Alles, was du fürchtest - Peter Swanson - E-Book
SONDERANGEBOT

Alles, was du fürchtest E-Book

Peter Swanson

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was, wenn die Wahrheit deine furchtbarsten Ängste übertrifft?

Das Leben hat Kate Priddy gelehrt, dass man stets mit dem Schlimmsten rechnen muss. Um die Albträume, die sie seit Jahren verfolgen, endlich hinter sich zu lassen, stimmt sie einem Wohnungstausch mit ihrem Cousin Corbin zu: Sie wird seine Wohnung in Boston beziehen, er ihr Apartment in London übernehmen. Am Tag ihrer Ankunft jedoch wird die junge Frau aus der Nachbarwohnung ermordet aufgefunden. Corbin behauptet, Audrey kaum gekannt zu haben – aber warum besitzt er dann einen Wohnungsschlüssel von ihr? Auch Kates neuer Nachbar Alan scheint irgendetwas zu verbergen. Ohne es zu ahnen, schwebt Kate bald schon selbst in Lebensgefahr. Doch wem kann sie überhaupt trauen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Das Leben hat Kate Priddy gelehrt, dass man stets mit dem Schlimmsten rechnen muss. Um die Albträume, die sie seit Jahren verfolgen, endlich hinter sich zu lassen, stimmt sie einem Wohnungstausch mit ihrem Cousin Corbin zu: Sie wird seine Wohnung in Boston beziehen, er ihr Apartment in London übernehmen. Am Tag ihrer Ankunft jedoch wird die junge Frau aus der Nachbarwohnung ermordet aufgefunden. Corbin behauptet, Audrey kaum gekannt zu haben – aber warum besitzt er dann einen Wohnungsschlüssel von ihr? Auch Kates neuer Nachbar Alan scheint irgendetwas zu verbergen. Ohne es zu ahnen, schwebt Kate bald schon selbst in Lebensgefahr. Doch wem kann sie überhaupt trauen?

Autor

Peter Swanson studierte am Trinity College, der University of Massachusetts in Amherst und am Emerson College in Boston. Sein Roman »Die Gerechte« wurde in England als bester Thriller des Jahres 2015 ausgezeichnet, von der Presse hochgelobt und für einen renommierten Steel Dagger Award nominiert. Peter Swanson lebt mit seiner Frau und einer Katze in Somerville, Massachusetts.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

PETER SWANSON

Alles, was du fürchtest

Thriller

Deutsch von Fred Kinzel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Her Every Fear« bei HarperCollins Publishers, New York.
Die Originalversion des Auszugs aus dem Gedicht »A Staffordshire Murderer« von James Fenton stammt aus dem englischsprachigen Werk Children in Exile: Poems 1968–1984 (Farrar, Straus and Giroux, New York 1985).
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Peter Swanson Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Kristof Kurz Umschlaggestaltung: www.buerosued.denach einer Originalvorlage von HarperCollins US Umschlagdesign: Gray318 Umschlagmotive: Shutterstock.com (iko; mtlapcevic; wacomka); iStock.com (marijnvanzanten; BLUEXHAND) AF · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-21165-3V002
www.blanvalet.de

Für Susan, Jim, David und Jeremy

Jede Furcht ist ein Verlangen. Jedes Verlangen ist Furcht. Die Zigaretten brennen unter den Bäumen, Wo die Staffordshire-Mörder auf ihre Komplizen Und Opfer warten. Jedes Opfer ist ein Komplize.James Fenton, »A Staffordshire Murderer«

ERSTER TEIL LANGBEINIGE BIESTER

KAPITEL 1

Der schnellste Weg vom Logan Airport ins Zentrum von Boston führt durch den anderthalb Kilometer langen Sumner-Tunnel. Mit ihrer niedrigen Decke wirkt diese dunkle und feuchte Röhre, als wäre sie vor hundert Jahren gebaut worden, und tatsächlich ist sie auch fast so alt. Am Freitag, dem 24. April, einem warmen Frühlingsabend, ging einem Studienanfänger an der Boston University auf halber Strecke im Sumner das Benzin aus, wodurch der Berufsverkehr auf nur mehr einer Fahrspur statt der üblichen zwei vorwärtskroch. Kate Priddy, die noch nie in Boston gewesen war und nicht damit gerechnet hatte, in einem Tunnel unter dem Hafen festzustecken, geriet auf dem Rücksitz eines Taxis in Panik.

Es war nicht ihre erste Panikattacke, es war nicht einmal die erste an diesem Tag. Die hatte sie am Morgen ereilt, als sie aus ihrer Wohnung im Londoner Stadtviertel Belsize in eine kalte graue Dämmerung getreten war. Plötzlich war ihr der Wohnungstausch als die schlechteste Idee vorgekommen, auf die sie sich jemals eingelassen hatte. Aber sie hatte ihre Atemübungen gemacht, ihr Mantra heruntergebetet und sich ermahnt, dass es für einen Rückzieher jetzt wohl zu spät war. Ihr Cousin zweiten Grades, dem sie nie persönlich begegnet war, saß in diesem Augenblick in einem Nachtflug von Boston nach London. Er übernahm ihre Wohnung für ein halbes Jahr, während sie in seinem Apartment in Beacon Hill unterkommen würde.

Doch diese Attacke nun, als das Taxi in dem dunklen Tunnel festsaß, war die weitaus schlimmste seit Langem. Die feucht glänzende, endlose Röhre kam Kate vor wie das Innere einer riesigen Würgeschlange, und sie spürte, wie sich ihr Magen umdrehte und ihr Mund trocken wurde.

Das Taxi ruckelte vorwärts. Auf dem Rücksitz roch es nach Körperausdünstungen und der blumigen Note eines Lufterfrischers. Kate hätte gern das Fenster heruntergelassen, wusste aber nicht, ob das in amerikanischen Taxis erlaubt war. Ihr Magen drehte sich wieder um und verkrampfte sich. Wann war ich das letzte Mal auf der Toilette?, überlegte sie, und die Panik wurde noch ein klein wenig größer. Es war ein vertrautes Gefühl: Das Herz raste, die Gliedmaßen wurden kalt, ihr Blickfeld verengte sich. Aber sie wusste, was sie zu tun hatte, hörte die Stimme ihrer Therapeutin in ihrem Ohr: Es ist nur eine Panikattacke, ein zufälliger Adrenalinstoß. Sie kann Ihnen nichts anhaben, sie bringt Sie nicht um, und sie wird niemandem auffallen. Lassen Sie es einfach zu. Kämpfen Sie nicht dagegen an. Warten Sie, bis es vorbei ist.

Aber diesmal ist es anders, sagte sich Kate. Die Bedrohung fühlte sich sehr real an. Und plötzlich kauerte sie wieder in dem verschlossenen Schrank im Cottage in Windermere, das Nachthemd nass von Urin, und George Daniels war auf der anderen Seite der Tür. Sie fühlte sich beinahe so, wie sie sich damals gefühlt hatte: kalte Hände bohrten sich in ihren Körper und verdrehten ihre Eingeweide wie ein feuchtes Geschirrtuch. Dann der Schuss und diese furchtbare Stille, die Stunden um Stunden anhielt. Als man sie schließlich aus dem Schrank gezogen hatte, waren ihre Gelenke steif und ihre Stimmbänder wund vom Schreien gewesen. Sie hatte sich nicht erklären können, wieso sie noch am Leben und nicht vor Angst gestorben war.

Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Sie schob die Erinnerungen an George und Windermere beiseite und atmete so tief ein, wie sie konnte, auch wenn sie das Gefühl hatte, etwas Schweres würde auf ihrer Brust sitzen.

Stellen Sie sich der Panik. Akzeptieren Sie sie. Kämpfen Sie nicht dagegen an. Warten Sie, bis es vorbei ist.

Doch das funktionierte nicht, und Kate spürte, wie sich ihre Kehle zu einer stecknadelkopfgroßen Öffnung zusammenzog, durch die ihre Lunge hektisch Sauerstoff einzusaugen versuchte. Auf dem Rücksitz des Taxis roch es jetzt wie in diesem Schrank: nach Moder und Verwesung, als wäre vor vielen Sommern etwas zwischen den Wänden gestorben. Sie überlegte, ob sie einfach losrennen sollte, und der Gedanke erfüllte sie mit noch größerer Panik. Sie dachte an ihre Tabletten, das verschreibungspflichtige Benzodiazepin, das sie kaum noch nahm, das sie aber trotzdem mit auf die Reise genommen hatte – wie ein Kind, das seine Schmusedecke eigentlich nicht mehr braucht, aber trotzdem griffbereit hält. Leider waren die Tabletten im Koffer, und der lag in dem verdammten Kofferraum des Taxis. Sie öffnete ihren trocknen Mund, weil sie den Fahrer bitten wollte, den Kofferraum zu entriegeln, aber sie brachte kein Wort heraus. Und das war der Moment, in dem sie – wie schon so häufig – davon überzeugt war, gleich das Zeitliche zu segnen. An einer Panikattacke kann man nicht sterben. Natürlich nicht, dachte sie und schloss trotzdem die Augen, als würde ein Zug auf sie zurasen. Was sich als schwerer Fehler herausstellte, denn nun löste sich die Welt auf, wurde zu einem Schrank voller Schwärze. Der Tod hielt sie im Würgegriff, ihre Eingeweide schienen sich zu verflüssigen.

