Alles immer wegen damals - Paula Irmschler - E-Book

Alles immer wegen damals E-Book

Paula Irmschler

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was sie verbindet? – Die eine hat die andere geboren.  Der Hund ist jetzt da, nun muss man sich eben um ihn kümmern, sagt Mutti. So wie die Kinder, die waren damals auch plötzlich da und man musste sich eben kümmern. Das will ihre Tochter Karla in jedem Fall anders machen. Also ist sie von Leipzig nach Köln geflohen, hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen, das ist einfacher als mit Gerda zu diskutieren. Aber jetzt hadert Karla mit der Ausbildung, kämpft mit der Miete, und mit ihrer Freundin könnte auch mal der nächste Schritt kommen. Ob es eine gute Idee von Karlas Geschwistern war, den beiden zu ihren Geburtstagen – zum 30. und 60. – eine gemeinsame Reise nach Hamburg zu schenken?  Mit Witz und Zärtlichkeit erzählt Paula Irmschler von zwei grundverschiedenen Frauen, die zufällig Mutter und Tochter sind. - Ein widerspenstiger Familienroman - Eine zeitgemäße Geschichte über Frausein und Mutterschaft - Entwaffnend ehrlich, voller Wärme, Leichtigkeit und Witz »Paula Irmschler lesen ist wie Saufen mit der besten Freundin, aber ohne Kater. Magisch.« Margarete Stokowski

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Familie heißt Lügen bis tief in die Nacht

Der Hund ist jetzt da, nun muss man sich eben kümmern, sagt Mutti. So wie die Kinder, die waren damals auch plötzlich da und man musste sich eben kümmern. Das will ihre Tochter Karla in jedem Fall anders machen. Also ist sie von Leipzig nach Köln geflohen, hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen, das ist einfacher als mit Gerda zu diskutieren. Aber jetzt hadert Karla mit der Ausbildung, kämpft mit der Miete, und mit ihrer Freundin könnte auch mal der nächste Schritt kommen. Ob es eine gute Idee von Karlas Geschwistern war, den beiden zu ihren Geburtstagen eine gemeinsame Reise nach Hamburg zu schenken?

 

Entwaffnend ehrlich, voller Witz und Zärtlichkeit erzählt Paula Irmschler von zwei grundverschiedenen Frauen, die eines jedoch verbindet: Die eine hat die andere geboren.

Paula Irmschler

Alles immer wegen damals

Roman

 

 

 

She needs wide open spaces

Room to make her big mistakes

The Chicks

1

Mitm Hund raus. Das sind fast immer noch die ersten Worte, die Karla beim Aufwachen denkt. Noch bevor irgendein Sinn sich rührt, wie Sehen, Hören und was es da sonst noch gibt. Vielleicht ist es längst ein eigener Sinn geworden, die Angst, das Wichtigste vergessen zu haben – oder es sind einfach nur langweilige Schuldgefühle. Der Hund muss pinkeln, kacken, rumlaufen, schnüffeln, sein Hundebusiness erledigen, und Karla ist dafür zuständig. An jedem Montag, Dienstag und halben Donnerstag. Da sie beim Aufwachen noch nicht weiß, welcher Tag ist, denkt sie eben an fast jedem: Mitm Hund raus. Es tut ihr nicht so sehr des Hundes wegen leid, dass sie keine Lust hat, mit ihm rauszugehen. Sie will nur nicht erwischt werden. Frieda, ihre große Schwester, mit der sie im permanenten Krieg lebt, wird schon vor ihrem Zimmer stehen, sie wird die Arme verschränkt und ihr Gesicht wird sich in ein Vampirgesicht verwandelt haben. So wie sie es bei Buffy gesehen hat – die Stirn in Falten, die Zähne fletschend. Es ist die Lieblingsserie der beiden, das Einzige, was sie derzeit gemeinsam haben. Frieda hat noch keine Falten, in Karlas Aufwach-Vorstellung ist sie 17, hat einen ätzenden Freund, gerade ihr zweites Augenbrauenpiercing bekommen und stinkt.

 

Es stinken alle in dieser Zeit, Karla stinkt auch jetzt gerade live unter ihrer Decke, und die Abwertungsgedanken ihrer Schwester gegenüber werden sie nicht davor bewahren, dass Frieda Karla erwischen wird, sich aufplustern wird, sie bei Mutti anschwärzen wird. Na, haste mal wieder Leo vergessen?, wird sie gleich fragen, nein, sie wird es plärren in ihrer nervigsten Schrullenstimme, die sie extra auflegt, sie redet nämlich sonst ganz normal. Leo, der Hund, ja, klar hat Karla ihn vergessen, beziehungsweise sie hat ihn nicht vergessen, er ist in ihrem Kopf, aber die Wahrheit ist: Er ist ihr irgendwie egal. Sie hat fast alles an Liebe zu diesem Hund im Laufe der Zeit abgegeben zugunsten dieses erdrückenden Pflichtgefühls. Er ist längst zur Hausaufgabe geworden, einer unlösbaren, denn Karla ist immer zu spät. Wahrscheinlich ist es mittlerweile schon neun.

 

Karla ist in diesem Szenario gerade 13 und offenbar der allerletzte Mensch. Zu ihrer Verteidigung muss man sagen, dass den Hund ihr großer Bruder Fritz angeschafft hat, der unlängst ausgezogen ist und ihn einfach zurückgelassen hat. Ein Straßenhund aus einem osteuropäischen Land soll es angeblich sein, das Leolein, süß und traurig, wer weiß, was man mit ihm gemacht hat, er erschrickt ja auch immer so, beschworen Fritz und Frieda immer wieder, da konnte natürlich niemand etwas dagegen haben, schon gar nicht die verknallten Kinder. Allerdings ahnt Karla nach lautstarken Streits zwischen Fritz und Mutti, dass Fritz vielleicht ein bisschen geflunkert haben könnte und er den Hund vielleicht doch einfach von irgendeinem Kumpel hat. Aber nun ist er eben da, da bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, so Mutti in ihrem typisch vorwurfsvollen Ton. Jetzt sollen die Übriggebliebenen den Hund lieben und sich um ihn kümmern für den Rest seines Lebens.

