Allgemeine Pädagogik - Margit Stein - E-Book

Allgemeine Pädagogik E-Book

Margit Stein

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Beschreibung

Grundbegriffe, Forschungsfelder und wissenschaftliche Methodik der Allgemeinen Pädagogik werden in diesem Buch – nun in der 3. Auflage – verständlich dargestellt. Erziehung, Bildung und Lernen werden im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen definiert und die wichtigsten erziehungswissenschaftlichen Forschungsmethoden werden vorgestellt. utb basics – Lehrbücher mit einem klaren Konzept: - Merksätze, Definitionen und Boxen erleichtern das Lernen - 25 Tabellen und 14 Abbildungen machen Fakten deutlich - im Glossar werden wichtige Fachbegriffe erklärt - Prüfungsfragen fördern das Verständnis - ideal für die Prüfungsvorbereitung im Haupt- und Nebenfach Parallel zum Buch ist eine Lern-App mit Multiple-Choice-Fragen, Lückentexten, Single-Choice-Fragen und weiteren Aufgabentypen erhältlich – für die optimale Prüfungsvorbereitung!

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Seitenzahl: 262

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utb 3215

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Prof. Dr. phil. habil. Margit Stein, Dipl-Psych., Dipl.-Päd., ist Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Vechta sowie stellvertretende Direktorin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung ZfLB an der Universität Vechta.

Außerdem von der Autorin im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Stein: Wie können wir Kindern Werte vermitteln?

ISBN 978-3-497-02040-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3215

ISBN 978-3-825-24791-1 (Print)

ISBN 978-3-846-34791-1 (E-Book)

3., überarbeitete Auflage

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

UTB-Basic: Grundlayout und Einbandgestaltung: Atelier Reichert Stuttgart

Coverbild unter Verwendung eines Fotos von

Uwe Dreßler/www.aboutpixel.de

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

1      Einführung in die Pädagogik

1.1     Definition: Was ist Pädagogik?

1.2     Das Menschenbild der Pädagogischen Anthropologie

1.3     Wissenschaftstheorien der Pädagogik

1.4     Die vier Säulen der Pädagogik

2      Sozialisation

2.1     Definition: Was ist Sozialisation?

2.2     Die wichtigsten Sozialisationsinstanzen: Familie, Schule und Beruf

2.3     Der Anlage-Umwelt-Diskurs in der Wissenschaft

2.4     Theorien der Sozialisation

2.5     Sozialisation vor dem Hintergrund postmoderner Gesellschaft

3      Erziehung

3.1     Definition: Was ist Erziehung?

3.2     Geschichte der Kindheit und Erziehung

3.2.1     Repressive Erziehung und Gegenströmungen

3.2.2     Wandel der Erziehungsziele

3.3     Erziehung und ihr Zusammenhang mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

3.3.1     Erziehungsstil

3.3.2     Erziehungsmittel und Disziplinierungsarten

4      Bildung

4.1     Definition: Was ist Bildung?

4.2     Geschichte von Bildung und Schule

4.2.1     Wandel der Bildung von der Antike bis heute

4.2.2     Möglichkeiten und Grenzen einer Schule der Zukunft

4.3     Schule und ihre Auswirkungen auf Kompetenzerwerb und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

4.3.1     Schule als Bildungsinstitution: Vermittlung von Kompetenzen

4.3.2     Schule als Erziehungsinstitution: Vermittlung von sozialen Werten

4.3.3     Der „heimliche Lehrplan“ der Schule: Ein Überblick über die Schul- und Klassenklimaforschung

5      Lernen

5.1     Definition: Was ist Lernen?

5.2     Theorien des Lernens

5.2.1     Klassische Konditionierung

5.2.2     Instrumentelle Konditionierung

5.2.3     Soziales Lernen

5.2.4     Kognitivismus und Konstruktivismus

5.3     Lernstrategien und Lernplanung

5.4     Attribuierung, Motivation und Emotionen bei Lernprozessen

5.5     Didaktik und Curriculum

5.6     Leistungsfeststellung und Leistungsmessung

6      Kinder und Jugendliche als Adressaten von Erziehung und Bildung

6.1     Strukturell-gesellschaftliche Bedingungen der Kindheit und Jugend in Deutschland

6.2     Ein Überblick über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

6.2.1     Entwicklung der kognitiven Vorstellungswelt

6.2.2     Entwicklung von Bindung und Sozialverhalten

6.2.3     Entwicklung der Identität

6.2.4     Entwicklung von Moral und Wertorientierung

6.3     Die Vorstellungswelt von Kindern und Jugendlichen: Ein Überblick über Studien zu Einstellungen und Perspektiven junger Menschen in Deutschland

7      Pädagogik für alle Lebensalter: Von der Elementarpädagogik bis zur Geragogik

8      Wie kommt die Pädagogik zu ihren Erkenntnissen? Eine Einführung in die wichtigsten Forschungsmethoden

8.1     Gütekriterien pädagogischer wissenschaftlicher Forschung

8.2     Geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden

8.3     Quantitative empirische Forschungsmethoden

8.4     Qualitative empirische Forschungsmethoden

Literatur

Glossar

Personenregister

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Für die Inhalte dieses Buches gibt es zwei Formen der Lernzielkontrolle:

1. Am Ende jedes Kapitels gibt es Übungsaufgaben mit offenen Fragen. Musterlösungen zu diesen Fragen finden Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels: www.reinhardt-verlag.de,www.utb.de

2. Passend zum Buch wurden auch Lernfragen für die Prüfungsvorbereitung auf dem Smartphone und am Computer erstellt. Der folgende Link führt Sie dorthin:

http://www.utb.de/mehr-wissen/paed-app-code/

Vorwort

„Noch ein einführendes Buch über Pädagogik?“ werden vielleicht viele fragen. Und: „Braucht es denn eine weitere Abhandlung zum Bereich der Allgemeinen Pädagogik?“ Meine Meinung ist eindeutig ‚Ja‘, denn das Buch „Allgemeine Pädagogik“ stellt nicht nur die Pädagogik und Erziehungswissenschaft in ihren Grundaussagen, ihren aktuellen Entwicklungen sowie ihren Ursprüngen dar, sondern bietet auch einen Blick auf gegenwärtige Lebenslagen der Adressat/-innen der Pädagogik vor dem Hintergrund von Globalisierung und Mobilität.

