Alma - Dagmar Fohl - E-Book

Alma E-Book

Dagmar Fohl

4,9

Beschreibung

Der Hamburger Musikalienhändler und Cellist Aaron Stern muss 1939 Deutschland ohne seine Tochter verlassen. Eine verhängnisvolle Odyssee beginnt. Er findet in keinem Land sichere Aufnahme und gerät in die Fänge der Nationalsozialisten. Nach leidvollen Erfahrungen als Schiffsflüchtling und Lagermusiker kehrt er schließlich nach Hamburg zurück. Eine berührende und abenteuerliche Suche nach seiner Tochter beginnt.

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Dagmar Fohl

Alma

Roman

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch

die Literaturagentur Klaus Middendorf

Die Figuren der Familie Stern und Lentin sind fiktiv.

Personen wie der Kapitän der »St. Louis«, der Cellist Jakob Sakom, sowie einige Kommandanten und Musiker sind authentisch.

Der Rahmen der Handlung basiert auf historischen Ereignissen.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Imagno

ISBN 978-3-8392-5380-9

Widmung

Den Flüchtlingen und Verfolgten

Vorwort

Wir erleben weltweit eine Zeit der Fluchtbewegungen. Millionen von Menschen fliehen vor Kriegen, Hunger und Verfolgung aus ihrer Heimat, um ihr Leben zu retten, um einen Ort zu finden, an dem sie menschenwürdig und in Sicherheit leben können.

Die Menschen flüchten über Land und Meer. Viele finden den Tod. Marode Schiffe, überfüllte Schlauchboote kentern, Tausende von Flüchtlingen ertrinken auf dem Weg nach Italien und Griechenland.

Europa nimmt das in Kauf. Europa schottet sich ab.

Zur Zeit des Nationalsozialismus fanden unzählige, vom Tod bedrohte jüdische Mitbürger, die eine sichere Bleibe suchten, keine Aufnahme in europäischen und anderen Ländern der Welt. Je mehr Menschen flohen, desto stärker waren ihnen Grenzen und Häfen versperrt. Viele von ihnen hätten dem Konzentrationslager, dem Leiden und ihrer Ermordung entrinnen können, wenn der Weg in die Sicherheit für sie offen gewesen wäre.

Wie sieht unsere Gegenwart aus? Krieg und Waffenhandel regieren die Welt. In vielen europäischen Staaten sind Flüchtlinge unerwünscht. Nationalismus und rechte Gesinnung machen sich breit und gefährden die Demokratien. Auch in Deutschland gewinnen rechte Parteien Zulauf. Neonazis und ihre Anhänger setzen über Tausend Flüchtlingsheime in Brand.

Es gibt keine andere Möglichkeit, als zu sprechen, zu erzählen, aufzuzeigen, Zeugnis abzulegen. Immer und immer wieder. Dagmar Fohl lässt die Zeitzeugen in Form eines Romans wiederaufleben. Sie zeigt in ALMA, warum die Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung mit den Millionen von Opfern nie in Vergessenheit geraten darf.

Möge der Roman etwas bewirken in Zeiten zunehmender Entmenschlichung.

Esther Bejarano

(ehemals Sängerin und Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Auschwitz, heute Sängerin und Autorin, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees)

Zitat

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner

ERSTER TEIL

Eins

Das Schiff lag vor mir, ein mächtiger Koloss, der uns mit seinem dunklen meterhohen Metallkorpus überschattete. Fast 1000 Menschen standen am Pier und warteten darauf, das Schiff zu besteigen.

Mich überkam plötzlich das Gefühl, ein Gefängnis zu betreten. Jedes Schiff ist ein Kerker, sobald man einen Fuß darauf setzt und es abgelegt hat, gibt es kein Entkommen mehr. Man befindet sich in einem abgeschlossenen Raum, egal wie groß das Schiff ist, die einzige Fluchtmöglichkeit ist der Sprung ins Wasser.

Unser Schiff hieß »Saint Louis«, es war ein »Kraft durch Freude« -Schiff, auf dem deutsche Parteimitglieder ihre Traumreisen genossen hatten. Es war ein Luxusdampfer der HAPAG, ein Schiff der Regierung mit deutscher Besatzung, deutschem Kapitän und gehisster Hakenkreuzfahne, auf dem wir nun nach Kuba gebracht werden sollten.

