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Eine große Liebesgeschichte rund um die Frage, ob Liebe auch über den Tod hinaus möglich ist – der neue bezaubernde Roman von Erfolgsautorin Holly Miller.
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Als Neve auf Ash trifft, hat sie das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen. Er erinnert sie an ihre große Liebe Jamie, der bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie sind sich so ähnlich! Neve glaubt in ihrem neuen Freund die Reinkarnation Jamies zu erkennen, um den sie noch immer trauert. Es kann doch kein Zufall sein, dass Ash genau an dem Tag von einem Blitz getroffen wurde, an dem Jamie starb …
Sind manche Liebesgeschichten einfach zu stark, um wirklich zu enden? Und wie soll man sich auf eine neue Liebe einlassen – so ähnlich sie auch ist –, wenn die alte Liebe noch da ist?
Lesen Sie auch die anderen bewegenden Romane »Zwei Leben mit dir« und »Ein letzter erster Augenblick« von Holly Miller.
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Seitenzahl: 514
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Als Neve auf Ash trifft, hat sie das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen. Er erinnert sie an ihre große Liebe Jamie, der bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie sind sich so ähnlich! Neve glaubt in ihrem neuen Freund die Reinkarnation Jamies zu erkennen, um den sie noch immer trauert. Es kann doch kein Zufall sein, dass Ash genau an dem Tag von einem Blitz getroffen wurde, an dem Jamie starb …
Sind manche Liebesgeschichten einfach zu stark, um wirklich zu enden? Und wie soll man sich auf eine neue Liebe einlassen – so ähnlich sie auch ist –, wenn die alte Liebe noch da ist?
Autorin
Holly Miller ist im englischen Bedfordshire geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium arbeitete sie unter anderem als Marketingleiterin, Redakteurin und Werbetexterin, ihre wahre Leidenschaft galt aber schon immer dem Schreiben von Geschichten. Die Autorin lebt mit ihrem Partner und ihrem Hund in Norfolk. Nach Ein letzter erster Augenblick und Zwei Leben mit dir ist Alles, was wir niemals sagten ihr dritter Roman bei Blanvalet.
Von Holly Miller bereits erschienen
Ein letzter erster Augenblick
Zwei Leben mit dir
HOLLY MILLER
ALLES, WAS WIR NIEMALS SAGTEN
Roman
Deutsch von Veronika Dünninger
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Spark« bei Hodder & Stoughton, London.
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright der Originalausgabe © 2024 by Holly Miller
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Daniela Bühl
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
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Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-31569-6V002
www.blanvalet.de
Kapitel 1
Damals
Er fühlte ebenso stark wie ich. Rückblickend betrachtet, war das immer der beste Teil. Mit Jamie war es nie einseitig. Er liebte mich auf eine Art, die sich anfühlte, als wären wir vom Universum füreinander bestimmt worden, die Chemie kollidierender Sterne.
Wir hatten uns auf der Highschool kennengelernt. Ein sofortiger Funke, obwohl wir noch nicht einmal Teenager waren. Wir wohnten zwei Straßen voneinander entfernt, aber wir hätten genauso gut unter einem Dach leben können. Wir gingen Seite an Seite zur Schule, taten abends, als würden wir zusammen lernen, entdeckten in seinem Schlafzimmer unsere Liebe zur Musik, jeder mit einem Kopfhörer im Ohr. Er brachte mir das Kartenspielen und das Flirten bei. Ich brachte ihn gern zum Lachen, bis er das Zimmer verlassen musste. Wir waren der Sauerstoff des anderen, so unzertrennlich, dass die Lehrer es kommentierten. Seine Eltern fanden es entzückend. Meine Mutter erklärte uns für unerträglich.
Wir küssten uns zum ersten Mal an meinem fünfzehnten Geburtstag – letzte Reihe des Kinos, unsere Münder heiß und zögernd und schüchtern. Exakt zwei Jahre danach schliefen wir zusammen – auch wenn alle anderen bereits davon ausgingen, wir hätten den Schritt längst getan. Das hatte es sogar noch besser gemacht, denn das Hinauszögern war ein Geheimnis, das wir teilten. Vierundzwanzig Monate verstohlener Blicke und süßer Vorfreude, gedrückter Hände und geflüsterter Komplimente.
Der Augenblick selbst, in der festen Vertrautheit von Jamies Bett und seinen Armen, war genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Die Monate der Sehnsucht machten alles magisch. Bedeutsam und sicher, und mein Herz verwandelte sich in Helium.
In unserem Oberstufen-Jahrbuch wurden wir als das Paar, das am ehesten heiraten wird betitelt. Wir mussten dafür viel Häme einstecken, aber das war uns egal.
Am Tag unserer Abiturergebnisse gingen Jamie, Lara und ich mit einer Flasche Cava ans Flussufer, im Schatten der alten Tudorgebäude, die hinten an den Elm Hill angrenzten.
Wir fanden einen sonnenverbrannten Flecken Gras und reckten unsere Gesichter zu dem heißen blauen Himmel hoch. Über unseren Köpfen segelten Tauben träge zwischen den Pfannendächern. Unten auf dem Fluss schipperten Leute unbeholfen in gemieteten Stechkähnen herum. Wir konnten das Klatschen hören, wenn eine Stange ins Wasser gestoßen wurde, und das gelegentliche Schnattern einer aufgescheuchten Gans.
Neben mir streckte Jamie eine Hand nach meiner aus. Mein Verstand raste, der Stress des Tages der Abiturergebnisse begann sich endlich zu legen. Unsere Zukunft war ein Geschenk, auf das ich jahrelang gewartet hatte, und jetzt lag sie da, im Begriff, ausgepackt zu werden.
Lara ließ den Cava-Korken knallen. Meine beste Freundin, meine festeste Verbündete. Ich kannte sie seit dem ersten Tag der Grundschule. »Freiheit«, verkündete sie und reichte die Flasche dann an mich weiter.
»Freiheit.« Ich nahm einen Schluck, und die Perlen kitzelten meinen Gaumen, bevor ich die Flasche an Jamie weitergab.
»Unser Einserabiturient.« Lara sah Jamie an. »Danke, dass du uns alle vorgeführt hast.«
Er riss den Kopf von einem Gänseblümchen und schnippte ihn in ihre Richtung.
Lara hatte die letzten paar Jahre hauptsächlich damit verbracht zu rebellieren, anstatt zu lernen. Aber sie hatte besser abgeschnitten als ich und kaum schlechter als Jamie. Sie war einfach von Natur aus schlau.
»Deine Mum und dein Dad werden so stolz sein«, sagte ich zu Jamie.
Jamie hätte alles tun können, überall hingehen können. Das wussten wir alle. Er hatte Architekt werden wollen, seit er alt genug war, um zu fragen, woher die Gebäude kamen.
Er stöhnte auf. »Sie wollen mich heute Abend immer noch zum Essen einladen.«
»Nur dich?«, fragte Lara. »Und was ist mit Neve?«
Ich warf Lara einen betonten Blick zu. »Du solltest hingehen«, sagte ich zu ihm.
Er schüttelte den Kopf, streckte sich auf dem Gras aus. »Sie werden mir nur Vorträge halten.«
Darüber, wie du dir das Leben verbaust, indem du hier bei mir bleibst.
Jamies Vater war sechs Jahre zuvor mit Immobilien zu Reichtum gekommen, und jetzt hatte er genug Geld, um seine Söhne damit zu überschütten, und große Ziele für Jamie, seinen jüngsten. Russell Group University, exotische Reisen, gut vernetzte Freunde und Bekannte, Mitgliederclubs. Erste Klasse und fünf Sterne von allem. Im Grunde war Jamie dafür vorgesehen, ein Klon von Harry, seinem älteren Bruder, zu werden.