Pädagogik richtet sich an alle Menschen, gleich welchen Alters. Auch wenn sich Pädagogik in zunehmendem Maße als Pädagogik für alle Lebensalter darstellt und vermehrt ältere Menschen in den Blick nimmt, stehen Kinder und Jugendliche dennoch im Mittelpunkt pädagogischer Forschung. Auch in der Praxis ist der Fokus von pädagogischer Arbeit meist auf Kinder und junge Menschen gerichtet. Deshalb werden die Rolle von Kindern und Jugendlichen sowie kindliche und jugendliche Lebenslagen in diesem Buch verstärkt dargestellt. Kinder und Jugendliche sind immer die Generation, die am stärksten von Veränderungen der Gesellschaft geprägt wird und diese als Zukunftsgeneration mitträgt.

Gesellschaftliche Veränderungen werden durch Prozesse der Erziehung, Bildung, des Lernens und der Sozialisation gestaltet. Pädagogik ist die Wissenschaft, die diese Prozesse nicht nur dokumentiert, interpretiert und erklärt, sondern die auch Erziehungs-, Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse aktiv mitträgt und verändert und allen in der pädagogischen Praxis stehenden Menschen, wie Eltern, Lehrkräften, Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Erzieherinnen und Erziehern, Handlungswissen zur Verfügung stellt. Dadurch kommt der Pädagogik eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung von Zukunft zu. Sie ist damit gleichsam eine handlungsleitende Zukunftswissenschaft.

Angesichts der postmodernen Gesellschaft mit ihrer Pluralität und Optionenvielfalt sind viele Personen, insbesondere im erzieherischen und schulischen Bereich, verunsichert: „Wie können wir an die junge Generation nachhaltiges und zukunftsfähiges Wissen vermitteln? Wie werden Kompetenzen aufgebaut? Wie schärfen wir das Wertebewusstsein, das erst soziales Zusammenleben ermöglicht?“ Die „Allgemeine Pädagogik“ greift diese Verunsicherung auf und fasst auch „heiße Eisen“ an. Im Rahmen dieses Buches werden sowohl aktuelle Schulleistungsstudien, wie die PISA-Studie, vorgestellt, als auch aktuelle Forschungen zur Vermittlung von Werten, Normen und Einstellungen diskutiert.

Das Vorhaben, Pädagogik im Angesicht der Globalisierung darzustellen, vernachlässigt dennoch nicht die klassischen Felder als Basis jeglicher Pädagogik. Natürlich ist es neben der Diskussion aktueller Entwicklungen Ziel des vorliegenden Buches, einen umfassenden und grundlegenden Einblick in die Begriffe und Forschungsfelder der wissenschaftlichen Pädagogik zu bieten.

Dieses Buch zeigt sowohl einen definitorischen als auch einen methodologischen und geschichtlichen Zugang zu den Themenfeldern der Allgemeinen Pädagogik in den Bereichen Sozialisation, Erziehung, Bildung und Lernen auf und erläutert, wie wissenschaftliche Pädagogik zu ihren Ergebnissen gelangt. Die wichtigsten quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden werden im Überblick vorgestellt.

Das Buch „Allgemeine Pädagogik“ richtet sich an Studierende der Bachelorstudiengänge, die einen elementaren Einblick in den Bereich allgemeiner Pädagogik gewinnen möchten. Das Buch ist dabei für Studierende der Lehramtsstudiengänge von gleichem Interesse wie für Bachelorstudierende aus den Bereichen der Pädagogik, Erziehungswissenschaft, der sozialen Arbeit und Psychologie.

Zuletzt möchte ich mich herzlich bei all jenen bedanken, die mich bei der Erstellung dieses Buches unterstützt haben.

Ich danke meiner Lektorin Eva Reiling und Dr. Nicole Jimenez.

Ganz besonders danke ich meinem Kollegen Prof. Dr. Martin Stummbaum, der das Buch vorab las und mich fachlich bei der Publikation unterstützte.

Ich danke zudem meinen MitarbeiterInnen und den LeserInnen für ihre Anregungen sowie den Studierenden an der Universität Vechta. Sie haben durch ihre engagierte Mitarbeit, durch ihre Hinweise und Fragen unzählige wichtige Beiträge zu einer kontinuierlichen Verbesserung dieser Neuauflage geleistet.

Vechta, 30.11.2016

Prof. Dr. Margit Stein

1   Einführung in die Pädagogik

Überblick

Im ersten einführenden Kapitel beschäftigen wir uns zunächst mit dem Begriff der Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft und seiner definitorischen Abgrenzung. Im Anschluss werden unterschiedliche pädagogische Disziplinen, Richtungen und praktische Handlungsfelder systematisch strukturiert dargestellt. Zur Diskussion steht weiterhin, welche Sichtweise des Menschen in der Pädagogik vorherrscht. Die Anthropologie als Lehre vom Menschenbild determiniert, wie der Mensch hinsichtlich seiner emotionalen, geistigen, körperlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gesehen wird. Von Interesse ist schließlich, welche Aufgaben die Pädagogik aus diesem Menschenbild für sich ableitet. Im Rahmen eines geschichtlichen Überblicks werden die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Positionen vorgestellt, welche der Pädagogik zugrunde liegen. Abschließend stehen die sogenannten „Vier Säulen der Pädagogik“ im Mittelpunkt der Ausführungen. Was bedeuten die Begriffe Sozialisation, Erziehung, Bildung und Lernen? Dieser Frage soll in den nachfolgenden Kapiteln nachgegangen werden.