 

Einmal ist Leo sogar abgehauen. Er ist eigentlich mehrere Male abgehauen. Aber an das eine Mal erinnern sich alle noch sehr genau. Es hatte nämlich niemand bemerkt. Nur Karla, Stunden später, weil sie gerade zufällig mit ihrer anderen Schwester Mascha mal wieder im Außenbereich vom Tierheim, das ein paar Straßen weiter lag, rumgepirscht ist, als wäre es ein Zoo – Mascha zog es immer zu den Katzen, Karla zu den Hunden (andere Hunde liebte sie mehr, wollte sie retten oder zumindest freilassen) –, und dann sah sie ihn in einem Käfig: den bedröppelten Leo, das arme vernachlässigte Tierchen. Er sah miniklein aus in dem Moment, in Karlas Erinnerung schluchzte er leise. Sie traute ihren Augen kaum, also holte sie Mascha, die ihren jedoch traute. Daraufhin gab es ein großes Gewese, einen riesigen Familienknall, und am Abend war er wieder zu Hause, bei diesen Leuten. Der arme Leo.

 

Auch 17 Jahre später ist Karla der Hund nicht wichtig genug, selbst wenn sie immer wieder denkt, sie sollte ihn mal wieder ausführen, mit ihm kuscheln, das Ganze neu bewerten, die Beziehung neu beleben. Aber es gibt ihn natürlich schon lange nicht mehr. Manchmal hat sie trotzdem noch Angst davor, eine Pfütze von ihm irgendwo zu finden. Eine Pfütze, an der sie schuld ist, und zwar nur sie. Frieda hat zum Beispiel mal, um zu beweisen, dass Karla nicht mit Leo rausgegangen war, Scheiße von ihm von der Straße aufgelesen und sie mitten in den Flur gelegt, damit Mutti und Co. denken, er hätte da hingemacht. An den Steinen, die daran klebten, überführte Karla dann ihre Schwester allerdings. Stasimethoden!, warfen sie sich gegenseitig vor, ohne zu wissen, was das wirklich bedeutete. Am Ende logen sich beide bis tief in die Nacht gegenseitig an, doch, ich bin mit ihm rausgegangen, nein, ich habe die Scheiße da nicht hingelegt. Familie heißt Lügen bis tief in die Nacht.

 

So langsam dämmert Karla also, dass sie nicht mehr 13 ist, dass keine Frieda vor ihrer Tür lauert, kein Leo wartet, sie nichts auf ihre andere Schwester Mascha schieben und nicht mehr so richtig sauer auf Fritz sein kann wegen der Hundeanschaffung. Das ist jetzt ihr Morgen, ihr Kissen, und das sind ihre Sonnenstrahlen im Gesicht. Und ihr Dachfenster, ihre Wohnung, ihr Leben? Na ja, das nun auch wieder nicht. Aber der Rest ist Hunderte Kilometer weit weg. Sie macht die Augen auf und erspäht einen Riss in der Zimmerdecke, von dem sie sich sicher ist, dass er gestern noch nicht da war.

 

Instinktiv schaut sie in die WhatsApp-Familiengruppe, die sie stummgeschaltet und außerdem archiviert hat. Das heißt, sie muss erst nach ihr suchen. Scrollen, weiterscrollen, auf dem Weg etwas anderes lesen und löschen, ah, da ist sie ja. Tatsächlich gibt es Neuigkeiten. Mit pathetischen Worten, aber trotzdem abgeklärt klingend, hat Karlas Mutter vor ein paar Tagen die Trennung von ihrem Partner verkündet, mit drei Tränen- und zwei Herzemojis versehen. Manchmal trennen sich Wege nun mal, es ist alles immer in Bewegung, man lebt in Wellen, wir wollen unsere beiden Leben neu ausrichten, den Fokus … und so weiter. Wieder so eine Sache, die Karla nicht allzu viel bedeutet, sie hat den Typen in all den Jahren drei, vier Mal gesehen. Karlas Mutter und er waren nicht ständig zusammen, und Karla war noch viel seltener dabei. Er ist Ingenieur oder so, hat sie ihrer Freundin Natalie mal erzählt, weil sie verschleiern wollte, dass sie eigentlich nichts über ihn weiß und auch nie gefragt hat. Sie weiß aber, die Trennung darf ihr nicht egal sein. Frieda, Fritz und Mascha sehen alles, sie schauen von ihren Handys aus auf sie herab, sehen ihre Schwester im Bett liegen, noch immer, schon wieder, sie testen sie, haben sie längst verurteilt. Sie sehen die Pfütze. Sie sehen, dass sie mal wieder nicht antwortet, nicht mal eine Emoji-Reaktion unter die Nachricht der Mutter setzt, sich nicht meldet, dass sie nicht da ist, dass sie das schlechteste Kind von allen ist. Hier geht es gerade gar nicht um den Herzschmerz der Mutter oder darum, dass es von nun an für die Beteiligten komplizierter wird. Es geht nur um Karla. Haut ab, plärrt sie in die menschenleere Wohnung und zieht sich die Decke wieder über den Kopf, ihr Dummis. So haben sich die Geschwister früher immer genannt.

2

Gerda versucht zu rauchen. Es sieht ziemlich uncool aus. Sie rollt die Zigarette hin und her, wie es nur eine Nichtraucherin tun kann. Erst versucht sie sie zu halten wie eine Kifferin und zwirbelt das Ding zwischen Daumen und Zeigefinger mit lässigem Getue, danach macht sie es wie eine reiche Person, die versucht normal zu sein, und schließlich wie eine Schauspielerin, aber so übertrieben wie eine vom Theater. Letzteres passt ganz gut. Gerda spielt nämlich gerade verlassen, und Verlassene machen so Sachen wie Rotweintrinken, Rauchen, laut mitsingen und weinen. Leider ist nur Weißwein im Haus, ein passendes Lied für die Situation muss noch gefunden werden, und die Tränen kommen einfach nicht.

