«

»Woher denn! Aber blöd von mir. Moritz war hibbelig, er wollte verweigern. Ich hab es gemerkt, schon vorher. Und ich wollte – Pech. Tut aber weh, entschuldigt.«

Das schmale Gesicht war dunkelrot geworden, jetzt ebbte die Farbe wieder ab, die Augen schlossen sich. »Gebrochen, sicherlich. Liegen lassen.«

Der Reiter, der die Gestürzte vorhin mit zurechtgelegt hatte, sah Annette an. Er war älter als die anderen, hatte ein glattrasiertes Gesicht und ruhige braune Augen. »Sind Sie hier bekannt? Kann man irgendwo –«

»Telefonieren? Ja, vom Hof aus. Der liegt -«

»Könnten Sie mich hinbringen?«

»Natürlich. Arzt? Oder Krankenhaus? Oder?«

»Am besten Krankenwagen. Ich komme mit.«

»Gut.«

Annette war aufgestanden und sah zu ihm auf. Gerade wurde Moritz herangeführt, das Pferd der Verunglückten; Annette schaute hinüber. Tiefschwarz war es, klein, mit einer lustigen Nase und munteren Augen, ein Pferd zum Verlieben.

»Reiten Sie auch?« fragte der ältere Herr, als er Annettes Blick sah.

Annette zuckte die Achseln.

»Ein wenig.«

Sie hatte manchmal auf Humus gesessen, auf Onkel Herberts Wallach. Reiten konnte man das nicht nennen, wahrhaftig nicht. Aber hier –

»Wir wären schneller dort. Ich nehme ihn an den Zügeln, wenn Sie es möchten. Es wäre die beste Möglichkeit, schnell ans Telefon zu kommen.«

»Na schön«, sagte Annette rasch entschlossen. Sie hob den linken Fuß in den Bügel, zog sich am Sattel hoch. Der Mo ritz war, wie sie schon gesehen hatte, klein – sie merkte es beim Aufsteigen, kein Vergleich zu Humus. Aber drahtig war er und wollte losgehen, man fühlte es genau …

»Dort hinaus. Ja, wir können abkürzen, die Wiese ist geschnitten. Aber bitte, ich möchte nicht unbedingt-« Sie lächelte entschuldigend. Ihr Begleiter machte eine beruhigende Geste. »Jedes neue Pferd ist eine Aufgabe. Aber ich paß schon auf.« Er hatte Moritz’ Zügel in der rechten Hand und lenkte ihn neben sein Pferd. Annette hob sich in den Bügeln, sie war schon manchmal leicht getrabt. Freilich, Humus und dieses Pferd – das war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ganz leicht und schwebend ging, nein tänzelte das Pferd unter ihr dahin; sie hatte das Gefühl, es kaum zu berühren und ihm doch verbunden zu sein, sooft sie das Sattelleder streifte. »Jetzt links, da kommen wir auf einen Feldweg, ja, dort! Und nun geradeaus.«

Da war schon der Hof. Wie gut – und doch: wie schade eigentlich. Sie hätte noch kilometerweit so getragen werden mögen …

Da stand ihr Bruder Matthias und sah sie kommen. Bei Matthias merkte man nie, ob er sich wunderte, jetzt aber wunderte er sich bestimmt. Daß seine Schwester reiten konnte – es sah wirklich so aus, als könnte sie, auch wenn der Herr neben ihr Moritz am Zügel führte.

»Darf ich – würden Sie die Pferde halten? Ich möchte dringend telefonieren, ein Unfall.«

Matthias hatte sogleich zugegriffen und stand nun, beide Pferde am Zügel haltend, und sah zu Annette auf. Die hob das rechte Bein über die Kruppe und stieß sich vom Pferd ab, während sie heruntersprang.

»Gut, nicht? Das ist aber auch ein Pferd, ich sage dir! Geht wie ein Traum!«

»Schlimmer Unfall?« fragte Matthias.

»Weiß nicht. Eine Frau. Ja, doch. Wahrscheinlich das Bein gebrochen und noch was dazu. Matthias, also ich kann dir sagen …«

»Ich habe den Krankenwagen hierher bestellt, es ist wohl am günstigsten so«, sagte der Reiter, zurückkommend, und schob seinem Pferd die Bügel hoch.