1.1   Definition: Was ist Pädagogik?

1.2   Das Menschenbild der Pädagogischen Anthropologie

1.3   Wissenschaftstheorien der Pädagogik

1.4   Die vier Säulen der Pädagogik

1.1   Definition: Was ist Pädagogik?

Begriff Pädagogik

Der Begriff „Pädagogik“ fußt auf dem altgriechischen Begriff der paideia, was mit „Erziehung“ oder „Bildung“ übersetzt werden kann. Der Begriff geht dabei über den eigentlichen Schulunterricht hinaus und bezeichnet jede Höherentwicklung des Menschen durch Bildungs- und Erziehungsprozesse. „Paidagogia“ setzt sich wiederum aus den beiden altgriechischen Wortstämmen pais für „Kind“ und agein für „führen“ zusammen. Dies versinnbildlichte in der Antike wörtlich die Führung der Kinder vom Elternhaus in die Übungs- und Bildungsstätte.

Begriff Erziehungswissenschaft

Neben dem sehr alten Begriff der Pädagogik wurde der Begriff der Erziehungswissenschaft im deutschen Sprachgebrauch erstmals Ende des 18. Jahrhunderts genutzt. Während die Pädagogik eine lange Geschichte hat, ist die Erziehungswissenschaft, also die sozialwissenschaftliche Betrachtung pädagogischer Prozesse, eine vergleichsweise junge Disziplin. Der Begriff der Erziehungswissenschaft hat sich (insbesondere seit den 1960er Jahren) verstärkt eingebürgert, um den Wissenschaftscharakter der Pädagogik zu betonen. Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft ist gleichzeitig theoretisch fundierte Reflexions- oder Erfahrungswissenschaft als auch Handlungswissenschaft, die an der Verbesserung pädagogischer Vorgänge von Erziehung, Bildung, Lernen und Sozialisation mitarbeitet und Handlungswissen für die Praxis zur Verfügung stellt. Heute ist es zumeist üblich, die Begriffe der Pädagogik und der Erziehungswissenschaft synonym zu gebrauchen (Krüger 2005).

Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft hat die moralische Verpflichtung und Aufgabe den Einzelnen in Erziehung, Bildung und Sozialisation auf vielfältige individuelle und gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten und zu verantwortlichem, selbsttätigem Verhalten zu ermächtigen. Zu den Herausforderungen zählen etwa die Entwicklung einer eigenständigen Identität, von Kreativität und Mündigkeit, die Globalisierung, das Zusammenleben unterschiedlichster ethnischer und kulturell-religiöser Gruppen, die Umweltverschmutzung und der Klimawandel sowie weltweite Kriege und Flüchtlingsbewegungen. Klafki hat diese Herausforderungen als Schlüsselprobleme der Menschheit bezeichnet (→ Kap. 5.5). Diese realistische oder empirische Wende der Pädagogik wird aber auch von wissenschaftlicher Seite kritisch begleitet. Das Nachdenken und die Reflexion über Theorien der Erziehung, Bildung, Sozialisation und des Lernens und das Reflektieren konkreter erzieherischer Wirklichkeit sowie von erzieherischen Idealen und Zielen dürfen nicht zugunsten der bloßen unreflektierten Anwendung pädagogischer Techniken und Methoden aufgegeben werden (Winkler 2006). Pädagoginnen und Pädagogen sind mehr als bloße Lernbegleiter, Erziehungscoaches, Bildungsermöglicher, Sozial- oder Fallmanager.

Definition

Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft ist die Wissenschaft, die Prozesse der Erziehung, Bildung, des Lernens und der Sozialisation wissenschaftlich beobachtet, interpretiert, erklärt, die Auswirkungen dieser Prozesse vorhersagt und somit allen hieran beteiligten Personen der pädagogischen Praxis Handlungswissen zur Verfügung stellt.

Beispiel

Pädagogik befasst sich u. a. mit folgenden Fragen:

Welche Erziehungsziele sind Eltern heutzutage wichtig (Beobachtung)?

Worauf ist die starke Betonung von Autonomie und Selbstständigkeit als Erziehungsziele der Eltern für ihre Kinder zurückzuführen (Interpretation)?

Wie kommt es zu aggressiven Verhaltensweisen in Schulklassen (Erklären)?

Welche kindlichen Eigenschaften werden durch einen bestimmten Erziehungsstil hervorgerufen (Vorhersage)?

Wie kann die schulische Praxis verbessert werden (Bereitstellung von Handlungswissen)?

 

Abb. 1    Auswahl der Subdisziplinen, Fachrichtungen, Praxisfelder, Bezugswissenschaften und verwandten Felder der Pädagogik

Merksatz

Die Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft reflektiert als Erfahrungswissenschaft Prozesse der Erziehung, Bildung, des Lernens und der Sozialisation und leitet als Handlungswissenschaft diese Prozesse an.

Insgesamt gliedert sich die Pädagogik in einzelne Subdisziplinen, die wiederum bestimmte Fachrichtungen unter sich organisieren und auf einzelnen Praxisfeldern aufbauen. In Abbildung 1 wird eine Auswahl vorgestellt (für die vollständige Abbildung siehe Lenzen 1989, 114f und Krüger 1997, 309→ Kap. 7).

1.2   Das Menschenbild der Pädagogischen Anthropologie

Menschenbilder

Warum ist eine Beschäftigung mit dem Menschenbild in der Pädagogik notwendig? Der wissenschaftlichen Theorie der Pädagogik und vor allem der Erziehungswirklichkeit und der pädagogischen Praxis liegen bestimmte, oftmals nicht explizit reflektierte und somit unbewusst wirkende Menschenbilder zugrunde, denn nur so lassen sich pädagogische Prozesse beobachten, interpretieren, erklären und vorhersagen. In der Geschichte der Pädagogik finden sich immer wieder unterschiedliche Sichtweisen über den Menschen. Auch heute besteht kein einheitliches Menschenbild; selbst zwischen einzelnen pädagogischen Fachkräften können Unterschiede bestehen, wie das folgende Beispiel veranschaulicht.