 

Die Zigaretten, die Gerda aus den Tiefen der großen Küchenschublade gekramt hat, lagen sehr lange unbeachtet und ungeraucht dort. Sie sind mindestens sechs Jahre alt. Angeschleppt hatte sie damals ein Mann, der Wolfgang heißt. Es ist der Mann, wegen dem hier bei Gerda gerade versucht wird, traurig zu sein und dabei zu rauchen. Der Mann Wolfgang war vor diesen sechs Jahren zur Tür dieser Wohnung reingekommen und hatte geguckt, als hätte er gerade ein Tier angefahren, das jetzt gepäppelt werden musste. Dann hatte er gesagt, er sei rückfällig geworden, was das Rauchen betraf, ob er auf Gerdas Balkon bitte noch einmal rauchen dürfe, und zwar seine allerletzte Zigarette? Das Pathos, das der Mann Wolfgang in seine Worte legte, fand Gerda total übertrieben und auch ein bisschen unsexy. Gerda sollte damals bitte, sobald er wieder gegangen sei, die restlichen Kippen der Schachtel entsorgen, am besten in Stücke reißen und im Klo runterspülen! Das hat sie aber nie gemacht. Sie waren ja noch gut. Sachen, die noch gut sind und die mal etwas gekostet haben, die wirft man nicht weg. Außerdem fand sie Rauchen nie so richtig schlimm, sie hatte in ihrem Leben genug Leute mit schlimmeren Lastern und Süchten gekannt. Und vielleicht würde irgendein Besuch irgendwann auch mal eine rauchen wollen, dann hätte sie gleich welche da, das ist doch praktisch. Das kam allerdings nie vor, weil Leute, die rauchen wollen, meist etwas dabeihaben, was ihre Sucht stillt, oder sie haben selbst gerade mal wieder aufgehört.

 

Als der Mann Wolfgang seine letzte Zigarette auf Gerdas Balkon rauchte, war es das fünfte Treffen der beiden, das weiß sie noch, weil sie damals exakt eine Woche zusammen verbracht hatten, jeden Tag – und dieser Tag war Freitag. Dass er dieses für ihn biografisch offenbar bedeutungsvolle Ereignis unbedingt bei ihr auf dem Balkon begehen wollte, schien etwas zu bedeuten, von dem Gerda noch nicht wusste, ob es ihr das auch bedeutete. Zum Beispiel ob sie nun auch noch das Wochenende mit ihm verbringen wollte. Das Wochenende war ihr schließlich heilig, Lesen im Café, ins Kino gehen, Freundinnen treffen. Der Typ war zu dramatisch, fand sie damals und wollte das Ganze nochmal überdenken. Aber er blieb, denn Gerda schickte ihn nicht weg. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass sie dabei war bei seinem Moment. Auch bei späteren Momenten war das vielleicht so. Wieso sie überhaupt zusammengekommen sind, weiß sie gar nicht mehr. Er kam einfach wieder und wieder, und sie kam dann manchmal auch, und über die Jahre stellte niemand von den beiden das groß in Frage, weil es schon okay war, weil es funktionierte. Er war ein Guter und baute keine Scheiße, das war schon was wert.

 

Jetzt wird es ihr mit dem Gehuste allmählich doch zu unangenehm. Gerda denkt, dass die Zigarette schlecht geworden ist nach all den Jahren, und drückt sie wieder aus. Trotzdem wandert die Schachtel zurück in die Schublade, gemeinsam mit den Riesaer Zündhölzern, von denen sie auch noch einige Schachteln gehortet hat. Es gibt einen alten, natürlich ostdeutschen, Witz, an den sie sich jetzt erinnert und der in etwa so geht: Ein Zug fängt Feuer und verbrennt. Nur ein Waggon ist unversehrt geblieben. Was hat dieser transportiert? Streichhölzer aus Riesa! Gerda grinst und verdreht dabei gleichzeitig die Augen. Das ist die Art, wie sie lacht.

3

In der Familien-WhatsApp-Gruppe enthalten sind die Accounts folgender Leute: Mutter, Mascha, Fritz, Frieda, ein Ex-Freund von Frieda namens Mirko, weil er irgendwie immer noch zur Familie gehört und sich ab und an zu irgendwelchen Reparaturarbeiten einlädt, Maschas Sohn Max, Maschas Freund Tobi und Karla. Das ist sozusagen die Familie, also diejenigen, die das Wesen Familie weiter nähren, das Projekt am Laufen halten, die online sind. Karla ist noch in der Gruppe, weil rausgehen anstrengender ist als drinnenbleiben. Sie ist noch in allen Gruppenchats, zu denen sie je hinzugefügt wurde, einfach weil sie kein Fass aufmachen will, nicht für Gerede sorgen, keine Aktion bringen will, die sonst wie interpretiert werden könnte. Gerdas (jetzt Ex-)Partner war nie in der Gruppe, glaubt Karla. Oder er ist unbemerkt ausgetreten oder unsichtbar oder sowas.

 

Sie guckt bei der Gelegenheit auch mal in den Chat der letzten WG, in der sie gelebt hat, der Name ist eine Verniedlichung des Straßennamens, Zietis wegen Zietstraße, Karla hat dort zur Untermiete gewohnt. Eines Tages standen Preise auf einem neongrünen Zettel an den Getränkekisten der Mitbewohner. Es war kein Post-it, das wäre vielleicht noch zu ignorieren gewesen, nein, der Zettel hatte die Größe A4, es war eher ein Schrei-it. Karla beschloss sofort, dass sie das nicht mehr kann mit den WGs, das war der Knockout, den sie gebraucht hatte, der berühmte letzte Tropfen, für den sie ab sofort sogar noch bezahlen sollte. Dabei hatte sie nur ein einziges Mal eine Flasche Mate (1,10 Euro zzgl. Pfand) genommen – sie, die ohnehin lieber Cola trinkt. Es bahnte sich dann eine Aussprache wegen Grundsätzlichem (Plenums-Vokabel) an, und noch ein einziges weiteres Plenum war eine unvorstellbare Zumutung für Karla, also fing sie an, ihre wenigen Sachen zu packen. Aus der WhatsApp-Gruppe ist heute herauszulesen, dass sich die WG wohl bald auflösen muss, es wird diskutiert, aufgeteilt, beschworen und besänftigt. Karla entwickelt unerwartet großes Mitleid und schließt die App.