Uns allen blieb keine Wahl. Wir würden in diesen dunklen Nazi-Rumpf mit den fest vernieteten Stahlplatten steigen und aus den winzigen Bullaugen herauslugen, ohne Möglichkeit der Rückkehr, ohne zu wissen, was uns erwartete. Niemand von uns hätte sich umentscheiden können.

Wir kletterten die Gangway hinauf. Leah ging mir voran, sehr langsam und bleiernen Schrittes. Jedes Mal, wenn sie den Fuß vor den anderen setzte, spürte ich ihren Widerstand. Ich legte die rechte Hand in ihren Rücken und schob sie sanft voran. In der Linken hielt ich mein Cello, das in seinem stoßsicheren Instrumentenkoffer steckte. Das Cello war mein Trost, während Leah nichts mehr hatte, an dem sie sich festhalten konnte, außer mir. Ich wünschte mir, sie schützen zu können, wie der schwarze Kasten mein Instrument schützte. Ich schwor mir, alles für unser Überleben zu tun und dafür zu sorgen, eines Tages Alma wieder in unseren Armen halten zu können.

Unter meinen Füßen schwankte die Stiege, die letzten unsicheren Schritte folgten. Wir waren nun an Bord, standen an die Reling gelehnt und blickten auf die Welt, die unser Zuhause, unsere Heimat war, schauten auf die Stadtkulisse mit ihren in der Sonne leuchtenden grünen Kupferdächern und Türmen, die von unzähligen Hakenkreuzfahnen überschattet vor uns lag.

Am Kai winkten die Eltern. Ihre Taschentücher flatterten in der Frühlingsluft wie die Fahnen im Wind.

Die Kapelle begann zu spielen: Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus, und du mein Schatz bleibst hier.

Leah schrie auf. »Ich fahre nicht, ich kann nicht!«

Sie wand sich aus meinem Arm und versuchte fortzulaufen, noch war der Laufsteg nicht eingezogen. Ich umklammerte sie.

»Leah, sei vernünftig, denk an Alma.«

Sie wehrte sich noch eine Weile, dann sank sie in sich zusammen. Sie verbarg ihren Kopf in meiner Armkuhle und weinte.

Städtele hinaus, Städtele hinaus, tröteten die Bläser, und die Pauke schlug dazu den Takt. Tam tata tum tata tum tita tum tum tum … Als würden wir das Land freiwillig verlassen, als hätten wir es gut, eine Reise auf diesem »Traumschiff« unternehmen zu dürfen.

Ich hatte Angst, dass wir alle auf hoher See über Bord geworfen würden. Ich beruhigte mich wieder. Wenn wir in ein Propagandaspiel der Regierung geraten waren, wenn unser Schiff ein Vorzeige-Schiff war, um das Ausland zu besänftigen, würde man uns auch lebend nach Havanna bringen.

Es dauerte noch eine Weile, bis alle Passagiere an Bord waren und der Laufsteg eingeholt wurde. Ich wich Leah nicht von der Seite, ich hielt sie im Arm. Ich erlaubte mir keine düsteren Gedanken mehr, ich sammelte meine Kraft für unsere Zukunft. Wir hatten es besser als jene, die im Land bleiben mussten, wir hatten das Geld und die notwendigen Papiere, um auszureisen, wir hatten Martin, der Alma und uns half. Vor meinen Augen erschien das winzige dünnhäutige Mädchen, das meine Tochter war. Sie lebt, sie wird leben!

Die Dampfersirene ertönte dumpf und schwer. Dreimal hintereinander heulte sie auf. Die Matrosen warfen die Vertäuungen los. Das letzte Band, das uns mit der Heimat verbunden hatte, war gekappt. Die Schiffsmaschinen brummten und vibrierten, schwarzer Rauch stieg aus den gestreiften Schornsteinen.

Wir standen auf den Schiffsplanken. Stumm jetzt und ohne Tränen fuhren wir auf den Ozean hinaus. Meine Gefühle schwankten zwischen Heimweh, Trauer und Erleichterung, zwischen Angst und Hoffnung. Noch einmal schwor ich mir, nicht schwach zu sein und Leah zu beschützen, bis wir wieder mit unserer Tochter zusammen waren.

Das Schiff fuhr in die Nacht hinaus. Die Stadt, die sich immer weiter entfernte, in der ich mein bisheriges Leben verbracht hatte, in der Alma, unsere Eltern und unsere Freunde zurückblieben, verschwand in der Dämmerung.