Beispiel

So wird etwa eine Lehrkraft, welche die Auffassung vertritt, dass „die Schüler, wenn man sie nicht systematisch kontrolliert, alle überhaupt nichts täten und nie Hausaufgaben machen würden“, einen ganz anderen Unterricht anbieten als eine zweite Lehrkraft, die davon ausgeht, dass „Kinder von Natur aus interessiert seien“. Beide Lehrkräfte wiederum halten sicherlich einen anderen Unterricht als eine dritte Lehrkraft, die meint, dass „Schüler fleißig oder faul seien, je nachdem, ob es der Unterricht schafft, ihr Interesse zu wecken.“

Die erste Lehrkraft würde wohl eher die Annahme von Thomas Hobbes unterstützen, dass das Kind von Natur aus böse sei und durch Erziehung erst für die Gesellschaft gefügig gemacht werden müsse („homo homini lupus“, vgl. Hobbes 1994). Die zweite Lehrkraft vertritt womöglich die Annahme von Jean-Jacques Rousseau, dass das Kind von Natur aus gut und oftmals nur durch falsche Erziehung in seiner natürlichen Neugier beeinträchtigt sei („Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“, vgl. Rousseau 1971). Die Überzeugung der dritten Lehrkraft würde vielleicht zu der Annahme von John Locke passen, dass das Kind von Natur aus noch ein „unbeschriebenes Blatt“ sei („tabula rasa“, vgl. Locke 2013), das sich je nach Umwelteinfluss unterschiedlich entwickelt.

 

Tab. 1   Dreidimensionalität unterschiedlicher Menschenbilder (vgl. Schilling 2000)

Anthropologien unterschiedlicher Disziplinen

Prinzipielle Dreidimensionalität des Menschen

griechisch-christliche Anthropologie

Leib – Seele – Geist

philosophische Anthropologie

Leben – Position – Handlung

psychologische Anthropologie

Denken – Fühlen – Wollen

sozio-kulturelle Anthropologie

Handlung – Sozietät – Kultur

pädagogische Anthropologie

Kopf – Herz – Hand / kognitiv – affektiv – motorisch

Anthropologie oder Lehre vom Menschen

Mit den Fragen, wie der Mensch zu sehen sei, welche Dimensionen er hat und welche Bedürfnisse, befasst sich die Anthropologie oder Lehre vom Menschen. Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen Wort ánthropos für „Mensch“ und lógos für „Wissenschaft“ ab. Die meisten Menschenbilder gehen von einer Dreigliedrigkeit aus (Hamann 2005, Schilling 2000; Tab. 1)

Dimensionen und Bedürfnisse des Menschen

Das Menschenbild der Pädagogik fußt auf Menschenbildern der Bezugswissenschaften wie der Psychologie oder der Philosophie, und leitet daraus spezifisch pädagogische Handlungsleitlinien ab. Aus den einzelnen Dimensionen, dasheißt Bereichen, welche den Menschen ausmachen, werden die Bedürfnisse des Menschen erschlossen. Aus jenen Bedürfnissen wiederum definiert die Pädagogik in ihrem Wirken für den Menschen ihre Aufgaben (Schilling 2000; Abb. 2).

Merksatz

Die pädagogische Anthropologie (= Lehre vom Menschen) befasst sich mit den Dimensionen oder Bereichen, welche den Menschen ausmachen, den abgeleiteten Bedürfnissen des Menschen und den sich daraus für die Pädagogik ergebenden Aufgaben.

 

Abb. 2    Dimensionen (fett) und Bedürfnisse (kursiv) des Menschen und daraus abgeleitete pädagogische Aufgaben (unterstrichen) (nach Schilling 2000)

1.3   Wissenschaftstheorien der Pädagogik

Wissenschaftstheoretische Schulen

Der Pädagogik liegen unterschiedliche wissenschaftstheoretische Schulen zugrunde. Die Wissenschaftstheorie befasst sich mit der Frage, wie Pädagogik als Wissenschaft gesehen werden kann, welche Ziele Pädagogik als Wissenschaft verfolgt und welcher Methoden sie sich dabei bedient. Als die drei wichtigsten wissenschaftstheoretischen Schulen gelten die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die empirische Erziehungswissenschaft und die kritische Erziehungswissenschaft (Für weitere Theorien siehe z. B. Faulstich-Wieland und Faulstich (2006)). Während sich die unterschiedlichen Schulen früher sehr unversöhnlich gegenüberstanden und in Abgrenzung zu früheren Theorien formuliert wurden, versucht man heute eine Synthese der Wissenschaftstheorien und integriert unterschiedliche Methoden und Zugänge miteinander. Die Methoden des pädagogischen Erkenntnisgewinns werden in → Kap. 8 umfassender vorgestellt.

Merksatz

Die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Schulen der Pädagogik sind die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die empirische Erziehungswissenschaft und die kritische Erziehungswissenschaft, die heute nicht mehr als Gegensätze, sondern als unterschiedliche Zugänge zur Pädagogik angesehen werden.

1.4   Die vier Säulen der Pädagogik

Vier Säulen der Pädagogik

Die Pädagogik reflektiert und leitet Prozesse der Sozialisation (→ Kap. 2), Erziehung (→ Kap. 3), Bildung (→ Kap. 4) und des Lernens (→ Kap. 5) an, die auch als die vier Säulen der Pädagogik bezeichnet werden. Alle vier Bereiche konstituieren die Entwicklung des Menschen (Brezinka 1990).

Merksatz

Sozialisation, Erziehung, Bildung und Lernen werden als die vier Säulen der Pädagogik bezeichnet, welche die Entwicklung des Menschen ausmachen.