 

Zwei Wochen nach diesem Zettel-Wahnsinn war sie damals raus aus der Zieti und stand bei ihrem besten Freund Luca auf der Matte, der schon vor einer Ewigkeit angeboten hatte, dass sie für eine Weile zu ihm ziehen könne, wenn sie mal nicht wisse wohin. Und genauso kam es, sie wusste mal wieder nicht wohin. Luca und sie kennen sich durch Karlas einzigen Gastroversuch, er arbeitete sie einen Tag lang im Café Extrablatt ein, und Karla scheiterte auf ganzer Linie, aber die beiden blieben in Kontakt und wurden Freunde. Karla wollte Luca natürlich auf keinen Fall zur Last fallen und eine Anderthalbzimmerbude war auf Dauer viel zu klein für zwei Personen, aber der Zettel-Schubs war stärker als ihre Bescheidenheit. Es wäre diesmal ja gar keine richtige WG, weil die beiden befreundet sind, es wurde vielmehr ein ewiges Miteinanderabhängen. Sie besorgten ein ausklappbares Sofa, und so wurde das Wohnzimmer in der Nacht zu Karlas Reich, während Luca aus dem kleinen Durchgangsschlafzimmer erstaunlich viel Stauraum für sich und seine Sachen rausholte.

 

Es gibt nicht viele Menschen, mit denen Karla einfach so abhängen kann, ohne sich komisch zu fühlen, ohne unsicher zu werden oder sich oder die andere Person wegzuwünschen, aber mit Luca geht das. Auch beim Zusammenleben störten sie einander nicht, sie fragten nicht unnötig viel, niemand musste sich verstellen, niemand fühlte sich beobachtet oder wurde verurteilt. Karla konnte sogar an ihrer Neurodermitis rumfummeln, ohne sich zu schämen oder Zurechtweisung erwarten zu müssen, weil man doch nicht dran rumfummeln soll. Vielleicht hat auch geholfen, dass beide wussten, dass das Zusammenleben ein Ablaufdatum hatte. Luca zog bald für ein Praktikum nach Brüssel, das er mittlerweile schon zum zweiten Mal verlängert hat. Deswegen konnte Karla einfach bleiben, konnte zur sogenannten fairen Untermiete in der Wohnung wohnen, in der sie heute Morgen allein und unter dem Dachfenster des Schlafzimmers aufgewacht ist.

 

Mit Luca war es auch deswegen entspannt, weil Karla und er kooperierende Macken haben. Sie schafften es zum Beispiel beide, manchmal tagelang nicht zu reden. Nicht wegen schlechter Laune oder so, sondern weil sie keine Lust hatten und es nicht nötig war. Luca kochte viel und schrieb den lieben langen Tag lustige Gedichte und politische Beschimpfungen auf Zettel, die dann überall rumlagen, Karla räumte akribisch auf und sang dabei Schlager, die sie aus ihrem letzten Job im Ramschladen nicht mehr aus ihrem Kopf bekam, am liebsten: Ich fühl immer noch wie damals / Noch genauso, du Idiot / Doch du hast mich auch schon damals / Nicht verstanden, du Idiot. Die Zettel hat sie immer liegen gelassen, weil es wichtig war, dass sie da waren, wo sie waren. Darüber musste nicht gestritten oder gar ein Plenum abgehalten werden, es war einfach klar. Luca und Karla konnten sich umeinander herumschlängeln, und die Wohnung war gleichzeitig aufgeräumt und chaotisch, je nach Betrachtungsweise.

 

Luca und Karla werden beide wegen der gleichen Dinge wütend oder traurig. Nur glaubt sie nicht daran, dass man etwas ändern könnte, und er schon, deswegen macht er ein Praktikum im EU-Parlament und schreibt Gedanken auf Zettel, und sie forscht Rissen in Zimmerdecken und Veränderungen an ihrem Körper nach. Wenige Wochen vor seinem Wegzug hatte Luca einen Fernseher angeschleppt, ebay-Kleinanzeigen, quasi geschenkt, und seitdem lief den halben Tag die Glotze, meistens Shopping Queen oder die immer gleichen Wiederholungen von Gilmore Girls, Scrubs oder Charmed. Luca schaltete ab einem bestimmten Punkt immer auf Phoenix um, dazu veränderte er seine Miene auf ganz besonders ernst, und Karla machte sich darüber lustig. Wie früher mit den Geschwistern, fand Karla, nur ohne Streit um die Fernbedienung, weil in Zeiten von Streaming eh alles egal ist. Nebeneinandersitzen, ab und zu einen lustigen Kommentar abgeben, über die Arbeit oder die Gesellschaft schimpfen, sich gegenseitig was im Internet zeigen, was essen, daran konnte sich Karla gewöhnen. Sie vermisst Luca die eine Hälfte des Tages schrecklich und ist in der anderen Hälfte dankbar, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben komplett ihre Ruhe haben kann. Seit Luca weg ist, bleibt der Fernseher aber aus, ohne ihn ist alles zu laut.

4

Dann ist das jetzt wohl wirklich vorbei, und zwar so richtig, stellt Gerda Pflanzen gießend und theatralisch weiterhustend (wegen der schlechten Zigarette) fest. Wie bei anderen Leuten, die sich trennen, wie bei normalen Beziehungen. Jetzt ist es egal, ob sie ihre Sache nie definiert haben, sie ist vorbei, ganz klar. Womöglich mit all den normalen Konsequenzen: Kontakteinschränkung, Kontaktwiederaufnahme, Kramaufteilung, Löschung, Leugnung, Analysen, Nachtreten, Reue, all diesen Imitationen eben. Es ist nicht Gerdas erste Trennung, aber wenn die Zeit, die man gemeinsam verbracht hat, ein Bewertungskriterium ist, schon eine der großen. Mit anderen Menschen spricht Gerda oft nur über die Trennungen von den Vätern ihrer Kinder, da war einmal der von Fritz und Frieda und dann der von Mascha und Karla, weil sie glaubt, dass alle davon ausgehen, dass das die schwersten waren. Waren sie aber nicht. Diese ist es auch nicht.