Stellen Sie sich der Panik. Akzeptieren Sie sie. Kämpfen Sie nicht dagegen an.

Das Taxi bewegte sich ruckartig um eine ganze Wagenlänge vorwärts und blieb dann wieder stehen, wodurch es ihr geringfügig besser ging – als hätte sich der Wagen überhaupt nur bewegt, weil sie ihr Mantra aufgesagt hatte. Sie wiederholte es noch einmal und machte gleichzeitig ihre Atemübungen.

Der Fahrer gestikulierte mit den gespreizten Fingern einer Hand und murmelte in einer Sprache, die Kate nicht verstand, etwas in Richtung der schmutzigen Windschutzscheibe. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, die Taxifahrer in Amerika würden dem Klischee amerikanischer Taxifahrer entsprechen – kleine Männer mit Mützen, Zigarrenstummeln und lauten amerikanischen Stimmen. Aber dieser Taxifahrer trug einen Turban und einen üppigen Bart; bis auf die Tatsache, dass er auf der linken Seite des Wagens saß, hätten sie ebenso gut in London sein können.

»Wie lang ist dieser Tunnel?«, fragte Kate durch die Trennscheibe. Ihr entging nicht, wie ängstlich ihre Stimme klang.

»Da vorn ist irgendwas passiert.«

»Kommt das öfter vor?«

»Manchmal«, sagte der Fahrer und zuckte mit den Achseln.

Resigniert entfernte sich Kate von der Trennwand und fuhr sich mit den Händen über die Oberschenkel. Das Taxi ruckte weiter vorwärts, immer nur zwei, drei Meter auf einmal. Erst nachdem sie den liegen gebliebenen Chevy passiert hatten und die zweite Spur frei war, nahmen sie wieder Fahrt auf. Kate atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. Sie löste die geballte Faust. Ein Fingerknöchel knackte. Sie tippte mit dem Daumen in einer festen Reihenfolge an ihre Fingerspitzen. Das Nadelöhr ihrer Kehle öffnete sich ein wenig.

Sie verließen den Tunnel, und Kate erhaschte einen Blick auf dicke Wolken, die den Himmel verdüsterten, ehe das Taxi in einen weiteren Tunnel eintauchte, durch den der Verkehr diesmal nur so raste. Der Taxifahrer machte die verlorene Zeit gut, bevor er auf eine weitere Schnellstraße wechselte, die am Charles River entlangführte. Es war noch hell genug, dass Kate die Rückseiten der links an ihr vorbeihuschenden Backsteinhäuser ausmachen konnte. Auf der ruhigen Oberfläche des Flusses zog ein Ruderer seine Bahn.

Der Fahrer bog plötzlich scharf nach links ab und fuhr durch eine schmale Straße mit Backsteinhäusern zu beiden Seiten und blühenden Bäumen auf den Gehsteigen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Bury Street«, verkündete er.

»Nummer 101, bitte.«

»Alles klar.« Der Fahrer gab Gas, ehe er wieder verlangsamte und ruckartig mit einem Rad auf dem Gehsteig vor einem gemauerten Torbogen stehen blieb. In einen kleinen Stein über dem Bogen war die Nummer 101 gemeißelt. Dahinter war ein von dem dreistöckigen Wohngebäude umschlossener Innenhof mit einem niedrigen Brunnen zu erkennen. Kate hatte leichte Magenschmerzen, ein Nachhall der Panikattacke von vorhin, und sie dachte mit Gewissensbissen an Corbin Dell, ihren Cousin zweiten Grades, der wohl schon vor einigen Stunden in ihrer unscheinbaren Wohnung im Norden von London eingetroffen war. Er hatte allerdings gewusst, worauf er sich einließ, sie hatten einige E-Mails hin und her geschickt. Ihre gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung lag praktischerweise in der Nähe einer U-Bahn-Station, Corbins Domizil dagegen – sie hatte Fotos davon gesehen – wirkte wie aus einem Roman von Henry James entsprungen. Auf diesen italienisch anmutenden Innenhof war sie allerdings nicht vorbereitet. Er schien so gar nicht zu dem wenigen zu passen, das sie bisher von Boston gesehen hatte.

Kate wartete am Randstein, während der Fahrer ihr Gepäck auslud – einen großen Rollkoffer und eine noch größere Reisetasche. Sie bezahlte den Fahrer mit den dünnen, papierartigen Dollarscheinen, die sie sich letzte Woche bei ihrer Bank in London besorgt hatte. Da sie sich unsicher war, was das Trinkgeld anging, gab sie ihm wahrscheinlich zu viel. Nachdem er weggefahren war, lud sie die Reisetasche auf den Rollkoffer und zog beides unter dem Torbogen hindurch.

Sie hatte den teils mit Steinplatten, teils mit Ziegeln gepflasterten Innenhof halb durchquert, als sich die Eingangstür in der Mitte des Gebäudes öffnete und ein birnenförmiger Portier winkend herausgesaust kam.

»Hallo, guten Tag«, sagte er. Er trug einen langen braunen Regenmantel über einem Anzug und eine Schirmmütze sowie eine dunkel gerahmte Brille mit dicken Gläsern. Er hatte sehr schwarze Haut und einen sehr weißen Schnauzbart, der auf einer Seite etwas dichter war als auf der anderen.

»Hallo«, sagte Kate. »Ich bin Katherine Priddy. Ich werde einige Zeit in Corbin Dells Apartment wohnen.«

»Ja, ich weiß Bescheid. Mr. Dell ist das nächste halbe Jahr in London, und Sie ziehen hier ein. Ein Verlust für London und ein Gewinn für Boston, würde ich sagen.« Er zwinkerte ihr zu, und die Anspannung in ihrer Brust lockerte sich ein wenig.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Kate.

»Ich irre mich selten«, sagte er. Kate hatte irgendwo gelesen, dass die Bewohner Bostons nicht gerade herzliche Menschen waren, aber dieser Portier bewies das Gegenteil.

»Offenbar haben Sie Ihr ganzes Hab und Gut mitgebracht«, sagte er mit einem Blick auf ihre beiden Taschen. Kate spürte mehr, als dass sie sah, wie eine Frau an ihr vorbei in das Gebäude ging. Der Portier schien es nicht zu bemerken.

»Wenn Sie den Koffer nehmen könnten, nehme ich die Reisetasche«, sagte Kate, und die beiden schleppten das Gepäck die drei ausgetretenen Marmorstufen zur Eingangshalle hinauf. Der Portier ließ den Koffer auf dem gefliesten Boden stehen und wechselte rasch auf die andere Seite des Empfangstischs. Für einen schwergewichtigen Mann war er flink auf den Beinen.

»Ich habe Mrs. Valentine versprochen, sie anzurufen, sobald Sie hier sind. Sie ist die Vorsitzende der Eigentümervereinigung und wollte Ihnen Ihre neue Wohnung zeigen.«

»Ah, okay«, sagte Kate und sah sich um. Die Eingangshalle war nicht sehr geräumig, aber wunderschön. Ein vierarmiger Kronleuchter mit Glasfassungen hing von der hohen Decke. Die Wände waren in einem glänzenden Cremeton gestrichen.

»Miss Priddy ist in der Eingangshalle«, sagte der Mann in den Hörer und legte wieder auf. »Sie wird gleich hier sein. Schaffen wir Ihr Gepäck schon einmal in den Aufzug. Ihr Apartment ist im zweiten Stock des Nordflügels. Sie haben einen schönen Blick auf den Charles River. Waren Sie schon einmal in Boston?«

Während Kate ihm verriet, dass sie noch nicht einmal in den Staaten gewesen war, kam eine hochgewachsene, erschreckend dünne Frau in den Siebzigern unter lautem Klackern ihrer Absätze eine der Treppen herunter. Sie trug ein langes schwarzes Kleid und ein geblümtes Halstuch. Ihr silberfarbenes Haar war zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt. Kate fragte sich, ob sie immer so aufgemacht war oder später noch ausging. Die Frau stellte sich als Carol vor und schüttelte Kate die Hand, die sich anfühlte wie in ein Papiertaschentuch gewickelte Essstäbchen.

»Kate, Sie würden sich bestimmt auch ohne Hilfe in Corbins Wohnung zurechtfinden, aber ich dachte, ein Empfangskomitee kann nicht schaden.« Nachdem der Portier Kates Gepäck in den Aufzug geladen hatte, ließ sich Carol den Schlüssel von ihm geben und führte Kate die gewundene Treppe hinauf. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir zu Fuß gehen? Das ist meine tägliche Übung.«

Kate – erleichtert, dass sie nicht in einem Aufzug fahren musste – antwortete, sie würde sehr gern zu Fuß gehen.