Zwei

Wir wohnten in der Rothenbaumchaussee schräg gegenüber der Rundfunkanstalt, in der Wohnung direkt oberhalb unseres Geschäftes. Es war eine typische Hamburger Bürgerwohnung mit lang gestrecktem Flur, von dem alle Zimmer abgingen. Schlafzimmer, Bad und Küche gingen zum Hof hinaus, Esszimmer, Wohnzimmer und Musikzimmer lagen zur Straße hin.

Draußen an der Mauer, direkt unterhalb des Musikzimmerfensters, hing unser Firmenschild, es war ein rotes Metallschild mit schwarzer Aufschrift MUSIKALIENHANDEL STERN, rechts und links umrahmt von zwei großen Notenschlüsseln. Darunter befand sich die Eingangstür zu unserem Geschäft. Meine Familie betrieb es schon seit drei Generationen. Wir verkauften Musikinstrumente samt Zubehör sowie Noten und Schallplatten.

Es war kein großes, aber ein sehr gepflegtes und gut sortiertes Geschäft.

Schon als kleines Kind verbrachte ich so viel Zeit wie möglich im Laden. Für mich war es die Welt, in die ich hineingehörte. Inmitten der glänzenden Musikinstrumente fühlte ich mich geborgen.

Musik bestimmte und begleitete mein Leben. Mein Vater spielte Geige, meine Mutter Cello, meine Tante Klarinette und mein Onkel Bratsche. Niemand spielte professionell, sondern nur zum Vergnügen. Jeden Sonntagnachmittag trafen sich alle und übten.

Es verstand sich von selbst, dass auch ich ein Instrument erlernte. Als ich sechs Jahre alt war, fragte mein Vater mich, welches Instrument mir am meisten gefalle. Ohne zu zögern, zeigte ich auf das Cello. Ich wollte Cello spielen. Ein anderes Instrument kam für mich nicht infrage.

Meine erste Lehrerin war meine Mutter. Als sie mein Talent bemerkte, meldete sie mich bei Jakob Sakom, einem der angesehensten Cello-Lehrer der Stadt an. Jakob Sakom hatte die berühmte »Violoncello-Etüden-Schule« verfasst, die wir natürlich im Geschäft verkauften. Er war Lehrer am Vogt’schen Konservatorium, und spielte als Solist im philharmonischen Orchester. Er unterstützte auch die Hausmusikbewegung. Er gehörte zu unseren Stammkunden, deshalb wagte meine Mutter, ihn anzusprechen.

Ich saß meinem Lehrer das erste Mal gegenüber. Seine nach unten gebogenen Lider und Mundwinkel, die Tränensäcke unter seinen Augen und sein rechteckiger Bart ließen ihn strenger erscheinen, als er war.

Der Bogen zitterte, als ich zu spielen begann. Mein Lampenfieber jagte mich. Ich spielte meine Stücke in rasendem Tempo und machte viele Fehler. Ich war den Tränen nahe, als ich abbrach.

Jakob Sakom sagte: »Ich weiß und du weißt, dass du es besser kannst, Aaron. Atme noch einmal durch. Bevor du den Bogen ansetzt, fühle in deinen Bauch hinein. Er muss sich groß und weit wie der Ozean anfühlen. Erst wenn dieser weite Raum sich bis in deine Stirnhöhle ausgedehnt hat, beginnst du zu spielen. Setz den Bogen ruhig an und lass ihn wie eine Katzenpfote über die Saiten gleiten. Stell dir vor, dass deine Finger, die greifen, einen Tanz aufführen, einen Tanz, der ihnen Spaß macht. Versuch es noch einmal, du wirst sehen, es wird gelingen. Stell dir einfach vor, du würdest für dich ganz allein spielen.«

Jakob Sakom nahm mich als seinen Privatschüler auf. Zunächst spielte ich auf einem Viertel-Cello, später erhielt ich ein Cello für Erwachsene. Es war ein hochwertiges handgefertigtes Instrument aus Ahornholz, das mein Lehrer zusammen mit meinen Eltern für mich ausgewählt hatte. Es war sehr teuer, aber in unserer Familie war es wichtiger, ein gutes Musikinstrument zu besitzen, als unnützen Luxus aufzuhäufen.