 

Vorhin hatte sie wütend aufgelegt, nach einem weiteren Telefonat mit dem Mann Wolfgang. Sie hat im Grunde normal aufgelegt, war aber wütend dabei. Tschüss hatte sie schon noch gesagt und: dann bis bald. Zivilisiert ist sie nämlich, viel zivilisierter als dieser bockige Steinklotz, der vor einer Woche per Telefon Schluss gemacht hat und sich nun nochmal erklären wollte. Verabschiedungen kann sie noch, Höflichkeit auch, und sie hat sogar Offenheit gegenüber einem späteren Gespräch signalisiert, denn so macht man das, wenn man Stolz besitzt. Es handelt sich hier schließlich um die Geschichte von zwei erwachsenen Menschen. Sich anschreien oder gar flehen und heulen, sich nochmal extra mit Schimpfwörtern und alten oder plötzlich aus dem Hut gezauberten neuen Vorwürfen verletzen, das war früher, das hat man gemacht, als man noch jung war und blöd. Das hier wird sachlich und unaufgeregt passieren, bis auf das mit dem Wutauflegen vorhin, das musste schon noch drin sein. So soll es wohl einfach sein, das ist der natürliche Verlauf, das Ende, auf das so eine Beziehung unweigerlich hinausläuft. Früher, als man sich noch über Festnetztelefone anrief, da ging das noch, räsonniert Gerda jetzt, da konnte man den Hörer noch knallen, so dass es bei der anderen Person schepperte. Wenn man es genau nimmt, kann man heute gar nicht mehr von Auflegen sprechen. Gerdas Enkel Max würde jetzt wieder Okay Boomer zu Gerda sagen, das sagt er neuerdings ständig, und es nervt sie mega.

 

Als sie jünger war, galt Gerda noch als die Verrückte, das kann Max natürlich nicht wissen. Rauchen hätte zum Beispiel gut zu ihr gepasst, sie hat in ihrer Jugend einfach nur das Anfangen versäumt. Auf den Schulhöfen, in den Wartehäuschen, den Cafés, den Diskos, auf den vielen Wiesen und den Sofas der Jungs, da war sie immer zu sehr beschäftigt mit Träumen, Lesen, Quatschen und dem Rumspielen an ihren langen roten Haaren. Sie musste keiner Langeweile, keiner Nervosität und keinem Uncoolsein Zigaretten entgegensetzen. Ihre drei Jahre ältere Schwester Andrea war die Konservativere von beiden. Sie war besser in der Schule, braver, angepasster, irgendwie gängiger. Es gab Mädchen in der Schule und in der Nachbarschaft, die waren wie Drea, wie Gerda sie nannte, aber keine war wie Erda, wie Andrea sie als Retourkutsche nannte. Darauf, dass Gerda am Ende die mit den vielen Kindern werden, einen ansonsten unspektakulären Lebenslauf hinlegen und den größten Teil ihres Lebens an einem Ort verbringen würde, hätte damals wohl niemand in der brandenburgischen Kleinstadt gewettet, in der sie mit ihrer Familie wohnte. Drea hingegen studierte ewig rum, trug schließlich als Architektin Blazer und hat bestimmt die halbe Welt gesehen. Erst spät gründete sie eine Familie und es blieb bei einem Kind und einem Mann. Aus heutiger Sicht hat sie es im Grunde doch sehr vernünftig gemacht. Andererseits ist es ja auch nicht unbedingt so, dass sich zwei Leute, die unterschiedlich sind, bei all ihren Wesenszügen und Entwicklungen ihr Leben lang genau gegenüberstehen, wie Komplementärfarben, oder sich schmeichelnd ergänzen wie bei diesem Yin-Yang-Zeichen, nein, es verhält sich komplexer, ist verschmiert und ineinander verlaufend, das weiß Gerda heute nach allzu vielen Lebens-Gabelungen und Widersprüchen, die sie über die Jahrzehnte in ihrem Umfeld beobachtet hat.

 

Die erste Person, die Gerda bewusst liebte, war nicht ihre Mutter oder der Vater. Es war ihre Drea. Und sie liebte sie mehr als irgendwen sonst, weil sie sie so gut kannte. Über jede noch so kleine Ecke ihrer Persönlichkeit wusste sie Bescheid, sie kannte sich mit Drea bestens aus, sie wurde von ihr nie überrascht, sie erweiterte einfach nur ihr Wissen. Die beiden taten sich schlichtweg gut. Über die spätere Konkurrenz, die auch körperlichen Kämpfe ihrer eigenen Kinder, war Gerda deshalb ziemlich schockiert. Aber sich zu arrangieren war für ihre vier kleinen Teufel auch viel schwieriger. Drea und sie hatten zwar nicht viel, aber immerhin genug Platz. Sie wohnten mit Mutter und Oma in einem Haus, während der Vater immerzu unterwegs war, arbeiten oder auf irgendwelchen Touren, wie die Mutter erklärte. Darunter stellten sich die Kinder Unterschiedliches vor, zum Beispiel Reitausflüge, Detektivarbeiten oder Geschäftsreisen mit riesigen Koffern. Sie wurden von allen im Dorf als Weiber-Haushalt bezeichnet, es gab darüber Witze, aber auch Anerkennung. Für Gerda und Drea war es vollkommen normal.