»Ich werde nicht mit ihnen essen gehen«, erklärte Jamie, rollte sich zu mir herum und fixierte mich mit seinen magnetisierenden Augen. Niemand konnte mich mit seinem Blick so in seinen Bann ziehen wie Jamie.
Lara legte den Kopf auf die Seite. »Ich glaube, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der noch sturer ist als ich.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr da recht gab. Jamie war prinzipientreu, nicht stur – auch wenn ich wusste, dass Lara sagen würde, da sei kein Unterschied.
Wir ließen die Cava-Flasche zwischen uns kreisen, wurden allmählich immer beschwipster, während das Gras die Feuchtigkeit aufsog und der Himmel sich verdunkelte. Auf dem kurzen Fußweg ins Stadtzentrum versenkten wir die leere Flasche in einem Abfalleimer. Später wünschte ich, wir hätten sie nicht weggeworfen.
Wir drei waren bis in den frühen Morgen unterwegs, zogen von einer Bar zur nächsten. Jamies Hand lag die ganze Nacht um meine Taille. Unsere Handy-Akkus gingen zur Neige. Lara verließ uns, um mit einem Jungen, den sie eben erst kennengelernt hatte, zu einer Party zu gehen. Schließlich, während sich die Morgendämmerung wie Milch über die Kirchtürme und Häuserdächer ergoss, küssten Jamie und ich uns an der gekrümmten Mauer einer Seitengasse. Die Aussicht auf unsere Zukunft brannte in meinem Verstand wie die aufgehende Sonne. Wir stolperten die zwei Meilen zurück zu seinem Elternhaus, benebelt von Alkohol.
Wir torkelten die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Teilten uns ein großes Glas Wasser, küssten uns, hatten Sex, noch in unseren Kleidern. Wir stöhnten immer wieder den Namen des anderen, während das Bett unter uns wackelte und quietschte.
Zweimal sah ich das Licht im Flur angehen. Hörte das Knarren eines Dielenbretts, dann gedämpfte Stimmen.
Erst später wurde mir bewusst, wie laut wir gewesen waren. Wie respektlos. Dass ich seinen Eltern noch einen Grund mehr gegeben hatte, mich zu hassen, falls sie nicht schon genügend hatten.
Ich wachte spät und allein auf. Als ich mich mit dröhnendem Kopf aufsetzte, konnte ich wieder Stimmen hören. Nur dass sie diesmal nicht gedämpft waren.
Sonnenlicht strömte wie warmes Wasser durch einen Spalt in den Vorhängen. Ich sehnte mich nach frischer Luft. In Jamies Zimmer türmten sich halb gepackte Kartons, die Vorboten des anstehenden Umzugs seiner Eltern nach Putney. Jamies Großvater war in jenem Frühjahr gestorben, nachdem er jahrelanger ständiger Pflege bedurft hatte, und so erfüllten sich seine Eltern jetzt ihren lang gehegten Wunsch, nach London zu ziehen.
Sie hatten gewollt, dass Jamie ebenfalls dorthin zog. Aber Jamie wusste, dass ich es mir nicht leisten konnte, in London auf die Uni zu gehen. Daher hatte er seinen Eltern gesagt, er wolle in Norwich Architektur studieren und mit mir in ein Haus ziehen. Zu dem Zeitpunkt waren wir seit drei Jahren zusammen – aber was sie früher einmal für entzückend gehalten hatten, hatte sich inzwischen in einen Anlass zur Besorgnis verwandelt. Sie setzten sich immer wieder mit ihm hin und fragten ihn, ob er sich sicher sei. Chris, sein Dad, ging sogar ein paarmal mit ihm Bier trinken und rief ihm in Erinnerung, dass es dort draußen »viele Frauen« gab. Er bat Harry, mit ihm zu reden, um ihn zur Vernunft zu bringen.
Ich hatte Jamie nie gebeten zu bleiben. Das hätte ich niemals getan. Auch ich wollte nur das Beste für ihn.
Sie hatten all seine Poster abgenommen. Die Wände waren jetzt verunstaltet von Blu-Tack-Flecken. Ich verspürte einen traurigen Stich bei dem Gedanken, dass ich dieses Zimmer vermutlich niemals wiedersehen würde. Das Zimmer, in dem wir uns verliebt hatten. In dem wir so viele Stunden mit Lachen, Berührungen, Küssen verbracht hatten. All die Arten geplant hatten, auf die wir für immer zusammenbleiben würden.
Schließlich ging die Tür auf, und Jamie kam herein, irgendetwas unter den Arm geklemmt. Er stellte es ab, dann ließ er sich schwer auf die Bettkante fallen. Ich konnte sehen, dass sich sein Nacken gerötet hatte, so wie immer, wenn er aufgewühlt war.
Ich beugte mich vor, um zu sehen, was es war. Ein Gemälde – auch wenn ich es nicht erkannte. Es sah amerikanisch aus, zeigte vier Leute in einem Diner nach Einbruch der Dunkelheit. Es hatte eine trostlose, fast unheimliche Aura, und ich liebte es auf Anhieb, wenngleich ich es nicht verstand.
»Sie haben gestern Abend alle im Restaurant auf mich gewartet«, sagte Jamie schließlich tonlos. Sein hellbraunes Haar war feucht, ein Hinweis darauf, dass er bereits geduscht hatte. Er roch nach Axe und Zahnpasta. »Meine Grandma war auch da. Sie wollte mir das hier schenken, um mir zu gratulieren.« Er zeigte auf das Gemälde. »Es hat meinem Grandad gehört. Er wusste, wie sehr ich es liebte.«
Mir wurde bewusst, wie es ausgesehen haben musste: dass ich ihn ermuntert hatte, die ganze Nacht wegzubleiben und von einer Bar zur nächsten zu ziehen. Scheiß auf deine Eltern, pfeif auf deine Pläne, du lebst nur einmal. Und nicht nur das – sie hatten uns auch anhören müssen, als wir schließlich nach Hause stolperten. So gedankenlos waren wir gewesen.
Aber die Wahrheit war, ich liebte Jamies Familie. Ich beneidete sie. Ich genoss das Gefühl, wenn auch nur für ein paar geraubte Augenblicke ab und zu, irgendwie ein Teil von dem zu sein, was sie hatten.
»Rat mal, was Dad mir eben erzählt hat«, sagte Jamie.
Eine unmögliche Herausforderung. Ich wartete.
»Er hat eine Wohnung gekauft, vor ein paar Monaten. In London. Soho. Für mich.«
Ich sagte nichts, aber ich spürte ein unbehagliches Rumoren in meinem Magen.
»Als eine Art … Starthilfe«, fuhr er fort.
Nicht für mich. Eine Starthilfe war, dass Lara Geld von einem Härtefallfonds bekam, um auf die Uni gehen zu können. Eine Wohnung gekauft zu bekommen, war … ein Lotteriegewinn.
Sie hatten das Gleiche für seinen Bruder Harry getan, hatten ihm mit einem Apartment in Zürich unter die Arme gegriffen, wo er jetzt lebte und als Banker arbeitete. Er war zehn Jahre älter als Jamie, und ich war ihm nur ein einziges Mal begegnet, ein paar Jahre zuvor. Ich konnte mich nur erinnern, dass er sehr stark nach Tabak roch.
Trotzdem. Dass seine Eltern Geld hatten, war nicht Jamies Schuld. Ich hatte ihn schon gekannt, als sie ebenfalls finanziell zu kämpfen hatten.
»Eine Wohnung in Soho klingt … ziemlich toll.« Ich streckte eine Hand aus und strich über seinen Nacken. Seine Haut war warm und glatt, wie ein Kieselstein am Strand. Er krümmte sich leicht unter meiner Berührung, und die Anspannung wich von seinen Schultern.
