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Rhiannon Navin

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Beschreibung

»Mit nur sechs Jahren versteht Zach mehr von Herz und Seele als die Erwachsenen um ihn herum.« The Washington Post Aufgeregt versteckt sich Zach mit seinen Klassenkameraden im Wandschrank. Es ist heiß und stickig und eng. Draußen fallen Schüsse − drinnen ahnt Zach, dass etwas Schreckliches geschieht. Er wird schließlich gerettet, aber sein älterer Bruder Andy stirbt, und nichts wird je wieder wie früher sein. Die Familie droht an dem Verlust zu zerbrechen. Doch es ist ausgerechnet der kleine Zach, der die Menschen, die er liebt, aus der Verzweiflung führt.

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Seitenzahl: 486

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Rhiannon Navin

Alles still auf einmal

Roman

Deutsch von Britta Mümmler

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Brad, Samuel, Garrett und Frankie

Für Mama

 

 

Ich muss mich der Dunkelheit immer wieder stellen. Wenn ich aufrecht meiner Angst ins Gesicht sehe, kann ich sie besiegen. Wenn ich ihr ausweiche und mich verstecke, wird sie mich besiegen.

 

Mary Pope Osborne: My Secret War.

The World War II Diary of Madeline Beck.

Long Island, New York, 1941

Am Tag, als der Amokläufer kam

Wenn ich mich später an den Tag erinnerte, als der Amokläufer kam, dachte ich immer zuerst an den Atem meiner Lehrerin Miss Russell. Er war heiß und roch nach Kaffee. Im Wandschrank war es dunkel, nur durch die Tür kam ein bisschen Licht herein, obwohl Miss Russell sie von innen zuhielt. Einen Türgriff gab es nicht, da hing bloß so ein loses Metallstück, und das zog sie mit Daumen und Zeigefinger fest zu sich heran.

»Ganz still, Zach«, flüsterte sie. »Nicht bewegen.«

Ich bewegte mich nicht. Obwohl ich auf meinem linken Fuß saß und der war eingeschlafen und tat richtig weh.

Ich spürte Miss Russells Kaffeeatem auf meiner Wange, wenn sie redete, und das störte mich ein bisschen. Ihre Finger zitterten, und sie musste sehr viel reden, mit Evangeline und David und Emma hinter mir im Wandschrank, denn die weinten und blieben nicht still.

»Ich bin ja bei euch, Kinder«, sagte Miss Russell. »Ich beschütze euch. Schhhhhh, seid bitte leise.« Draußen hörten wir immer weiter die PLOP-Geräusche. Und Schreie.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Es klang fast genauso wie die Geräusche in dem Star-Wars-Spiel, das ich manchmal auf der Xbox spiele.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Immer drei PLOPs, dann wieder Stille. Stille oder Schreie. Miss Russell zuckte jedes Mal zusammen, wenn es PLOP machte, und dann flüsterte sie noch schneller. »Gebt keinen Mucks von euch!«

Evangeline hatte Schluckauf.

 

PLOP Hicks PLOP Hicks PLOP Hicks

 

Ich glaube, irgendwer hatte in die Hose gemacht, denn genau so roch es im Wandschrank. Nach Miss Russells Atem und nach Pipi. Und nach den Jacken, die immer noch nass waren vom Regen in der Pause. »Da kann man wohl kaum draußen spielen«, hatte Mrs. Colaris gesagt. »Was? Wir sind doch nicht aus Zucker!« Regen machte uns nichts aus. Wir hatten Fußball gespielt und Räuber und Gendarm, und dabei waren unsere Haare und unsere Jacken ganz nass geworden. Ich versuchte, mich umzudrehen und zu fühlen, ob die Jacken noch nass waren.

»Nicht bewegen«, flüsterte Miss Russell mir zu. Sie wechselte die Hand, mit der sie die Tür zuhielt, und ihre Armbänder klimperten.

Miss Russell trägt an ihrem rechten Handgelenk immer ganz viele Armbänder. An manchen baumeln kleine Anhänger, das sind Glücksbringer, die helfen ihr, sich an besondere Sachen zu erinnern. Wenn sie im Urlaub ist, kauft sie immer einen neuen Anhänger, um hinterher noch ganz lange daran zu denken. Am Anfang der ersten Klasse hat sie uns alle ihre Anhänger gezeigt und uns erzählt, woher sie die hat. Und in diesen Sommerferien hat sie einen neuen gekauft, ein Boot. Es sieht genauso aus wie das Boot, mit dem sie ganz nah an einen riesengroßen Wasserfall herangefahren ist, die Niagarafälle. Nur in winzig klein. Die Niagarafälle sind in Kanada.

Jetzt fing mein linker Fuß an, richtig wehzutun, und ich versuchte, ihn gerade so weit rauszuziehen, dass Miss Russell es nicht merkt.

Wir waren gerade aus der Pause gekommen und hatten unsere Jacken in den Schrank gehängt, und als wir die Mathe-Bücher herausholten, gingen die PLOP-Geräusche plötzlich los. Ganz leise zuerst – so als ob sie vom anderen Ende des Flurs kommen, vom Eingang, wo Charlies Schreibtisch steht. Wenn Eltern ein Kind mal vor Schulschluss oder aus dem Krankenzimmer abholen, bleiben sie immer an Charlies Schreibtisch stehen, schreiben ihren Namen auf und zeigen ihren Ausweis vor, und dann kriegen sie ein Schild mit der Aufschrift »Besucher« an einem roten Band, das müssen sie dann um den Hals tragen.

Charlie ist der Wachmann der McKinley-Schule und schon dreißig Jahre hier. Als ich noch in der Vorschule war, im letzten Jahr, da hat es in der Aula eine große Feier für ihn gegeben. Sogar ganz viele Eltern sind gekommen, denn er war schon Wachmann, als sie selbst noch Kinder waren und auf die McKinley gingen, so wie Mommy. Charlie hat gesagt, dass er gar keine Feier braucht. »Ich weiß auch so, dass alle mich lieben«, hat er gesagt und sein lustiges Lachen gelacht. Aber er hat trotzdem eine Feier bekommen, und ich glaube, darüber hat er sich auch gefreut. Die Bilder, die wir ihm für die Feier gemalt haben, hat er alle rundherum auf seinem Schreibtisch aufgestellt, und die restlichen hat er mit nach Hause genommen und dort aufgehängt. Mein Bild stand genau in der Mitte, ganz vorn auf seinem Schreibtisch, denn ich kann richtig gut malen.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Ganz leise zuerst. Miss Russell war gerade dabei, uns zu erklären, welche Seiten im Mathe-Buch wir im Unterricht durcharbeiten sollen und welche Seiten Hausaufgaben sind. Aber dann hörte sie auf einmal auf zu reden und runzelte die Stirn, wegen den PLOP-Geräuschen. Sie ging zur Tür unseres Klassenzimmers und schaute durch die Glasscheibe hinaus.

»Was zum …«, sagte sie.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Sie machte einen großen Schritt weg von der Tür und sagte: »Scheiße.« Das hat sie wirklich gesagt. Das Sch-Wort – wir haben es alle gehört und fingen an zu lachen. Gleich danach hörten wir aus der Sprechanlage an der Wand Geknister, und dann rief eine Stimme: »Türen schließen, Türen schließen, Türen schließen!« Aber es war nicht Mrs. Colaris’ Stimme. Wenn wir sonst den Notfall geübt haben, rief Mrs. Colaris immer nur einmal »Türen schließen!« durch die Sprechanlage. Diese Stimme rief es ganz oft und ganz schnell.

Miss Russells Gesicht wurde ganz weiß, und wir hörten auf zu lachen, denn jetzt sah sie so anders aus, und sie lächelte nicht mal ein bisschen. Es machte mir Angst, wie ihr Gesicht plötzlich aussah, und mein Hals wurde so eng, dass ich kaum noch Luft kriegte.

Miss Russell drehte sich vor der Tür ein paar Mal im Kreis, als ob sie nicht weiß, wohin sie gehen soll. Dann hörte sie auf, sich im Kreis zu drehen, schloss die Tür ab und machte das Licht aus. Wegen dem Regen schien keine Sonne durch die Fenster, aber Miss Russell zog die Jalousien trotzdem runter. Und auf einmal redete sie ganz schnell, und ihre Stimme zitterte und klang irgendwie piepsig. »Denkt dran, was wir für den Notfall geübt haben«, sagte sie. Ich wusste noch, dass »Türen schließen« nicht »Rausgehen« heißt, so wie beim Feueralarm, sondern »Drinnen bleiben und verstecken«.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Draußen im Flur schrie irgendwer ganz laut. Meine Beine fingen an zu zittern.