Als ich die ersten Töne spielte, glaubte ich, noch nie in meinem Leben einen so herrlichen Klang gehört zu haben. Ohne dieses Cello, das mich begleitete, und ohne Jakob Sakom und seinen Unterricht wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben.

Manchmal luden die Eltern Nachbarn und Freunde zu unseren Hauskonzerten ein. Diese Nachmittage entwickelten sich fast immer zu fröhlichen Festen, die erst am späten Abend endeten. Meine Mutter war sehr gastfreundlich und bot immer etwas zu essen und zu trinken an.

Waren die Gäste gegangen, saßen meine Eltern auf den kleinen mit dunkelgrünem Chintz bezogenen Stühlen und tranken ein Glas Rotwein aus den französischen Kelchen. Es war einer der seltenen Momente, in denen meine Mutter eine Zigarette rauchte. Meine Eltern tranken vom Wein, zogen an ihren Zigaretten und ließen das Hauskonzert Revue passieren. Der Rauch ihrer Zigaretten verwob sich über ihren Köpfen. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass meine Eltern sich voneinander hätten trennen können oder voneinander getrennt würden.

Am Rotherbaum lebten viele Juden. In meiner Kindheit gab es keinen Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Freunden oder Kunden. Ich wusste, dass ich Jude war, aber das war auch alles. Schon die Großeltern pflegten keine jüdischen Bräuche. Wir aßen auch nicht koscher. Eine unserer Lieblingsspeisen war Hamburger Aal, an Fleischgerichte kam immer gute Butter und an das Kalbsfrikassee ein Schuss Sahne. Wir feierten Weihnachten und nicht Chanukka, und die Juden, die mit Kaftan und Schläfenlocken in der Stadt herumliefen, waren uns genauso fremd wie ein arabischer Imam.

Niemand von uns besuchte die Synagoge. In der Schule nahm ich ganz selbstverständlich am evangelischen Religionsunterricht teil. Für mich bestand kein Unterschied zwischen meinen Mitschülern und mir. Wir waren Deutsche und sonst gar nichts. Mein Vater war ein loyaler, konservativer Deutscher und stand politisch den Deutschnationalen nahe.

Die Jahre vergingen. Mein Vater konnte das Geschäft durch die Weltwirtschaftskrise retten. Wohl schränkten wir unseren Lebensstandard ein, aber unsere Existenz war nie bedroht.

Hitler und die Nationalsozialisten spielten damals für uns keine Rolle. Mein Vater hielt sie für Schwachköpfe.

Ich spielte Cello und machte gute Fortschritte. Mein Lampenfieber und meine Angewohnheit, Stücke abzubrechen, blieben. Ich fing immer wieder von vorn an, um an denselben Takten zu scheitern.

»Übe mehrmals nur den Takt, der dir Schwierigkeiten macht«, sagte Jakob Sakom, »und dann spiele das Stück durch, egal was dir inzwischen passiert. Du musst lernen, die Hürde zu nehmen … Wenn du auf einer Bühne sitzt, und das bedeutet auch, wenn du mir ein Stück vorspielst, dann musst du es beenden, egal wie. Hab niemals Angst vor einer Gedächtnislücke. Überspiele sie.

Es geht darum, mit Musik eine Geschichte zu erzählen. Es geht immer um die Geschichte, die hinter den Noten steckt. Es geht um Emotionen. Das Wichtigste beim Vorspiel ist zu lernen, mit sich allein zu sein und dieses Alleinsein auszuhalten. Man darf sich weder vor sich selbst noch vor dem Publikum fürchten.«

Drei

Immer wieder gab es Straßenschlachten zwischen SA, Polizei und Kommunisten. Wenn ich nachts im Bett lag, hörte ich die Schüsse, die aus Altona herüberhallten.

Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war ich 14 Jahre alt. Ich stand mit meinem Freund Karl in der Menge der Zuschauer, als Zigtausende von Männern in braunen Uniformen im Licht der Fackeln an uns vorüber marschierten.

»Unserem Führer, unserem Reichskanzler Adolf Hitler, ein dreifaches Heil!«, grölten sie. Die Leute um mich herum reckten den Arm und schrien ihr »Heil, Heil, Heil«. Es dröhnte wie eine nicht aufzuhaltende Woge durch die eisige Winternacht.