 

Tab. 2   Die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Schulen der Pädagogik

 

Geisteswissenschaftliche Pädagogik

Empirische Erziehungswissenschaft

Kritische Erziehungswissenschaft

Begründer der zugrunde liegenden Philosophie

Dilthey

Popper

Adorno, Habermas

Vertreter in der Pädagogik

Nohl, Natorp, Litt, Spranger, Flitner

Roth, Brezinka Roth: „realistische Wende“ 1962

Mollenhauer, Heydorn Mollenhauer: „kritische Wende“

Beginn

Seit etwa 1900

Seit etwa 1960

Seit etwa 1970

Wissenschaftsverständnis von Pädagogik

Pädagogik als Geisteswissenschaft in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften und zur Theologie

Pädagogik als Naturwissenschaft in Abgrenzung zur Geisteswissenschaft

Pädagogik als Gesellschaftswissenschaft in Abgrenzung zur reinen Natur- und reinen Geisteswissenschaft

Wissenschaftsposition

Phänomenologie, Hermeneutik

Positivismus, Empirie

Kritische Theorie, Frankfurter Schule

Sichtweise auf Erziehung und Bildung

Erziehung und Bildung als geschichtliche, kulturelle, individuelle Phänomene

Erziehungs- und Bildungstechnologie Erziehung und Bildung als objektive Phänomene

Erziehung und Bildung als Subjektwerdung und Förderung von Autonomie und Mündigkeit

Erkenntnisprinzip

„Verstehen“: Reflexion der Lebensäußerungen des Subjekts im Rahmen seines gesellschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Milieus

„Erklären“: Beschreiben, erklären, vorhersagen und verändern von objektiv gegebener Erziehungswirklichkeit

Kritische Reflexion der Erziehungswirklichkeit; Kritik an Geisteswissenschaft und Empirie, die beide für Totalisierungstendenzen anfällig seien und sich entweder in die „pädagogische Provinz“ (Mollenhauer) zurückgezogen hätten oder auf die reine Naturwissenschaft

Methoden

Hermeneutische, verstehende Methoden Qualitative, interpretierende Methoden (bspw. Narratives Interview, Interpretation von biographischen Texten)

Objektive, analytische, quantitative Methoden anhand der wissenschaftlichen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität, Validität (bspw. Fragebögen, Experimente, Beobachtung)

Eher qualitative Methoden (bspw. teilnehmende Beobachtung; Tiefeninterviews)

 

Abb. 3   Beziehung der Grundbegriffe der Pädagogik zueinander

Zusammenfassung

Im ersten einführenden Kapitel wird Pädagogik (= Erziehungswissenschaft) definiert als Erfahrungswissenschaft, welche Prozesse der Erziehung, der Bildung, des Lernens und der Sozialisation untersucht, interpretiert, erklärt und vorhersagt. Als Handlungswissenschaft bietet die Pädagogik den Praktikerinnen und Praktikern, wie etwa Eltern und Lehrkräften, Hilfestellung an bei Erziehungs-, Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozessen, welche die Entwicklung des Einzelnen beeinflussen. Die Pädagogik gliedert sich in einzelne Subdisziplinen (Sozialpädagogik, Schulpädagogik etc.), die wiederum bestimmte Fachrichtungen (Freizeitpädagogik, Medienpädagogik etc.) unter sich organisieren und auf einzelnen Praxisfeldern aufbauen (Friedenserziehung, Sexualerziehung etc.). Jedem pädagogischen Handeln liegen bestimmte Menschenbilder zugrunde, die definieren, welche Handlungsaspekte sowie emotionale, geistige, körperliche, soziale und kulturelle Anteile den Menschen ausmachen, welche Bedürfnisse er hat und wie sich, darauf aufbauend, die Aufgaben der Pädagogik benennen lassen. Die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Schulen der Pädagogik sind die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die empirische Erziehungswissenschaft und die kritische Erziehungswissenschaft, die heute nicht mehr als Gegensätze, sondern als unterschiedliche Zugänge zur Pädagogik angesehen werden. Sozialisation, Erziehung, Bildung und Lernen werden als die vier Säulen der Pädagogik bezeichnet, welche die Entwicklung des Menschen ausmachen.

Weiterführende Literatur

Bellmann, J. (2016): Allgemeine Pädagogik. Eine Einführung. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Faulstich-Wieland, H., Faulstich, P. (Hrsg.) (2008): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Rowohlt, Reinbek

Faulstich-Wieland, H., Faulstich, P. (2006): BA-Studium Erziehungswissenschaft. Ein Lehrbuch. Rowohlt, Reinbek

Hurrelmann, K. (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie. 2. Aufl. Beltz, Weinheim

Giesecke, H. (2004): Einführung in die Pädagogik. Juventa, Weinheim / München

Gudjons, H. (2012): Pädagogisches Grundwissen. Überblick – Kompendium – Studienbuch. UTB Taschenbuch. 11. Aufl. Klinkhardt, Bad Heilbrunn.

Hörner, W., Drinck, B., Jobst, S. (2010): Bildung, Erziehung, Sozialisation. 2. Aufl. UTB Taschenbuch. Barbara Budrich, Opladen

Kaiser, A., Kaiser, R. (2001): Studienbuch Pädagogik. Grund- und Prüfungswissen. Cornelsen Scriptor, Berlin

Seel, N. M., Hanke, U. (2015): Erziehungswissenschaft. Lehrbuch für Bachelor-, Master- und Lehramtsstudierende. Springer, Berlin, Heidelberg

Übungsaufgaben

1 Schildern Sie die Aufgaben einer wissenschaftlichen Pädagogik als Reflexionswissenschaft und als Handlungswissenschaft!

2 Erläutern Sie, warum es wichtig ist, sich damit zu befassen, welches Menschenbild einem pädagogischen Handeln zugrunde liegt!