»Alle rein in den Wandschrank, Kinder«, sagte Miss Russell.

Wenn wir sonst den Notfall geübt haben, hat es immer Spaß gemacht. Wir haben so getan, als ob wir die Bösen sind, und wir mussten nur eine Minute oder so im Wandschrank hocken. Und dann ist Charlie mit seinem Spezialschlüssel gekommen, mit dem man alle Türen in der Schule aufmachen kann, und hat die Klassenzimmertür von draußen aufgeschlossen.

»Ich bin’s, Charlie!«, haben wir ihn rufen hören, und das war dann das Zeichen dafür, dass die Übung vorbei ist. Jetzt wollte ich nicht in den Wandschrank, weil fast alle anderen schon drin waren, und es war schon ganz voll. Aber Miss Russell legte mir die Hand auf den Kopf und schob mich hinein.

»Schnell, Kinder, schnell«, sagte sie. Vor allem Evangeline und David und noch ein paar andere Kinder fingen an zu weinen und jammerten, dass sie nach Hause wollten. In meinen Augen waren auch Tränen, aber ich wollte nicht, dass sie rauskommen und alle meine Freunde es sehen können. Also benutzte ich den Quetschtrick, den ich von Grandma gelernt habe: Man muss die Nase mit den Fingern richtig fest zusammenquetschen, da, wo sie weich wird, dann kommen die Tränen nicht raus. Diesen Quetschtrick hat Grandma mir mal auf dem Spielplatz gezeigt, als ich fast angefangen habe zu weinen, weil mich jemand von der Schaukel geschubst hat. »Zeige nie, dass du weinen musst«, hat Grandma gesagt.

Miss Russell schob uns alle in den Wandschrank, und dann zog sie die Tür zu sich ran. Die ganze Zeit konnten wir die PLOP-Geräusche hören. Ich versuchte, die einzelnen PLOPs zu zählen.

 

PLOP-1 PLOP-2 PLOP-3

 

Mein Hals war so trocken und kratzig, dass ich am liebsten einen Schluck Wasser getrunken hätte.

 

PLOP-4 PLOP-5 PLOP-6

 

»Bitte, bitte, bitte«, flüsterte Miss Russell. Und dann hat sie mit Gott geredet. Sie hat ihn »Lieber Herrgott« genannt und ziemlich viel zu ihm gesagt. Aber das konnte ich alles nicht verstehen, weil sie ganz leise und schnell geflüstert hat, und ich glaube auch, das sollte nur Gott hören.

 

PLOP-7 PLOP-8 PLOP-9

 

Immer drei PLOPs und dann eine Pause.

Plötzlich sah Miss Russell auf und sagte noch einmal: »Scheiße.« Und dann: »Mein Handy!« Sie schob die Tür ein klein bisschen auf, und nachdem eine Zeit lang keine PLOPs zu hören gewesen waren, stieß sie sie ganz auf und rannte mit eingezogenem Kopf quer durchs Klassenzimmer zu ihrem Tisch. Dann rannte sie zurück zum Wandschrank, zog die Tür wieder zu und bat mich, das Metallstück zu halten. Und das tat ich, obwohl mir die Finger davon wehtaten, denn das war ganz schön schwer. Ich musste beide Hände benutzen.

Miss Russells Hände zitterten so sehr, dass ihr Handy wackelte, als sie drüberwischte und ihr Passwort eingab. Sie machte immer wieder Fehler, und wenn man das falsche Passwort eingibt, zittern alle Zahlen auf dem Bildschirm und man muss noch mal von vorne anfangen. »Komm schon, komm schon, komm schon«, sagte Miss Russell, und dann stimmte das Passwort endlich. Ich habe es gesehen: 1989.

 

PLOP-10PLOP-11PLOP-12

 

Ich habe zugeschaut, wie Miss Russell die Polizei anrief. Als ich eine Stimme aus dem Handy hörte, sagte sie: »Ja, hallo, ich rufe aus der McKinley-Grundschule an. In Wake Gardens. Rogers Lane.« Sie redete ganz schnell, und im Licht von ihrem Handy sah ich, dass ein bisschen Spucke von ihr auf mein Bein fiel. Ich musste die Spucke da lassen, weil ich mit meinen Händen ja die Tür zuhielt. Ich konnte sie nicht wegwischen, aber ich musste sie immerzu anschauen. Da war sie, auf meiner Hose, eine Spuckeblase. Eklig. »Es ist ein Amokläufer in der Schule, und er … Okay, ja, ich bleibe am Telefon.« Uns flüsterte sie zu: »Es hat schon jemand angerufen.« Ein Amokläufer. Das hatte sie wirklich gesagt. Und dann konnte ich in meinem Kopf nichts anderes mehr denken als Amokläufer.

 

PLOP-13 Amokläufer PLOP-14 Amokläufer PLOP-15 Amokläufer

 

Mir kam es plötzlich sehr heiß vor im Wandschrank und so, als ob keine Luft zum Atmen mehr übrig ist. Ich hätte am liebsten die Tür ein klein bisschen aufgemacht und Luft hereingelassen, aber ich hatte zu viel Angst. Mein Herz klopfte superschnell in meiner Brust und ganz bis rauf in meinen Hals. Nicholas neben mir hatte die Augen fest zusammengekniffen und atmete ganz schnell, immer ein und aus. Er verbrauchte viel zu viel Luft.

Miss Russell hatte die Augen auch zugemacht, aber ihr Atem ging langsam. Ich konnte den Kaffeegeruch riechen, wenn sie mit einem »Huuuuuu« ganz tief ausatmete. Dann machte sie die Augen wieder auf und redete im Flüsterton mit uns. Sie sagte von allen den Namen: »Nicholas. Jack. Evangeline …« Es fühlte sich gut an, als sie sagte: »Es wird alles gut, Zach.« Und zu uns allen sagte sie: »Die Polizei ist draußen. Sie kommen uns zu Hilfe. Und ich bin ja hier bei euch.« Ich war froh, dass sie bei uns war. Wenn sie redete, hatte ich nicht ganz so viel Angst. Der Kaffeeatem störte mich gar nicht mehr sehr. Ich tat einfach so, als ob es Daddys Atem ist, morgens, wenn er am Wochenende zum Frühstück zu Hause ist. Ich habe Kaffee schon mal probiert, aber ich mag ihn nicht. Er ist viel zu heiß und schmeckt irgendwie alt oder so. Daddy hat darüber gelacht und gesagt: »Gut, er hemmt ohnehin das Wachstum.« Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber in dem Augenblick habe ich mir sehr, sehr gewünscht, dass Daddy jetzt hier bei mir ist. Doch er war nicht da, nur Miss Russell und meine Klasse und die PLOPs …

 

PLOP-16PLOP-17PLOP-18

 

… die jetzt richtig laut waren, und Schreie im Flur und noch mehr Weinen im Wandschrank. Miss Russell hörte auf, mit uns zu reden, und sagte stattdessen ins Handy: »Oh Gott, er kommt näher! Wo bleiben Sie denn? Wo bleiben Sie denn?« Zweimal. Nicholas machte die Augen auf, sagte nur: »Oh!«, und dann hat er sich übergeben. Sein ganzes Hemd war voll, und etwas von der Kotze klebte auch in Emmas Haaren und an meinen Schuhen. Emma kreischte laut auf, und Miss Russell hielt ihr mit beiden Händen den Mund zu. Dabei hat sie ihr Handy fallen lassen und es ist direkt in der Kotze auf dem Boden gelandet. Und dann habe ich durch die Tür plötzlich Sirenen gehört. Ich kann die verschiedenen Sirenen richtig gut auseinanderhalten, von Feuerwehrautos, Polizeiautos, Krankenwagen … aber jetzt waren da draußen so viele auf einmal zu hören, dass ich es nicht hinkriegte – sie klangen alle durcheinander.

 

PLOP-19PLOP-20PLOP-21

 

Alles war heiß und feucht und stank so schlimm, dass mir ganz schwindlig wurde. Mein Bauch fühlte sich nicht gut an. Und dann war plötzlich alles still. Keine PLOPs mehr. Nur noch das Weinen und das Hicksen im Wandschrank.