Neben mir hielt ein Vater sein Kind in die Höhe. Auch der kleine Junge reckte seinen rechten Arm und rief »Heil Hitlermann«. Mit der anderen Hand umklammerte er eine Hitlerspielzeugfigur.

Einige Männer schrien »Juda verrecke«. Dann sangen sie über das Judenblut, das vom Messer spritzt.

Ich fürchtete mich. Karl legte mir seinen Arm um die Schulter.

»Die spinnen doch«, sagte er.

Ich lief nach Hause. Meine Eltern erwarteten mich bereits. Sie hatten mir verboten, zum Fackelzug zu gehen. Ich erhielt das ganze Wochenende Hausarrest. Ich verkroch mich in mein Zimmer und sprach mit niemandem über meine Erlebnisse, auch nicht darüber, dass mir die Stiefel der Hitlerjungen gut gefallen hatten.

Die Nationalsozialisten rückten uns immer näher. Mein Vater und ich standen im Laden und hörten gerade neu eingetroffene Schallplatten an, als ein SA-Mann sich vor unser Schaufenster stellte und mit flüssiger Kreide einen Judenstern an unsere Fensterscheibe pinselte. Einer seiner Kameraden klebte ein Plakat »Deutsche, kauft nicht bei Juden« an unsere Glastür. Dann stellten die Männer sich rechts und links des Eingangs und ließen niemanden mehr hinein.

Mein Vater lief in die Wohnung hinauf, zog seine Uniform aus dem ersten Weltkrieg an, heftete sein Eisernes Kreuz an, ging hinaus und stellte sich neben die SA-Männer. Sein Kopf war puterrot angelaufen, er war so aufgewühlt, dass sein Kaiser-Wilhelm-Bart auf und ab wippte. Ich sah ihn dort stehen in seinem Versuch, seine Würde zu wahren. Ich weiß nicht, was mich mehr beschämte: die SA-Männer oder Vater in seiner Uniform.

»Das ist doch alles Dummheit, Irrsinn und Wahnsinn zugleich. Wir schämen uns für jedes beschmierte und beklebte Geschäft und vor den jüdischen Bürgern«, schrieben uns nichtjüdische Freunde nach dem Boykotttag.

Mein Vater war der Ansicht, man müsse nur abwarten, bis die Braunhemden sich selbst disqualifizierten. Ich will in etwa wiedergeben, wie er Hitler beschimpfte.

»Denkt an Hitlers Reden«, sagte er, »dieser Mann ist nicht nur zutiefst dumm, er ist ein absoluter Idiot. Wer kann den Quatsch auf Dauer glauben? Sein krächzender Heldentenor klingt wie eine zerkratzte Schallplatte. Dieser Schreihals entlarvt sich selbst. Er ist ein niederträchtiger Verleumder. Jeder, der Ohren besitzt, kann das wahrnehmen. Die Menschen werden aus ihrer Verblendung aufwachen und den ganzen aufgedonnerten Nazi-Rummel durchschauen. Ich frage euch, eine Politik, die man hinausgellt, eine Politik, die mit aufgeplustertem und verkrampftem Marschieren und dröhnendem Trara auf den Straßen begleitet wird – wen soll das auf lange Sicht überzeugen? Ihr werdet sehen, es wird nicht lange dauern, dann sind die Nazis fort. Und wisst ihr was? Der Nationalsozialismus wird sich vor allem mit seinem rabiaten Judenhass das Genick brechen.«

Meine Mutter war anderer Ansicht.

»Samuel, du irrst dich, lass uns Deutschland verlassen«, sagte sie.

»Geh doch, wenn du willst«, rief mein Vater. »Ich bleibe hier.«

»Du weißt, ich könnte nicht ohne dich gehen«, sagte sie. »Aber was ist mit Aaron? Was ist, wenn ihm etwas geschieht?«

»Ach was, du wirst sehen«, sagte mein Vater, »bald hat der ganze Spuk ein Ende. Wir werden schon irgendwie in Deutschland weiterleben können. Sogar die jüdischen Organisationen warnen davor, überstürzt auszureisen. Hast du dir schon mal vorgestellt, wie es sein würde im Ausland? Wenn wir Deutschland für längere Zeit verlassen, entzieht man uns die Staatsbürgerschaft. Wir werden kaum Verdienstmöglichkeiten haben. Wer wird sich jüdischer Flüchtlinge annehmen, frage ich dich. In Deutschland haben wir immerhin unser Auskommen und ein Dach über dem Kopf. Hier ist doch unsere Heimat. Glaub mir, es ist so, wie ich sage. Es wird vielleicht noch etwas schlimmer werden, aber dann wird sich diese Regierung in Luft auflösen.«

Ich saß im Wohnzimmer meines Cello-Lehrers. Er saß vor mir, ohne mit dem Unterricht zu beginnen. Er strich sich über seine Halbglatze und hatte Mühe zu sprechen.