Im zweiten Stock wandte sich Carol nach links. Kate folgte ihr in einen dunklen, mit Teppichboden ausgelegten Gang mit einer Tür links, einer rechts und einer am Ende. Eine Frau etwa in Kates Alter klopfte gerade an die linke Tür. Wahrscheinlich diejenige, die vorhin im Innenhof an ihr vorbeigeflitzt war, vermutete Kate.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Carol laut.

Die Frau drehte sich um. Sie trug Jeans und einen Pullover mit rundem Ausschnitt. Ihr dunkles Haar war zu einem Pony geschnitten, und man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wenn man davon absah, dass sie so gut wie kein Kinn besaß. Es war so auffällig, dass Kate einen Moment lang überlegte, ob sie es vielleicht bei einem schrecklichen Unfall eingebüßt hatte.

»Arbeiten Sie hier? Können Sie mir einen Schlüssel für diese Tür besorgen? Ich mache mir Sorgen um meine Freundin.« Sie sprach mit näselnder, vor Aufregung schriller Stimme.

»Wieso machen Sie sich Sorgen?«, fragte Carol. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich kann sie nicht erreichen. Wir waren zum Lunch verabredet, und ich habe bei ihr in der Arbeit angerufen, aber dort ist sie ebenfalls nicht aufgetaucht. Und jetzt mache ich mir Sorgen.«

»Haben Sie mit unserem Portier gesprochen?«

»Nein, ich bin direkt nach oben gegangen. Es sieht ihr einfach nicht ähnlich, wissen Sie. Ich habe ihr ungefähr tausend SMS geschickt.«

»Tut mir leid«, sagte Carol. »Ich selbst habe keinen Schlüssel, aber Bob, unser Portier, kann Ihnen sicher weiterhelfen. Wie heißt Ihre Freundin?« Carol setzte sich wieder in Bewegung, und Kate folgte ihr.

»Audrey Marshall. Kennen Sie sie?«

»Gewiss, meine Liebe, wenn auch nur flüchtig. Reden Sie mit Bob. Er wird Ihnen helfen. Sie hätten sich sofort an ihn wenden sollen.«

Kate wurde sich bewusst, wie ängstlich sie sich an der getäfelten Wand des Flurs entlangdrückte. Durch die hektische Frau mit ihrer schrillen, panischen Stimme dehnte sich ihre eigene Panik wieder wie ein Ballon in ihrer Brust aus. Und ihre Tabletten lagen für den Augenblick unerreichbar in ihrem Necessaire im Rollkoffer.

»Sehr ungewöhnlich«, sagte Carol, als sie einen Schlüssel in die Tür am Ende des Flurs steckte, »dass sich jemand hier im Gebäude aufhält, ohne vorher den Portier gesprochen zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass alle Bewohner wohlauf sind«, sagte sie, als wäre noch keiner Menschenseele jemals etwas Schlimmes widerfahren. Solche gut gemeinten, aber lachhaften Erklärungen gab auch Kates Vater gern von sich. Kate ihrerseits hatte im selben Moment, in dem sie die Frau verzweifelt an die Tür ihrer neuen Nachbarin klopfen sah, gewusst, dass jemand gestorben war. Diese Gewissheit war unumstößlich, auch wenn sich Kate durchaus im Klaren darüber war, dass ihr Verstand der Logik folgte, ständig alles bis zur schlimmstmöglichen Folgerung zu treiben. Sie hatte an diesem Tag bereits gewusst, dass der junge Mann mit der schweißnassen Stirn und dem Fusselbart im Abflugbereich einen selbst gebastelten Sprengkörper in seinem Rucksack hatte. Und sie hatte gewusst, dass die Turbulenzen, die über dem Atlantik auftraten, immer heftiger werden und zuletzt einen Flügel des Jets so mühelos abreißen würden wie ein sadistisches Kind den Flügel eines Schmetterlings. Beides war nicht eingetreten, aber das bedeutete noch lange nicht, dass hinter der Tür nebenan keine tote oder sterbende junge Frau lag. Natürlich lag da eine.

Kate wandte sich wieder Carol zu, die noch immer mit dem Schlüssel hantierte. Waren Carols vogelartige Knochen etwa zu schwach für das Schloss? Aber dann hörte sie zu ihrer großen Erleichterung, wie die Tür mit einem öligen Geräusch aufsprang. Obwohl sie noch nie in Corbins Wohnung gewesen war, hatte sie sich in Gedanken bereits häuslich dort eingerichtet. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als über die Schwelle zu treten und die Sicherheit eines Zuhauses zu spüren. Es fühlte sich an, als wären Jahre vergangen, seit sie ihre behagliche Londoner Wohnung verlassen und zweimal überprüft hatte, ob sie auch wirklich abgeschlossen war, während ein Minicab im Leerlauf am Straßenrand gewartet hatte. In genau dem Moment, in dem Carol die Tür aufstieß, waren erneut Stimmen zu hören. Kate drehte sich um und sah Bob, den Portier, der ihre Reisetasche durch den Flur schleppte, während die kinnlose Frau ihm ihr Anliegen vortrug. »Lassen Sie mich erst dieser jungen Lady hier helfen, dann kümmern wir uns um Ihre Freundin«, sagte er.

Carol schob Kate in ihr neues Zuhause, und Kate fragte sofort nach der Toilette. »Natürlich, meine Liebe, einfach durchs Schlafzimmer«, sagte Carol und zeigte ihr den Weg. Kate lief so schnell, dass sie das extravagante Ambiente kaum wahrnahm, schloss sich in dem riesigen, schwarz-weiß gefliesten Badezimmer ein und setzte sich auf den Toilettendeckel. Dann öffnete sie ihre Handtasche, obwohl sie wusste, dass die Tabletten nicht darin waren. Das Fläschchen mit dem Benzodiazepin steckte in einem Seitenfach. Sobald sie es erblickte, fiel ihr wieder ein, dass sie die Tabletten am frühen Morgen vom Koffer in ihre Handtasche umgepackt hatte. Wie hatte sie das vergessen können? Mit zitternden Händen schraubte sie den Deckel auf und schluckte trocken eine Tablette.

Eine düstere Vorahnung, beinahe schlimmer als die Panik, erfasste sie.

Wäre sie nur nicht nach Amerika gekommen.

KAPITEL 2

Die Wohnung war riesig, was aber dennoch keine halbstündige Führung rechtfertigte. Carol genoss ihre Rolle erkennbar. Sie wies auf die zu einem Walnusston gebeizten Eichenböden hin, auf die Kassettendecken, den betriebsbereiten Kamin und den sogenannten Julia-Balkon, bei dem es sich in Wirklichkeit um ein hüfthohes Geländer dreißig Zentimeter hinter einer raumhohen Glastür handelte. Kate wusste jetzt schon, dass sie diese Tür nie öffnen würde. Das Apartment lag zwar nicht besonders hoch, aber hoch genug.

»Gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragte Carol am Ende, obwohl Kate ihre Bewunderung schon ungefähr dreißig Mal zum Ausdruck gebracht hatte.

»Oh ja, sie ist wundervoll. Gemütlich.«

»Und sehr schön eingerichtet, finden Sie nicht? Man sollte meinen, ein junger Mann wie Corbin …« Carol ließ den Gedanken unvollendet und verzog den Mund zu einem Lächeln. Dabei straffte sich ihre papierene Gesichtshaut, sodass Kate die Schädelumrisse genau erkennen konnte. »Wie ist Ihre Wohnung in London?«

»Sie würde komplett in das Wohnzimmer hier passen«, sagte Kate. »Da habe ich fast ein schlechtes Gewissen, weil ich das bessere Geschäft gemacht habe.«

»Ja, aber London …«

Kate gähnte und legte rasch die Hand vor den Mund.

»Sie müssen erschöpft sein, meine Liebe. Ich habe die Zeitverschiebung ganz vergessen.«

»Ja, ich bin müde«, gab Kate zu. »Zu Hause wäre jetzt Schlafenszeit.«

»Sie sollten versuchen, sich noch etwas wach zu halten, damit Sie sich an die Umstellung gewöhnen. Und sobald Sie sich eingerichtet haben, müssen Sie auf einen Drink vorbeikommen. Ich wohne direkt gegenüber auf der anderen Seite. Unser Apartment hat denselben Grundriss. Diese Wohnungen sind die absolut besten im Gebäude. Besonders Ihre, weil Sie einen Blick auf die Stadt und auf den Fluss haben.« Sie senkte die Stimme, als könnte man sie in den anderen Wohnungen womöglich hören.

»Wunderschön«, sagte Kate.

»Das Gebäude wurde einem venezianischen Palast nachempfunden, müssen Sie wissen.«

»Ich dachte mir schon, dass es irgendwie italienisch aussieht. Besonders der Innenhof.«

»Der Architekt stammte aus Boston, aber er hat lange in Italien gelebt. Das ist natürlich Jahre her. Mein Mann wird Ihnen gern alles darüber erzählen, wenn Sie auf einen Drink vorbeischauen.«

Carol ging, und Kate schloss die Tür hinter ihr. Sie blieb kurz stehen. Die Sache mit den Tabletten in der Handtasche steckte ihr immer noch in den Knochen. Wie hatte sie vergessen können, dass sie sie umgepackt hatte? Mittlerweile hatte sie sich etwas beruhigt. Oder vielleicht tat die Tablette auch nur ihre Wirkung.