Und DANN auf einmal hunderte von PLOPs. Ganz, ganz viele nacheinander und so laut, als ob sie ganz nahe sind. Und dröhnendes Krachen, so als ob etwas zertrümmert wird und auseinanderbricht. Miss Russell schrie und hielt sich die Ohren zu, und wir schrien auch und hielten uns die Ohren zu. Die Tür ging auf, weil ich das Metallstück losgelassen hatte, und Licht kam herein und tat mir in den Augen weh. Ich versuchte wieder, die PLOPs zu zählen, aber es waren zu viele. Und dann hörten sie auf.

Alles war still auf einmal, sogar wir. Keiner rührte sich, als ob wir nicht mal atmen. Und so blieben wir ziemlich lange – ganz still und ohne uns zu bewegen.

Dann kam jemand an die Tür unseres Klassenzimmers. Wir konnten ein Rütteln am Türgriff hören und Miss Russell atmete mit kleinen schnellen Atemstößen aus, so etwa: »Huh, huh, huh.« Es klopfte an der Tür, und eine laute Männerstimme rief: »Hallo – ist da jemand drin?«

Kriegswunden

»Alles in Ordnung. Hier ist die Polizei, es ist vorbei!«, rief die laute Männerstimme.

Miss Russell stand auf und hielt sich einen Augenblick an der Tür des Wandschranks fest, und dann ging sie die paar Schritte bis zur Klassenzimmertür, sehr langsam, als ob sie vergessen hat, wie man läuft. Vielleicht waren ihr aber auch die Beine eingeschlafen wie bei mir, weil sie drauf gesessen hatte.

Miss Russell schloss die Tür auf, und dann kamen ganz viele Polizisten herein. Im Flur draußen sah ich noch mehr. Eine Polizistin nahm Miss Russell in die Arme, und da machte sie plötzlich so Geräusche, als ob sie erstickt. Ich wollte gern nahe bei Miss Russell bleiben, und mir wurde auch langsam kalt, denn jetzt standen wir alle verstreut herum und nicht mehr so dicht und warm zusammen. Die vielen Polizisten machten mir Angst und schüchterten mich ein, deshalb hielt ich mich an Miss Russells Bluse fest.

»Also, Kinder, kommt bitte alle mal nach vorne«, sagte ein Polizist. »Könnt ihr euch hier in einer Reihe aufstellen?«

Draußen vor unserem Fenster konnte ich jetzt sogar noch mehr Sirenen hören. Sehen konnte ich aber nichts, denn unsere Fenster sind so weit oben, dass wir nur rausschauen können, wenn wir auf einen Stuhl oder einen Tisch klettern, und das dürfen wir eigentlich gar nicht. Und außerdem hat Miss Russell ja auch die Jalousien heruntergezogen, als die PLOP-Geräusche angefangen haben.

Ein Polizist legte mir eine Hand auf die Schulter und schob mich in die Reihe. Er und die anderen Polizisten hatten Uniformen mit so Westen an, durch die keine Kugeln durchgehen, und einige hatten Helme auf wie im Film. Und sie hatten ganz große Gewehre dabei, nicht die normalen Pistolen aus ihren Gürteltaschen. Sie sahen ein bisschen unheimlich aus mit ihren Gewehren und ihren Helmen, aber sie redeten nett mit uns: »Hey, Kumpel, keine Angst, jetzt ist alles vorbei! Jetzt seid ihr in Sicherheit.« Und solche Sachen.

Ich wusste nicht, was jetzt vorbei war, aber ich wollte nicht raus aus unserem Klassenzimmer, und Miss Russell war auch nicht vorne beim Anführer unserer Reihe. Sie stand noch immer mit der Polizistin am anderen Ende des Zimmers und machte diese komischen Geräusche, als ob sie erstickt.

Normalerweise schubsen und drängeln immer alle, wenn wir uns in einer Reihe aufstellen müssen, um das Klassenzimmer zu verlassen, und dann kriegen wir Ärger, weil wir keine schöne Reihe bilden. Diesmal standen wir alle ganz still. Evangeline und Emma und einige andere Kinder weinten und zitterten immer noch, und wir sahen alle Miss Russell an und warteten darauf, dass sie mit den komischen Geräuschen aufhört.

Wir hörten ganz viel Lärm draußen vorm Klassenzimmer und vom anderen Ende des Flurs lautes Schreien. Ich fand, es klang, als ob Charlie »NEIN, NEIN, NEIN!« schreit, immer und immer wieder, und ich habe mich gefragt, warum Charlie so laut schreit. Hatte der Amokläufer ihn etwa verletzt? Wachmann in einer Schule ist nämlich ein sehr gefährlicher Beruf, wenn ein Amokläufer kommt.

Aber da waren auch noch andere Geräusche. Weinen und Rufen und alles Mögliche: »Ooh, ooooh, ooooh!«, »Kopfwunde, Todesopfer!«, »Stark blutender Oberschenkel. Druckverband, schnell!« Die Walkie-Talkies am Gürtel der Polizisten piepten und piepten, und oft kamen da ganz schnell so viele Worte auf einmal heraus, dass man fast nichts verstehen konnte.

Das Walkie-Talkie des Polizisten vorne an unserer Reihe piepte auch, dann sagte es: »Fertig machen zum Abmarsch!«, und der Polizist drehte sich um und rief: »Abmarsch!« Die anderen Polizisten schoben die Kinder hinten in der Reihe an, und so gingen wir alle los, aber ganz langsam. Keiner von uns wollte in den Flur, denn da war immer noch das laute Weinen und Rufen zu hören. Der Polizist vorne hob die Hand und klatschte die Kinder ab, die an ihm vorbeikamen. Das sollte wohl irgendwie lustig sein. Ich habe meine Hand nicht zum Abklatschen gehoben, und er hat mir stattdessen einmal kurz über den Kopf gestrichen.

Wir mussten den ganzen Flur entlanggehen, bis zur Cafeteria. Wir sahen die anderen Erstklässler und die Zweit- und Drittklässler, die auch in einer Reihe gingen, immer mit einem Polizisten vorneweg. Alle sahen aus, als ob sie frieren und Angst haben. »Dreht euch nicht um«, sagten die Polizisten. »Nicht nach hinten schauen.« Aber ich wollte wissen, ob ich recht hatte. War es wirklich Charlie gewesen, der vorhin »NEIN, NEIN, NEIN!« geschrien hatte? Ging es ihm gut? Ich wollte wissen, wer da geschrien hatte.

Ich konnte nicht viel sehen, denn direkt hinter mir ging Ryder, und der ist sehr groß. Und hinter Ryder waren auch noch mehr Kinder. Aber zwischen den Kindern und Polizisten hindurch sah ich doch etwas: Im Flur lagen Leute, und Sanitäter und Polizisten beugten sich über sie. Und da war Blut. Ich glaube jedenfalls, dass es Blut war. Ganz dunkelrote, fast schwarze Pfützen, wie von verkleckerter Farbe, überall auf dem Fußboden, und auch an den Wänden ein paar Spritzer. Hinter Ryder sah ich die älteren Kinder aus den vierten und fünften Klassen gehen, mit weißen Gesichtern wie Gespenster. Ein paar von ihnen weinten und waren voller Blut. Im Gesicht und auch auf ihren Sachen.

»Umdrehen!«, rief ein Polizist hinter mir, und das klang diesmal gar nicht nett. Ich drehte mich ganz schnell wieder um, und mein Herz hämmerte richtig wegen dem vielen Blut. Ich hatte vorher schon mal echtes Blut gesehen, aber immer nur wenig – wenn ich hingefallen bin, zum Beispiel, und mein Knie geblutet hat oder so. Noch nie so viel wie hier.

Jetzt drehten sich auch andere Kinder um, und die Polizisten riefen immer wieder: »Nach vorne schauen! Nicht umdrehen!« Doch je öfter sie es riefen, desto mehr Kinder drehten sich um. Alle fingen an zu schreien und schneller zu laufen und sich anzurempeln und zu schubsen. Am Hintereingang rempelte mich jemand von der Seite an, und ich stieß mir die Schulter an der Tür, und die ist aus Metall. Das hat richtig wehgetan.

Draußen regnete es immer noch, ziemlich stark sogar, und wir hatten unsere Jacken nicht dabei. Denn das war ja alles in der Schule geblieben: unsere Jacken und Rucksäcke und Büchermappen und so. Aber wir gingen einfach weiter, zum Spielplatz rüber und durch das hintere Schultor, das in der Pause immer geschlossen ist, damit keiner rauslaufen kann und keine Fremden reinkommen.