»Ich muss es dir sagen, Aaron. Man hat mich in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Nur wer arischer Abstammung ist, kann noch Mitglied des Orchesters sein. Ich darf nur noch bei Konzerten im Jüdischen Kulturbund auftreten und im Konservatorium habe ich Unterrichtsverbot, aber für dich ändert sich nichts, ich werde weiter Privatunterricht geben, auch wenn es mir verboten ist. Ich werde meine Schüler nicht fallen lassen. Sag deinen Eltern, wie es steht, Aaron.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Und nun zu dir. Auch für dich wird es als Musiker vorerst keine Zukunft in Deutschland geben. Ich sage dir jetzt ein paar ehrliche Worte: Zu einem Berufs-Cellisten wird es bei dir nicht reichen, Aaron. Du bist sehr begabt, du könntest zum Virtuosen werden. Das Lampenfieber bekommst du in den Griff, aber du übst zu wenig. Ich denke, es liegt daran, dass du lieber im Geschäft stehst, als zu üben. Ist es so?«

»Ich möchte das Geschäft übernehmen, aber ich möchte mein Leben lang Cello spielen«, war meine Antwort.

»Gut, ich werde dich also weiter unterrichten. Damit du’s weißt: Ich denke vorerst nicht ans Auswandern. Und nun spiel mir vor, was du vorbereitet hast.«

Ich setzte den Bogen an und spielte mein Stück. Der Bogen klopfte und schlug auf die Saiten, als würde ich mein Cello prügeln. Ein Dunst von Harz zerstäubte in alle Richtungen. Nach kurzer Zeit brach ich ab, warf den Bogen zu Boden und stampfte mit dem Fuß auf.

»Aaron, wir können es nicht ändern. Vergeh dich nicht an der Musik. Die Musik ist heilig. Wenn uns etwas beschützt und stärkt, dann ist es die wahre göttliche Musik. Und das Cello, Aaron, das Cello gleicht einer Kathedrale. Es ist der Mittelpunkt des Universums.«

Vier

Die Nürnberger Gesetze waren in Kraft getreten. Wir waren nun keine Deutschen mehr, sondern Volljuden.

Unsere Nachbarn blieben uns und unserer Musik treu. Niemand denunzierte uns.

Selbst der Blockwart Frank Hoffmann schützte uns. Er war Musiklehrer. Wir hatten mit ihm großes Glück.

Ich ging zu jener Zeit noch auf das Wilhelm-Gymnasium am Grindelberg. Ich war nie ein guter Schüler, und meine Versetzung war mehrmals gefährdet. Ich hatte kein Interesse an Griechisch, Latein und dem ganzen Bildungskanon der Schule, mit Ausnahme der Musik. Ich spielte Cello im Schulorchester. Das war mir am wichtigsten.

Mein Schulalltag bestand schon lange aus Fahnenappellen, Hitlergruß und Absingen von nationalen Liedern. Der Hass meiner Mitschüler und auch einiger Lehrer auf uns Juden wuchs. Sie begannen uns zu provozieren und zu hänseln. Ich wehrte mich nie. Ich überhörte alle Beleidigungen, ich stellte mich taub und ließ die Angreifer stehen, selbst wenn sie mich stießen und anrempelten. Ich tat so, als spürte ich ihre Attacken nicht, und ich erzählte auch meinen Eltern nichts davon. Ich wurde niemals blutig geschlagen, vielleicht weil es sich für ein Gymnasium der Elite nicht gehörte.

Als mein bester Freund, es war Karl, der mich beim Fackelzug umarmt hatte, mich eines Tages im Boot als »Judensau« bezeichnete, gab ich das Rudern auf. Meinen Eltern sagte ich, ich könne wegen meines Cellospiels nicht mehr trainieren, da ich Schwielen bekäme und das Umgreifen der Ruderholme meine Finger versteifte.