»Ich glaube, wir lassen die Pferde am besten hier. Haben Sie Platz im Stall oder in einer Scheune, oder stellen wir sie einfach auf die Koppel? Zu zweit werden sie ja wohl vernünftig sein und keine Panik machen.«

Er griff unter das Sattelblatt und öffnete den Gurt, hob den Sattel herunter. Annette tat dasselbe bei Moritz. Matthias zog beide Pferde um das Haus herum zu der kleinen Weide, auf der Humus manchmal stand, ehe Onkel Herbert wegritt.

»Schieb die Stange zurück, ja so. Hier haben sie es gut. Halfter herunter? Sind sie gewöhnt, so zu laufen?« fragte er über die Schulter zurück. Der Reiter nickte. Matthias schnallte die Kehlriemen auf und zog die Halfter über die Pferdeköpfe herunter.

»Lauft, ihr beiden Hübschen!«

Sehr schnell war der Krankenwagen da. Der ältere Herr – Lorenz hieß er, er hatte sich vorhin vorgestellt – stieg hinter Annette ein. Annette hatte sich immer gewünscht, einmal mit Tatütata und Blaulicht zu fahren, hier aber schwieg die Fanfare, und Kreuzungen, die man mit Rotlicht überfahren durfte, gab es im Wald auch nicht. Als sie am Unfallort ankamen, war die Reiterin bei Besinnung.

»Ja, der Arm ist bestimmt gebrochen, ich kann ihn nicht bewegen«, sagte sie, »Gottlob der linke. Aber mein eines Bein macht mir auch Sorge!«

Die beiden Träger hatten die Bahre neben ihr abgesetzt. Sie versuchte sich aufzurichten.

»Halt, nein, liegengeblieben! Wozu sind wir denn da!« Annette stand dahinter und sah zu, wie die zwei Männer geschickt und ruhig zupackten. Dann wurde die Bahre angehoben und in den Wagen geschoben.

»Fahren Sie mit?« fragte Herr Lorenz. Annette stieg vorn ein. Sie hörte noch, wie einer der draußen stehenden Reiter zum anderen sagte: »Und ausgerechnet Blanche! Wer hätte das gedacht!«

»Kann jedem passieren«, sagte der andere achselzuckend. Annette aber kam plötzlich eine Idee: Blanche, das war doch …

Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus fragte sie Herrn Lorenz dann. Und es stimmte! Sie hätte es sich denken können. So mußte Blanche einfach aussehen!

Es gab in der Stadt eine Boutique, die alle jungen weiblichen Augen anzog, vielleicht nicht nur die jungen. »Chez Blanche« stand in Popbuchstaben über der Ladentür. Dort gab es Dinge, die einem das Herz schneller schlagen ließen, die einen sehnsüchtig machten: Röcke und Hosen in allen Variationen, superlang oder ganz kurz, aus Leder oder anderen kostbaren Materialien und in traumhaften Farben: Rostrot bis Tiefbraun, Beige in den tollsten Abstufungen, Frechgrün neben einem nebelhaften Blau. Westen waren da und Jacken, Stiefelchen, rustikal oder verspielt, Sandaletten, Schmuck, Schals – das alles gab es bei Blanche, traumhafte Dinge, erlesen, einmalig. Dort einmal kaufen zu können … Es war natürlich Traumtänzerei, auch nur daran zu denken, daß man das einmal könnte. Im vorigen Herbst, als Annette ein paarmal tanzen gewesen war, hatte sie natürlich auch die andern Mädchen, die in jenen Lokalen aus und ein gingen, angesehen. Eine junge Dame kam einmal, die war angezogen, als habe sie sich bei Blanche eingekleidet. Lange Hose aus weichstem Leder, Weste mit Verschnürung, Bluse wie ein Traum und dazu modernen Schmuck, barbarisch und trotzdem geschmackvoll bis ins letzte.