3 Diskutieren Sie den folgenden Dialog an einem Gymnasium anhand eines Rückgriffs auf die Menschenbilder der Pädagogik: Hintergrund: Heike ist in der 7. Klasse sitzen geblieben. Als sie nun in der 9. Klasse erneut sitzen bleibt, fälscht sie die Unterschrift des Vaters und verheimlicht dieses den Eltern. Das ist nun „aufgeflogen“. Eine Lehrerin sagt: „Heike tut mir unheimlich leid. Der Druck, der sich bei ihr durch die erfolgreichen Eltern und den Bruder aufgebaut hat, ist kaum zu ermessen. Wir hätten hier schon viel eher intervenieren müssen und sollten das Gespräch mit allen Beteiligten suchen.“ Ein zweiter Lehrer sagt: „Heike hat eine kriminelle Energie, unglaublich! Dass sie wirklich die Unterschrift fälscht und dann die Eltern über zwei Monate im Unklaren lässt, ist bezeichnend. Ob wir sie an der Schule halten sollten, ist meiner Meinung nach fraglich!“

4 Erarbeiten Sie die für Kinder spezifischen Bedürfnisse und die darauf abgestimmten Aufgaben einer kindgerechten Schule!

5 Schildern Sie davon ausgehend, welche Dimensionen und Bedürfnisse den Menschen konstituieren und wie die Pädagogik auf diese Dimensionen und Bedürfnisse adäquat reagieren muss. Erläutern Sie Bedürfnisse und Aufgaben der Pädagogik exemplarisch für den Bereich des Jugendalters und des höheren Erwachsenenalters!

6 Schildern Sie die drei hauptsächlichen Wissenschaftstheorien, die einer wissenschaftlichen Pädagogik zugrunde liegen und erläutern Sie, wie diese zusammenwirken müssten, damit Pädagogik in einem ganzheitlichen Verständnis als Wissenschaft gefasst wird!

7 Benennen Sie die vier Säulen der Pädagogik und wie diese aufeinander aufbauen!

Die Antworten finden Sie unter www.reinhardt-verlag.de.

2   Sozialisation

Überblick

InKapitel 2rückt die Sozialisation als Überbegriff von Erziehung, Bildung und Lernprozessen ins Zentrum der Diskussion. Familie gilt als primäre, Schule als sekundäre, sowie Arbeitswelt und Universität als tertiäre Sozialisationsinstanz. Diese drei Hauptsozialisationsinstanzen üben Einfluss auf das Individuum aus. Es wird erläutert, wie sich dieser Einfluss gestaltet. Hinzu kommen Theorien der Sozialisation, welche deren Wirkmechanismen aufzeigen, etwa der Strukturfunktionalismus, der Symbolische Interaktionismus und die ökologische Systemtheorie, die in ihren Grundzügen umrissen werden. Abschließend beschäftigen uns aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die mit Schlagworten wie Risikogesellschaft, postmoderne Gesellschaft, Globalisierungsprozesse und soziale Polarisierungstendenzen beschrieben werden. Ihnen wird ein enormer Einfluss auf die Sozialisation eines jeden Menschen zugeschrieben – im schlimmsten Fall sogar eine Gefährdung der individuellen Identitätsbildung sowie der gesellschaftlich geteilten, gemeinsamen Handlungspraxis.

2.1   Definition: Was ist Sozialisation?

2.2   Die wichtigsten Sozialisationsinstanzen: Familie, Schule und Beruf

2.3   Der Anlage-Umwelt-Diskurs in der Wissenschaft

2.4   Theorien der Sozialisation

2.5   Sozialisation vor dem Hintergrund postmoderner Gesellschaft

2.1   Definition: Was ist Sozialisation?

Begriff Sozialisation

Der Begriff Sozialisation leitet sich etymologisch vom lateinischen Begriff sociare, das heißt „verbinden“, ab. Bildlich gesprochen stiftet die Sozialisation das verbindende Band zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft.

Persönlichkeitswerdung des Menschen

Die Sozialisation umfasst alle Prozesse der Persönlichkeitswerdung des Menschen in Auseinandersetzung mit der materialen, sozialen und institutionellen Umwelt. Ziel der Sozialisation ist die vollständig entwickelte Persönlichkeit (= Identität) des Einzelnen, wobei Sozialisation ein lebenslanger Prozess ist. Wie der Begriff der „Auseinandersetzung“ nahe legt, geschieht die Entwicklung der Persönlichkeit nicht durch eine direkte Übernahme von z. B. gesellschaftlichen Normen, Rollen und Kulturanschauungen. Vielmehr findet eine Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner Umweltstatt, ein sog. „bidirektionaler Prozess“. Zumeinen verarbeitet jeder Mensch die Erfahrungen in seiner Umwelt auf produktive, individuelle Weise. Zum anderen werden gesellschaftliche Normen, Rollen und Kulturanschauungen nicht kritiklos übernommen. Jedes Individuum wirkt auf seine Umwelt zurück und übt dadurch Einfluss auf seine Umgebung aus. Am Ende steht folglich nicht die übernommene Identität, sondern die selbsterarbeitete Persönlichkeit (→ Kap. 6.2.3).

Merksatz

Sozialisation ist ein lebenslanger, bidirektionaler Prozess, der die Persönlichkeitswerdung des Menschen in produktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und die Rückwirkungen des Menschen auf seine Umwelt beinhaltet. Das Ziel ist die vollständig entwickelte Identität des Einzelnen und die Entwicklung einer gemeinsamen Handlungspraxis.

Entwicklung einer gemeinsamen Handlungspraxis

Neben der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt umfasst Sozialisation auch die Entwicklung einer gemeinsamen Handlungspraxis in einer Gesellschaft, also das Herausbilden von Werten, Normen, Kommunikationsstrukturen und Rollenmustern (Hurrelmann / Ulich 1999).

Beispiel

Als Beispiel für einen Prozess der Sozialisation kann die Herausbildung einer eigenständigen Wertorientierung sowie die Entwicklung einer gesellschaftlich geteilten Werte- und Normenbasis genannt werden. Die Werteentwicklung ist niemals abgeschlossen. Werte werden von jüngeren Menschen nicht passiv von der älteren Generation übernommen, sondern Kinder und Jugendliche wirken ebenfalls auf die Einstellung ihrer Eltern und die gesamte Gesellschaft zurück (Begriff „Wertewandel“).