Als ich draußen war, ging es mir langsam wieder besser. Mein Herz hämmerte nicht mehr so schlimm und der Regen fühlte sich gut an auf meinem Gesicht. Es war kalt, aber das gefiel mir. Alle gingen wieder langsamer, und es wurde nicht mehr so viel geschrien und geweint und geschubst. So als ob der Regen alle ruhiger gemacht hat, so wie mich.

Wir gingen quer über die Straßenkreuzung, die voll war mit Krankenwagen und Feuerwehrautos und Polizeiautos. Alle hatten Blaulicht an, und das sah man in den Pfützen blinken, und ich versuchte, auf die blinkenden Lichter zu treten, und machte blaue und rote und weiße Kreise im Wasser. Dabei lief ein bisschen Wasser in meine Sneakers, oben, wo so kleine Löcher drin sind, und meine Socken wurden nass. Mommy würde bestimmt schimpfen, dass meine Sneakers nass waren, aber ich spritzte trotzdem weiter und machte noch mehr Kreise. Die blauen und roten und weißen Lichter in den Pfützen sahen zusammen wie die Farben der amerikanischen Flagge aus.

Die Straßen waren mit Autos und Lastwagen abgesperrt. Aber dahinter kamen immer noch mehr Autos an, und ich sah Eltern aussteigen. Ich hielt nach Mommy Ausschau, doch ich konnte sie nirgends sehen. Die Polizisten bildeten eine Reihe an beiden Seiten der Kreuzung, damit wir weitergehen konnten, und die Eltern mussten hinter den Reihen bleiben. Sie riefen uns Namen zu, die wie Fragen klangen: »Eva? Jonas? Jimmy?« Einige Kinder riefen zurück: »Mom! Mommy? Dad!«

Ich tat so, als ob ich in einem Film bin, mit all den Blaulichtern und den vielen Polizisten mit den großen Gewehren und Helmen. Das war richtig aufregend. Ich tat so, als ob ich ein Soldat bin, der aus dem Krieg zurückkommt, und nun war ich ein Held, und die Leute waren alle da, um mich zu sehen. Meine Schulter tat weh, aber so was passiert eben, wenn man im Krieg gekämpft hat. Kriegswunden. Das sagt Daddy immer, wenn ich mir beim Lacrosse oder beim Fußball oder beim Draußenspielen wehtue: »Kriegswunden. Die muss jeder Mann haben. Das beweist, dass du kein Waschlappen bist.«

Jesus und echte Tote

Die Polizisten brachten uns in die kleine Kirche in der Straße hinter der Schule. Als wir hineingingen, fühlte ich mich plötzlich nicht mehr wie ein knallharter Held. All die aufregenden Gefühle blieben draußen bei den Feuerwehrwagen und den Polizeiautos. In der Kirche war es düster und still und kalt, vor allem weil wir inzwischen vom Regen richtig nass waren.

Wir gehen nicht oft in die Kirche, nur mal zu einer Hochzeit, und im letzten Jahr waren wir zu Onkel Chips Beerdigung in einer Kirche. Nicht in dieser hier, sondern in einer größeren in New Jersey, wo Onkel Chip gewohnt hat. Das war richtig traurig, als Onkel Chip gestorben ist, denn er war noch gar nicht so alt. Er war Daddys Bruder und nur ein bisschen älter als er, aber er ist trotzdem gestorben, weil er Krebs hatte. Das ist eine Krankheit, die viele Leute kriegen, und man kann sie in ganz verschiedenen Teilen vom Körper haben. Manchmal ist sie auch überall im Körper, und das ist bei Onkel Chip passiert. Der Arzt konnte ihn nicht mehr gesund machen, und deshalb ist er in so ein besonderes Krankenhaus gegangen. Da gehen Leute hin, die nicht mehr gesund werden, und dann sterben sie dort.

Dort haben wir ihn besucht. Er hat bestimmt große Angst, habe ich gedacht, denn er weiß wahrscheinlich, dass er sterben wird und nicht mehr mit seiner Familie zusammen sein kann. Aber als wir ihn gesehen haben, schien er gar nicht ängstlich. Er hat nur die ganze Zeit geschlafen. Und er ist auch nicht mehr aufgewacht, nachdem wir ihn gesehen haben. Er ist vom Schlaf direkt in den Tod gegangen, und ich glaube, er hat nicht einmal gemerkt, dass er stirbt. Daran muss ich beim Schlafengehen manchmal denken, und dann habe ich Angst einzuschlafen. Denn was, wenn ich beim Schlafen sterbe und es nicht einmal merke?

Ich habe viel geweint auf Onkel Chips Beerdigung, vor allem weil Onkel Chip jetzt für immer weg ist und ich ihn nie wieder sehen werde. Die anderen Leute haben auch alle geweint, besonders Mommy und Grandma und Tante Mary, Onkel Chips Frau. Na ja, nicht richtig seine Frau, denn sie waren nicht verheiratet. Aber wir nennen sie trotzdem Tante Mary, weil die beiden richtig lange ein Liebespaar gewesen sind, schon bevor ich geboren wurde. Und ich habe geweint, weil Onkel Chip ganz vorne in der Kirche in so einem Kasten lag, den man Sarg nennt. Darin muss es richtig eng gewesen sein. In so einem Kasten will ich nie liegen, niemals. Nur Daddy hat nicht geweint.

Als die Polizisten uns sagten, dass wir uns in die Kirchenbänke setzen sollen, dachte ich an Onkel Chip und wie traurig es auf seiner Beerdigung war. Wir sollten alle in die Bänke rein, und die Polizisten riefen: »Rutscht ganz durch. Macht Platz für alle. Rutscht weiter durch.« Und wir rutschten weiter durch, bis wir wieder so dichtgedrängt saßen wie in dem Wandschrank. Zwischen den Bänken auf der linken Seite und den Bänken auf der rechten Seite war ein Gang, und ein paar Polizisten stellten sich an den Bänken auf.

Meine Füße waren eiskalt. Und ich musste Pipi machen. Ich habe den Polizisten an meiner Bank gefragt, ob ich auf die Toilette gehen darf, aber er hat nur gesagt: »Jetzt bleiben erst mal alle sitzen, Kumpel.« Und so habe ich versucht, es anzuhalten und nicht daran zu denken, wie dringend ich Pipi machen muss. Aber wenn man versucht, an etwas nicht zu denken, dann ist es das Einzige, woran man denken kann.

Nicholas saß rechts ganz dicht neben mir und roch immer noch nach Kotze. Ich sah, dass Miss Russell mit ein paar anderen Lehrern in einer Bank ganz hinten saß, und wäre am liebsten zu ihr gelaufen. Die älteren Kinder, die mit dem Blut überall, saßen auch hinten, und viele von ihnen weinten immer noch. Ich weiß auch nicht warum, denn nicht einmal die jüngeren Kinder weinten noch. Ein paar Lehrer und Polizisten und der Mann von der Kirche – ich wusste, dass er von der Kirche war, wegen seinem schwarzen Hemd und dem weißen Kragen – redeten mit ihnen und umarmten sie und wischten ihnen mit Taschentüchern das Blut aus dem Gesicht.

Vorne in der Kirche stand ein großer Tisch, das ist ein besonderer Tisch, den nennt man Altar. Und darüber hing ein großes Kreuz mit Jesus dran, so wie in der Kirche, wo Onkel Chips Beerdigung war. Ich versuchte, Jesus nicht anzusehen. Er hatte die Augen zu, und ich wusste, dass er tot war – dass er Nägel in Händen und Füßen hatte, denn das haben die Leute ihm vor ganz langer Zeit wirklich angetan, um ihn zu töten. Obwohl er ein guter Mensch war und Gottes Sohn. Die Geschichte hat Mommy mir erzählt, aber ich kann mich nicht erinnern, warum sie Jesus das angetan haben. Und es wäre mir lieber gewesen, wenn er nicht dort vorne gewesen wäre. Das erinnerte mich an die Leute im Flur und an all das Blut, und vielleicht sind die auch tot, dachte ich da – und das heißt dann ja, dass ich echte Tote gesehen habe!

Fast alle waren still, und in dieser Stille hörte ich in meinen Ohren plötzlich wieder die PLOP-GERÄUSCHE, wie Echos von den Kirchenwänden. Ich schüttelte den Kopf, damit sie aufhörten, aber sie kamen immer wieder.