»Die trägt ihre zweitausend Mark auf sich spazieren«, hatte Günter, Annettes Tänzer, nach einem kurzen abschätzenden Seitenblick gesagt. Annette wußte es noch wie heute, ob- wohl sie nicht besonders gern an damals dachte – vor allem nicht an Günter.

Aber jetzt, jetzt hatte sie Blanche kennengelernt, ihr helfen können, sogar ihr Pferd geritten! Sie bezeichnete es bei sich als Reiten, wenn sie auch im untersten Fach ihres Gehirns genau wußte, daß es nur ein Draufsitzen gewesen war. Auf jeden Fall aber hatte sie jetzt die Gelegenheit, der Verunglückten einen Besuch zu machen. Nach ihr zu sehen, im Krankenhaus. Hurra, das würde sie tun! Das erforderte die Höflichkeit, zum mindesten, aber auch Herz und Gemüt! Annette war sehr für Höflichkeit und Herz und Gemüt, für alles, was sie früher wahrscheinlich hochmütig abgelehnt hätte, wenn sie nur dadurch mit Blanche in Kontakt kam. Endlich! Endlich blendete das Leben auf!

Es war auch gar zu triste gewesen in letzter Zeit, fand Annette, als sie später im Bett lag und noch einmal die letzten Monate überdachte. Mutter war noch immer nicht ganz auf der Höhe nach ihrem Krankenhausaufenthalt, obwohl – o ja, etwas Auftrieb hatte ihr die Sache schon gegeben. Jene Sache mit dem Preisausschreiben. Mutter töpferte, und einmal beteiligte sie sich an einem Wettbewerb, eigentlich mehr aus Zufall. Eine Fluggesellschaft suchte ein Modell für ein kleines, hübsches, praktisches Kaffeegeschirr, ein Einmanngeschirr sozusagen. Mutter hatte es eingeschickt oder vielmehr einschicken lassen, der Vater von Annettes Freundin Sybille hatte es für sie getan. Annette erinnerte sich noch genau an den Tag, als die Antwort der Jury bei ihnen eintraf …

Es war im Februar dieses Jahres gewesen, kalt, kein Schnee. Mutter mühte sich in der Küche, die Trommel aus der Waschmaschine herauszubekommen; ein Wäschestück war danebengefallen und mußte sich verklemmt haben. Die Maschine war ein unpraktisches Modell, sie hatten sie gebraucht gekauft. Immer wieder kam es vor, daß die Trommel nicht fest schloß, und dann verklemmte sich, was herausfiel, und man konnte von Glück sagen, wenn es keinen Kurzschluß gab. Diesmal hatte Mutter es rechtzeitig genug gemerkt, um abschalten zu können, aber heraus bekam sie die Trommel nicht, sosehr sie sich auch mühte. Matthias war nicht da, und Heidel und Annette hatten sich beide schon daran versucht. Da kam Kay herein und krähte: »Post!«

Er trug die Zeitung und ein paar Briefe in der schmutzigen kleinen Hand.

»Leg sie hin, ich muß erst die Maschine in Ordnung haben«, sagte Mutter halb verbissen, halb resigniert; sie bekam es ja doch nicht fertig. »Es muß heraus, wir können ja sonst morgen auch nicht waschen und übermorgen!«

Sie zog und zerrte.

»Soll ich mal Onkel Herbert rufen?« fragte Heidel schließlich. Mutters Bruder, der den Hof bewirtschaftete, konnte ja, so fand sie, auch ein einziges Mal als hilfreicher Engel erscheinen. Mutter wandte sich um.

»Onkel Herbert? Nein, lieber nicht. Er sagt schon immer, bei uns geht nichts in Ordnung. Immer ist was, immer hakt es irgendwo, wo es bei andern Leuten automatisch glatt läuft. Tante Gretas Waschmaschine funktioniert immer.«

»Kein Wunder, die ist neu«, sagte Annette wütend.