»Geld ist nicht alles, Neve.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass nur Leute mit Geld so etwas sagten. Aber ich ließ es ihm durchgehen.
»Ich meine, ja. London könnte gut sein. Aber sie übersehen eine Riesensache.«
»Was denn?«, flüsterte ich.
»Ich hätte dich nicht.«
Das konnte nur eines heißen: Dass ich mit ihm in dieser Wohnung leben würde, war ausdrücklich keine Option. Oder möglicherweise eine Bedingung des ganzen Arrangements.
»Ich will mit dir zusammen sein«, fuhr er fort. »Lass uns hier ein Leben für uns aufbauen.«
»Ich will nicht, dass du irgendetwas für mich opferst.«
»Das werde ich nicht. Das tue ich nicht. Ich liebe dich.«
Ich beugte mich vor und küsste ihn, spürte, wie er schauderte.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Was?«
»Das Gemälde.«
»Grandad sagte … es ginge dabei um Einsamkeit. Oder vielleicht Angst. Es wurde während des Krieges gemalt.«
Ich küsste ihn noch einmal. »Deine Eltern denken, dass ich dich aufhalte.«
»Das ist mir egal. Ich liebe dich. Ich liebe dich, Neve.«
Ich schob eine Hand unter seinen Morgenmantel und spürte, wie er scharf einatmete, ein lustvoller Atemzug, während meine Finger langsam über seine Haut glitten. Ich konnte nicht anders. Ich wollte ihm zeigen, noch einmal, wie sehr ich ihn wirklich liebte.
Leute sagten mir immer wieder, es sei unmöglich, dass ich mit achtzehn Jahren den Menschen gefunden hatte, mit dem ich mein Leben verbringen wollte.
Und doch waren wir hier.
»Du und ich, Neve, für immer.« Die Worte glitten aus seinem Mund in meinen. Sie schmeckten so gut, genau das, was ich hören wollte.
»Für immer«, hauchte ich zurück.
Kapitel 2
Jetzt
Mein Bildschirm ist jetzt die einzige Lichtquelle in dem verlassenen Büro. Er leuchtet so hell wie ein Aquarium in der Dunkelheit. Ich sehe auf die Uhr, strecke die Arme über den Kopf aus. Zehn Uhr. Noch eine Stunde, schätze ich, dann kann ich bei diesem Pitch-Paket auf Speichern drücken, bevor ich es mir morgen ein letztes Mal durchlese.
Mein Telefon klingelt. Sein Vibrato lässt mich in der bibliotheksartigen Stille des leeren Großraumbüros zusammenzucken.
Es ist, überraschenderweise, mein Ex-Freund Leo.
»Hey«, sagt er lässig, als ob es letztes Jahr um diese Zeit ist und er mich fragt, was für ein Bier er zum Abendessen mitbringen soll.
»Ich arbeite«, sage ich höflich, absolut nicht erpicht darauf, irgendeine unangebrachte Nostalgie zu schüren. »Was gibt’s?«
»Plus ça change.«
»Ich weiß nicht, was das heißt.« (Er auch nicht.) »Was kann ich für dich tun?«
Er atmet aus. Ich höre das Klicken eines Feuerzeugs. Binnen zehn Sekunden habe ich erneut Bekanntschaft mit den wesentlichen Eigenschaften von Leo geschlossen, die mir immer am meisten gegen den Strich gingen. Jetzt muss er mich nur noch Babe nennen und anfangen, von Kryptowährung zu schwafeln, dann wird er mindestens die Top Five abgedeckt haben.
»Babe, ich dachte, du solltest es als Erstes von mir hören.«
Ich halte den Blick auf den Bildschirm geheftet, lösche einen falsch gesetzten Apostroph, füge ein paar Kommata ein. Ist die Schriftart zu klein?
»Ich werde heiraten.«
»Oh. Tatsächlich?« Eine Sekunde verstreicht. »Herzlichen Glückwunsch.«
Seine Freundin – jetzt Verlobte, nehme ich an – ist eine Ex-Kollegin. Sie haben sich kennengelernt, als Leo und ich noch zusammen waren. Es ist nicht ganz klar, ob es da eine gewisse zeitliche Überschneidung gab. Aber die Wahrheit ist, im Grunde meines Herzens bin ich mir nicht sicher, ob es mich wirklich kümmert.
»Du solltest kommen.«
»Zu der Hochzeit?«
»Na ja, schon.«
Das verblüfft mich. Ich hatte mit Leo ungefähr drei Gespräche, seit ich Schluss gemacht habe, und null mit ihr. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine Einladung zu einer Hochzeit beiläufiger aussprechen kann als eine zum Dinner im Nando’s.
Ich seufze, überfliege wieder den Bildschirm. Die Präsentation ist ein Pitch für einen möglichen neuen Auftrag, den ich im Alleingang handhabe, den Umbau eines denkmalgeschützten Herrenhauses nahe der Küste von North Norfolk. Das Projekt an Land zu ziehen, wäre ein weiterer Meilenstein auf meinem Weg zur Beförderung.
»Ich glaube nicht, dass das angebracht wäre«, sage ich schließlich. »Aber … ich wünsche dir aufrichtig alles Gute, Leo.«
Ein paar Augenblicke erwidert er nichts, spielt nur mit seinem Feuerzeug. Klick, klick.
»Kann ich dir einen Rat geben, Neve? Als Freund?«
Meine Nackenhaare stellen sich auf, bei beiden Andeutungen. »Na klar. Warum nicht?«
»Du arbeitest zu hart.«
»Das ist kein Rat.«
»Okay. Na dann, nenn es … eine gut gemeinte Feststellung.«
Ich überlege, ihm zu sagen, dass der letzte Mensch, von dem ich, wenn ich dafür anfällig wäre, Lebenstipps annehmen würde, ein Mann ist, der in den vergangenen vier Jahren von drei Jobs gefeuert wurde. Aber stattdessen hole ich einmal Luft und lächele, wie ich es immer tue, wenn ein Kunde vor mir einen Tobsuchtsanfall kriegt. »Ist das alles?«
Klick, klick. »Ja, ich nehm’s an.«
»Viel Glück, Leo.«
Darüber lacht er nur und legt dann auf.
Ich blockiere seine Nummer und wende mich wieder meinem Bildschirm zu.
Ich gehe durch verlassene, mondbeschienene Straßen nach Hause. Auf dem Weg beantworte ich eine Nachricht von meiner Kollegin Parveen, die mit ihrem kleinen Sohn noch immer wach ist, aber trotzdem Zeit findet, sich Sorgen wegen meiner Arbeitsmoral zu machen. Sie erwähnt hohen Blutdruck. Ich versichere ihr, dass ich für heute Feierabend gemacht habe, dann schaue ich, kurz bevor er schließt, bei meinem Eckladen vorbei, um eine Flasche Wein mitzunehmen.
Zu Hause angekommen, kicke ich meine Schuhe von mir, werfe meine Tasche hin und lege den Weißwein ins Gefrierfach.
Ich habe die letzten paar Jahre damit zugebracht, mein kleines Reihenhaus liebevoll zu renovieren, habe auf hochwertige Teile von Designern, die ich liebe, hart gespart und an den Wochenenden Schrottplätze nach antiken Kaminen und Türen mit Buntglaseinsätzen und Holzläden für meine Fenster abgegrast.
Inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, je von hier wegzugehen. Leo hat mich einmal gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, und ich reagierte, als hätte er vorgeschlagen, organisiertes Verbrechen als Hobby aufzunehmen.