2.2   Die wichtigsten Sozialisationsinstanzen: Familie, Schule und Beruf

Soziale Gruppen

Persönlichkeit und Handlungspraxis bilden sich in Auseinandersetzung mit der materialen, geistigen und sozialen Umwelt des Einzelnen heraus. Insbesondere sozialen Gruppen und Institutionen kommt im Sozialisationsprozess herausgehobene Bedeutung zu, da diese in Interaktion und Kommunikation mit dem Einzelnen gesellschaftliche Wirklichkeit vermitteln und in die Diskussion über gesellschaftliche Normen, Erwartungen und Rollen eintreten.

Beispiel

Beispielsweise erlebt das Kind das abstrakte gesellschaftliche Prinzip der Gleichheit aller Menschen darüber, dass alle Geschwister in einer Familie und alle Schülerinnen und Schüler in einer Klasse von den Eltern beziehungsweise Lehrkräften möglichst gleichberechtigt behandelt werden sollten ohne Bevorzugung einzelner.

Sozialisationsinstanzen

Im Allgemeinen werden, gemäß dem Lebensalter des Individuums und deren Bedeutung im Lebenslauf, Instanzen der primären, sekundären und tertiären Sozialisation unterschieden. Daneben wird den Medien oft die Rolle einer „heimlichen Sozialisationsinstanz“ zugeschrieben (Hurrelmann / Bründel 2003). Heimliche Sozialisationsinstanzen treten nicht in einen direkten persönlichen Kontakt mit der Person, wie z. B. die Sozialisationsinstanzen Familienmitglieder oder Arbeitskollegen, sondern spiegeln auf indirektem Wege gesellschaftliche Werte oder mögliche Handlungsweisen in bestimmten Situationen wider. Hierbei wirken Medien stark normierend. Über Medien werden insbesondere Strömungen des sogenannten Zeitgeistes transportiert.

Merksatz

Im Sozialisationsprozess treten soziale Gruppen und Institutionen mit dem Individuum in Wechselwirkung, die als Sozialisationsinstanzen bezeichnet werden. Familie und Peergroup gelten als primäre, Schule als sekun däre sowie Arbeitswelt und Universität als tertiäre Sozialisationsinstanz.

2.3   Der Anlage-Umwelt-Diskurs in der Wissenschaft

Anlage-Umwelt-Debatte

Eine der wichtigsten Fragestellungen der Sozialisation bezieht sich auf die Frage, ob die individuelle und eigenständige Persönlichkeit jedes Menschen primär durch seine genetischen Anlagen determiniert ist, oder ob der Einzelne hinsichtlich seiner Persönlichkeit in erster Linie durch die Umwelt geprägt ist. Diese Fragestellung wird auch als Anlage-Umwelt-Debatte bezeichnet.

 

Tab. 3   Die Instanzen der Sozialisation

Instanz der Sozialisation

Instanz der primären Sozialisation: Familie

Instanz der sekundären Sozialisation: Schule

Instanz der tertiären Sozialisation: Arbeitswelt und Universität

 

Prozess der Soziabilisierung

Prozess der Enkulturation

Prozess der Individuation

Aufgabe im Sozialisationsprozess

Einführung in die basalen Grundfertigkeiten einer Gesellschaft (Sprache etc.) (Ur)vertrauensentwicklung etwa in Abhängigkeit der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung

Erlernen grundlegender Werte

Erlernen grundlegender Kulturtechniken (Schrift, Mathematik etc.)

Erlernen von Normen, Regeln, Konventionen sowohl durch die Institution Schule selbst (Klassensprecherwahl etc.) als auch durch den inoffiziellen Umgang mit einer Gruppe Gleichaltriger/„Peers“.

Lebenslanger Prozess der Menschwerdung, das heißt Herausbildung einer eigenständigen, individuellen Überzeugung politischer, gesellschaftlicher Art

Anlage-Annahme

Theorien, welche davon ausgehen, dass der Mensch in erster Linie Entwicklung über die Entfaltung seiner Veranlagungen oder seiner genetischen Grundausstattung erfährt, basieren auf der Anlage-Annahme.

Theorien, welche davon ausgehen, dass das Verhalten in erster Linie durch die Umwelt determiniert wird, basieren auf der Umwelt-Annahme. Der Umwelteinfluss bezieht sich nicht nur auf die aktuellen Reize und Einflussgrößen, die in der gegenwärtigen Situation wirken, sondern auch auf die Einflussgrößen, die im Laufe der Erziehungs- und Lerngeschichte den Einzelnen prägen und geprägt haben.

Extrempunkte in der Theoriebildung hinsichtlich der Anlage-Umwelt-Debatte stellen die Verhaltensbiologie (Anlage-Annahme) und der Behaviorismus (Umwelt-Annahme) dar.

Die Verhaltensbiologie geht davon aus, dass die Entwicklung der Persönlichkeit auch als Reifungsprozess dargestellt werden kann. Dies bedeutet, dass wie sich der Mensch entwickelt, völlig durch seine Erbanlagen determiniert ist, auf welche die Umwelt wenig Einfluss hat. Die Reifung soll sich dabei in erster Linie in sogenannten kritischen oder sensiblen Phasen vollziehen. Hierunter wird ein Zeitfenster gefasst, in welchem sich bestimmte Erbanlagen optimal entfalten können. Die Verhaltensbiologie stützt sich in ihrer Argumentation häufig auf Tierbeobachtungen oder ethnologische Beobachtungen. Ähnlich geartetes tierisches wie menschliches Verhalten, etwa bei Imponieroder Drohgebärden, wurde als Beleg für die Dominanz der genetischen Struktur gewertet. Auch ethnologische Studien belegen, dass bestimmte Entwicklungsschritte über alle Völker hinweg nach relativ einheitlichem Muster ablaufen (vgl. etwa Eibl-Eibesfeldt 1991).