»Und unsere stammt aus der mittleren Steinzeit und zerreißt auch noch die Wäsche, wenn sie wirklich einmal läuft.«

Sie hatte gerade erleben müssen, daß ihr einziges wirklich hübsches Nachthemd zerrissen aus der Wäsche kam. »Lieber eine Waschmaschine, die funktioniert, und die auf Raten, als so ein unmögliches Ding wie unseres, das doch nicht läuft.«

»Auf Raten – das wär das letzte«, sagte Mutter und gab es auf. »Vater hat nie – er sagte, man darf sich nicht zum Sklaven der Lieferanten machen. Lieber sparen und warten, bis man es ganz bezahlen kann, abgesehen davon, daß es dann wesentlich billiger ist.«

»Ach, sparen! Du siehst ja, wir kommen nie dazu«, sagte Annette. »Sobald du etwas zusammen hast, gibst du es für andere Dinge aus.«

»Manchmal kommen eben andere, wichtigere Dinge dazwischen.«

»Aber –«

»Also, das sage ich euch: Wenn ich einmal wirklich zu Geld komme …«

Mutter klappte den Deckel auf die Maschine und setzte sich verzweifelt auf die Küchenbank.

»Du trittst auf die Zeitung, Heidel, heb sie lieber auf. Wenn ich nur wüßte, wie wir das Zeug herauskriegen, morgen stehen wir ja vor demselben Problem.«

Heidel bückte sich und hob die Postsachen auf. Auf einmal schrie sie laut auf.

»Mutter, hier, hier! Vom Preisausschreiben, von der Fluggesellschaft! Mach auf!«

Sie hielt Mutter einen Brief hin, der als Absender eine kleine gedruckte Zeichnung eines Düsenflugzeugs trug. »Sicher hast du was gewonnen! Sicher, sonst schickten sie dir doch das Modell zurück!«

Es war wochenlang, nachdem Mutter sich an diesem Wettbewerb beteiligt hatte, in der Familie üblich gewesen, bei allem und jedem zu sagen: »Wenn wir erst den Preis haben … «, »Wenn du zu Geld gekommen bist … «, »Wenn die Fluggesellschaft …«

Ein neuer Anzug für Matthias würde herausspringen, ein tolles Kleid für Annette, ein Fahrrad für Heidel, ein Schaukelpferd für Kay. Obwohl dieser dem Schaukelpferdalter längst entwachsen war, er kam im Herbst zur Schule. Ein Paar Schuhe für Mutter …

Mutter hielt den Brief ungeöffnet in der Hand. Sie zögerte. War es nicht besser, ihn noch nicht zu öffnen, noch nicht vor der Entscheidung zu stehen? Noch von der Hoffnung zu leben, es könnte doch sein?

»Mach auf, Mutter, bitte! Wenn wir den Preis bekommen, kaufen wir eine neue Waschmaschine, eine vollautomatische«, rief Heidel. »Und einen neuen elektrischen Herd und eine Spülmaschine!«

»Und ein Auto!« quiekte Kay, »und –«

»Ich hab doch keinen Führerschein«, sagte Mutter schwach, »was soll uns da ein Auto. Matthias ist auch -«

»Der wird bald achtzehn, und wenn sonst niemand in der Familie ist, der fahren kann, kriegt er bestimmt die Genehmigung, den Führerschein zu machen!«

»Aber wozu brauchen wir denn ein Auto?«

»Mach auf, Mutter!«

In diesem Moment kam Matthias herein.

»Was ist denn hier los? Wo brennťs denn?« fragte er in seiner ein wenig überlegenen Art. Als einziger Mann – Kay war ja noch ein Kind, das man verwöhnte oder anschrie, je nachdem – hatte er sich angewöhnt, möglichst über den Dingen zu stehen, wenn im Haus die Wogen hochgingen. Weder Schrecken noch Freude brachten ihn äußerlich aus dem Gleichgewicht; er glaubte sich das schuldig zu sein. »Die Fluggesellschaft hat …«

»… geschrieben? Und was?«

»Mach du auf. Hier ist der Brief«, sagte Mutter halblaut und reichte ihn Matthias. Er sah sie kurz an, nahm dann einen Kochlöffel und schlitzte den Umschlag mit dem Stiel auf. »Hier, lies selbst, Mutter.«

Er reichte ihr den aufgefalteten Brief, ohne selbst hineingeschaut zu haben. Mutter nahm ihn.

Stille. Man hörte keinen Atemzug. Mutter las. Sie las sehr lange.