Ich kann meine Nachbarn streiten hören. Nichts Neues an der Front. Irgendetwas darüber, dass er sich an ihrem Ausgehabend, von dem sie eben nach Hause gekommen sind, keine Mühe gegeben hat. Ich schalte den Fernseher ein, drehe die Lautstärke auf. Ich sitze ungefähr fünf Minuten davor, außerstande, auch nur einer einzigen Sache zu folgen, dann entscheide ich, dass ich ebenso gut ein paar Punkte von meiner To-do-Liste abhaken könnte, während ich darauf warte, dass der Wein kühlt.
Leo hat mich einmal gebeten, ihn zu heiraten. Der Kontext war unerklärlich. Wir waren in einer Bar in Griechenland. Beide haltlos betrunken, in einem passiv-aggressiven Streit wegen Geld. Zum Glück war ich so geistesgegenwärtig, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Im Grunde meines Herzens wusste ich – vielleicht hatte ich es schon immer gewusst –, dass er nicht der Richtige war.
Er hatte ein paar attraktive Eigenschaften. Er verstand es sehr gut, mich zum Lachen zu bringen, und neigte nicht dazu, wegen Kleinigkeiten auszuflippen, was meine Tendenz ausglich, das Gegenteil zu tun. Und er sah unverschämt gut aus, was vermutlich den Funken noch lange über den Punkt hinaus am Leben erhielt, an dem wir ihn gemeinsam hätten auslöschen sollen. Aber letztendlich wusste ich, dass ich, wenn ich achtzig war, nicht die Augen aufschlagen und Leo neben mir liegen sehen wollte. Für mich war die Entscheidung so einfach.
Ich streife ein Paar Gummihandschuhe über und mache mich mit dampfendem Wasser und Sprühreiniger in meinem Badezimmer ans Werk. Ich wische den Küchenboden. Ich lasse die Spülmaschine leer laufen, eine halbe Zitrone in den oberen Korb gesteckt, lege Wäsche zusammen, trage eine Haarmaske auf. Ich bügele die Falten aus meinen Bettlaken.
Es ist zwei Uhr morgens, als ich das Licht schließlich ausschalte. Meine Nachbarn haben ihren Streit gegen eine Runde quälend lauten Sex getauscht. Ich schließe die Augen vor dem migräneauslösenden Hämmern, taste nach meinen Kopfhörern, um die Dinge nicht hören zu müssen, die sie abwechselnd zueinander sagen. Ich versuche, nicht an mein letztes Mal zu denken, mit Leo. Und auch wenn mir das gelingt, schaffe ich es doch nicht, die Flut von Gedanken, die danach folgt, einzudämmen.
Und so sitze ich um halb vier Uhr morgens im Erdgeschoss in meinem Pyjama im Schneidersitz da und versuche zu meditieren, um mich zu entspannen. Ich gebe rasch auf. Ich habe den Dreh fürs Meditieren nie herausbekommen. Ich habe einfach keinen Draht dafür.
Daher vergesse ich das mit dem Schlafen und alle Versuche, meinen Kopf zu klären, und gehe hinaus in meinen winzigen Garten. Ich atme die frühmorgendliche Luft tief in mich ein und denke, wie so oft, an Jamie und an Lara.
Ich bleibe draußen auf dem Patio, bis mir kalt wird, und dann fällt mir mit einem Ruck etwas ein, was ich zu tun vergessen habe.
Und so beginnt mein Freitag: mit der gefährlichen Entfernung von Glasscherben infolge der Weißweinexplosion in meinem Gefrierfach. Na ja, wenigstens hat es mir den Kater erspart.
Kapitel 3
Um Mittag kommt Parveen von einem Meeting bei einem örtlichen Architekturbüro zurück.
Sie summt.
Parveen summt nie. Um genau zu sein, tut das keiner von uns. Das hier ist nicht die Art Büro.
Verstehen Sie mich nicht falsch – es ist ein schöner Ort zum Arbeiten. Aber es ist das Gegenteil von entspannt. Wir sind nie sorglos genug, um zu summen. An manchen Tagen haben wir kaum Zeit, um Koffein zu tanken.
»Was ist denn in dich gefahren?«, frage ich sie lächelnd, während sie sich in den Sessel neben meinem gleiten lässt.
»Hatte eben ein tolles Meeting. Bei Crave & Co.«
»Oh, für diese Millbrook-Geschichte? Wie sieht das alles aus?«
Kelley Lane Interiors, die Innendesigner, für die Parveen und ich arbeiten, haben den Vertrag für den Innenausbau der Millbrook-Seniorenwohnanlage an Land gezogen, ein Zweckbau, der derzeit im Osten von Norwich errichtet wird.
Parveen fächelt sich mit einem Aufrissplan Luft zu. »Ich weiß ja nicht, ob es nur an meinen Hormonen liegt, aber der Architekt bei dem Projekt ist heiß.«
Ich lache.
»Im Ernst. Was ist denn los mit mir? Ich musste ständig daran denken, seine Babys zu bekommen.«
»Du hast bereits zwei Babys mit jemand anders bekommen, schon vergessen?« (Zwillinge, mit ihrem Ehemann Maz, einem Anwalt, den sie abgöttisch liebt.)
»Ach ja«, sagt sie gespielt wehmütig. »Aber trotzdem. Ein Mädchen darf träumen.«
Ich kenne Parveen seit acht Jahren. Wir haben beide im selben Sommer bei KLI angefangen, und ich könnte mir keine bessere Schreibtischkollegin vorstellen. Sie ist superschlau, absolut schlagfertig und – witzigerweise – auch die ungeschickteste Person, der ich je begegnet bin, so sehr, dass sie sich inzwischen weigert, auch einmal das Kaffeeholen fürs Büro zu übernehmen, wegen des glaubwürdigen Risikos, anderen Leuten Verbrennungen dritten Grades zuzufügen.
»Erzähl mir von dem Projekt.« Ich liebe die frühen Phasen eines neuen Auftrags – die Meetings und die Informationsbeschaffung, das Schimmern von Möglichkeit und Potenzial.
Sie lächelt. »Sein Name ist Ash Heartwell.«
Ich lächele zurück. »Aufrichtig nur an dem Projekt interessiert.«
Ich kenne das Architekturbüro Crave & Co – wir arbeiten ständig mit ihnen zusammen –, und ich weiß von Ash Heartwell, aber ich bin ihm nie persönlich begegnet.
Eine E-Mail piepst in meinem Postfach. Von Parveen. Ein Link zu Ash Heartwells Profil auf der Website von Crave & Co.
»Äh, ich werde ihn jetzt aber nicht stalken. Musst du dir meinen Ventilator borgen oder so?«
»Sieh ihn dir nur ganz kurz an«, fleht sie. »Sein Profilbild sieht aus wie eine Aftershave-Reklame. Du kannst das Paco Rabanne förmlich riechen.«
Widerstrebend klicke ich den Link an. Es stimmt – das Schwarz-Weiß-Porträt erinnert mich tatsächlich an etwas, was man auf der Innentitelseite von GQ sehen würde.
Ich überfliege seine Bio.
Ash kam nach seinem Studium an der Bartlett School of Architecture zu uns. Er wandte sich der Architektur nach einem Unfall in seinen Zwanzigern zu, der ihn veranlasste, seine Berufswahl zu überdenken. Ash hat während seines Studiums etliche Auszeichnungen gewonnen und assistiert derzeit bei einer Reihe von Projekten.
»Du weißt, wer er ist, stimmt’s?«
»Hmm?«, frage ich, klicke mich aus der Seite und zurück zu dem Fly-Through auf meinem Bildschirm.