 

PLOPPLOPPLOP

 

Ich wartete, was als Nächstes passieren würde. Nicholas’ Nase war ganz rot, und ein Schnoddertropfen hing daran. Das war eklig. Mit einem Schniefen zog er den Schnodder hoch, und dann lief er wieder runter. Nicholas rieb sich die Hände an den Beinen, immer rauf und runter, so als wollte er sie abtrocknen. Komisch, denn seine Hose war doch ganz nass vom Regen. Er sagte kein Wort, und das war ganz anders als sonst. In der Schule sitzen wir uns am blauen Tisch gegenüber und reden die ganze Zeit über Sachen wie Skylanders und die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft und welche Sticker wir in der Pause und später im Bus tauschen wollen.

Wir haben schon angefangen, die Sticker zu sammeln, bevor die Weltmeisterschaft im Sommer angefangen hat. In unseren Sammelalben sind alle Spieler von allen Mannschaften, die an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Deshalb wussten wir alles über die Mannschaften, als die Weltmeisterschaft losging, und so macht es auch viel mehr Spaß, zuzuschauen. Nicholas braucht nur noch vierundzwanzig Sticker für sein Album und ich noch zweiunddreißig, und wir haben beide einen Riesenstapel doppelte Sticker.

»Hast du das Blut im Flur gesehen?«, fragte ich Nicholas flüsternd. »Das sah echt aus. Und es sah auch nach ziemlich viel aus, was?« Nicholas nickte, aber er sagte noch immer kein Wort. So als hätte er seine Stimme in der Schule vergessen, zusammen mit seiner Jacke und seinem Rucksack. Er ist schon komisch manchmal. Weil er nur immer weiter seinen Schnodder hochzog und sich die Hände an der nassen Hose abwischte, hörte ich auf, mit ihm zu reden, und versuchte, nicht auf den Schnoddertropfen zu gucken. Aber als ich wegsah, wanderten meine Augen zu dem toten Jesus am Kreuz, und das waren die zwei Sachen, die ich andauernd anguckte: den Schnoddertropfen und Jesus. Schnoddertropfen, Jesus, Schnoddertropfen, Jesus. Meine Sticker und das FIFA-Sammelalbum waren in meinem Rucksack, und der war noch in der Schule. Hoffentlich klaut mir die niemand, dachte ich besorgt.

Die große Tür der Kirche ging immer wieder mit einem lauten Knirsch-Quietsch, Knirsch-Quietsch auf und zu, und immer wieder gingen Leute rein und raus, Polizisten vor allem und ein paar Lehrer. Mrs. Colaris und Charlie konnte ich nirgends sehen, die waren also wahrscheinlich in der Schule geblieben. Dann kamen Eltern in die Kirche, und da ging ein lautes Gewusel los. Denn die Eltern waren nicht still, so wie wir, sondern riefen uns Namen zu, die wie Fragen klangen. Sie weinten und schrien, wenn sie ihre Kinder gefunden hatten, und wollten zu ihnen in die Bänke rein, aber das war ziemlich schwierig, weil wir alle so dicht nebeneinandersaßen. Ein paar der Kinder versuchten rauszuklettern und fingen wieder an zu weinen, als sie ihre Mom oder ihren Dad sahen.

Jedes Mal, wenn ich die Tür knirschen und quietschen hörte, habe ich mich umgedreht und geschaut, ob es Mommy oder Daddy sind. Ich habe sehr, sehr darauf gewartet, dass sie kommen und mich nach Hause bringen, damit ich saubere Sachen und Socken anziehen kann und mir wieder warm wird.

Nicholas’ Dad kam zuerst. Nicholas ist über mich drübergeklettert, und sein Dad hat ihn über die anderen Kinder in unserer Bank gehoben. Und dann hat er ihn ganz lange ganz fest im Arm gehalten, obwohl die Kotze und der Schnodder so bestimmt auch sein Hemd schmutzig machten.

Schließlich ging die Tür mit noch einem Knirsch-Quietsch auf, und Mommy kam herein. Ich stand auf, damit sie mich sehen konnte, und dann schämte ich mich so richtig, denn Mommy kam auf mich zugerannt und rief vor allen anderen Kindern: »Mein Baby!« Ich kletterte über die anderen Kinder zu ihr, und sie nahm mich in die Arme und schaukelte mich, und sie war kalt und nass vom Regen draußen.

Und dann begann Mommy sich umzusehen und fragte: »Zach, wo ist dein Bruder?«

Wo ist dein Bruder?

»Zach, wo ist Andy? Wo hat er sich hingesetzt?« Mommy stand da und sah sich um. Ich wollte, dass sie mich weiter im Arm hielt, und ich wollte ihr von den PLOPs erzählen und von all dem Blut und den Leuten, die im Flur gelegen haben, und dass das bestimmt echte Tote waren. Ich wollte sie fragen, warum der Amokläufer gekommen ist und was mit den Leuten in der Schule passiert ist. Ich wollte, dass wir aus dieser kalten Kirche rausgehen und weg von dem Jesus mit den Nägeln in Händen und Füßen.

Andy hatte ich heute nicht gesehen. Ich sehe Andy fast nie in der Schule, nachdem wir aus dem Bus ausgestiegen sind, denn wir haben unser Mittagessen und unsere Pausen nicht zur selben Zeit. Die älteren Kinder gehen immer vor uns raus, und ich treffe ihn dann erst nach Schulschluss im Bus wieder. Und wenn wir uns in der Schule doch zufällig mal begegnen, zum Beispiel im Flur, wenn meine Klasse in die eine Richtung geht und seine Klasse in die andere, dann guckt er mich extra nicht an und tut so, als ob er mich nicht kennt und als ob ich gar nicht sein Bruder bin.

Als ich in die Vorschule kam, habe ich mich ein bisschen gefürchtet, denn viele von meinen Kindergartenfreunden sind auf die Jefferson gegangen, und auf der McKinley kannte ich nicht viele Kinder. Ich war froh, dass Andy schon dort war, in der vierten Klasse. Er könnte mir zeigen, wo alles war, und so brauchte ich nicht so viel Angst zu haben, denn er war ja da. »Pass ein bisschen auf deinen kleinen Bruder auf. Hilf ihm!«, sagte Mommy zu Andy. Aber das hat er nicht gemacht.

»Lass mich in Ruhe, du kleine Kröte!«, rief er, wenn ich mit ihm zu reden versuchte, und seine Freunde lachten. Und das habe ich dann auch gemacht, ihn in Ruhe gelassen.

»Zach, wo ist dein Bruder?«, fragte Mommy noch einmal, und dann begann sie, den Gang in der Mitte auf und ab zu gehen. Ich versuchte, mit ihr mitzugehen und ihre Hand festzuhalten. Doch jetzt waren überall Leute, die Namen riefen und zwischen uns durch wollten. Ich musste Mommys Hand loslassen, denn meine Schulter tat weh, wenn ich mich festhielt.

Ich hatte seit dem Bus den ganzen Tag nicht mehr an Andy gedacht, erst wieder, als Mommy mich nach ihm fragte. Ich hatte nicht an Andy gedacht, als die PLOPs losgingen oder als wir uns im Wandschrank versteckten oder als wir durch den Flur gingen und dann durch den Hintereingang aus der Schule raus. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich Andys Gesicht vielleicht gesehen hatte, als ich mich umdrehte und die älteren Kinder hinter uns sah, aber ich wusste es nicht mehr.

Mommy drehte sich jetzt in alle Richtungen um, schneller und schneller, ihr Kopf ging immer nach links, nach rechts, links, rechts. Vor dem Altartisch holte ich sie ein und versuchte, wieder nach ihrer Hand zu greifen, aber genau in dem Moment hob sie ihre Hand und legte sie einem Polizisten auf den Arm. Also steckte ich meine Hände in die Taschen, damit sie wärmer wurden, und blieb ganz dicht neben Mommy stehen. »Ich kann meinen Sohn nicht finden. Sind alle Kinder hier in dieser Kirche?«, fragte sie den Polizisten. Ihre Stimme klang anders, irgendwie piepsig, und ich sah zu ihr hoch, weil ich wissen wollte, warum sie so klang. Ihr Gesicht hatte um die Augen herum rote Flecken bekommen, und ihre Lippen und ihr Kinn zitterten, bestimmt deshalb, weil sie auch nass war vom Regen und fror.