Sie machte noch einen Rundgang durch die Wohnung, allein diesmal, und nahm alle Details in sich auf, die eingebauten Bücherregale, die Gemälde an den Wänden. Alle Räume waren ansprechend, aber irgendwie unpersönlich möbliert. Als wären sämtliche Stücke von einem Innenarchitekten ausgesucht worden, was wahrscheinlich auch der Fall war. Im Schlafzimmer stand gegenüber dem großen Bett mit dem gepolsterten Kopfteil eine niedrige Kommode mit ungefähr fünfzehn gerahmten Fotos darauf. Größtenteils schwarzweiße Familienbilder, die meisten wohl im Urlaub aufgenommen. Boote und Strände. Kate studierte sie. Sie erkannte Corbins Vater, den Cousin ihrer Mutter, weil sie bereits Fotos von ihm gesehen hatte. Er war auf den meisten Bildern, für gewöhnlich mit Corbin und Kates anderem Cousin zweiten Grades, Philip. Kate wunderte sich, dass Corbin keine Bilder seiner Mutter auf der Kommode stehen hatte, aber dann fiel ihr ein, dass Corbins Vater bis zu seinem Tod in dieser Wohnung gewohnt hatte. Das mussten seine Bilder sein, nicht die seines Sohns.

Kate fragte sich, was in der Wohnung sonst noch im Stil des Vaters gehalten war. Vermutlich das meiste. Wie sie von ihrer Mutter wusste, war Richard Dell irgendwann in den 1970ern zu seiner amerikanischen Frau nach Boston gezogen. Durch seine Arbeit in der Finanzbranche (»er bewegt Unmengen von Geld hin und her«, hatte Lucy Priddy ihrer Tochter erzählt) hatte er in den 1980ern ein Vermögen verdient. Richard und seine Frau Amanda hatten zunächst am North Shore gewohnt, in einer Villa am Meer in der Stadt New Essex. Sobald ihre Kinder das Teenageralter erreicht hatten, ließen sie sich scheiden. Amanda behielt das Haus am Meer, und Richard kaufte die Wohnung in der Bury Street 101 in Boston. Corbin hatte die Wohnung geerbt, nachdem Richard bei einem Badeunfall im Urlaub auf den Bermudas ums Leben gekommen war.

Kate hatte das alles vor einigen Monaten während eines Sonntagsessens bei ihren Eltern erfahren.

»Dein Cousin Corbin hat sich bei mir gemeldet«, hatte Lucy gesagt, als sie mit dem Essen fertig waren und im Wintergarten noch ein Glas Wein tranken. Kates Vater Patrick war mit Alice, dem Border Terrier der Familie, spazieren gegangen.

»Ach«, sagte Kate.

»Ich glaube nicht, dass du ihm schon einmal begegnet bist. Oder doch?«

»Er ist der Sohn deines Cousins Richard, oder? Der vor ein paar Jahren gestorben ist?«

»Er ist ertrunken, ja. Du hast Richard sogar kennengelernt, bei Charlottes Hochzeit, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Ich bin Corbin zum ersten Mal beim Begräbnis seines Vaters begegnet.« Kates Eltern waren zu der Beerdigung eigens nach Massachusetts gefahren, allerdings hatten sie diese Reise mit einer schon lange geplanten Urlaubsfahrt entlang der Küste von Maine verknüpft.

»Er war sehr nett. Und so gutaussehend. Er sah beinahe aus wie … wie heißt dieser Schauspieler aus Spooks gleich noch, der dir so gefällt? Rupert Dingsbums.«

»Rupert Penry-Jones. Warum erzählst du mir das alles? Gleich willst du mir wohl mitteilen, dass du mich mit meinem Cousin zweiten Grades verheiraten willst. Sind wir etwa wieder im Mittelalter?«

Lucy lachte ein spontanes Lachen, nicht das gekünstelte Glockengeläute, das sie bei gesellschaftlichen Anlässen manchmal von sich gab. »Ja, Schatz, es ist alles arrangiert. Aber mal im Ernst, ich erzähle dir das nicht ohne Grund. Ganz senil bin ich noch nicht. Corbin Dell muss für ein halbes Jahr nach London – seine Firma hat ihn hierher versetzt oder so –, und er hat mir eine E-Mail geschickt, weil er weiß, dass du in London wohnst.«

»Er hat doch nicht etwa gefragt, ob er bei mir unterkommen kann, oder?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Er wollte allerdings einmal vorfühlen, ob du eventuell an einem Wohnungstausch interessiert bist. Er hätte gerne jemanden in seiner Wohnung in Boston, schreibt er, und wenn er bei dir ist, kann er ein wenig Geld sparen; dafür hättest du die Gelegenheit, ein halbes Jahr in Amerika zu verbringen.«

Kate trank einen Schluck von ihrem viel zu süßen Weißwein. »Was soll ich denn in Boston?«

»Ich dachte, du könntest vielleicht Kurse dort belegen, das hattest du doch sowieso vor. Es gibt bestimmt Schulen für Grafikdesign dort. Und zeichnen kannst du auch da.«

»Und was ist mit meiner Arbeit?« Kate hatte gerade ihre Halbtagsstelle in einem Laden für Künstlerbedarf zu einer Vollzeitstelle aufgestockt.

»Na ja, das willst du ohnehin nicht ein Leben lang machen, oder?«

Kate schwieg verärgert, obwohl sie ihrer Mutter in diesem Punkt Recht geben musste. Irgendwie wusste sie, dass es töricht wäre, eine solche Gelegenheit auszuschlagen. Sechs Monate in einem anderen Land. Sie war noch nie in Amerika gewesen, und Boston war angeblich ganz nett. Eine überschaubare Stadt, hatte sie gehört, anders als New York oder Chicago. Oder London, was das anging. Sie hätte eine feste Wohnung dort, eine schöne wahrscheinlich noch dazu. Und je mehr Gründe dafür ihr in den Sinn kamen, desto mehr wuchs ihre Beklemmung, und sie ahnte, dass sie ablehnen würde. Es war zu früh. Es ging ihr besser, aber sie war noch nicht völlig wiederhergestellt.

»Ich bin gerade dabei, mich in London einzuleben. Alles läuft gut, und ich weiß einfach nicht, ob ich jetzt schon so viel Unruhe gebrauchen kann.«

«Absolut, Kate. Er hat gefragt, also dachte ich, ich frage dich. Aber ich verstehe dich vollkommen.« Bei den Worten ihrer Mutter wurde Kate klar, dass diese nie damit gerechnet hatte, Kate würde tatsächlich für ein halbes Jahr nach Boston gehen. Und dieser Gedanke ließ Kate den ganzen restlichen Abend keine Ruhe. Ihr Vater kehrte mit Alice von seinem Spaziergang zurück, und die drei beschlossen, noch auf einen Drink in den White Swan in Braintree zu gehen, ehe Kate den Zug zurück nach London nahm. Auf der Heimfahrt war Kate leicht beschwipst und malte sich alle möglichen schönen Dinge aus, die sie in Boston erleben konnte, und dann alle Dinge, die schiefgehen konnten. Und sie musste ständig an den Tonfall ihrer Mutter denken. Sie hatte von Vornherein gewusst, dass Kate Nein sagen würde, und das gab mehr als alles andere den Ausschlag. Sobald sie wieder in ihrer Wohnung in London war, rief Kate ihre Eltern an und teilte ihnen mit, dass sie es sich anders überlegt hatte.

»Oh«, sagte ihre Mutter.

»Ich glaube, es wäre dumm von mir, es nicht zu tun. Im Augenblick hält mich hier nichts. Außer dir und Dad natürlich.«

»Wir könnten dich besuchen kommen.«

»Sag Corbin, ich bin einverstanden. Oder besser noch, schick mir gleich seine E-Mail, dann sag ich es ihm selbst.«

Sie hatte Corbin noch in derselben Nacht geschrieben, bevor sie womöglich der Mut verließ. Er war begeistert gewesen. Sie hatten einen Tausch für Ende April bis Anfang Oktober vereinbart. Kate hatte in ihrer Arbeit Bescheid gesagt und sich dann eine Grafik-Design-Schule gesucht, wo sie Kurse für die Programme InDesign und Illustrator belegen konnte. Und nun war sie hier, ihr erster Kurs fand Montagnachmittag statt. Kate ging durch den Flur zum Wohnzimmer zurück, wo Bob ihr Gepäck abgestellt hatte. Eigentlich hätte sie auspacken sollen, aber eine große Müdigkeit überkam sie. Und sie hatte Hunger. Die Küche mit ihren Kalksteinarbeitsflächen und Edelstahlarmaturen sah aus, als wäre sie noch nie benutzt worden. Kate öffnete den Kühlschrank. Im mittleren Fach stand eine einsame Flasche Champagner mit einem gelben Post-it, auf dem Willkommen, Kate – Prost! in gedrängter Handschrift stand. Kate hatte sofort brennende Schuldgefühle, weil sie Corbin kein Begrüßungsgeschenk in ihrer Wohnung hinterlassen hatte. Dafür hatte sie ihm eine wesentlich längere Nachricht geschrieben, in der sie ihn willkommen hieß und ihr Stadtviertel beschrieb.