»Er ist der Typ, der vom Blitz getroffen wurde.«
Ich spüre, wie mein Mund trocken wird. Ich greife nach dem Glas Wasser auf meinem Schreibtisch und nehme einen kräftigen Schluck.
»Erinnerst du dich nicht? Das ist jetzt ein paar Jahre her. Es stand in allen Zeitungen.«
Ich erinnere mich durchaus an den Mann, der vom Blitz getroffen wurde. Aber damals achtete ich nicht darauf. Denn es passierte in derselben Nacht wie etwas anderes, etwas Katastrophales, das meine Welt – und mein Herz – in Stücke riss.
»… Neve?«
Ich blinzele den drohenden Flashback weg. »Entschuldige, was?«
»Ich habe dich gefragt, ob du mir später einen Gefallen tun könntest.«
Ich schüttele mein Unbehagen ab. »Ja, na klar.« Das fällt mir leicht: Parveen ist einer dieser seltenen und entzückenden Leute, die ihre Kollegen nie um grässliche Dinge bitten, nur weil sie selbst keine Lust darauf haben.
»Du weißt doch noch gar nicht, was es ist. Und ehrlich gesagt … ist es das, was du am wenigsten gern tust.«
Okay, ich nehme es zurück. Ich stöhne auf und neige den Kopf über meine Tastatur. »Bitte keine Elftklässler mehr.«
KLI macht viel Nachwuchsarbeit vor Ort, geht an Schulen, Colleges und Universitäten. Wir nehmen Praktikanten in ihrem Abschlussjahr und arbeiten bei verschiedenen Projekten mit Bildungsanbietern zusammen. Ich habe kein Problem damit, irgendetwas davon zu tun – um genau zu sein, tue ich es durchaus gern –, aber die letzte Gruppe Elftklässler, vor denen ich sprach, war brutal. Ich wurde erst ausgelacht, dann mit Zwischenrufen gestört, und die Lehrerin, die mir versicherte, ich hätte einen Begeisterungssturm entfacht, hatte während der ganzen Veranstaltung auf ihrem Handy herumgetippt.
Mit Zwischenrufen kann ich umgehen. Damit, dass meine Zeit verschwendet wird, nicht.
Parveen schiebt mir eine Einladungskarte über den Schreibtisch zu. »Ich soll heute Abend zu dieser Vernissage in dieser Kunstgalerie in der Magdalen Street gehen, aber ich habe es total verschwitzt, und Maz leitet heute in der Arbeit diese Riesenmediation, die sich bis in den Abend hinziehen könnte, daher muss ich unbedingt für die Zwillinge zu Hause sein.«
Ich hasse es, mit Leuten über Kunst zu reden, wie Parveen sehr wohl weiß. Sie ist KLIs hauseigene Kunstexpertin und pflegt in der Regel im Namen unserer Kunden den Kontakt zu Händlern, da sie an der Uni Kunstgeschichte studiert hat und einfach nicht genug von dem Zeug kriegen kann.
Es ist nicht so, dass ich das nicht kann: Ich kann so ziemlich alles schaukeln, wenn ich genug Einlesezeit habe. Es ist eher so, dass ich in Sachen Aufgeblasenheit eine sehr niedrige Schmerzgrenze habe. Leo liebte es, in Kunstgalerien zu gehen und Unsinn zu schwafeln, nur um zu prahlen. Er hatte keinen blassen Schimmer, aber sein Ego wurzelte darin, sich den gegenteiligen Anschein zu geben. Das Gleiche war es mit Wein, Literatur und – das war jedes Mal der Gipfel, vor allem auf Dinnerpartys – internationaler Politik.
Parveen macht ein flehendes Gesicht. »Halbe Stunde, maximal, nur damit ich sagen kann, dass die Firma ihr Gesicht gezeigt hat. Du musst nur den kostenlosen Wein trinken und ein bisschen herumschlendern, und dann kannst du gehen.«
»Trinken, herumschlendern und gehen?«
»Versprochen.«
»Ich schätze, das kriege ich gerade noch hin«, sage ich und wende meine Aufmerksamkeit wieder der Art-déco-Küche zu, an der ich arbeite. »Aber du übernimmst den nächsten Schwung Elftklässler.«
»Abgemacht«, sagt sie strahlend. »Und hey, man kann nie wissen – letztendlich könntest du mit jemand richtig Interessantem ins Gespräch kommen.«
Ich denke an Leo und ziehe eine Augenbraue hoch. »Ich weiß deinen Optimismus zu schätzen, Parv, aber lass uns nicht übertreiben.«
Kapitel 4
Ich komme ein bisschen zu spät, nachdem ich bei der Überarbeitung des Innendesigns für den Umbau einer zweistöckigen Scheune die Zeit vergessen habe. Die Pläne waren in letzter Minute in meinem Postfach gelandet, mit der Bitte des Bauunternehmers um rasche Erledigung.
Die Galerie ist still. Der Künstler spricht. Ich schlüpfe hinten hinein und schnappe mir einen lauwarmen Weißwein vom Tisch neben mir. Die Ausstellung, um die es geht, ist Öl auf Leinwand, jedes Werk eine Masse gedämpfter Farben, die Motive obskur.
Und dann sehe ich ihn. Auf der anderen Seite des Raums, ebenfalls ein Glas Weißwein in der Hand. Er hört gebannt zu, aber aus irgendeinem Grund dreht er, während ich ihn ansehe, den Kopf.
Unsere Blicke prallen aufeinander. Die Welt tut einen Atemzug. Ich spüre, wie die Hitze seines Blicks wie eine Flamme durch mich leckt.
In meinem ganzen Leben gab es nur einen einzigen anderen Menschen, der mich so angesehen hat.
Mir wird bewusst, dass er der Blitzschlag-Typ ist. Parveens neuer Arbeitsschwarm. Er ist in der Gegend hier eine kleine Berühmtheit, etwa so, wie man es vielleicht wäre, wenn man eine Haiattacke oder einen Angriff von einem Rhinozeros überlebt hat. Aber ich kenne die Details nicht. Ich weiß, wenn ich im Internet die Ereignisse jenes Abends recherchieren würde, dann würde ich auf den anderen Unfall stoßen, der nur Augenblicke davon entfernt, nur eine Straße weiter, passiert ist. Und ich will mir keinen dieser Berichte je wieder ansehen.
Der Künstler hört auf zu sprechen. Ein bisschen höflicher Beifall ertönt, der kurz darauf in ein leises Gesprächsgemurmel übergeht.
Auf der anderen Seite des Raums sehe ich, wie Ash beginnt, an den Gemälden entlangzuschlendern. Er hält vor jedem einzelnen inne, widmet ihm Zeit und Aufmerksamkeit. Er ist eine einsame, nachdenkliche Gestalt zwischen dem Gewirr von Körpern. Ich folge ihm unwillkürlich mit den Augen durch den Raum, den Blick nur auf ihn geheftet. Ich bin so gebannt, dass ich gar nicht bemerke, wie er immer näher kommt, bis er buchstäblich neben mir stehen bleibt.
Und dann. Es schlägt mir mit voller Wucht entgegen: der Duft von Tom Ford Noir. Er ist unverwechselbar. Ich würde ihn überall erkennen.
Ich versuche mich zu sammeln. Er ist groß, wird mir bewusst, noch größer als ich. Er sieht aus, als ob er ebenfalls gleich von der Arbeit gekommen ist, in einer dunklen Jeans und einem gebügelten Hemd.
Ich beschließe, mich vorzustellen, da ich allmählich den Verdacht habe, dass er es ist, der Parveen die Einladung gegeben hat.