»In einigen Minuten wird eine Mitteilung gemacht, Ma’am«, sagte der Polizist zu Mommy. »Setzen Sie sich bitte, wenn Sie ein Kind vermissen, und warten Sie auf die Mitteilung.«

»Wenn ich ein Kind vermisse …?«, sagte Mommy und schlug mit einer Hand gegen ihren Kopf, so als ob sie sich selbst hauen will. »Herrgott nochmal!«

Als Mommy seinen Namen sagte, sah ich rauf zu dem Kreuz, wo Jesus ja hing, und genau in dem Moment fing in Mommys Handtasche ihr Telefon an zu klingeln. Vor Schreck ließ sie die Handtasche fallen, und ein paar Sachen fielen heraus. Mommy kniete sich auf den Boden und suchte in der Handtasche nach ihrem Telefon. Ich fing an, ihre Sachen einzusammeln, ein paar Zettel und die Autoschlüssel und ziemlich viele Münzen, die zwischen die Füße der Leute rollten. Ich versuchte, sie alle wieder aufzuheben, bevor jemand anders sie nehmen konnte.

Mommys Hände zitterten genauso schlimm wie die von Miss Russell vorhin im Wandschrank, als sie ihr Telefon fand und ranging. »In der Kirche in der Lyncroft Street. Die Kinder sind hierhergebracht worden. Aber Andy ist nicht dabei! Oh mein Gott, Jim, er ist nicht hier in der Kirche! Ja, Zach hab ich.« Mommy fing an zu weinen. Sie kniete direkt vor dem Altartisch, und es sah aus, als ob sie betet, denn das machen die Leute, wenn sie beten. Dann knien sie sich so hin. Ich stand vor Mommy, legte eine Hand auf ihre Schulter und streichelte sie, damit sie aufhörte zu weinen. Ich hatte einen richtig dicken Kloß im Hals.

»Ich weiß, okay, in Ordnung. Ich weiß, okay«, sagte Mommy ins Telefon und: »Okay, bis gleich«, und dann steckte sie das Telefon in ihre Manteltasche und zog mich an sich und umarmte mich, viel zu fest, und weinte an meinem Hals. Ihr Atem fühlte sich ganz heiß an auf meiner Haut, es kitzelte. Aber es fühlte sich auch gut an, weil es warm war und mir immer kälter und kälter wurde.

Ich wollte stillhalten, als Mommy mich umarmte, und ganz nah bei ihr bleiben, aber ich musste dauernd von einem Bein aufs andere treten, weil ich immer noch so dringend Pipi machen musste. »Ich muss auf die Toilette, Mommy«, sagte ich. Mommy ließ mich los und stand auf. »Nicht jetzt, mein Schätzchen«, sagte sie. »Komm, wir setzen uns irgendwo hin, bis Daddy kommt und die Polizei die Mitteilung macht.« Aber wir konnten uns nirgends hinsetzen, wegen all den Kindern in den Bänken, und so gingen wir an die Seite und Mommy lehnte sich an die Wand und drückte ganz fest meine Hand. Ich balancierte immer noch auf Zehenspitzen hin und her und versuchte, nicht umzufallen. Mein Pillermann tat richtig weh, weil ich so dringend Pipi machen musste. Ich hatte Angst, dass ich noch in die Hose mache. Und da hätte ich mich wirklich geschämt vor all den anderen.

Dann klingelte Mommys Telefon wieder, es war in ihrer Manteltasche. Sie holte es raus und sagte zu mir: »Das ist Mimi«, und dann ist sie rangegangen. »Hallo Mom!« Als sie das sagte, fing sie wieder an zu weinen. »Ich bin jetzt hier, mit Zach … Ihm geht’s gut, alles okay. Aber Andy ist nicht hier, Mom. Nein, er ist nicht hier. Ich kann ihn nicht finden … Bis jetzt hat uns noch niemand etwas gesagt … Es heißt nur, sie würden bald eine Mitteilung machen.« Mommy drückte sich das Telefon ganz fest ans Ohr. Ich konnte sehen, dass die Knöchel an ihren Fingern ganz weiß wurden, weil sie so fest drückte. Dann hörte sie Mimi zu, die im Telefon redete. Sie nickte mit dem Kopf, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Okay, Mom, aber es ist zum Verrücktwerden. Ich weiß nicht, was ich tun soll … Er kommt hierher, er ist schon auf dem Weg. Nein, komm noch nicht. Im Moment lassen sie auch nur Eltern rein, glaub ich. Okay, das mach ich. Dann ruf ich dich gleich an. Okay. Ich hab dich auch lieb.«

Ich guckte durch alle Bänke und suchte mit den Augen links und rechts, so wie bei einem Wörter-Suchspiel, wenn man nach dem ersten Buchstaben von einem Wort sucht, also wenn man zum Beispiel nach dem Wort ANANAS sucht. Dann versucht man erst mal, alle As zu finden, und wenn man die gefunden hat, dann sucht man weiter, ob irgendwo direkt neben einem A ein N ist, und so findet man dann das ganze Wort. Genauso suchte ich mit den Augen links und rechts, ob Andy nicht doch irgendwo in einer Bank sitzt. Vielleicht hatten wir ihn vorhin nur nicht gesehen und dann könnten wir ihn jetzt einfach holen und nach Hause gehen. Meine Augen suchten und suchten, hin und her, aber Andy war wirklich nirgendwo.

Langsam wurde ich müde, und ich wollte nicht länger stehen. Nach einer ziemlich langen Zeit ging dann die große Tür wieder, Knirsch-Quietsch, und Daddy kam rein. Seine Haare waren nass und klebten an seiner Stirn, und Regen tropfte von seinen Sachen. Es dauerte ein Weilchen, bis er sich an all den Leuten vorbeigequetscht hatte und bei uns war. Und dann nahm er uns in seine nassen Arme, und Mommy fing wieder an zu weinen.

»Es wird alles gut, Liebes«, sagte Daddy. »Sie konnten bestimmt nur nicht alle Kinder hier unterbringen. Warten wir erst mal ab. Als ich hereinkam, hieß es, sie würden gleich eine Mitteilung machen.« Genau als er das sagte, stellte sich der Polizist, mit dem Mommy vorhin gesprochen hatte, vor den Altartisch und sagte: »Hallo, Leute, alle mal herhören! Ich bitte um Ruhe!« Er musste noch ein paar Mal »Ruhe, bitte!« rufen, weil so viel geweint und gerufen und geschrien wurde und keiner merkte, dass er redete.

Schließlich waren alle ruhig, und er fing an, eine Rede zu halten: »Liebe Eltern, alle Kinder, die unverletzt sind, wurden hier in diese Kirche gebracht. Wenn Sie Ihr Kind gefunden haben, dann verlassen Sie die Kirche bitte umgehend, damit wir hier für Ordnung sorgen können und neu eintreffende Eltern ihre Kinder leichter finden. Und für den Fall, dass Sie Ihr Kind hier in dieser Kirche nicht gefunden haben: Alle verletzten Kinder werden zur medizinischen Versorgung ins West-Medical-Krankenhaus gebracht. Mit großem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass es bei diesem Vorfall auch eine unbekannte Anzahl von Opfern zu beklagen gibt, und diese müssten am Tatort bleiben, solange die Untersuchungen andauern.«

Als er von den Opfern redete – ich verstand nicht genau, was das bedeutet –, ging ein lautes Stöhnen durch die Kirche, als würden alle Leute auf einmal »Ohhhh« machen. Der Polizist redete weiter: »Wir haben bisher noch keine Liste der Verwundeten und Todesopfer vorliegen. Machen Sie sich deshalb bitte auf den Weg ins West-Medical-Krankenhaus, wenn Sie Ihr Kind hier nicht finden können, und erkundigen Sie sich dort beim zuständigen Personal. Das Krankenhaus stellt derzeit eine Liste aller eingelieferten Patienten zusammen. Der Schütze kam bei einem Schusswechsel mit der Polizei von Wake Gardens zu Tode, und wir sind überzeugt davon, dass er alleine gehandelt hat. Es besteht keine weitere Gefahr mehr für Wake Gardens. Das ist im Augenblick alles. Wir richten eine Hotline für Angehörige ein, alle Informationen dazu finden Sie in Kürze auf den Webseiten der McKinley und von Wake Gardens.«

Einen Moment lang blieb alles ganz still, als er mit Reden fertig war, und dann gab es eine Explosion von Lärm, weil alle durcheinanderriefen und Fragen stellten. Ich verstand nicht so genau, was der Polizist alles gesagt hatte, nur dass die Polizei den Amokläufer erschossen hatte, und das fand ich gut. So konnte er wenigstens niemanden mehr erschießen. Doch als ich Mommy und Daddy ansah, war ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich gut war, denn ihre Gesichter waren voller Falten, und Mommy weinte sehr viel. »Okay«, sagte Daddy, »dann ist er bestimmt im West-Medical.«

Ich war früher schon mal im West-Medical, weil ich gegen Erdnüsse allergisch bin. Da war ich erst vier, und ich kann mich nicht daran erinnern. Aber Mommy sagt, das war richtig zum Angstkriegen. Ich konnte fast nicht mehr atmen, weil mein Gesicht und mein Mund und mein Hals so angeschwollen waren. Im Krankenhaus mussten sie mir eine Medizin geben, damit ich wieder Luft kriegte. Seitdem darf ich nichts mehr mit Erdnüssen essen, nie wieder, und beim Mittagessen muss ich am Keine-Nüsse-Tisch sitzen.