Wenn wir gewonnen hätten, würde sie es längst gesagt, haben, dachte Matthias und setzte sich neben sie, langsam, unauffällig, so, als wäre er nur müde. Er wollte ihr nahe sein, seine Schulter an ihrer.

»Na?« fragte er endlich.

»Nichts. Zu unserm Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen … hm … für ein anderes Modell entschieden. Doch nicht ganz das, was wir erwarteten. Bitten um Verständnis …«

»Und dein Modell?« fragte Annette schließlich.

»Das wird schon noch kommen. Das konnten sie ja nicht in den Brief reinstecken«, sagte Matthias halblaut. Ihm war klar, daß auch Mutter gehofft hatte, weil nur ein Brief kam und kein Päckchen. Das wurde vermutlich erst neu verpackt.

»Zurück bekommst du es bestimmt!« sagte er. Mehr fiel ihm im Moment nicht ein. Was gab es auch noch zu sagen! »Kinder, es hilft nichts, jetzt dazusitzen wie begossene Pudel!« sagte Mutter und stand auf. Jetzt nichts merken lassen, lieber den Haushalt an erste Stelle rücken, lieber hier etwas leisten, wenn es eben dort nichts ist. Man kann nur eins oder das andere. Aber wenn ich meine Töpferei aufstecke – wir brauchen doch Geld! »Kommt. Wenn was schiefgeht, soll man die Ärmel hochkrempeln«, sagte sie. »Das war Vaters Überzeugung. Wenn man ganz unten ist, soll man etwas von ganz unten her anfangen. Das Fahrrad auseinandernehmen und richtig durchölen oder einen Stuhl anstreichen, den man schon lange nicht mehr sehen konnte, weil er so schäbig ist – oder auch nur einen Schrank aufräumen, richtig gründlich. Oder saubermachen.«

»Also!« sagte Matthias. »Machen wir sauber.«

Er hatte wohl gesehen, daß sich die Küche in einem Zustand ziemlichen Durcheinanders befand. »Ihr Frauen wascht ab, ich übernehme den Fußboden, und Kay -«

»Ich will auch Fußboden!« rief Kay begeistert. Alles, was der große Bruder tat, erschien auch ihm erstrebenswert. »Ich kann bestimmt Fußboden!«

»Gut, dann kriech mal unter die Bank und hol alles heraus, was dort liegt«, sagte Matthias freundlich. »Das kannst du sogar besser als wir.«

Er mochte den kleinen Bruder sehr gern, gerade in seiner kindlichen Begeisterungsfähigkeit für eine Arbeit, die im Grunde sinnlos war – der Fußboden war natürlich sofort wieder schmutzig, so sauber man ihn auch im Augenblick putzte. Welche Arbeit aber, du lieber Himmel, hatte Sinn, wenn man sich einmal in Mutters Lage hineinversetzte? Fußböden, blinkend sauber, wurden am selben Tage wieder voller Tapsen getreten, das Essen, mit Liebe gekocht, war in fünf Minuten aufgegessen, und die Wäsche? Selbst wenn die Waschmaschine funktionierte …

Schrecklich. Entnervend. Er konnte verstehen, daß sich Mutter an eine andere, an ihre schöpferische Arbeit klammerte. Nur brachte die leider nicht viel ein, wie man sah. »Hier! Noch ein Brief!« sagte Kay eben und hielt Mutter einen Umschlag hin, auf dem man deutlich allerlei Abdrücke sah, Katzenpfoten und Schmutz von Kinderschuhen. »Sicher nur eine Reklame«, sagte Mutter und legte den Brief aufs Fensterbrett. »Nimm die kleine Schaufel, Kay, und kehr unter der Bank, du kannst da am besten hinunter. Aber richtig die Ecken ausfegen, hörst du?«

»Die Fenster könnte man auch mal putzen«, sagte Heidel hausmütterlich wichtig, »wir könnten Spray nehmen, das geht wie der Wind. Onkel Herbert hat welchen für seine Autoscheiben.«

»Soll ich es holen? Ich weiß, wo es liegt«, rief Kay mit blitzenden Augen. »Ich hab gestern damit …«

»Was hast du?« fragte Matthias, mit seinem Schrubber innehaltend, und sah den Kleinen scharf an.