 

Gemeinsam hatten sich die Schwestern auf dem Dachboden des Hauses mit Büchern, Kuscheltieren und ihren Schätzen – Fundstücke aus verlassenen Gebäuden in der Gegend – eine ganze Welt gebaut. Und die existierte lange über das Elternhaus hinaus. Wann immer sie sich später sahen, war die restliche Welt ausgeblendet, dann gab es nur sie beide und sie redeten und redeten, bis alle anderen verschwunden waren und die jeweils letzten Busse oder Züge fuhren, die sie immer nur für eine kurze Weile voneinander trennten. Als Drea dann eines Tages mit einem Mann namens Gunter in den Westen zog und weder nach der Wende noch nach der Trennung wieder zurückkam, dafür aber unnötig häufig beteuerte, wie viel besser es ihr jetzt gehe, sie müsse ihren eigenen Weg finden und so weiter, hörte das auf. Für Gerda war diese Liebe mit der Zeit und dem Abstand irgendwann komplett zum Erliegen gekommen, auch wenn sowas niemand glauben will, weil man die Familie bedingungslos lieben soll und einen angeblich für immer ein unsichtbares Band miteinander verbindet. Aber so ist es nicht, nicht für Gerda. Sie war so enttäuscht über den Wegzug, das Liebes- und Karrieregerede, die ausbleibenden Briefe und schließlich die Ausflüchte, wenn sie um Telefonate bat, dass sie das eines Tages wirklich hinbekam: die Liebe zu beenden. Sie findet bis heute, dass das eine Gabe ist, und tatsächlich beneiden einige ihrer Freundinnen sie darum. Auch dieses Mal wird es ihr gelingen. Es ist fast schon so weit.

5

Karla wohnt nun schon lange genug allein in der Wohnung, um verschiedene komische Alleinewohn-Neurosen kultiviert zu haben. Es sind Neurosen, die jede Person irgendwann entwickelt, plus jene, von denen sie annimmt, dass sie niemand anderer haben kann, weil sie zu bescheuert und zu peinlich sind. Von Luca hört sie etwa einmal pro Woche, ihm geht es wohl gut. Das Praktikum läuft, sagt er immer, er mache nach Feierabend nicht so viel, habe aber wohl eine Liebelei, es ist schon die zweite oder dritte. Er bleibt vage, aber das ist normal. Was Karla und Luca auch gemeinsam haben, ist, dass sie keinen Spaß an Chatten und Telefonieren haben. Die meisten Leute sind für sie aus den Augen, aus dem Sinn. Natürlich wären sie sofort füreinander da, wenn mal wirklich was ist. Und sie denken aneinander. Aber sonst gilt: Man muss sich sehen und sich verabreden, sonst ist man schwer zu fassen. Es müsste weiter so sein wie früher, als man ein Kind war und die anderen Kinder in derselben Straße gewohnt haben. Man hat geklingelt und das andere Kind lud einen zum Rumsitzen ein oder kam raus zum Spielen. Das gibt’s wahrscheinlich heute nicht mehr, niemand wohnt in der Nähe von irgendwem. Man muss nehmen, was man kriegen kann, Wohnungen, Straßen, Freunde.

 

Die schlimmste Neurose von Karla ist keine neue, aber seit sie alleine wohnt, hat sie sich radikalisiert. Aus Angst, von heute auf morgen ausziehen zu müssen, weil der Vermieter was spitzkriegen könnte (Untermiete ist laut Vertrag verboten), räumt sie immer wieder akribisch auf und mistet aus, verwischt ihre Spuren, reduziert ihr Hab und Gut auf das Nötigste. Sie schärft ihre Aufräumroutine mit jeder Woche. Sie geht immer wieder durch die kleine Wohnung, jeden Morgen und jeden Abend und an Tagen, an denen sie zu Hause bleibt, auch zwischendurch, und wenn sie besonders nervös ist, können zwischen den Kontrollgängen auch mal nur Minuten liegen. Es beginnt jedes Mal im Wohnzimmer, dann folgen Küche, das kleine Durchgangszimmer, das Bad. Im Hinblick auf ihren Aufräumwahn hat Karla Glück, dass die Wohnung so klein ist. Das Wohnzimmer ist gleichzeitig auch der Flur, beziehungsweise gibt es einfach keinen. Das heißt, wenn jemand oben an der Wohnungstür klingelt, ist er schon DA, direkt in Karlas Leben, es gibt keinen Puffer. Und jetzt klingelt es.

 

Die für Karla und viele ihrer Altersgenossen normale Reaktion auf Klingeln: Musik aus, aufs Bett setzen, Nicht da spielen. Da das Klingeln unten genauso klingt wie das Klingeln oben und es keine Gegensprechanlage gibt, weiß Karla aber nicht, ob die klingelnde Person oben steht oder unten und zum Beispiel einfach nur ins Haus will, weil: …Ja, warum sollte diese Person eigentlich reinwollen? Die Briefkästen sind draußen angebracht, und hätte jemand der Nachbarn seinen Schlüssel vergessen, wäre das Klingeln unten wenig hilfreich, weil die Person ja sicher dann auch den Schlüssel für die Wohnungstür mitvergessen hätte, und zum Im-Flur-Rumstehen wäre klingeln doch sinnlos. Oder die Person würde hier bei Karla Kaffee trinken und auf den Schlüsseldienst warten wollen, ein besonders furchteinflößendes Szenario. Unteres Klingeln kann also nur mit einer Störung zu tun haben: Zeugen Jehovas, Zeugen Vodafones, Zeugen von Karlas Unvermögen, Enkeltrick oder ein Stalker. Wo auch immer sie den herhaben soll, denn besonders viel draußen ist sie in letzter Zeit nicht gewesen. …Es könnte sie mal jemand beim Einkauf im Netto gesehen haben und sie dann verfolgt haben. Den Gedanken wischt sie aber direkt wieder weg, denn sie fühlt sich dabei total eingebildet.