»Hallo«, schalte ich fröhlich in den Arbeitsmodus. »Ich bin Neve Lambourne. Von Kelley Lane Interiors.«
Seine Miene hellt sich auf. Er wendet sich zu mir um. »Oh. Hi. Parveen hat gesagt, Sie würden vielleicht vorbeischauen.«
Ich lächele in mich hinein. Ach ja, hat sie das.
Er streckt eine Hand aus. »Ash Heartwell.«
Wir geben uns die Hand. Sein Griff ist fest und warm. Irgendwie trifft er jeden Berührungspunkt in meinem Magen.
Er weist mit einem Nicken auf das Gemälde vor uns, vielleicht, um das Risiko einer Verlegenheitspause zu vermeiden. »Was halten Sie davon?«
Der Raum ist klein und heiß, brechend voll von Körpern. Jede Oberfläche ist hell wie Flutlicht. Auf einmal spüre ich Schweiß in meinem Nacken kribbeln, das Gefühl, abgeschätzt zu werden.
»Sehr … eindringlich«, sage ich entschieden. (Das ist mein Standardadjektiv, um abstrakte Kunst zu beschreiben. Im Allgemeinen verschafft es mir genügend Sekunden, um auf ein anderes Thema umzuschwenken oder, wenn mir das nicht gelingt, einen respektablen Abgang hinzulegen.)
»Eindringlich«, wiederholt er mit einem Nicken. Und dann: »Für mich dreht sich alles um die Farbpalette. Die Art, wie sie sich mit dem Licht und dem Dunkel gleichermaßen verbindet, wissen Sie?«
Das ist der Grund, weshalb ich allergisch gegen Kunstgalerien bin. Die Leute erwarten eine wortgewandte Analyse. Die Wahrheit ist, in diesem Augenblick wäre ich weitaus lieber wieder im Büro, um an diesem Scheunenumbau zu arbeiten.
»Mmm«, sage ich mit einem Nicken. Ich wünschte, ich hätte wenigstens die Zeit gefunden, den Katalog zu lesen, bevor ich vorhin Schluss gemacht habe.
Ash neigt den Kopf zu meinem. »War nur ein Witz. Ich habe null Ahnung von Kunst.«
Ich lache erleichtert auf, bemerke seinen strahlenden, festen Blick, seinen kantigen Kiefer. Die Spur von Lachfältchen. Den leichten Anflug von Schalk in seinem Lächeln.
Er nippt an seinem Wein. »Also, falls die Frage gestattet ist, was tun Sie hier? Wenn Sie eine solche Kunstphobikerin sind, meine ich.«
»Das ist es nicht. Es ist nur, dem meisten Zeug stehe ich eher … neutral gegenüber.«
»Jeder hat mindestens einen Künstler, der ihm unter die Haut geht.«
Ich spüre seinen Blick auf mir. Er hat natürlich recht – es gibt einen Künstler, der mir unter die Haut geht. Dessen Gemälde mir irgendwie das Gefühl geben, Jamie wieder nahe zu sein. Der mir schon immer unter die Haut gegangen ist. »Na ja«, räume ich ein, »ich nehme an … Edward Hopper. Es gibt dieses eine Gemälde von ihm …«
»Nachtschwärmer«, sagt er, ohne eine Sekunde zu zögern.
Ich starre ihn an. Mein Atem ist eine Gewitterwolke, die in meiner Kehle schwebt.
»Ich habe dieses Gemälde in meiner Wohnung. Na ja, einen Druck davon, natürlich.«
»Ich auch. Ich habe einen zu Hause.«
Während ich ihn wieder betrachte und das Tom Ford einatme, tritt eine Frau in einem Tweedkostüm, das Chanel sein könnte, auf uns zu. Ich kenne sie über Kelley; sie ist Immobilienentwicklerin und Direktorin einer örtlichen Kunst-Charity.
»Hallo, Neve«, begrüßt sie mich warmherzig mit einem Luftkuss. »Wie geht es dir, meine Liebe? Kann ich schrecklich unhöflich sein und dich für einen Moment entführen? Ich würde dich gern mit jemandem bekannt machen.«
Ich sehe Ash mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Verzeihen Sie, bitte.«
»Natürlich«, sagt er, und dann werde ich fortgerissen. Nachdem Kelleys Kontakt mich ihrer Bekannten vorgestellt hat, beginne ich, durch den Raum zu schlendern, meinerseits Leute einander vorzustellen. KLI ist eine bekannte Lokalgröße, und ich kenne praktisch jeden hier, wenn auch nur indirekt.
Von Zeit zu Zeit spüre ich, wie Ash mich beobachtet. Ich habe mich von unserem Wortwechsel vorhin noch immer nicht völlig erholt oder ergründen können, warum er irgendwie keinen Sinn ergab.
Ungefähr eine Stunde später fängt er mich an der Tür ab.
»Ich muss jetzt gehen, aber … das hier bin ich.« Er reicht mir eine Visitenkarte.
Trotz meines leichten Unbehagens lächele ich. »Möchten Sie … unsere Diskussion über Kunst fortsetzen?«
Er lacht leise. »Ja. Genau das.«
Ich fange seinen Blick auf. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits.«
Kapitel 5
Damals
Wir drei zogen in ein Reihenhaus mit zwei Schlafzimmern in der Edinburgh Road. Jamie und ich hatten das größte Zimmer, nachdem wir uns bereit erklärt hatten, für das Vergnügen fünfundzwanzig Pfund extra pro Woche zu bezahlen.
Streng genommen hätten sowohl Lara als auch ich weiterhin zu Hause wohnen können – meines war keine halbe Meile die Straße hinunter, und Laras Familie lebte von Tür zu Tür nur fünf Meilen entfernt. Aber keine von uns war erpicht darauf. Wir wollten wenigstens so tun, als hätten wir das Nest verlassen. Laras Eltern waren entzückend, aber Laras kürzliche rebellische Phase war der Beweis dafür, dass sie bereit war zu gehen. Sie musste frei sein.
Jamie und ich zogen an einem Sonntagabend Anfang September ein. Lara war noch nicht da. Seine Mutter fuhr uns hin, und ihr ungeschickt geparkter SUV nahm fast den ganzen Gehsteig in Beschlag, während wir unsere Kartons aus dem Wagen ins Haus schleppten.
Sie hatte darauf bestanden, mit ihm einkaufen zu gehen, um haufenweise Zeug zu besorgen, bei dem ich mir sicher war, dass wir es nicht brauchen würden. John-Lewis-Bettwäsche und Topfpflanzen, Kissen, die besser zu ihrem im Regency-Stil gehaltenen Wohnzimmer in Putney gepasst hätten. Kochbücher – Delia und Good Housekeeping und irgendetwas vom River Café, wo Jamie zweimal gewesen war. Eine richtige Kaffeemaschine, die Art, die mit Kapseln befüllt wurde. Und zwei ganze Eimer voll Putzzeug.
Als ich mich etwas früher an diesem Tag von meiner eigenen Mutter verabschiedet hatte, hatte sie mir zwanzig Pfund und eine Schachtel Zigaretten zugesteckt.
»Äh, ich rauche nicht?«
Sie tätschelte meinen Arm. »Sie könnten sich als nützlich erweisen. Für alle Fälle.«
»Für welche Fälle genau?«
»Alle anderen tun es?«
»Okay. Danke. Eins-a-Erziehung, Mum.« War es wirklich zu viel, sich ein vernünftiges Abschiedsgeschenk zu wünschen, zum Beispiel eine Flasche Wein oder einen neuen Pyjama?
»Na ja«, sagte sie, »sie gelten als Zahlungsmittel, weißt du. Du kannst sie immer gegen irgendetwas eintauschen, was du wirklich haben willst.«
»Ich gehe auf die Uni, nicht ins Gefängnis«, erwiderte ich. Während wir unsere Sachen einräumten, entdeckte Jamie einen Bilderhaken an der Wand, genau gegenüber unserem Bett. Er nahm das Nachtschwärmer-Gemälde aus dem Handtuch, in das er es gewickelt hatte, und hängte es auf.