Mommy musste Andy auch schon einmal ins West-Medical bringen, im letzten Sommer, weil er ohne Helm Fahrrad gefahren ist – das ist absolut verboten. Und dann ist er gefallen, direkt auf den Kopf. Seine Stirn hat geblutet, und er musste genäht werden.

»Melissa, Liebes, wir müssen uns zusammenreißen«, sagte Daddy zu Mommy. »Fahr du mit Zach ins Krankenhaus und finde Andy. Ruf mich an, wenn du dort bist. Ich rufe meine Mom an und deine und bleibe hier … für den Fall …«

Ich wartete, weil ich wissen wollte, für welchen Fall. Aber Mommy griff nach meiner Hand und zog mich mit sich, und wir gingen aus der Kirche raus. Als wir durch die große Tür kamen, waren überall Leute, auf den Gehwegen und auf der Straße, und ich sah große Wagen, die so große hochstehende Schüsseln auf den Dächern haben. Lichter blitzten auf und blendeten meine Augen.

»Los, schnell weg hier«, sagte Mommy, und wir liefen schnell weg.

Ein Tag ohne Regeln

»Wir schaffen das, Zach, hörst du? Alles wird wieder gut. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus, und da finden wir Andy, und dann ist dieser ganze Alptraum vorbei. Okay, Schatz?«

Mommy sagte im Auto immer wieder dieselben Sachen. Aber ich glaube, sie hat gar nicht mit mir geredet, denn als ich sagte: »Ich muss wirklich aufs Klo, wenn wir da sind, Mommy«, da hat sie nicht mal geantwortet. Sie hat sich vorgelehnt, um durch die Windschutzscheibe gucken zu können, denn es regnete immer noch ziemlich schlimm. Die Scheibenwischer wischten mit der höchsten Geschwindigkeit, so schnell, dass einem schwindlig wird, wenn man versucht, mit den Augen zu folgen. Davon wird einem schlecht, so wie beim Autofahren, deshalb muss man versuchen, nur durch die Windschutzscheibe zu gucken, man darf nicht auf die Wischer achten. Aber selbst bei der schwindlig-schnellen Geschwindigkeit konnte man kaum etwas sehen. Und als wir zu der Straße kamen, wo das Krankenhaus ist, war alles von Autos verstopft.

»Verdammt noch mal«, sagte Mommy.

Heute war der Tag der schlimmen Wörter. Scheiße, verdammt noch mal, Herrgott noch mal! Herrgott ist eigentlich kein schlimmes Wort, sondern ein Name, aber manchmal benutzen die Leute ihn als schlimmes Wort. Es wurde laut gehupt. Viele hatten ihre Fenster aufgemacht, obwohl es regnete, und ihre Autos wurden bestimmt auch von innen nass. Sie schrien einander an, dass sie verdammt noch mal den Weg freimachen sollen.

Als wir letztes Mal zum Krankenhaus kamen, als Andy vom Fahrrad gefallen war, gab es dort einen Parkservice, das heißt, man kann einfach aus seinem Auto aussteigen und lässt den Motor laufen und den Schlüssel stecken, und dann kommt ein Mann und parkt das Auto für dich. Und wenn man zurückkommt, muss man ihm das Ticket geben, und dann holt er das Auto von da ab, wo er es geparkt hat. Diesmal gab es keinen Parkservice, und es waren bestimmt tausend Autos vor uns. Mommy fing wieder an zu weinen, trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad rum und sagte: »Was machen wir jetzt bloß? Was machen wir jetzt bloß?«

Da fing Mommys Telefon an zu klingeln, und es war im ganzen Auto laut zu hören. Ich wusste, dass es Daddy war, denn in Mommys neuem GMC Acadia kann man vorne, da, wo das Radio ist, sehen, wer anruft. Und wenn man dann auf den Annehmen-Knopf drückt, kann man die Stimme im ganzen Auto hören – das ist cool. Das hatten wir in unserem alten Auto nicht.

»Bist du schon da?«, fragte Daddys Stimme im Auto.

»Ich komme nicht einmal bis an das Krankenhaus heran«, sagte Mommy. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Hier sind überall Autos. Und es wird noch eine Ewigkeit dauern, bis ich die Parkgarage erreiche, falls dann überhaupt noch ein Parkplatz frei ist. Verdammt, Jim. Ich halte das nicht aus. Ich muss da irgendwie rein!«

»Okay, Liebes, vergiss den Parkplatz in der Parkgarage einfach. Ich kann mir vorstellen, dass es der reine Wahnsinn ist. Verflucht, ich hätte mit euch mitfahren sollen. Aber ich dachte …« Und auf einmal war es still im Auto, denn Mommy und Daddy sagten beide kein Wort. »Lass das Auto einfach irgendwo stehen, Melissa«, sagte Daddys Stimme in unserem Auto. »Ist doch egal. Lass es stehen und geh zu Fuß.«

Ich glaube, das taten ganz viele Leute, das Auto einfach stehen lassen. Denn als ich aus dem Fenster sah, entdeckte ich überall geparkte Autos, sogar auf den Fahrradwegen und auf den Gehwegen. Das ist gegen das Gesetz, und solche Autos werden von einem Abschleppwagen abgeschleppt.

Mommy fuhr auf den Gehweg und hielt an. »Los, gehen wir«, sagte sie und machte meine Tür auf. Ich sah, dass unser Auto hinten ein Stück auf der Straße stand, und die Autos hinter uns fingen an zu hupen. Dabei wären sie noch gut daran vorbeigekommen. »Ach, haltet doch die Schnauze!«, rief Mommy. Die Liste der schlimmen Wörter wurde immer länger.

»Mommy, kommt dann nicht ein Abschleppwagen und holt unser Auto ab?«, fragte ich.

»Egal. Komm und beeil dich bitte.«

Ich lief sehr schnell, weil Mommy so an meiner Hand zog. Und weil ich so schnell laufen musste, kam ein bisschen Pipi raus. Ich konnte nichts dagegen tun, es kam einfach raus. Zuerst nur ein bisschen, und dann alles. Es fühlte sich gut an, und es machte meine Beine wärmer. Es ist bestimmt auch egal, dass Pipi in meiner Hose ist, wenn es egal ist, dass ein Abschleppwagen unser Auto abholen kommt, dachte ich. Heute war ein Tag mit anderen Regeln oder ohne Regeln. Wir wurden noch einmal pitschnass vom Regen, und der würde das meiste Pipi bestimmt sowieso wegspülen.

Wir gingen einfach mitten auf der Fahrbahn, zwischen den stehenden Autos durch. Von all dem Gehupe taten mir richtig die Ohren weh. Und dann gingen wir durch Schiebetüren aus Glas, auf denen NOTAUFNAHME stand. Jetzt würden wir Andy finden und sehen, was mit ihm passiert war und ob er wieder genäht werden musste, so wie beim letzten Mal.

Drinnen war es ganz genauso wie draußen, nur mit Leuten anstatt mit Autos. Überall im Warteraum waren Leute und auch vor dem Tresen, auf dem ein Schild mit der Aufschrift »Anmeldung« stand. Und alle redeten gleichzeitig auf die beiden Frauen dahinter ein. Am anderen Ende des Raums redete ein Polizist mit einer Gruppe von Leuten, und Mommy ging näher hin, um zu hören, was er sagte: »Im Augenblick können wir hier niemanden hineinlassen. Wir arbeiten an einer Liste mit Patienten. Es gibt sehr viele Verletzte, und unsere oberste Priorität muss es derzeit sein, sie medizinisch zu versorgen.« Ein paar Leute versuchten, etwas zu dem Polizisten zu sagen, aber er hob die Hand, wie um ihre Wörter aufzuhalten.