 

Beim Untenklingeln kann es auch Folgendes nicht sein: Überraschungsbesuche. Solche Leute kennt sie nicht, die sie überraschend besuchen würden, kurz und schnell mal vorbeikommen. Sowas gibt es wahrscheinlich eh nur in Filmen, Serien oder den Neunzigern. Da haben zwei Leute ein Problem oder etwas anderes zu bereden und dann kommt die Person einfach mal fix vorbei und sagt: Was ich dir noch sagen wollte / Ich wollte dich für heute Abend einladen zu / Es tut mir leid, wie das gestern gelaufen ist / Ich hab gerade an dich gedacht / Hier, ich hatte noch ein Stück Kuchen übrig … Manchmal geht es auch um spontanen Sex. Hat alles nichts mit Karla zu tun, ist alles unvorstellbar. Man sollte sich eine Nachricht schreiben und die kann ignoriert werden, ups, gar nicht gelesen, sorry. Briefe per Einschreiben wären normalerweise auch noch eine Option, aber auch das ist hier sicher nicht der Fall, denn die Ämter glauben, dass sie woanders wohnt, sie ist noch in der vorvorletzten WG, in der sie ein ganzes Jahr lang gewohnt hat, gemeldet. Das war die WG, in der der Vermieter übergriffige und sektenähnliche Regeln aufstellte, zweimal in der Woche sollten alle plenieren, authentisch kommunizieren nannte er das, es durften nur deutschsprachige Menschen einziehen und aus irgendeinem Grund waren sehr viele Spiegel in der Wohnung angebracht. Karla will gar nicht weiter darüber nachdenken. Es klingelt nochmal. Sie muss dringend das Wohnen lernen, denkt sie, hält sich die Ohren zu und fällt dem Rest ihres Körpers hinterher aufs Bett.

 

Karlas Leben mit dem ganzen Getue wirkt, als wäre sie vor irgendwas auf der Flucht oder eine mystische Person. Aber die Wahrheit ist eher langweilig und ihre Umstände sind ziemlich normal. Für Karla ist es schwer oder fast unmöglich, eine Wohnung zu finden, die sie bezahlen kann, geschweige denn dass, selbst wenn es diese Wohnung gäbe, sie es bis zu einem Mietvertrag bringen würde. Sie hat keinen Bürgen, keine Mietschuldenfreiheitserklärung, keinen festen oder guten Job, keine positive Schufa-Auskunft. Allein die Kaution könnte sie nie bezahlen. Karla ist seit Jahren daran gewöhnt, fast ausschließlich für die jeweilige Miete zu arbeiten, und seit einer ganzen Weile ist sie auf Zwischen- und Untermieten angewiesen. Und sie hat keine Familie, die sie unterstützen könnte. Sie hat natürlich eine Herkunftsfamilie, die aus der WhatsApp-Gruppe, aber bei der ist nichts zu holen, selbst wenn sie sich bei ihr melden wollen würde. Ihre Mutter würde Karla vielleicht sogar einen Fünfziger zuschustern und denken, damit sei ihr geholfen, aber der Preis dafür wäre zu hoch. Es würde ein Gespräch in Gang setzen, dessen Ausgang Karla schon kennt. Sie müsste ihre Mutter über ihre finanzielle Situation aufklären, über die Lebenshaltungskosten in Köln. Dann würde nachgefragt werden, was Karla denn eigentlich gerade macht, also was sie unternimmt, um ihre finanzielle Situation zu verbessern, wie es um ihre Selbstverwirklichung steht und wieso sie das alles in dieser teuren westdeutschen Großstadt tut, in der sie nichts und niemanden hat, in der sich alle ihre großen Pläne zerschlagen haben, mit denen sie sich damals verabschiedet hat. Wieso sie noch da ist, würde ihre Mutter wissen wollen, aber Karla ist sich sicher, dass sie die Antwort darauf nicht wirklich hören will. Nein, diese gegenseitige Verletzung ist keine 50 Euro wert. 500 vielleicht.

 

Karla findet, dass es jetzt mal reicht mit dieser Klingelangst. Sie stellt sie ein für alle Mal ab, und da hätte sie wirklich auch früher draufkommen können. Sie widmet sich in aller Ruhe dem Zählen ihrer Sachen, ihrer täglichen Inventur. Eine Kiste könnte hier reichen, zwei dort, ein paar Tüten da – der Blick wandert durch die Räume, aber viel ist da nicht. Lucas Sachen sind größtenteils im Keller. Dass sie da gelandet sind, wäre nicht notwendig gewesen, aber er bestand darauf, dass Karla Platz für ihre Habseligkeiten bekommt, und er wusste, wie sehr es sie nervt, wenn zu viel Kram rumliegt. Marie Kondo könnte von Karla noch was lernen, und auch die jüngeren politischen Leute, die immer sagen, man solle bewusst konsumieren, wären beeindruckt. Sie könnte behaupten, ihr Minimalismus sei eine politische Entscheidung. Sie sei gegen Fast Fashion und überhaupt Maßlosigkeit. Die Meere sind voller Plaste, hatte ihre Heimatkundelehrerin mal gesagt und warnte davor, sich zu viel Müll anzuschaffen.

 

Die Träume, die sich ums Ausziehenmüssen drehen, nehmen zu, seit Luca weg ist. Da stehen immer wieder ehemalige Mitbewohner und Freunde plötzlich im Schlafzimmer, wecken Karla und sagen: Sorry, meine Eltern wollen, dass du morgen hier raus bist, ist schließlich deren Wohnung / Sorry, wir wollen zusammenziehen, und das in genau dieser Wohnung, in der du jetzt noch bist und störst / Sorry, ich bin jetzt doch schon wieder zurück, ist doch kein Problem, wenn ich meine Sachen hier einfach wieder reinpacke, wir haben aber noch das Sofa im Flur / Sorry, aber wir hatten nie einen Vertrag / Sorry, aber mit dem einen Verstoß gegen die Kehrpflicht im Treppenhaus haben Sie jegliches Wohnrecht verwirkt, Sie haben fünf Stunden … Manchmal taucht Lucas Vater plötzlich auf und zerrt sie gewaltsam aus der Wohnung. Karla träumt von diesen Szenen, weil sie sich so oder so ähnlich in der Vergangenheit schon zugetragen haben. Sie ist nirgendwo sicher, da kann Luca sie noch so liebhaben und sein Vater eigentlich total nett sein. Sie kann niemandem ganz vertrauen. Sorry, sorry, sorry.