»Es sieht wunderschön aus.« Ich schlang ihm einen Arm um die Taille, während wir zurücktraten, um es zu bewundern, als würden wir das Original zum ersten Mal in einer Galerie sehen. Mein Blick wanderte hinüber zu den bronzenen Alphabet-Buchstützen, die jetzt die winzige Bibliothek zusammenhielten, die wir mitgebracht hatten. Ein N und ein J. Er hatte sie mir am Abend zuvor geschenkt, in schlüsselblumengelbes Seidenpapier gehüllt.
»Ein Andenken an unser allererstes gemeinsames Zuhause«, sagte er. »Damit wir uns, wo immer unser nächstes Bücherregal stehen wird, immer an unser erstes erinnern werden.«
Jetzt betrachtete ich die Bücher. Sein zerfleddertes Exemplar von Ein eigener Ort: Die Architektur der Tagträume, Architektur analysieren und Kunst und Illusion, alle der Größe nach angeordnet. Meine Hälfte beinhaltete eine illustrierte Geschichte des Vogue-Magazins, einen Bildband über Traumhäuser, der ein bisschen zu klobig für die Form des Regals war, und zwei Nick-Hornby-Romane, die meine Mutter irgendwann einmal von einem Sozialladen mit nach Hause gebracht hatte, nie gelesen hatte und nicht vermissen würde.
Dann platzte Jamies Mum ins Zimmer, riss sich die Gummihandschuhe von den Händen. Sie hatte eine, wie sie es nannte, »Dekontamination« durchgeführt, obwohl das Haus für mich schon jetzt ziemlich sauber aussah.
Sie blieb stehen, als sie das Gemälde sah. »Nein, Jamie.«
Wir sahen sie beide an.
»Das kannst du nicht hierbehalten. Es könnte gestohlen werden.«
»Es ist nur ein Druck«, erwiderte Jamie. »Es ist nicht wertvoll.«
»Wert und Sentimentalität sind nicht dasselbe, Schatz. Lass es mich wieder mit nach Hause nehmen. Ich werde es in deinem Schlafzimmer für dich aufbewahren, bis du eine nette Bleibe findest.«
Ich wusste, dass sie es nicht so gemeint hatte. Aber die Bemerkung versetzte mir dennoch einen Stich. Das Haus war in Ordnung. Wir waren in einer guten Gegend. Die Straße war eine der besseren auf der Liste, die man uns gegeben hatte.
»Wir werden gut darauf aufpassen«, versicherte ich ihr.
Dann sah sie mich an, etwas, was sie nur selten tat. Jedes Mal, wenn wir drei zusammen waren, wandte sie sich hauptsächlich an Jamie, abgesehen von einem gelegentlichen kurzen Blick in meine Richtung.
»Bitte tu das«, war alles, was sie sagte, wobei ihre Stimme ein klein wenig brach. Und ich wusste, dass sie mich bat, auch auf Jamie gut aufzupassen.
***
»Oh, Debbie, du Schönheit«, rief Lara, als sie ungefähr eine Stunde später in unseren Kühlschrank äugte und die vier Flaschen Champagner entdeckte, die darin lagerten. Sie sah zu Jamie hinüber. »Habe ich recht?«
Sie wusste, dass der Name seiner Mum Debra war, dass niemand es je wagte, sie Debbie zu nennen.
Jamie nickte. Ich glaube, insgeheim gefiel ihm Laras Aufmüpfigkeit. »Hauseinweihungsgeschenk.«
»Offensichtlich.« Lara rieb sich die Hände. »Na ja, worauf wartest du noch, Schnöseljunge? Mach sie auf und lass die Party steigen.«
Wir tranken Champagner im Wohnzimmer, während das Licht vom Himmel schwand, spielten Karten und hörten Muse. Debra hatte Jamie – natürlich – einen Karton mit Kristallgläsern geschenkt, passend zu dem Moët, aber Lara erklärte, am ersten Tag der Uni Champagner aus Flöten zu trinken, wäre die größte Tragödie aller Zeiten. Wir pflichteten ihr bei, daher gossen wir ihn stattdessen in die Becher, die ihre Mum ihr geschenkt hatte, auf denen lustige Sprüche wie DASLEBENBEGINNTNACHDEMKAFFEE und EINETASSEPOSITIVI-TEE-T standen.
»Waren die … ein Witz?«, fragte Jamie, während er seinen Becher mit einer Art entsetzter Faszination betrachtete.
»Leider nein. Und Mum weiß, dass ich nichts mehr hasse als eine geistlose kleine Lebensweisheit. Cash wäre mir lieber gewesen.« Sie sah mich an. »Ich möchte wetten, deine Mum hat dir einfach zwanzig Pfund und eine Schachtel Zigaretten zugesteckt, stimmt’s?«
Zu dem Zeitpunkt waren Lara und ich seit vierzehn Jahren befreundet. Es gab nichts, was wir nicht übereinander wussten. Ich hatte sie betrunken, high, verzehrt von Verzweiflung und hyperaktiv vor Freude gesehen.
Was ich am meisten an ihr liebte, das war, wie zärtlich sie unter ihrer rauen Schale war. Sie war die Art Person, die als Erste ein Pflaster holen würde, wenn man sich in den Finger geschnitten hatte. Die sicherstellen würde, dass man ein großes Glas Wasser getrunken und zwei Nurofen eingeworfen hat, bevor man sich nach einer harten Nacht ins Bett legte.
Als ich mich damals in Jamie verliebte, hatte ich keine Ahnung, wie ich mit Lara umgehen sollte. Denn auf einmal gab es Dinge, die ich mit Jamie allein unternehmen wollte – Kinobesuche, in meinem Schlafzimmer Musik hören, Stadtbummel und Dinner bei Pizza Hut. Aber Lara benahm sich nie zickig oder machte uns das Leben schwer. Stattdessen schloss sie sich uns einfach an, wenn es sich richtig anfühlte, und hielt sich im Hintergrund, wenn es das nicht tat. Wir redeten nie darüber, da es nie nötig zu sein schien.
Sie muss gewusst haben, nehme ich an, dass er ein Junge war, der es wert war, geliebt zu werden.
Aber ich brauchte sie trotzdem noch immer. Und daher war ich, als sie entschied, in Norwich zu bleiben und sich sogar ein Haus mit uns zu teilen, euphorisch vor Erleichterung.
Sie fand auf Anhieb andere Freunde. Das fiel ihr leicht, schon immer. Bereits am nächsten Abend hatte ein Typ sie zu einer Hausparty in der Angel Road eingeladen, und sie bestand darauf, dass Jamie und ich mitkamen.
Sie verschwand in der Sekunde, in der wir dort eintrafen, wurde von einer Flut neuer Bekanntschaften mitgerissen. Jamie und ich setzten uns zusammen auf ein Sofa. House Music lief, ein gnadenloser, hämmernder Rhythmus.
Nach etwa einer Stunde ging ich, um uns noch ein paar Drinks zu holen. Als ich wiederkam, blieb ich im Türrahmen stehen. Jamie redete mit einem Mädchen – blond, Smokey-Augen, endlos lange Beine, die in knappen schwarzen Shorts steckten.
Inzwischen war Jamie betrunken. Er kriegte es nicht mehr mit, wenn jemand mit ihm flirtete. Sein Gesicht war gerötet, und das Haar fiel ihm in die Augen.
Ich blieb stehen, wo ich war, und hörte zu. Das Mädchen, das nur Augen für Jamie hatte, hatte mich nicht gesehen. Sie schien ihm eine Reihe Fragen zu stellen.