Abgesehen von dem Champagner und einer Reihe Würzsoßen war der Kühlschrank praktisch leer. Sie öffnete die Tiefkühltruhe und entdeckte einen Stapel Fertigmahlzeiten von einem Laden namens Trader Joe’s. Sie las die Anleitung auf der Rückseite einer Packung Boeuf Bourguignon und kam zu dem Schluss, dass sie das hinbekommen würde. Die Verpackung unterschied sich nicht groß von denen zu Hause, außer dass die Ernährungsinformationen in Unzen statt Gramm und Kalorien statt Energie angegeben waren. Sie fand heraus, wie man die Mikrowelle bediente, stellte das Essen hinein und trank ein Glas Wasser aus dem Hahn. Erst danach fragte sie sich, ob man das Leitungswasser hier überhaupt trinken konnte. Es schmeckte okay, aber anders als das Wasser in England. Mineralischer. Nachdem sie sich ein Glas Champagner eingeschenkt hatte, ging sie zur Eingangstür, presste ein Auge an das Guckloch und fragte sich, was mit der verschwundenen Frau auf ihrem Stockwerk war. Hatte Bob ihrer Bekannten die Tür aufgesperrt? Wahrscheinlich nicht, dachte sie und überlegte, was die Freundin wohl als Nächstes tun würde. Die Polizei würde wahrscheinlich nicht sehr hilfreich sein. Kate hatte genügend amerikanische Krimis gesehen, um zu wissen, dass Vermisstenmeldungen erst angenommen wurden, wenn die betreffende Person länger als einen Tag verschwunden war. Der Flur war leer. Vielleicht hatte Kate überreagiert, und alles war in Ordnung. Vielleicht hatte die junge Frau einfach nur genug von ihrer aufdringlichen, kinnlosen Freundin.

Kate aß die überraschend schmackhafte Fertigmahlzeit an der L-förmigen Kücheninsel aus Granit. Sie schenkte sich ein zweites Glas Champagner ein, trank einen Schluck und wurde erneut von Erschöpfung übermannt. Ihr Kopf war schwer und ihr Magen leicht nervös. Eigentlich hatte sie vorgehabt, auszupacken und ihren Laptop aufzubauen, damit sie E-Mails verschicken konnte, und sie hatte sich darauf gefreut, noch ein wenig amerikanisches Fernsehen zu schauen. Aber stattdessen rollte sie ihren Koffer ins Schlafzimmer, kramte ihr Necessaire sowie die Boxershorts und das T-Shirt heraus, das sie zum Schlafen trug. Sie schaffte es gerade noch, sich die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen, ehe sie unter die kühlen, frischen Laken kroch. Trotz ihrer Erschöpfung lag sie eine Weile wach und lauschte den kaum wahrnehmbaren Geräuschen der Wohnung: das weit entfernte Rumpeln des Verkehrs, das gedämpfte Klackern einer Heizungsanlage und ein leises Zischen, das sie nicht identifizieren konnte. Das Bett, dachte sie noch, bevor sie einschlief, war das bequemste Bett, auf dem sie je gelegen hatte. Dann ließ sie sich auf ihm ins Reich der Träume tragen.

Kate wachte einmal in der Nacht auf. Blaulicht blinkte in einem Streifen an der hohen Decke. Wo sind die Sirenen?, dachte Kate. Dann: Wo bin ich? Schließlich fiel es ihr nach ein paar Sekunden der Verwirrung ein. Ihr Mund war trocken, und sie hatte unerträglichen Durst. Sie hörte ein Geräusch wie von einem Zug in der Ferne. Dann drehte sie sich auf die andere Seite und hielt nach den Leuchtziffern einer Uhr Ausschau, aber bis auf das Blaulicht, das durch die Vorhänge fiel, war es völlig dunkel.

Kate setzte sich auf, aber dann sank sie wieder aufs Kissen zurück. Sie war viel zu müde, um ins Bad zu gehen und Wasser zu trinken. Wie hieß diese Nachbarin gleich wieder? Das Mädchen, das verschwunden war? Dann fiel es ihr wieder ein: Audrey Marshall. Sie konnte sich Namen gut merken. Eine übernatürliche Fähigkeit, hatte George gesagt und sie »Die Frau, die nie einen Namen vergisst« genannt. Kate schloss die Augen, hörte, wie ihr jemand in einem Traum etwas zuflüsterte, und war mit einem Ruck wieder wach. Die Stimmen verschwanden, und es war wieder dunkel im Raum. Hatte sie das Blaulicht nur geträumt? Morgen werde ich es erfahren, dachte sie und glitt wieder in den Schlaf.

KAPITEL 3

Sie erfuhr es tatsächlich, wenn auch erst spät am nächsten Tag.

Kate wachte früh auf, es war noch dunkel. Eigentlich hätte sie noch ein bisschen länger schlafen sollen, um sich an die Bostoner Zeit zu gewöhnen, aber sie war hellwach und brauchte unbedingt einen Kaffee.

Es dauerte eine Weile, bis sie Kaffee und die Kaffeemaschine gefunden und herausgefunden hatte, wie man sie bediente. Nachdem sie den Kaffee aufgesetzt hatte, spazierte sie wieder durch die riesige Wohnung. Schwaches Morgenlicht strömte durch die Fenster. Der größte Raum der Wohnung, das Wohnzimmer, bot einen Blick auf den ruhig in der grauen Dämmerung daliegenden Charles River. Nebelschwaden zogen über seine glatte Oberfläche. Eine Fußgängerbrücke spannte sich über den Fluss und die Straße daneben.

Im Wohnzimmer hätte man auf der Stelle eine Cocktailparty veranstalten können. Mehrere Sessel waren im Raum verstreut, zwei große Sofas standen sich gegenüber, dazwischen befand sich ein gläserner Beistelltisch. Kate hasste Glastische, weil sie stets damit rechnete, sie würden augenblicklich in tausend Teile zerspringen, wenn sie etwas daraufstellte. Oder zumindest einen Sprung bekommen. Sie lebte immer im nächsten Augenblick, dem Augenblick der Katastrophe. Aus diesem Grund hatte sie es immer gehasst, verkehrsreiche Straßen zu überqueren, sie hatte niedrige Geländer gehasst und Kellner, die viele Teller auf einmal trugen. Nervige, ärgerliche Phobien, bis vor fünf Jahren die Sache mit George passiert war und ihr Leben für alle Zeit umgekrempelt hatte. Ein Jahr lang hatte sie das Haus nicht verlassen können. Nein, noch schlimmer – sie hatte sich nicht einmal vorstellen können, das Haus zu verlassen. Angst und Schmerz hatten sie gelähmt. Langsam hatten sie ihre Eltern und ihre Therapeutin aus diesem Loch gezogen, und ihr Leben hatte sich gebessert. Es war ihr unbegreiflich, dass sie es tatsächlich bis in die Vereinigten Staaten geschafft hatte, bis in diese riesige Wohnung mit dem Glastisch. Sie mochte den Glastisch nicht, aber sie konnte mit ihm leben.

Im Wohnzimmer war kein Fernseher, und sie fragte sich erschrocken, ob Corbin überhaupt einen besaß. Dann fiel ihr der mit dunklem Holz getäfelte Raum mit der weichen Ledercouch ein, den Carol Valentine ihr gezeigt hatte. Im ersten Moment konnte sie sich nicht mehr erinnern, wo er war, dann wusste sie es wieder: in dem Flur, der zu den beiden Gästezimmern führte. Und sie hatte richtig vermutet: Dort war der Fernseher, ein riesiger Bildschirm hinter Holztüren, die in ein Bücherregal eingebaut waren. Auf dem Tisch vor der Couch (der zum Glück nicht aus Glas war) lag eine Universalfernbedienung auf einer eingeschweißten Liste mit mindestens hundert Kanälen.

Auf einem großen Schreibtisch entdeckte Kate einen Klebezettel mit dem Namen des WLAN-Netzwerks (»Angel Face«) und dem Passwort. Dabei fiel ihr ein, dass sie sich mit ihren Eltern in Verbindung setzen und bei Corbin nachfragen musste, ob er wohlbehalten in ihrer Wohnung angekommen war.

Kate holte ihren Laptop und den Adapter aus dem Koffer, nahm sich aus der Küche eine Tasse schwarzen Kaffee und kehrte ins Fernsehzimmer zurück. Einmal mehr staunte sie über die Ausmaße der Wohnung. Sie setzte sich an den Schreibtisch, der Ledersessel gab ein edles Knarren von sich. Unter den vielen E-Mails, hauptsächlich Spam, war auch eine von ihrer Mutter und eine von Corbin. Sie öffnete Corbins Mail zuerst.