 

Karla hält es mittlerweile so, dass sie theoretisch mit nur einer Kiste unter dem Arm sofort abhauen könnte, obwohl es ihr wahnsinnig um ihre Zeichenutensilien leidtun würde. Es ist die sogenannte Erinnerungskiste. Mit Fotos, Postkarten, Zetteln, Zeichnungen, Figürchen, die man hier und da mal geschenkt bekommen hat, und ihrer externen Festplatte, auf der sie all ihre Daten regelmäßig archiviert. Es ist fast alles alt, von früher, aus ihrer alten Welt, an die sie sich ohne die Kiste kaum erinnern würde, und sie fügt selten Neues dazu. An die Stifte und den Rest würde sie schon noch rankommen, irgendwann, es wäre ja ihr gutes Recht. Es sei denn, die die Wohnung innehabende Person wäre ein wahnsinniges Arschloch, und sie hätte gegen sie leider nichts in der Hand.

 

Sie googelt mal wieder das Wort Zwangsstörung. Sie weiß ja selbst, dass sie irgendwas hat, sie ist ja nicht doof. Und Luca war nicht der Erste, der sie darauf hingewiesen hat, aber der Letzte. Es war vor einem halben Jahr, nachdem er gesehen hatte, wie verkrampft Karla beim Einkaufen vorging, wie sie immer wieder hin und her lief, um nichts zu übersehen, wie sie Lebensmittel erst in den Wagen legte, um sie kurz darauf wieder rauszulegen, natürlich genau an die Stelle, wo sie sie gefunden hatte, und dabei räumte sie auch immer wieder Lebensmittel, die von anderen falsch irgendwohin gelegt wurden, an ihren eigentlichen Platz. Ich will die ganze Welt aufräumen, hatte sie Luca damals gesagt, ich glaube, dann kann ich mal einen Tag entspannen.

 

Auch wenn es schwerfällt, ist die beste Strategie, sich nicht gegen die Gedanken zu wehren. Lassen Sie die Gedanken an sich vorbeiziehen wie eine Wolke am Himmel, sagt netdoktor.de.

 

Bis zum Abend wird sie noch zwei weitere Runden einlegen. Dann wird endlich Natalie anrufen. Karla spult ein Mantra ab: Natalie. Die Zukunft. Die Gute. Das Gute. Der Beginn. Ankommen mit Natalie. Bald. Wolke, Himmel, Fallenlassen. Jetzt nur noch die Fingernägel auf eine Länge bringen.Dann fliegt die Schere in den Müll, weil sie schon viel zu stumpf ist. Karla freut sich, dass sie wieder etwas ausgemistet hat.

6

Die Radio-Uhr zeigt 13:27 Uhr an. Gerda wollte bereits vor einer Stunde gekocht und seit einigen Minuten das Haus verlassen haben, aber der Mann Wolfgang hatte das Gespräch nochmal nach hinten verschoben, weil er noch irgendwas Blödes mit seinem blöden Nachbarn in dessen blöder Garage rumfriemeln musste. Super, den blöden Nachbarn und die blöde Garage mit den blöden Rumfriemelergebnissen muss ich jetzt nie wieder sehen oder zumindest eine ganze Weile lang nicht mehr, stellt sie fest und klatscht dabei in die Hände, wie man es nur unbeobachtet tut. Jetzt, wo sie das Kochen wirklich beginnen will und sich daranmacht, Schränke, Schubladen und den Kühlschrank zu öffnen, fällt ihr allerdings auf, dass sie das Einkaufen vergessen hat. Es gibt nur noch die vegetarischen Schnitzel, die sie sich auf Anraten ihrer Tochter Mascha besorgt hat. Ist doch ein guter Anlass, sie zu probieren, wenn sie schon bisher noch nichts aus dem Vegan-&-lecker-in-15-Minuten-Kochbuch ausprobiert hat, das ihr Mascha auch noch geschenkt hat.

 

Vor ein paar Jahren fing es an, dass man in dieser Familie das Vegetarisch- und sogar Vegansein entdeckt hat – Mascha hatte an Weihnachten einen unglaublichen Seitanbraten gemacht, seitdem waren fast alle Anwesenden überzeugt – und Gerda hatte gar nichts dagegen, es war nämlich sehr lecker und sie neugierig. Fleisch gab es ohnehin kaum, damals, als alle noch dieses Familienleben in einem Haushalt führten, im alten Leben. Gerda war nicht die größte Köchin, es musste immer funktional, also viel und schnell und günstig sein. Somit war es meist per se vegetarisch, es sei denn, es gab Wurstgulasch, Jägerschnitzel oder Königsberger Klopse und zu Weihnachten natürlich immer Wiener Würstchen zum Kartoffelsalat. Aber es gab keine Etepetete-Fleischgerichte. Eigentlich habe ich gekocht wie in einer Kantine oder Mensa, wird Gerda gerade klar. Das sollte sie sich unbedingt in den Lebenslauf schreiben: Mensaköchin.

 

Für den Mann Wolfgang war das nichts, nichts Richtiges, wie er sagte, dieses Vegetarische, er wollte bei dem bleiben, was er kannte. Nur nicht bei mir, denkt sich Gerda und lacht über diesen doofen, kitschigen Gedanken. Es ist leider überhaupt gar nichts da, was man zu dem Schnitzel machen könnte. Bisschen Zucchini, ein Apfel, etwas Ingwer und der verdammte Sellerie. Sellerie-Ingwer-Apfelsaft, auch das hatte ihre Tochter ihr empfohlen. Es ist, als wäre Mascha hier auf perfide Weise heimlich eingezogen, ihre Art zu leben ist zumindest in der Küche sehr präsent. Sie kommt oft vorbei in letzter Zeit, was schön ist. Gerda blickt durch ihre kleine Zweizimmerwohnung, die, wie sie plötzlich findet, wie eine Studentenbude aussieht.

 

So!, sagt sie nun laut und klatscht schon wieder in die Hände. Was muss denn alles eingekauft werden? Gerda hat schon vor einer Weile angefangen, in ihrer Wohnung mit sich selbst zu reden. Wenn man es genau nimmt, hat sie schon früher mit sich selbst geredet, aber es war zumindest immer jemand anders im Raum, was gesellschaftlich anerkannter ist, egal ob die andere Person angesprochen ist oder überhaupt zuhört. Sie benutzt dabei immer diesen partnerschaftlichen Tonfall, einen leicht passiv-aggressiven, einen, der andeutet, dass sich jemand anders ja auch mal kümmern könnte.