Beispiel

In seinen Tierstudien sowie ethnologischen Studien führt Eibl-Eibesfeldt die Drohgebärden des Menschenaffen an sowie die über alle Kulturen hinweg vorherrschende Sitte der männlichen Mitglieder, die Imposanz ihres Erscheinungsbildes über die Betonung der Schultern zu erhöhen: „Der Haarstrich des heutigen Menschen verläuft so, dass wir beim Haaresträuben vor allem den Schulterumriss vergrößern würden, hätten wir noch einen Pelz. […] Auch nach dem Abbau des Haarkleides blieb beim Menschenmann die Neigung erhalten, seine Schultern zu betonen. In den verschiedensten Kulturen neigt der Menschenmann dazu, seine Schultern modisch zu betonen.“ (Eibl-Eibesfeldt 1991, 28f).

Umwelt-Annahme

Den anderen Extrempunkt in der Theoriebildung hinsichtlich der Anlage-Umwelt-Debatte stellt der Behaviorismus in seiner extremsten Ausprägung dar: Der Mensch ist nach dieser Schule auf die Umwelt und ihre verhaltensformenden Reize bezogen (→ Kap. 5.2.1 und 5.2.2). Unabhängig von der Genstruktur wirkt nur die Umwelt sowohl determinierend hinsichtlich der Ausprägung der Persönlichkeit, als auch hinsichtlich des Verhaltens, das in einer bestimmten Situation gezeigt wird. Persönlichkeit wird im klassischen Behaviorismus somit nur als gelernte Verbindung zwischen Reizen und Reaktionen definiert, also als Grundmuster an gelernten Verhaltensweisen, die in bestimmten Situationen auf Auslösereize hin gezeigt werden. Auch im Behaviorismus werden die Lerngesetze, die in Tierexperimenten gewonnen wurden, auf den Menschen übertragen.

Der Mensch zeigt das Verhalten, das durch Auslösereize hervorgerufen wird und das belohnt wird, und unterlässt ein Verhalten, das nicht belohnt oder sogar bestraft wird.

Beispiel

Paradigmatisch für diese Schule steht die Aussage Watsons, der von der völligen Determiniertheit des Menschen von der erlebten Erziehungs- und Erfahrungsumwelt ausgeht und verkündete, dass er ein Dutzend Kinder so aufziehen könne, dass er garantiere, dass er jedes zu dem machen könne, was er wolle, sei es Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, Unternehmer oder auch Bettler und Dieb (Watson 1928).

Es würde zu kurz greifen, wenn man hier eine Bipolarität zwischen den Theorien, welche die Dominanz der Anlagen propagieren, und den Theorien, welche eine vermeintliche Dominanz der Umwelt betonen, eröffnen wollte. Moderne Ansätze der Sozialisationsforschung betonen sowohl den Einfluss, den die genetische Grundausstattung auf den Einzelnen nimmt, als auch den Einfluss der Umwelt.

Studiendesigns:

Klassische Forschungsdesigns, welche den Einfluss von Genen versus Umwelt gegeneinander abwägen, sind Zwillingsstudien oder aber die Berechnung sogenannter Vererbungskoeffizienten. Bei den Zwillingsstudien wird die Übereinstimmung in der Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsdimensionen, wie etwa der Intelligenz bei eineiigen Zwillingen, die auch in derselben Umgebung aufwachsen, mit der Übereinstimmung der Ausprägung bei Zwillingspaaren verglichen, welche in getrennten Umgebungen aufwachsen. Da man bei eineiigen Zwillingen von einer gleichen Genausstattung ausgehen kann, kann man somit den Einfluss der Umwelt separieren und feststellen.

Bei der Berechnung von Vererbungskoeffizienten werden Korrelationen, das heisst Zusammenhänge, zwischen den Ausprägungen bestimmter Persönlichkeitseigenschaften, etwa der Intelligenz, zwischen Personen berechnet, die sich entweder durch unterschiedliche Arten von gemeinsamen Genausstattungen oder Unterschiede in der Gemeinsamkeit der Umwelt miteinander in Zusammenhang bringen lassen. Beispielsweise werden die Korrelationen zwischen der Intelligenz von Kindern und ihren leiblich-biologischen Eltern und ihren Pflegeeltern oder sozialen Eltern berechnet. Durch die so erfolgte Schätzung über das Ausmaß des Gen- oder Umwelteinflusses können Vererbungskoeffizienten bestimmt werden. Für den Vererbungskoeffizient wird ein Wert von Eins angesetzt, wenn ein Merkmal ausschließlich durch die Genausstattung bestimmt zu sein scheint (z. B. Augenfarbe, Blutgruppe, biologisches Geschlecht), während ein Wert von Null für eine vermeintlich ausschließliche Determination über die Umwelt festgesetzt wird (z. B. mit welcher Sprache ein Kind großgezogen wird) (Gerring / Zimbardo 2012).

Interaktion Anlage-Umwelt

Unter anderem zeigte sich in den Zwillingsstudien, dass beide Einflussgrößen, nämlich die Anlagen und die Umwelt, gewichtigen Anteil an der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen nehmen. Beide Einflussfaktoren interagieren miteinander.

Zum Einen reagiert die Umwelt auf Personen unterschiedlicher genetischer Ausstattung in unterschiedlicher Weise. Beispielsweise wählen Eltern in Abhängigkeit der genetischen Ausstattung ihres Kindes, etwa gemäß seiner Temperamentsfaktoren, seiner Intelligenz oder ähnlichem unterschiedliche Erziehungsstile. Grusec, Goodnow und Kuczynski (2000) etwa thematisieren, dass Erziehungsstile und -methoden der Eltern in Abhängigkeit von Eigenschaften des Kindes differentiell gewählt werden. Ängstliche Kinder werden eher ermuntert, risikoreicheres Verhalten zu zeigen, als sehr temperamentvolle Kinder. Elterliches Erziehungsverhalten ist umso Erfolg versprechender, je besser es den Eltern gelingt, flexibel auf das Kind in seinen Anlagen, Stimmungen, Temperamenten und seinem Verständnis einzugehen und entsprechende angemessene Aktionen und Erziehungsmethoden auszuwählen (Stein 2008c).