»Also dann. Heimliche Fähigkeit?«
Er dachte darüber nach. »Poker.«
»Lieblingsbeschäftigung an einem Samstagabend?«
»Pub, Billard, Kebab.«
»Lieblingsfilm?«
»Alles mit Untertiteln.« (Jamie sah sich gern als eine Art Weltkinoexperte. Das hatte er von seinem Bruder, nehme ich an, der ständig beiläufig Begriffe wie Taiwanesische Neue Welle oder Italienischer Neorealismus ins Gespräch einfließen ließ.)
»Kochst du?«
»Jepp.« (Noch eine Wahrheit. Seine Mum hatte ihn gut angelernt; er beherrschte es weitaus besser als ich.)
»Beste Art, einen Sonntag zu verbringen?«
Eine Sekunde verstrich. »An den Strand gehen, und dann … nach Hause kommen und Whisky trinken und dummes Zeug quatschen und knutschen und vergessen, wie spät es ist, weißt du?«
Davon schien sie so hingerissen, dass sie ihm eine Hand aufs Bein legte, was hieß, dass ich einschreiten müssen würde.
»Okay, letzte Frage. Das hier ist die wichtigste. Bist du bereit?«
»Ich bin bereit.«
»Katzen oder Hunde?«
»Hunde natürlich.«
Sie kreischte entzückt auf. Ich bemerkte, wie sich ihr Griff um sein Bein verstärkte.
Ich beugte mich hinunter, um Jamie sein aufgefülltes Glas zu reichen.
Sie sah zu mir hoch und blinzelte zweimal, als wollte sie sagen: Können wir dir helfen?
»Bitte sehr«, sagte ich.
»Hey, das hier ist Neve. Neve, das hier ist …« Er brach ab, dann zuckte er die Schultern.
»Claire«, sagte sie mit einem Blick, der Milch hätte gerinnen lassen können.
Sie tat mir ein bisschen leid, als sie sich entfernte. Sie hatte sich so ins Zeug gelegt, hatte ihre knappsten Shorts angezogen, und Jamie hatte nicht einmal ihren Namen registriert.
Kapitel 6
Jetzt
Nicht lange nachdem ich von der Kunstgalerie nach Hause komme, klingelt mein Telefon. Ich habe eben die heutige Post durchgesehen und eine Waschmaschine angesetzt, und jetzt räume ich Geschirr vom Abtropfbrett.
Ich bin unruhig, seit ich vorhin Ash begegnet bin. Nicht unbedingt auf eine negative Art – aber genug, um mir das Gefühl zu geben, dass Stillsitzen keine Option ist.
Ich werfe einen zögernden Blick auf das Display, bete, dass es nicht der Scheunenumbau-Typ ist, der versucht, seine Deadlines nach vorne zu verschieben. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, am Wochenende zu arbeiten, aber die letzten paar Tage waren hektisch, und ich hatte eigentlich vorgehabt, die nächsten achtundvierzig Stunden faul zu sein und allenfalls ein bisschen im Haus herumzuwerkeln.
Jamie hätte dieses Haus geliebt. Ich habe es zum Teil deshalb gekauft, weil es mich so sehr an das Haus erinnerte, das wir uns auf der Uni zwei Jahre lang teilten. Manchmal nehme ich einen Umweg über die Edinburgh Road, nur um es mir noch einmal anzusehen, zu spüren, wie mich die Erinnerungen durchströmen.
Es ist Parveen. Ich stelle sie auf laut.
»Wie war die Vernissage?«
»Jaja. Netter Versuch, Parv.«
Ich weiß, dass sie lächelt, noch bevor sie antwortet. »Oh, ich bitte dich. Einen so hinreißenden Mann darf man sich doch nicht entgehen lassen. Wenn ich ihn nicht haben kann, dann muss es jemand anders tun, und dieser Jemand solltest du sein.«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt, ich bin nicht auf der Suche.«
»Erinnere mich noch einmal, warum nicht?«
»Ich bin beschäftigt. Und ich habe keine Energie für Dates. Sie wollen alle nur Sex im Auto.«
»Das war ein einziges Mal, ein einziger Typ, Neve.«
»Egal – woher willst du überhaupt wissen, dass Ash Single ist? Er könnte verheiratet sein, drei Kinder haben und ein viertes unterwegs.«
»Ich habe eine seiner Kolleginnen gefragt, nach meinem Meeting heute Morgen. Hab ihr gesagt, ich wüsste eine, die sein Traum-Match wäre.«
»Bitte sag mir, dass das ein Witz ist.«
Wir wissen beide, dass es keiner ist.
»Jedenfalls, jetzt sag schon. Warum seid ihr zwei, du und Ash, in diesem Augenblick nicht in einem Pub und gebt euch die Kante? Ich brauche ein bisschen schlüpfrigen Klatsch in meinem Leben. Im Moment wische ich Hackfleischauflauf von einer Wand.«
Ich halte inne, sehe hinunter auf den Lappen in meiner Hand. »Manchmal glaube ich, du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich weiß ganz sicher, dass an deinen Wänden nicht ein Klacks Hackfleischauflauf klebt. Du hast keine Ausrede.«
»Die Vernissage hatte nicht die Art Vibe.«
»Es war kostenloser Wein an einem Freitagabend.«
Ich wische ein letztes Mal über mein Abtropfbrett.
»Bitte, Neve. Was hast du denn schon zu verlieren?«
»Meine geistige Gesundheit. Gute Nacht, Parv.«
***
Aber ein paar Minuten später, trotz allem, was ich gesagt habe und fühle, fische ich unwillkürlich seine Karte aus meiner Brieftasche.
Während ich sie zwischen den Fingern drehe, strömt der Duft von Tom Ford Noir zu mir zurück. Der Blickkontakt. Der Blitzschlag. Nachtschwärmer.
Vielleicht hat Parveen recht. Vielleicht habe ich nichts zu verlieren. Ash schien aufrichtig nett, und überhaupt – er hat irgendetwas an sich, was meine Neugier beflügelt.
Was der Grund ist, weshalb ich auf einmal etwas tue, was ich schon sehr lange nicht mehr getan habe.
Hi, Ash. Hier ist Neve von der Galerie/KLI
War nett, dich vorhin kennenzulernen
Hast du dieses Wochenende schon etwas vor? Hab mich gefragt, ob du vielleicht Lust auf einen Drink hast?
Ich halte den Atem an, während ich zusehe, wie die Häkchen blau werden und dann die Punkte zu tänzeln beginnen.
Hey. War auch nett, dich kennenzulernen.
Ein Drink klingt toll.
Mein Verstand beginnt prompt, vor Fragen und Emotionen zu rasen. Vor Angst und Faszination, aber auch einem Drang, ihn wiederzusehen, der, wie ich weiß, mit Jamie zu tun hat, meinem Freund vor fast einem Jahrzehnt. Ein Funke, der unverwechselbar Aufregung ist. Aufregung, die zu fühlen für mich keinen Sinn hat.
Kapitel 8
Am Mittwochmittag schaue ich bei Mum vorbei. Es ist zu Fuß nur eine Viertelstunde vom KLI-Büro entfernt, daher versuche ich ein paarmal die Woche, sie zu besuchen.
Selbst Leuten, die sich für Häuser im Allgemeinen nicht begeistern können, fällt es schwer, nicht beeindruckt von dem weitläufigen, vierstöckigen edwardianischen Reihenendhaus meiner Mutter zu sein. Es lässt sie wohlhabender erscheinen, als sie ist, und es könnte auch erklären, warum Immobilienentwickler sie immer wieder zum Essen einladen.