»Ich hab damit – die Fenster im Kuhstall waren so dreckig«, sagte Kay kleinlaut. »Und Kühe wollen auch mal rausgukken, und -«

»Und dazu nimmst du Onkels Autospray? Laß dich bloß nicht dabei erwischen«, brummte Matthias. Er selbst hatte kein gutes Verhältnis zu Mutters Bruder. Seit er damals das Moped des Onkels »entliehen« hatte und eine Bande von Halbwüchsigen es ihm wegnahm und ihn zusammenschlug, seitdem hatte er noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen Onkel Herbert gegenüber, das er nicht loswurde. Ich ersetze ihm die alte Karre schon noch, er wird es erleben, dachte er zwar zum hundertsten Mal. Aber wann, wann? Und – es mochte ungerecht sein oder nicht – seit jenem Pech konnte er den Onkel noch weniger leiden. Daß Kay ihm hin und wieder ein Schnippchen schlug, bereitete ihm eine verhohlene Schadenfreude. Onkel Herbert hatte an Kay einen Narren gefressen, nahm ihn mit, wo er konnte, und verwöhnte ihn über die Maßen. Das dürfte nicht sein, Matthias wußte es, aber er gönnte es dem kleinen Bruder.

»Jetzt werden die Fenster ohne dieses Wundermittel geputzt«, bestimmte er, seine verschiedenen inneren Stimmen gewaltsam übertönend, »ich übernehme dieses hier und Annette das da drüben, mal sehen, wer eher fertig ist.«

»Du fängst ja eher an!« keifte Annette, und Matthias ließ demonstrativ die Hände sinken.

»Dann sag bitte, wenn du in Tiefstart gehst.«

»Kinder, Kinder, vertragt euch«, bat Mutter schüchtern. Es war so selten, daß alle vier gemeinsam an einem Strick zogen, und schon wieder drohte Streit. Sie fühlte sich immer noch ein bißchen schwach, hatte sich von ihrem Krankenhausaufenthalt noch nicht recht erholt. Aber schlimmer als liegengebliebene Arbeit war ihr Uneinigkeit unter ihren Kindern. »Laßt doch die Fenster, es muß ja nicht alles auf einmal geschehen.«

»Hallo, hier geht’s ja lustig zu!« rief in diesem Augenblick eine Stimme. Sybille Frey, Annettes Freundin und Klassenkameradin, war unbemerkt hereingekommen. Sie hatte keine Geschwister und fand es bei Bergers auf dem Aussiedlerhof immer wundervoll. Und im Grunde war es das auch; sie begriffen es eigentlich immer erst, wenn Sybille es mit ihren strahlenden Augen bewundernd ansah.

Frau Berger mochte Sybille sehr gern.

»Wie schön, daß du da bist. Kinder, wollen wir nicht aufhören zu putzen?« fragte sie. »Sybille möchte es doch gern gemütlich haben.«

»Aber wieso denn, ich putze mit! Desto schneller sind wir fertig«, lachte Sybille, die zu Hause nur wenig zu helfen brauchte. »Gib mir einen Lappen, Annette, ich hab zwar noch nie Fenster geputzt, aber einmal muß es ja das erste Mal sein.«

»Nein, wasch lieber auf! Dann kann Mutter Kaffee kochen«, sagte Annette.

Es war wirklich so: Sobald Sybille da war, wurde es friedlich. »Mutter, bitte laß Sybille ran, sie wäscht hervorragend ab.«

»Seht ihr, das ging wie der Blitz«, sagte Matthias befriedigt, als die Küche in neuem Glanz strahlte, »und Mutters Kaffee duftet schon herrlich.«

»Ich hab was dazu mitgebracht«, verkündete Sybille eifrig, »ich weiß doch, wie gern ihr Negerküsse eßt. Und heute fiel mir was in den Schoß!«

Sie guckte pfiffig. Alle merkten, daß sie gefragt werden wollte. Matthias tat ihr den Gefallen.

»Was fiel denn da? War es schwer?« sagte er also.