»Sobald sich die Lage ein wenig beruhigt hat, werden wir damit beginnen, die Familien der Verletzten zu informieren, die wir schon identifizieren konnten. Und dann machen wir von da aus weiter. Ich muss Sie dringend um Geduld bitten. Hören Sie, ich weiß, dass das hier schwer ist. Lassen Sie bitte die Ärzte und das Krankenhauspersonal ihre Arbeit machen.«

Jetzt fingen die Leute an, sich überall im Warteraum hinzusetzen. Und als keine Stühle mehr frei waren, setzten sie sich an den Wänden auf den Boden. Wir gingen rüber zu der Wand, an der ein großer Fernseher hing. Ich sah Rickys Mom darunter auf dem Boden sitzen. Ricky ist in der fünften Klasse, so wie Andy. Sie wohnen nicht weit weg von uns, deshalb fährt Ricky mit demselben Bus wie wir. Andy und Ricky waren früher mal Freunde und haben viel zusammen draußen gespielt. Aber dann hatten sie im letzten Sommer einen Streit, wo sie nicht nur Worte, sondern auch ihre Fäuste benutzt haben, und Daddy ist danach mit Andy zu Ricky nach Hause gegangen, damit er sich entschuldigt.

Rickys Mom sah hoch, entdeckte uns und sah ganz schnell wieder auf ihren Schoß. Vielleicht war sie immer noch wütend wegen dem Streit. Mommy setzte sich neben Rickys Mom und sagte: »Hallo, Nancy.«

Rickys Mom sah Mommy an und sagte: »Oh, hallo, Melissa«, so als hätte sie uns gar nicht gesehen, bevor Mommy sich hingesetzt hat. Ich weiß aber, dass sie uns gesehen hat. Und dann sah sie wieder auf ihren Schoß, und dann sagte keiner was.

Ich setzte mich neben Mommy und versuchte, auf den Fernseher zu gucken, aber er hing genau über uns. Ich musste meinen Kopf ganz weit verdrehen und konnte trotzdem nur ziemlich wenig vom Bildschirm sehen. Der Ton war ausgeschaltet, aber ich sah, dass Nachrichten liefen, und gerade wurde die McKinley gezeigt mit all den Feuerwehrautos, Polizeiautos und Krankenwagen davor. Unter den Bildern liefen in einer langen Reihe Wörter entlang, aber von da, wo ich mit verdrehtem Kopf saß, konnte ich sie nicht lesen, und sie liefen auch viel zu schnell über den Bildschirm. Und weil mir langsam schon der Nacken wehtat, hörte ich auf fernzusehen.

Wir saßen sehr lange da auf dem Boden, so lange, dass meine Sachen schon gar nicht mehr nass waren vom Regen, sondern zu trocknen anfingen. Mein Bauch knurrte. Das Mittagessen war schon lange her, und ich hatte nicht mal mein Sandwich gegessen, nur den Apfel. Mommy gab mir zwei Dollar, damit ich mir aus dem Verkaufsautomaten drüben bei den Toiletten etwas holen konnte. Ich darf mir aussuchen, was immer ich will, hat sie gesagt, und so habe ich die Dollar reingesteckt und auf den Knopf für Cheetos gedrückt. Das ist Junkfood, und meistens gilt auch die Regel »Kein Junkfood«. Aber heute war doch ein Tag ohne Regeln, oder?

Dann ging am anderen Ende des Warteraums die Kein-Zutritt-Tür auf, und zwei Krankenschwestern in grünen Blusen und Hosen kamen heraus. Die Leute standen alle gleichzeitig auf. Die Krankenschwestern hatten Blätter in den Händen und fingen an, Namen vorzulesen: »Die Familie von Ella O’Neill, die Familie von Julia Smith, die Familie von Danny Romero …« Ein paar von den Leuten im Warteraum liefen zu den Krankenschwestern hin, und dann gingen sie mit ihnen durch die Kein-Zutritt-Tür.

Die Krankenschwestern sagten nicht »die Familie von Andy Taylor«, und Mommy ließ sich wieder auf den Boden fallen, legte die Arme um die Knie und ihren Kopf auf die Arme, so als ob sie ihr Gesicht verstecken will. Ich setzte mich wieder neben sie und streichelte ihren Arm, immer hin und her, hin und her. Mommys Arme fühlten sich an, als ob sie zittern, und ihre Hände machten Fäuste. Sie machte sie auf und zu, immer auf und zu.

»Wenn sie uns immer noch nicht aufgerufen haben, dann muss es wirklich schlimm stehen«, sagte Rickys Mom. »Sonst hätten wir doch schon irgendetwas erfahren.«

Mommy sagte nichts, sie machte nur immer weiter ihre Fäuste auf und zu.

Noch mehr Warten, noch mehr Krankenschwestern, die in den Warteraum kamen und noch mehr Namen vorlasen. Jedes Mal, wenn eine Krankenschwester aus der Tür herauskam, hob Mommy den Kopf und sah sie mit so weit aufgerissenen Augen an, dass sie davon Falten auf der Stirn bekam. Wenn die Frau einen Namen vorlas, aber nicht Andys, atmete Mommy einmal ganz schnell aus, und dann legte sie ihren Kopf wieder auf die Arme, und ich streichelte ihren Arm noch ein bisschen mehr.

Manchmal gingen auch die Schiebetüren vorne am Eingang auf und Leute gingen rein und raus. Ich konnte rausgucken und sah, dass es langsam dunkel wurde. Wir waren also schon ziemlich lange im Krankenhaus, inzwischen war es bestimmt Zeit fürs Abendessen. Sah ganz so aus, als ob ich am Tag ohne Regeln auch lange aufbleiben durfte.

Jetzt waren nicht mehr viele Leute im Warteraum, nur noch ich und Mommy und Rickys Mom und ein paar andere, die auf Stühlen saßen und beim Verkaufsautomaten standen. Ein paar Polizisten waren auch noch da und redeten mit gesenktem Kopf miteinander. Viele Stühle waren inzwischen leer, aber wir haben uns nicht draufgesetzt, obwohl mir mein Po wehtat, weil ich schon so lange auf dem harten Boden saß.

Dann gingen die Schiebetüren wieder auf und Daddy kam rein. Ich freute mich und wollte schon aufstehen und zu ihm laufen. Aber dann setzte ich mich wieder hin, denn ich hatte sein Gesicht gesehen, und das sah überhaupt nicht wie Daddys Gesicht aus. Mein Bauch schlug Purzelbäume, genau wie wenn ich mich freue. Aber ich freute mich nicht, ich hatte große Angst.

Werwolfsgeheul

Daddys Gesicht war irgendwie grau und sein Mund sah ganz komisch aus, weil seine Unterlippe so runtergezogen war, dass man alle seine Zähne sehen konnte. Er schüttelte den Kopf, als er merkte, dass ich aufstehen wollte, und blieb bei der Schiebetür stehen. Er sah uns nur an, wie wir da auf dem Boden saßen, ich neben Mommy und Mommy neben Rickys Mom. Ich blieb ganz still und sah ihn auch nur an, denn ich verstand nicht, warum sein Gesicht so aussah und warum er nicht zu uns kam.

Es dauerte lange, bis er endlich losging, und dann ging er sehr langsam, so als ob er gar nicht weitergehen will. Er drehte sich ein paar Mal um – vielleicht ja, um zu sehen, wie weit er schon von der Schiebetür weg war. Und plötzlich hatte ich ein Gefühl, als ob ich gar nicht mehr will, dass er zu uns kommt, weil dann alles noch schlimmer würde.

Rickys Mom sah Daddy als Nächste, und machte ein Geräusch, als ob sie ganz schnell ganz viel Luft holt. Bei dem Geräusch hob Mommy den Kopf von ihren Armen, und einen Moment lang sah sie einfach nur Daddys seltsames Gesicht an, und er blieb stehen. Und ich hatte recht, dann wurde alles noch schlimmer.

Erst wurden Mommys Augen riesengroß und ihr ganzer Körper fing an zu zittern, und dann benahm sie sich echt verrückt.

»Jim?«, schrie sie. »Oh mein Gott, nein nein nein nein nein nein nein nein nein!«

Jedes »Nein« war lauter als das vorher, und ich verstand nicht, warum sie auf einmal so laut schrie. Vielleicht war sie wütend, dass Daddy die Kirche verlassen hatte, denn er sollte doch dort warten, nur für den Fall. Jetzt sahen uns alle Leute im Warteraum an.

Mommy versuchte aufzustehen, doch sie fiel gleich wieder auf ihre Knie. Sie fing an, ganz laut »Aaaauuuuuuuuuuuu« zu machen, aber es klang gar nicht wie das Schreien von einem Menschen, mehr wie das Heulen von einem Tier, wie von einem Werwolf bei Vollmond.