Kate,

der Taxifahrer ist nur ein paar Mal falsch abgebogen, aber schließlich haben wir deine wunderschöne Wohnung gefunden, und ich habe deine unglaublich aufmerksame Notiz gelesen. Ich schäme mich, dir nichts Vergleichbares geschrieben zu haben, und es gibt keine Entschuldigung dafür, aber sobald ich mich von meinem Jetlag erholt habe, werde ich dir eine umfassende Liste guter Bars und Restaurants in der Umgebung meiner Wohnung schicken, versprochen.

Kurze Frage: Ich sehe, du hast eine Waschmaschine, aber ich kann keinen Trockner finden. Habe ich ihn etwa übersehen?

Mehr später. Ich freue mich auf das nächste halbe Jahr.

Corbin

Kate schrieb zurück:

Ich mich ebenfalls. Als ich deine Wohnung betreten habe, dachte ich erst, ich hätte mich in der Tür geirrt. Wie prachtvoll. Ich schäme mich wahrhaftig für meine mickrige Bude samt Waschmaschine, die sich außerdem für einen Trockner hält. Sie ist tatsächlich zugleich ein Trockner, daher deine Verwirrung. In der Schublade links vom Waschbecken ist die Bedienungsanleitung, glaube ich, aber rechne lieber mindestens einen Tag ein, bis deine Wäsche trocken ist. Bitte schreib mir, wenn du noch Fragen hast. Ich bin ganz verliebt in deine Wohnung. Gruß, Kate.

P.S. Danke für den wunderbaren Champagner, der natürlich schon weg ist.

Anschließend las Kate die E-Mail ihrer Mutter – »… so stolz auf dich, Schatz« – und beantwortete auch diese. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, der so viel besser war als der lösliche Kaffee, den sie sonst immer trank. Dann hörte sie eine Polizeisirene in der Ferne, und plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sie letzte Nacht aufgewacht und das Blaulicht an der Decke gesehen hatte. War das Wirklichkeit oder ein Traum gewesen? Einen Moment lang war sie unsicher und wurde wieder von Angst gepackt – wie vorhin, als sie die Tabletten in der Handtasche entdeckt hatte, obwohl sie überzeugt gewesen war, sie seien nicht dort. Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Dann sagte sie sich: Nein, es war kein Traum. Es war eindeutig real. Vielleicht war der Frau aus der Nachbarwohnung doch etwas zugestoßen.

Kate packte ihre Toilettenartikel aus und duschte dann in dem an das Schlafzimmer angeschlossenen Bad. Die Dusche war riesig, der in der Decke befestigte Duschkopf ließ eine wahre Sturzflut auf sie niedergehen. Wieder dachte Kate an ihre Wohnung in London, an die zur Dusche umfunktionierte Badewanne, wo der Gummischlauch dauernd aus seiner Halterung sprang. Nach dem Duschen zog Kate schwarze Leggins und ihr Lieblingskleid von Boden an und beschloss, sich nun tapfer der Außenwelt zu stellen. Bevor sie nach Boston gekommen war, hatte sie auf Google Maps die Karte ihres Viertels studiert und die nächste Apotheke und den nächsten Supermarkt ausfindig gemacht. Sie hatte vor, loszuziehen und alles Notwendige für die ersten Tage einzukaufen. Am Montag fing sie im fünf U-Bahn-Stationen entfernten Graphics Institute in Cambridge an. Sie freute sich nicht auf diese Fahrt, aber sie wusste, sie konnte es schaffen – ihre Therapeutin in London hatte sie mehrmals zur Übung mit der Tube fahren lassen.

»Die U-Bahn ist nur eine Möglichkeit«, hatte Kate zu Theodora gesagt. »Ich kann genauso gut überallhin mit dem Taxi fahren.«

»Tja, alles ist nur eine Möglichkeit«, hatte ihre Therapeutin erwidert. Ihr ruhiger, nordenglischer Akzent hatte Kate während der ersten Sitzungen bei Theodora maßlos irritiert, aber sie hatte sich daran gewöhnt, so wie sie sich an ihren heiligenscheinartigen Lockenkranz und die purpurnen Pullover gewöhnt hatte.

»Ich meine, ich entscheide mich schließlich auch nicht für die Möglichkeit, Fallschirm zu springen. Oder wollen Sie mich dazu ebenfalls bringen?«

»Nein, ich will Sie nicht dazu bringen, mit dem Fallschirm zu springen, aber ich werde Sie dazu bringen, mit U-Bahnen und Aufzügen zu fahren und in Flugzeuge zu steigen, weil das alles zu dem Leben gehört, das Sie führen möchten, oder etwa nicht?«

Sie hatte natürlich Recht gehabt. Die Welt war voll enger Orte und versperrter Ausgänge. Sie würde lernen müssen, damit zurechtzukommen.

Kate verließ die Wohnung und schloss hinter sich ab. Als sie an der Tür der verschwundenen Frau vorbeikam, verlangsamte sie ihre Schritte und lauschte, aber es war nichts zu hören. Sie nahm die Treppe zur Eingangshalle hinunter, ging am Portier vorbei und marschierte schnurstracks in den Innenhof hinaus. Der Himmel war grau, und das Licht sah so sehr nach Abenddämmerung aus, dass sich Kate für einen Moment beunruhigt fragte, ob sie womöglich den ganzen Tag verschlafen hatte. Zigarettenrauch stieg ihr in die Nase. Kate hatte nach dem Studium zu rauchen aufgehört, aber sie mochte den Geruch noch immer. Sie hielt nach seiner Quelle Ausschau und sah einen Mann, der auf der Umrandung des Brunnens in der Mitte des Hofs saß und gerade seine Zigarette auf einer Steinfliese ausdrückte. Als Kate an ihm vorbeikam, stand er auf.

»Tut mir leid«, sagte er und deutete auf den Zigarettenstummel in seiner Hand.

»Das stört mich nicht«, sagte Kate, blieb stehen und sah ihn an. Er war dünn, an der Grenze zu hager, hatte aber breite Schultern. Sein schmales Gesicht wurde von einer großen, krummen Nase dominiert. Seine Augen waren graugrün und tiefliegend und seine Haut von schwachen Spuren alter Akne übersät. Er hätte eigentlich hässlich sein müssen, aber er war es nicht. Alle diese überdimensionierten Züge verbanden sich zu einem traurigen und hübschen Gesicht.

»Ich rauche eigentlich gar nicht«, sagte er. »Ich habe aufgehört. Aber dann habe ich diese eine Zigarette in einer Schublade gefunden und mir gedacht, die rauche ich jetzt, damit ich wieder weiß, wie schrecklich es ist.«

Seine Stimme war tief und freundlich, und Kate, die unter Jetlag litt und immer noch wegen der Tageszeit verwirrt war, spürte, wie sie weiche Knie bekam. »Und, war es schrecklich?«

»Nein, natürlich nicht. Es war toll.«

»Rauchen ist toll«, sagte Kate. Wieso unterhielten sie sich wie alte Freunde? Sprach man in Amerika so mit Fremden?

»Rauchen Sie?«

»Früher. Ich habe aufgehört. Es war nicht einfach.«

»Wie haben Sie es geschafft?«

»Indem ich nicht geraucht habe.«

Der Mann lachte. Seine Zähne waren alarmierend weiß, die oberen gerade, die unteren leicht übereinandergeschoben. »Ich bin Alan Cherney.«

»Ich bin Kate. Ich wohne vorübergehend hier.« Ihren Nachnamen wollte sie ihm vorsichtshalber nicht verraten.

»Sind Sie Engländerin?«, fragte er.

»Ja. Ich bin für einige Zeit in der Wohnung meines Cousins, und er wohnt solange in meiner Bude in London.«

»Welche Wohnung ist es?« Alan Cherneys Blick wanderte über das Gebäude.

Kate wies mit einem Kopfnicken in die Richtung ihres Flügels. »Ähm, die von Corbin Dell. Dort oben.«

»Ah, der Nordflügel. Ich bin auf der anderen Seite, im zweiten Stock. Ich kenne Corbin. Flüchtig.«

»Dann kennen Sie ihn besser als ich. Ich bin ihm noch nie begegnet.«

»Das ist ja witzig«, sagte Alan. »Wie ist es zu dem Tausch gekommen?«

Kate erzählte ihm die Geschichte, wobei sie ihm allerdings verschwieg, dass ihr Aufenthalt wenigstens teilweise dem Zweck dienen sollte, den Schiffbruch zu überwinden, den ihr Leben unlängst erlitten hatte.