Sybille war noch einmal in den Flur gelaufen und brachte einen Karton geschleppt. »Fünfzig Stück! Der Mann, der sie mir verkaufte, glaubte sich verhört zu haben. Er sagte: ›Sie meinen wohl für fünfzig Pfennig?««

»Oh, so viel! Essen wir die gleich?« bettelte Kay. Sybille stellte eins der Innenkästchen, in denen jeweils sechs Mohrenköpfe verpackt waren, vor ihn hin. »Nun iß, solange du kannst, nimm mal richtig Anlauf!«

»Aber das Papier muß raus. Wir bauen alle auf dem großen Holzteller auf!« sagte Heidel und brachte ihn heran. Sie wußte, wie schön Sybille alle ihre alten, immer wieder blankgescheuerten Holzteller fand.

»Gehen die drauf? Wirklich, fünfzig Stück? Du bist ein Schatz, Sybille.«

»Ja, wir müssen feiern. Nächste Woche kommt unser Pflegekind Gösta. Endlich! Immer zögerte es sich noch hinaus. Aber woher ich das Geld für die Negerküsse hab, möchtet ihr wissen? Wir hatten doch einen Aufsatz auf, »Stadtkinder aufs Lands na, ihr wißt ja, Bennos Lieblingsthema.« Benno war der Deutschlehrer. »Und da fand er meinen so gut, daß er ihn ohne mein Wissen an eine Zeitung geschickt hat. Dort wurde er abgedruckt, und heute bekam ich per Post mein Honorar. Was sagt ihr dazu!«

»Wunderbar, Sybille, großartig! Und da gibst du gleich einen aus …«

»Gib das Zeug, ich trag es noch weg«, sagte Heidel über den Stoß Papierabfälle hinweg, den sie in den leeren Karton versenkt hatte, »dort liegt auch noch was –«, sie deutete mit dem Kinn zum Fensterbrett hinüber. »Her damit, ich bring es raus.«

»Das ist ein Brief, noch nicht aufgemacht«, sagte Sybille und drehte den nassen Umschlag um.

»Drucksache, weg«, sagte Annette, die endlich Kaffee trinken wollte. Sybille guckte auf den Brief, den Heidel oben auf das Gebirge von Abfallpapier gelegt hatte, und entzifferte den Absender. »Geschmackvoller Hausrat. Die Schatztruhe«, las sie vor. »Habt ihr dort was bestellt? Ich kenn den Laden, die haben wunderbare Sachen, vor allem Keramik, aber auch Gläser, ganz tolle. Habt ihr dort was bestellt? Der Laden ist an der Marktecke. Mit Mutter war ich sogar mal drin.«

»Was schreiben die dir denn, Mutter«, sagte Matthias jetzt. Es sollte obenhin klingen, aber eine gewisse Spannung war nicht zu überhören. Mutter zuckte die Achseln, sie war eben beim Kaffee-Eingießen.

»Keine Ahnung. Sicher nur Reklame.«

Matthias trat neben Sybille und nahm den Brief vom Stapel. »Soll ich mal aufmachen?«

»Ja, meinetwegen. Aber setzt euch endlich.«

Sie setzten sich. Heidel mitsamt Karton und Abfallpapier, das ihr beinah bis an die Nase reichte. Stumm und staunend hörten sie an, was Matthias da halblaut vorlas.

»… und so sind wir sehr daran interessiert, eine Zusammenarbeit mit Ihnen aufzunehmen. Wir möchten nicht allein das Modell, das uns von Frau Loriot vorgelegt wurde, für unsere Schatztruhe erwerben, sondern noch einige andere Dinge.« »Wer ist denn Frau Loriot?« fragte Mutter verwirrt. Sybille rief: »Das ist ja Göstas Mutter, sie ist doch Stewardeß und hat meinem Vater damals von dem Wettbewerb der Fluggesellschaft erzählt!«

»Und die Schatztruhe will dein Geschirr!«

»Mutter, das wird -«

»Also, jetzt lest doch erst mal zu Ende!«

»Die wollen dich fest anstellen, Mutter, ja, glaube es nur! Sie wollen dir ein Fixum zahlen!«