Einer meiner jüdischen Klassenkameraden tröstete mich und versuchte, mich zu überreden, in den Ruderclub des Jüdischen Sportbundes einzutreten, doch ich wollte nicht. Wenig später erzählte er mir, die Nazis hätten alle Boote seines Vereins beschlagnahmt.

Am Schulsport durften wir nun auch nicht mehr teilnehmen.

Dann wurde ich aus dem Orchester ausgeschlossen. Ich war gerade dabei, mein Cello aus dem Kasten zu nehmen, als der Dirigent mich bat, wieder nach Hause zu gehen und nicht mehr wiederzukommen. Ich ließ mir meine Enttäuschung nicht anmerken. Ich packte mein Cello ein, schnallte es auf den Rücken und verließ den Probenraum. Hinter mir hörte ich Gejohle.

Ich traute mich nicht, nach Hause zu gehen. Den ganzen Nachmittag lief ich am Alsterufer entlang. Erst am Abend, als ich mich etwas beruhigt hatte, ging ich nach Haus. Ich aß nichts zu Abend und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer.

Am Tag darauf rief mein Klassenlehrer, der kein Nazi war, uns Juden nach dem Unterricht zu sich. Nachdem alle anderen das Klassenzimmer verlassen hatten, erklärte er uns, dass er uns nicht mehr schützen könne. Er riet uns, die Schule am Ende des Schuljahres mit dem »Einjährigen«, das entsprach der heutigen Mittleren Reife, zu verlassen.

Anstatt zur jüdischen Talmud-Tora-Schule zu wechseln, wie meine Mutter es gewünscht hätte, ging ich nach der Obertertia ab und begann meine Lehre zum Musikalienhändler bei meinem Vater.

Ich erlernte den Beruf, den ich mir für mein Leben wünschte. Ich war froh, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen, und im Laden zu arbeiten.

Die vielen Stunden, in denen mein Vater und ich Musik hörten und ich alles über Noten- und Instrumentenkunde lernte, glichen die Arbeit an den Geschäftsbüchern wieder aus. Er legte eine Platte nach der anderen auf, er wischte sie stets mit einem Staubtuch ab, bevor er sie auf den Plattenteller legte und die Nadel auf die Rille setzte. Ich lernte von meinem Vater, die Unterschiede der Epochen und Komponisten zu erkennen, Musik zu analysieren, ihre Eigenheit herauszufiltern, das Zusammenspiel der Instrumente, die unterschiedlichen Interpretationen herauszuhören und zu beschreiben.

Es gab keinen Ort für mich, an dem ich lieber gearbeitet hätte als in unserem Geschäft.

Eines Morgens blätterte mein Vater beim Frühstück wie gewohnt die Zeitungen durch.

»Seht ihr, ich hab es euch gesagt«, rief er mit der Zeitung raschelnd. »Jetzt haben wir das Schlimmste überstanden. Selbst im ›Stürmer‹ ist keine Judenhetze mehr zu finden. Und in der ganzen Stadt haben sie die Verbotsschilder entfernt. Die Olympiade tut uns gut. Wir haben internationale Aufmerksamkeit. Der Judenhass hört endlich auf. Ich habe recht gehabt, Anna.«

»Es darf nur eine einzige ›Halbjüdin‹ an den Spielen teilnehmen, und der Fackelträger ist ausgewechselt worden, weil sie in letzter Minute gemerkt haben, dass er Jude ist«, sagte Mutter.

»Woher weißt du denn das? Das sind doch Gerüchte.«

»Sie versuchen, die ausländischen Besucher zu täuschen, deshalb werden alle Schilder entfernt, deshalb liest du keine Judenhetze in den Zeitungen.«

»Nein, Anna, das glaube ich nicht, ich bleibe dabei«, sagte Vater, »du wirst schon sehen, der Höhepunkt des deutschen Antisemitismus ist nun überschritten.«

»Es ist Wunschdenken, Samuel, die Realität sieht anders aus. Wie lange willst du noch warten?«

»Auswandern, auswandern, ich kann’s nicht mehr hören. Wie stellt ihr euch das vor? Ohne Kontakte, ohne Geld, ihr wisst doch, dass wir fast alles zurücklassen müssten. Und dann die hohen Steuern. Wie denkt ihr euch das bloß? In Holland haben sie Ausländern die Arbeitsgenehmigungen entzogen. Und Sprachkenntnisse haben wir auch keine.«