»Tja, da haben Sie einen guten Tausch gemacht«, sagte Alan. »Das sind sehr schöne Wohnungen.«

»Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Etwas mehr als ein Jahr. Ich bin mit meiner Freundin eingezogen, einer reichen Freundin, aber sie ist ausgezogen, und ich kann mir die Wohnung eigentlich nicht mehr leisten, deshalb muss ich mir allmählich etwas Neues suchen.«

»Das tut mir leid.«

»Was tut Ihnen leid?«, fragte er. »Dass ich meine Freundin verloren habe oder dass ich ausziehen muss?«

Kate lachte. »Ich weiß nicht. Beides wahrscheinlich.«

Er grinste. »Tut mir leid, dass Sie eine reiche Freundin und eine schöne Wohnung hatten und nächsten Monat allein in einer Bruchbude hocken werden.«

»So ungefähr.«

Eine Windbö löste ein durchnässtes gelbes Blatt vom Ziegelboden des Innenhofs und klatschte es auf Kates Stiefel. Sie bückte sich, pflückte es herunter und richtete sich wieder auf. Im darauffolgenden kurzen Schweigen kam Kate zu Bewusstsein, dass sie sich schon seit mehreren Minuten mit diesem Fremden unterhielt.

»Tja …«, sagte sie, sprach aber nicht weiter. Sie brach den Blickkontakt ab und spürte, wie eine Röte ihre Wangen überzog. Einen entsetzlichen Moment lang hatte sie die Gewissheit, dass sie ihm ohne Zögern zu seiner Wohnung hinauf und in sein Bett gefolgt wäre, wenn er sie dazu aufgefordert hätte. Er war hübsch, sicher, trotz seiner großen Nase und der abstehenden Ohren, aber sie wäre ihm gefolgt, weil es ihr so vorkam, als würden sie sich seit Jahren kennen.

»Sie müssen los.« Er sprach laut aus, was sie dachte.

»Ja.« Und dann lachten sie beide.

»Ich wohne in Apartment 3L«, sagte er. »Und das wohl auch noch die nächste Zeit. Wir sehen uns.«

»Okay«, sagte Kate.

Sie machte Anstalten zu gehen, dann hielt sie inne. »Kennen Sie eine Frau namens Audrey Marshall? Sie wohnt hier.«

Alan legte die Stirn in Falten. »Ja, ich kenne Audrey. Ich meine, ich weiß, wer sie ist. Aber ich kenne sie nicht näher.«

»Als ich gestern Abend eingezogen bin, war eine Freundin von ihr an ihrer Tür. Sie sagte, sie sei verschwunden.«

Kate rechnete mit einem beschwichtigenden Kommentar. »Das hört sich aber gar nicht gut an«, sagte er stattdessen. »Sie ist nicht der Typ, der einfach so verschwindet.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich schätze, damit will ich nur sagen, dass sie immer da ist. Ich sehe sie jedenfalls ständig. Sie taucht bestimmt wieder auf.«

Kate hatte einen Plan des Viertels mitgebracht, aber sie hatte ihn in den vergangenen Wochen so oft studiert, dass sie ihn nicht aus der Tasche holen musste. Sie ging die Bury Street entlang bis zur Charles Street, wo sie sich in einem rappelvollen Starbucks ein Frühstückssandwich und einen weiteren Kaffee holte. Dieser zweite Kaffee war ein Fehler, denn als sie in einem teuren Lebensmittelmarkt mit engen, verstopften Gängen einkaufte, war sie nervös und aufgedreht. Sie hatte Zutaten für Pasta mit Räucherlachs besorgen wollen, was sie gerne kochte, aber eine milde Panik sorgte dafür, dass sie nur einen Laib Sauerteigbrot, Cheddar, Milch und zwei Flaschen Rotwein kaufte. Als sie wieder auf die Straße trat, hatte ein leichter, warmer Regen eingesetzt, der sich nach dem überheizten Laden sehr erfrischend anfühlte. Sie spazierte langsam die Charles Street zurück und merkte sich für zukünftige Besuche eine gut beleuchtete, gemütlich aussehende Bar und ein Café vor, in dem sehr viel weniger Betrieb herrschte als im Starbucks.

Sie ging absichtlich an der von Gaslaternen beleuchteten Seitenstraße vorbei, die sie wieder hinauf zur Bury Street geführt hätte, und weiter zum Rand des Public Garden. Die Einkaufstüten waren schwer, aber sie wollte den berühmten Park zumindest einmal sehen. Der Regen wurde stärker, Eltern scheuchten ihre Kinder von einer Reihe Bronzegänse fort. Weiden schimmerten am Teich. Fast hätte sie den Park betreten, aber dann entschied sie sich dagegen. Sie war ein halbes Jahr lang hier, dafür würde noch Zeit genug sein.

Kate rauschte durch die Türen in die Eingangshalle und stellte sich dem Portier vor, einem dünnen Mann mit hohen Wangenknochen und tintenschwarzem Haar namens Sanibel. Er bot ihr an, mit den Taschen zu helfen. »Nein, danke«, sagte sie, und im selben Moment sprang eine weiße Katze, die auf dem Empfangstisch gesessen hatte, auf den Boden und rieb sich an Kates Schienbein.

»Das ist Sanders«, sagte der Portier.

»Gehört der Ihnen?«

»Nein, nein. Er gehört Mrs. Halperin oben.« Er wies mit einer minimalen Kopfbewegung in die Richtung, in der sich auch Kates Wohnung befand. »Er treibt sich überall herum. Überall im Haus. Im Gegensatz zu Mrs. Halperin.«

Kate stieg die Treppe hinauf. Sanders folgte ihr. Carol Valentine hatte Florence Halperin erwähnt; ihr gehörte die andere Wohnung in Kates Flügel. Als sie an ihrer Tür vorbeikam, bemerkte sie, dass sie einen Spalt weit offen stand – vermutlich für Sanders. Allerdings folgte die Katze Kate zu ihrer eigenen Tür und schaffte es, in die Wohnung zu schlüpfen, obwohl Kate ihr mit dem Fuß den Weg zu versperren versuchte.

Sie stellte ihre Einkäufe ab und ging Sanders suchen. Er war auf ein Fensterbrett gesprungen und schaute in den verregneten Tag hinaus. Kate hob ihn auf und rechnete mit Widerstand, aber er legte seine Hinterpfoten auf Kates Unterarm und seine Vorderpfoten auf ihre Schulter und schnurrte leise an ihrem Hals. Kate, die normalerweise gemischte Gefühle hatte, was Katzen anging, verspürte eine unerwartete Zuneigung. Sie trug ihn in den Flur und ließ ihn auf den Teppichboden fallen. »Falsche Wohnung, Sanders«, sagte sie und schloss rasch die Tür hinter ihm.

Kate holte das brandneue Skizzenbuch, das sie aus London mitgebracht hatte, aus dem Schlafzimmer. Damit wollte sie ihre Zeit in einem anderen Land von Beginn an festhalten. Sie nahm einen Kohlestift aus einer neuen Packung und setzte sich mit dem Vorsatz, Sanders zu zeichnen, auf den weichen Teppichboden. Stattdessen jedoch zeichnete sie Alan Cherneys Gesicht und traf es ziemlich perfekt. Es stimmte nicht ganz, die Augen standen zu nahe beisammen, der Haaransatz war eine Spur zu tief, deshalb holte sie einen Knetradiergummi hervor und korrigierte es. Die Korrektur dauerte länger als die Zeichnung selbst, aber dann war er lebensecht getroffen. Sie schrieb seinen Namen und das Datum darunter und fügte BOSTON, MASSACHUSETTS hinzu. Sie zeichnete beinahe ausschließlich Porträts, und ihre Skizzenbücher waren voll mit den Gesichtern von Menschen, denen sie kurz zuvor begegnet war. Sie hatte ganze Stapel davon, die frühesten stammten aus Grundschulzeiten. Sie durchzublättern – was häufig vorkam, vor allem damals, als sie das Haus nicht verlassen hatte – war wie in einem Tagebuch zu lesen. Sie entdeckte Porträts enger Freunde, die sie nur Stunden nach der ersten Begegnung gezeichnet hatte, und andere von Leuten, die sie vollkommen vergessen hatte. Beim Blick auf Alans Abbild fragte sie sich, ob sie in zehn Jahren überhaupt noch wissen würde, wer er war. Vielleicht war das auch die Zeichnung, die sie unmittelbar nach der ersten Begegnung mit ihrem künftigen Ehemann angefertigt hatte. Das kam ihr eher unwahrscheinlich vor.

Kate blätterte zu einer leeren Seite, schloss die Augen und versuchte, sich Carol Valentine zu vergegenwärtigen, die ältere Dame, die sie durch die Wohnung geführt hatte. Sie konnte sich an ihre Augen erinnern, an ihre Stirn, ihr Haar und ihren Hals, aber nicht genau an Nase und Mund. Also zeichnete sich Kate stattdessen selbst. Sie wusste noch, wie sie heute Morgen im Badezimmerspiegel ausgesehen hatte. Das kürzlich geschnittene Haar hinter ein Ohr gesteckt, die Augen ein wenig verquollen von der trockenen Luft auf dem langen Flug. Das leise Lächeln, das sie sich verleihen wollte, wirkte am Ende so nervös wie das einer Brautjungfer, die eine Rede halten soll. Es traf ihre Stimmung nicht ganz, aber sie ließ das Bild, wie es war. Sie behielt fast alle ihre Selbstporträts.

Auf die nächste Seite zeichnete sie Sanibel, den Portier, den sie gerade getroffen hatte. Sie zeichnete nicht nur sein Gesicht, sondern bildete ihn an seinem Empfangstisch mit Sanders zu seinen Füßen ab. Sie hatte keine Übung darin, Katzen zu zeichnen, und Sanders kam falsch herüber, er wirkte bedrohlich, obwohl er alles andere als das war.

Sie schob das Skizzenbuch unter das Bett und stand auf. Da sie wieder hungrig war, ging sie in die Küche und aß Brot und Käse; sie überlegte, eine Flasche Wein aufzumachen, entschied sich aber dagegen. Der Regen peitschte nun ans Fenster, was sie an einen Maler denken ließ, der Farbe auf eine Leinwand klatscht. Sie blickte eine Weile auf die Küchenfenster und entschied, dass sie ihre neue Wohnung sehr mochte – nicht aufgrund des offensichtlichen Luxus, sondern wegen der hohen Decken und der übergroßen Fenster. Hier konnte sie frei atmen. Sie wollte Tee machen, hatte aber keinen gekauft. Schließlich fand sie eine Packung Red Rose in einem der hohen Küchenschränke. Sie füllte einen Kessel mit Wasser, stellte ihn auf den Gasherd und ging ins Wohnzimmer. Die Bücherregale enthielten hauptsächlich gebundene Sachbücher, aber auch ein ganzes Brett mit Taschenbüchern von John D. MacDonald. Sie zog eines heraus: Dunkler als Bernstein, ein Travis-McGee-Abenteuer. Auf dem billig gemachten Cover war ein sexy Mädchen in einem bauchfreien Oberteil abgebildet. Die Seiten waren im Lauf der Zeit vergilbt. Diese Bücher mussten Corbins Vater gehört haben, dachte Kate. Wo waren Corbins Bücher? Besaß er überhaupt welche? Im Regal unter den Travis-McGee-Büchern standen weitere Taschenbuchkrimis. Sie zog einen Dick-Francis-Roman heraus, den sie ihres Wissens noch nicht gelesen hatte – Knochenbruch –, und nahm ihn mit zu dem langen beigen Sofa unter dem größten Fenster im Raum. Sie legte sich hin und las die ersten Absätze, dann schloss sie die Augen und schlief auf der Stelle ein.

Sie träumte vom Park, der Teich war jetzt vom heftigen Regen aufgewühlt. Kate stand unter einer Weide mit gelben Ästen. George Daniels war auf der anderen Seite des Teichs. Sie war nicht überrascht, dass er in Boston war, und sie war ebenso wenig überrascht, dass er noch lebte, denn in ihren Träumen war er nicht tot, sondern verfolgte sie. Er entdeckte sie in ihrem Versteck unter der Weide und begann über den Teich zu schwimmen. Kate hatte ein Gewehr bei sich, und als George tropfnass und lächelnd aus dem Wasser stieg, schoss sie mehrmals auf ihn. Die Kugeln blieben in seinem Hemd stecken, ohne weiteren Schaden anzurichten. Eine traf ihn am Kinn, und er wischte sie fort wie eine Pferdebremse. Er kam weiter auf sie zu.

Sie wachte auf, Hals und Brust von einem Schweißfilm überzogen. Ein bitterer, beißender Geruch lag in der Luft. Der Teekessel! Das Taschenbuch rutschte auf den Boden, als sie von der Couch sprang und in die Küche rannte, um das Gas abzuschalten. Alles Wasser war verdampft, der Kessel qualmte bereits. Sie öffnete eins der Fenster, so weit es ging, und stellte den schwelenden Kessel mit Hilfe eines kleinen Geschirrtuchs auf das Fensterbrett. Es zischte laut, als der Regen auf das Gefäß traf. Aus irgendeinem Grund trieb ihr diese Beinahe-Katastrophe die Tränen in die Augen. Dann fiel ihr der Traum ein, George im Park, die Kugeln, die kaum sein Hemd durchdrangen. Dass er ihr in ihren Träumen nach Amerika gefolgt war, brachte sie beinahe zum Lächeln. Natürlich war er ihr gefolgt. Im Reich ihrer Träume war George König auf Lebenszeit.

Als der Kessel abgekühlt war, nahm sie ihn vom Fensterbrett. Der Boden war vollkommen schwarz, sie würde einen neuen kaufen müssen. Das Metall war noch warm, deshalb stellte sie ihn in die tiefe Edelstahlspüle und kehrte zur Couch zurück. Diesmal las sie das halbe Buch durch, ehe sie wieder einschlief.

Sie wurde durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Sie blinzelte und wusste im ersten Moment nicht, wie spät es war. Draußen war es noch hell, aber in der Wohnung war es düster. Ein neuerliches Klopfen, lauter und länger. Sie stand auf, ihre Knie knacksten. Wie lange hatte sie geschlafen?

Sie ging zur Tür, spähte durch das Guckloch und erwartete schon, Alan zu sehen. Doch stattdessen erblickte sie das Gesicht einer Frau mit kurz geschnittenem Haar, kaffeebrauner Haut und dunkelbraunen Augen. Eine Polizistin, dachte Kate angesichts des ruhigen Desinteresses in diesen Augen. Audrey Marshall ist tot, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war die Stimme von George Daniels. Kate öffnete die Tür.

KAPITEL 4

Die Frau stellte sich als Detective James vor, löste eine Dienstmarke vom Gürtel und hielt sie Kate vor die Nase. Kate bat sie herein und bemerkte zwei uniformierte Beamte im Flur, ehe sie die Tür schloss. Eins der Funkgeräte knisterte.

»Ist Audrey Marshall tot?«, fragte Kate automatisch.

»Wieso fragen Sie das?« Im Blick der Polizistin lag leichte Überraschung.

»Ich, äh, habe gehört, dass sie vermisst wird.«

»Wann haben Sie das gehört?«

Kate erklärte, wie bei ihrer Ankunft am Vorabend die Bekannte im Flur an die Tür geklopft hatte.

»Wann genau war das?«, fragte die Beamtin und zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche ihrer Kostümjacke.

Kate schätzte die Zeit, so gut sie konnte, und Detective James notierte sie. Kate betrachtete die Frau, während sie schrieb. Sie hatte ein längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, trug aber offensichtlich kein Make-up. Die Beamtin hob den Blick von ihrem Notizbuch und blähte leicht die Nasenlöcher.

»Ich habe den Kessel angelassen«, sagte Kate.

»Verzeihung, aber …«

»Ich habe vorhin den Kessel auf dem Herd stehen lassen, und er ist angebrannt. Deshalb der Geruch.«

»Ach so. Den habe ich allerdings bemerkt.«

»Möchten Sie sich setzen?«

Die Polizistin ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen, ehe sie antwortete. »Nein, danke. Im Moment nehme ich nur Aussagen auf. Und ich hätte gern ein paar weitere Informationen bezüglich des zeitlichen Ablaufs von Ihnen.«

»Sie ist tot, oder?«, fragte Kate.

»Wir ermitteln in einem ungeklärten Todesfall in der Wohnung nebenan. Im Augenblick ist die Leiche noch nicht offiziell identifiziert.«

»Okay.«

»Sie sagten, Sie seien eben aus London hier eingetroffen, richtig? Sie kannten sie nicht?«

»Nein, ich kenne niemanden hier. Also wurde sie ermordet?«

»Ein ungeklärter Todesfall, ja. Wer ist der Eigentümer dieser Wohnung?«

»Ein Cousin zweiten Grades von mir, Corbin Dell. Ich kenne auch ihn nicht persönlich. Wir sind uns nie begegnet, aber wir haben diesen Wohnungstausch arrangiert, weil er beruflich nach London musste.«

Detective James schrieb etwas in ihr Büchlein. »Dann wissen Sie vermutlich nicht, ob Corbin Dell irgendeine Form von Beziehung zu Audrey Marshall hatte, oder?«, fragte sie.

»Nein, keine Ahnung.«

»Können Sie mir die Telefonnummer Ihrer Wohnung in London geben?«

»Ich habe dort keinen Telefonanschluss. Ich benutze nur mein Handy. Aber ich habe Corbins E-Mail-Adresse. Die kann ich Ihnen gerne geben.«

»Das wäre wunderbar«, sagte die Polizistin.

Kate ging zum Computer im Arbeitszimmer und rief ihre E-Mail auf. Sie hatte mehrere ungelesene Nachrichten, darunter eine Antwort von Corbin. Sie öffnete sie.

Danke, dass du mir das Beef and Pudding empfohlen hast. Ich muss sagen, da hätte ich mich von allein wohl nicht hin verirrt. Es hat mich ein wenig an eine Kneipe namens St. Stephen’s Tavern nicht weit von dir erinnert. Schau sie dir mal an. Außerdem habe ich eine Nachbarin von dir kennengelernt, eine Martha Soundso. Sie hat mich wohl an meinem lauten amerikanischen Akzent erkannt. Hoffe, bei dir ist alles in Ordnung. C

Kate schrieb Corbins E-Mail-Adresse auf einen Notizzettel. Über die Sache mit Martha würde sie sich später den Kopf zerbrechen.